Das Haus mit den drei Leiern
Trotzdem daß man sich am 18. Juli 1866 bei Einstellung aller Eisenbahnzüge vom Süden aus nur mit einiger Gefahr und ungewöhnlichen Transportkosten nach der bis dahin „freien Reichsstadt“ Frankfurt begeben konnte, in welcher zwei Tage früher die siegreichen Preußen unter dem General von Falckenstein eingezogen
waren, standen wir doch gegen zehn Uhr Morgens auf dem großen Hirschgraben vor dem dreistöckigen mit einer Mansarde versehenen Giebelhause, dem „Hause mit den drei Leiern“, vor Goethe’s Vaterhause. Ich hatte zwei alten Freunden, Halliwell, einem der größten jetzt bekannten Shakespearekenner, und Professor Nicard aus Paris, bei ihrem Besuche, der sie zufällig bei mir in Deutschland zusammen führte, sogleich versprechen müssen, sie nach Frankfurt zu begleiten und ihnen als Führer besonders im Dichterhause zu dienen, denn für sie schwiegen selbst unter dem Waffengeräusch die Musen nicht.
Wir traten ein. Die Hausflur ist geräumig und hell; sie bot den Kindern des „Herrn Rath“ einen geräumigen Tummelplatz mit vortrefflichen Versteckplätzchen neben und unter der Treppe, unter deren schönem Acanthus-Tragsteine der Eingang zum Keller für den gewöhnlichen Haushaltungsgebrauch angebracht ist. Wie oft stieg die Frau Rath diese dunkle Treppe hinab, um für liebe Gäste, wie die Grafen Stollberg und Merck, für Karl August und Wieland und für alle die zahlreich herbeieilenden Sturm- und Dranggenossen des berühmten Sohnes, so lange er im Vaterhause weilte, das „Tyrannenblut“ heraufzuholen. Doch dürfen wir nicht die hohle Fallthür der Schrotstiege unmittelbar beim Eintritt in die Hausthür vergessen, über die Wolfgang, wenn er Abends nach der gemeinsamen Mahlzeit mit unerlaubtem Hausschlüssel sich hinausstahl und dann spät in der Nacht oder selbst gegen Morgen von seinen allzufrühe genossenen Schwärmereien heimkehrte, sich leise zur Treppe hinschleichen mußte, welche bis hinauf zu seinem Zimmer im Dachstocke führte.
An alle Oertlichkeiten dieses Hauses knüpfen sich bestimmte Vorgänge aus des Dichters Leben an; ist er doch selbst in „Dichtung und Wahrheit“ der beste Führer. „Die gute Großmutter“ väterlicher Seits, die frühere Wirthin zum Weidenhof, Cornelia, geborne Walter, kaufte nach dem Tode ihres zweiten Ehemannes Friedrich Georg Goethe aus Artern in der güldenen Aue, da ihr das Getriebe der Gastwirthschaft zu lästig geworden und sie nun ein ruhiges Hauswesen suchte, für sechstausend Gulden im November 1753 dem Schöff von Fleckenhamerischen Erben das Haus auf dem großen Hirschgraben ab, in dessen Keller auch die Weinvorräthe nach dem Verkauf des Weidenhofes zur Begründung des neuen Hausstandes gebracht wurden. Sie war es, die ihrem ältesten Enkel, dem sie später „gleichsam als eines Geistes, als einer schönen, hageren, immer weiß und reinlich gekleideten Frau, sanft, freundlich, wohlwollend im Gedächtniß geblieben“, zu Weihnachten 1753 „die Krone ihrer Wohlthaten“ und als „letztes Vermächtniß“ jenes Puppenspiel bescheert und vorgezeigt hatte, welchem das deutsche Volk des Dichters Vorliebe für die Bühne verdankt. Eine zweite Aufführung der Geschichte von Goliath und David erlebte sie freilich nicht, denn schon am 28. Mai 1754 starb sie über fünfundachtzig Jahre alt, und nun traf der Herr Rath Dr. Johann Caspar Goethe Vorbereitungen zum Umbaue des Hauses, namentlich des nach der Nordseite zu gelegenen Nebenhäuschens, das wirklich ganz abgerissen wurde. Bis zum Winter des nächsten Jahres war der Umbau vollendet. Er bewahrte, wie eingreifend die Veränderung auch war, Goethe’s Geburtshaus alle [44] früheren Theile und Einzelheiten, nur das in „Wahrheit und Dichtung“ so viel erwähnte Geräms, durch das man unmittelbar mit der Straße und der freien Luft in Verbindung kam, verschwand. Das erste und zweite Stockwerk erhielten anstatt der früheren fünf jedes sieben Fenster, während der Grundstock, mit der Thür genau in der Mitte, jeder Seits nur drei Fenster hatte. Vom Dache erhebt sich ein bedeutendes Zwerghaus, dessen Giebel noch zwei Stockwerke zeigt; im unteren die berühmte Dichter-Mansarde mit drei Fenstern.
Das große Zimmer im Erdgeschoß neben der Hausthür links, mit drei Fenstern gegen die Straße, war das „gewöhnliche Speisezimmer“. Hier deckte Wolfgang als Knabe, der Hausfrau und Magd zur Hand gehend, gelegentlich selber den Tisch; hier naschten die leichtfertigen Kinder die Süßigkeiten, mit welchen der französische Königslieutenant Graf Thorane sie zur Feier des
Siegs der Franzosen am Abende des Tags der Schlacht bei Bergen (13. Ostermonat 1759) für ihre Handküsse und Freudenbezeigungen belohnte. Hier ereignete sich der ergötzliche Vorfall, daß der arme Chirurgus, der am Samstag Abend im Winter den Vater bei Licht rasirte, über das „wilde, verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech“ – welches die für Klopstock’s „Messias“ begeisterten Geschwister, Wolfgang in der Rolle des Satan und Cornelia in der des Adramelech, erst heimlich vortrugen, dann aber laut „mit fürchterlicher Stimme“ die Worte: „O wie bin ich zermalmt!“ herausdonnerten – so erschrak, daß er dem Vater das Seifenbecken in die Brust goß.
In dem Erdgeschosse war auch die neue Küche mit der Speisekammer und dem Vorzimmerchen an der Stelle der ehemaligen geräumigen Wohnstube der guten Großmutter. Den Schlüssel zu der ihm noch geheimnißvollen Speisekammer fand an einem Sonntag Morgen Wolfgang stecken, öffnete das ihm bis dahin verschlossene Heiligthum, entdeckte in der Nähe so vieler lang gewünschter Glückseligkeit, gedörrter Aepfel und Zwetschen, das dort aufbewahrt gewesene Puppenspiel der guten Großmutter und rettete die geschriebene Komödie von David und Goliath hinauf auf seine Dachkammer. Bald erschlossen sich dem Knaben bei der Mutter Entdeckung die Geheimnisse des Puppenspiels, die er von nun an mit Altersgenossen selbst zu üben suchte, bald auch von Erwachsenen ausüben sah.
Die drei vorderen Zimmer des ersten Stockes, zu denen man auf einer breiten prächtigen Treppe gelangt, waren die „schönen Zimmer“, die der Herr Rath als Prachtzimmer seines wohlbestellten Hauses nach und nach einrichtete. Das mittlere mit vier Fenstern war das Gemach, welches sich im Schneemonate 1759 der Königslieutenant Graf Thorane als „Staats- und Empfangszimmer“ herstellte. Auf dem zu dem Zimmer führenden Vorplatze ereignete sich auch der Zusammenstoß des Herrn Rath mit dem Grafen Thorane, welcher für das ganze Haus so leicht hätte verhängnißvoll werden können. Der für die deutsche Sache begeisterte Herr Rath war am Abende des Tags der Schlacht bei Bergen durch den Anblick der „verwundeten und gefangenen Landsleute“ ganz aus der „gewöhnlichen Fassung“ gekommen und mußte, indem er vom zweiten Stock in das Erdgeschoß zum Essen herabstieg, unmittelbar an des Grafen Zimmer vorbei. Der Vorsaal stand so voller Leute, daß der Graf, um Mehreres auf einmal abzuthun, sich entschloß herauszutreten, und dies geschah leider in dem Augenblicke, als der Vater herabkam. Der Graf ging ihm heiter entgegen, begrüßte ihn und sagte:
„Ihr werdet uns und Euch Glück wünschen, daß diese gefährliche Sache so glücklich abgelaufen ist.“
„Keineswegs,“ versetzte der Vater mit Ingrimm, „ich wollte,
sie hätten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren sollen!“
Der Graf hielt einen Augenblick inne, dann aber fuhr er mit Wuth auf. „Dieses sollt Ihr büßen!“ rief er. „Ihr sollt nicht umsonst der gerechten Sache und mir eine solche Beleidigung zugefügt haben!“
Wie das von dem in Wuth gerathenen Königslieutenant drohende Gewitter durch des Hausfreundes Rath Schneider kluge Vermittelung glücklich abgeleitet wurde, hat uns Goethe gleichfalls in Wahrheit und Dichtung ausführlich erzählt.
Von dem obern Vorplatz, von dem Goethe sagt, daß er recht gut hätte ein Zimmer sein können, wo auch „die Kinder stets die gute Jahreszeit zubrachten“, konnte man die Aussicht über die Gärten bequem genießen. Dieser zweite Stock war vom Hausherrn und der Hausfrau bewohnt. Der Erstere hatte in dem nördlichsten der drei nach vorn gerichteten Zimmer seine Arbeits- und Studirstube eingerichtet und das „Guckfenster“ in der Brandmauer anbringen lassen, welches den heranwachsenden Wolfgang mehr als einmal veranlaßte, Morgens bei der Heimkehr von nächtlichen Schwärmereien einen Umweg zu nehmen, um, gegen die Blicke des wachsamen, strengen Vaters aus den oberen Zimmern durch die Ueberhänge des Hauses geschützt, von der Südseite her die Hausthür zu erreichen. In diesem Zimmer, wo auch die väterliche Büchersammlung, in Franz- und Halbfranzbänden, in Ordnung aufgestellt war, erhielt Wolfgang des Vaters Unterricht und mußte unter seinen Augen arbeiten. Das schöne dreifenstrige Mittelzimmer, zum Empfange bestimmt, war das „Gemäldezimmer“ genannt und der Kunst geweiht. Da hingen an den Wänden in schwarzen, mit goldenen Stäbchen verzierten Rahmen die Oelbilder der Frankfurter Maler, ländliche Gemälde von Hirth, Feuersbrünste in Rembrandt’s Manier von Trautmann, Rheingegenden von Schütz, Blumen- und Fruchtstücke, wie Stillleben [45] in niederländischer Weise von Junker und später die schönen Bilder von Seekatz aus Darmstadt. Das südliche zweifenstrige Zimmer vornheraus war die Stube der Frau Rath, in welcher der „grüne Sessel“ stand, auf dem die Mutter Abends, wenn sie erzählte, zu sitzen pflegte und der darum der „Märchensessel“ genannt wurde. Es war die gediegene, wohlhäbige Einrichtung eines hochgebildeten und angesehenen Bürgers, „eine schöne anmuthige Wohnung, in welcher werthvolle Kunstgegenstände mit Geschmack die Zimmer verzierten“. Das hintere Zimmer, welches an die Stube der Frau Rath sich anschließt, mit zwei Fenstern in den Hof, war das Schlafzimmer der Eltern, derselbe Raum, in welchem Wolfgang zuerst das Licht der Welt erblickte.
Hier gebar am 28. August 1749 genau um die Mittagsstunde die kaum achtzehnjährige Katharina Elisabetha, des kaiserlichen Raths und Stadtschultheißen Johann Wolfgang Textor
blühende Tochter, welche mit ihrem Sohne nach ihren eigenen Worten „nicht so weit auseinander war“, ihrem Gatten, der von Kaiser Karl dem Siebenten zum wirklichen Rath ernannt worden, das erste Kind, den Sohn Johann Wolfgang, der in einer „übergroßen von Nußbaum mit Elfenbein und Ebenholz eingelegten Wiege“ geschaukelt wurde, die man noch lange nachher in einem Dachkämmerchen aufbewahrte. Ihm folgten noch fünf andere Geschwister, zwei Knaben und drei Mädchen, von denen nur die älteste, seine geliebte Schwester Cornelia (geboren am 7. Decbr. 1750) am Leben blieb, die anderen aber alle in frühester Kindheit starben. Das Wochenbett der Frau Rath, in welchem sie den zur Welt brachte, als dessen Mutter sie fort und fort genannt werden wird, hatte blaugewürfelte Vorhänge. Drei Tage bedachte sich der Erwartete, bevor er an das Licht der Welt kam, und machte der Mutter schwere Stunden. Aus Zorn, daß ihn die Noth aus dem eingeborenen Wohnorte trieb, und durch die Mißhandlung der Hebamme kam er ganz schwarz und ohne Lebenszeichen auf die Welt. Sie legten ihn in einen sogenannten Fleischarden und bäheten ihm die Herzgrube mit Wein, ganz an seinem Leben verzweifelnd. Die Großmutter aber stand hinter dem Bette und als er zuerst die Augen aufschlug, rief sie hervor: „Räthin, er lebt!“ So erzählte die glückliche Mutter in ihrem fünfundsiebenzigsten Jahre „dem Kinde“ Bettina, und fügte hinzu:. „Da erwachte mein mütterliches Herz und lebte seitdem in fortwährender Begeisterung bis zu dieser Stunde.“
„Wie verschieden sind doch die Portraits, die man von Goethe besitzt!“ sagte mein englischer Freund. „Welche Wandlungen des Antlitzes bei allem Grundtypus in diesen Bildnissen! Bald sind sie idealisirt; unter diesen die Büste, welche Trippel 1786 in Rom modellirte und die uns ein wahres antik-ideales Apolloantlitz vorführt. Wie treten uns dagegen die beiden im höchsten Lebensalter gemalten Portraits von Stieler in München und von Jagemann in Weimar (letzteres im achtzigsten Lebensjahre) in ihrer einfachen Natürlichkeit menschlich entgegen! Welches halten Sie für das ähnlichste Jugendportrait Goethe’s?“
„Das Originalgemälde, welches Georg Melchior Kraus, Director des freien Zeicheninstitutes in Weimar, mit dem Goethe seit seinem Aufenthalt in Ems in freundlicher Berührung stand, in treuer, natürlicher Auffassung ein Jahr nach seinem Eintritt in Weimar dort in des Dichters siebenundzwanzigsten Lebensjahre malte, wofür auch die beiden Umstände sprechen, daß sich das Originalgemälde bei dem Tode der Frau Rath Goethe 1808 in deren Nachlaß vorfand und Nicolai danach einen Stich von Chodowiecki schon in der ‚Allgemeinen deutschen Bibliothek‘ im ersten Stück des neunzehnten Bandes 1776 mittheilte. Ich ziehe dieses eben wegen seiner realistischen Wahrheit dem bekannten,
eleganter aufgefaßten Oelgemälde von May vor, welches den Dichter im neunundzwanzigsten Lebensjahre vorstellt. Auffallend im hohen Grade ist die Aehnlichkeit der Großmutter Goethe’s mütterlicher Seits, der Frau Anna Margaretha Textor, gebornen Lindheimer, mit ihrem Enkel in seinem hohen Alter, wenn man ihr Bild mit denen Goethe’s von Jagemann und Stieler vergleicht.“
Die Züge des ernsten, rechtskundigen Vaters, der schon am 27. Mai 1782 starb, von dem der Dichter selbst sagt: „Vom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens ernstes Führen,“ machen sich in den Gesichtsformen Goethe’s entschieden geltend. Lavater bezeichnete des Vaters Bild in seinen physiognomischen Fragmenten sehr richtig mit den Worten: „Hierzu ein sinnlich ähnliches Bild des vortrefflich geschickreichen, Alles wohlordnenden, bedächtlich und klug anstellenden, aber auf keinen Funken dichterischen Genies Anspruch machenden Vaters des großen Mannes.“ Er hatte seinem Sohne eine feste Grundlage des Wissens und scharfer, positiver Forschung durch seine Erziehung gegeben. Das dichterische Genie und den unverwüstlichen Frohsinn hatte Goethe von der nur achtzehn Jahre älteren Mutter ererbt, was auch der Dichter in jenen bekannten beiden Verszeilen so realistisch bestimmt ausspricht. Ich habe „vom Mütterchen die Frohnatur, und Lust zu fabuliren.“ Die unvergängliche Heiterkeit und Frische prägt sich auch so entschieden in dem Antlitz der Mutter aus, deren Oelbild die Schwiegertochter, Frau Ottilie von Goethe, einer Frankfurter Freundin der Frau Rath später verehrte. Auf dieser breiten Stirn, welche die etwas kokette Haube umschließt, thront ewiger Sonnenschein. Ihr Gesichtsausdruck war der des Dichters; jedes Wort, das ihr aus dem Munde ging oder das sie der Schrift anvertraute, dringt so ursprünglich, frisch und ergötzlich aus ihrem reichen lieben Gemüthe hervor.
Wie spricht sie über sich selbst von der Leber weg, diese herrliche [46] Frau, die sich mit ihrem lieben Wolfgang immer so gut vertrug! „Von Person,“ so charakterisirt sie sich in einem Briefe selbst, „bin ich ziemlich groß und ziemlich corpulent, habe braune Augen und Haare und getraute mir die Mutter von Prinz Hamlet nicht übel vorzustellen. Viele Personen, wozu auch die Fürstin von Dessau gehört, behaupten, es wäre gar nicht zu verkennen, daß Goethe mein Sohn wäre. Ich kann das nun eben nicht finden, doch muß etwas daran sein, weil es schon so oft ist behauptet worden. Ordnung und Ruhe sind Hauptzüge meines Charakters; daher thue ich Alles gleich frisch von der Hand weg, das Unangenehmste immer zuerst und verschlucke den Teufel (nach dem weisen Rath des Gevatters Wieland), ohne ihn erst lange zu begucken; liegt dann Alles wieder in den alten Falten, ist alles Unebene wieder gleich, dann biete ich dem Trotz, der mich in gutem Humor übertreffen wollte.“ Wie sie mit der Welt umgeht und mit ihr auf’s Beste auskommt, das sagt sie in einem anderen Briefe, der auch wieder so geschrieben ist, wie sie gesprochen haben würde, frisch von der Zunge weg. „Ich habe die Gnade von Gott, daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von mir weggegangen, weß Standes, Alters und Geschlechts sie auch gewesen ist. Ich habe die Menschen sehr lieb und das fühlt Alt und Jung, gehe ohne Prätensionen durch die Welt und dies behagt allen Erdensöhnen und Töchtern, bemoralisire Niemand, suche immer die gute Seite auszuspähen, überlasse die schlimme dem, der die Menschen schuf und der es am besten versteht, die Ecken abzuschleifen, und bei dieser Methode befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“
Können wir nicht mit dem Dichter sagen: das war eine Frau, die es verstand, „resolut zu leben“, und „Meine Mutter stets heiter und froh, Andern das Gleiche gönnend“?
Nun tritt uns die vierte Insasse in Goethe’s Vaterhaus entgegen, die einzige geliebte Schwester Cornelia, mit der er Leiden und Freuden im Hause bis zu deren Verheirathung mit dem Jugendfreunde Johann Georg Schlosser am 1. November 1773 theilte, die aber schon leider am 8. Juni 1777 zu Emmendingen in Baden frühe starb. Sie war es, die ihm für sein Puppenspiel eine Garderobe verfertigte, die Puppen aus- und ankleidete, der er seine kleinen Herzensangelegenheiten, wie auch sie ihm, seine Liebes- und andere Händel mittheilte, die ihn mit der Mutter tröstete, als er von dem Vater über „Gretchens Geschichte“ Stubenarrest erhielt, die ihm entschieden rieth, die Verlobung mit Lilli aufzulösen, die ihn zwang, seine Schöpferkraft auf Götz von Berlichingen zu beschränken und in vier Wochen das Erstlingswerk zu vollenden. Mit Einem Worte, die Vertraute seines Herzens und Geistes, die er selbst am rührendsten in seiner „Wahrheit und Dichtung“ verherrlicht hat. Aber außer dem literarischen Portrait besitzen wir von dem dankbaren Bruder auch eine Bleistiftzeichnung (aus dem Nachlaß von Friederike Oeser in Leipzig), welche er auf den breiten Rand eines Correcturbogens des Götz im Jahre 1773, also kurz vor der Verheirathung seiner Schwester, hingeworfen hatte. Die Aehnlichkeit der beiden Geschwister war so groß, daß man sie in früheren Jahren für Zwillinge hielt; allein die stark ausgesprochenen Formen gaben später dem Gesichte der Schwester etwas Schroffes und Herbes, wie auch dem Ausdruck des Gesichts Freiheit und Sicherheit fehlte. Dazu kam noch jener unvortheilhafte Kopfputz, welcher dem Bruder mit Recht so sehr mißfiel.
„Sie war,“ so beschreibt er seine Schwester, „groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas natürlich Würdiges im Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die Züge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohne Gleichen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehnsüchtiges und Verlangendes mit sich führt; dieser Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er schien nur geben zu wollen nicht des Empfangens zu bedürfen. Was ihr Gesicht aber ganz eigentlich entstellte, sodaß sie manchmal wirklich häßlich aussehen konnte, war die Mode jener Zeit, welche nicht allein die Stirn entblößte, sondern auch Alles that, um sie scheinbar oder wirklich, zufällig oder vorsätzlich zu vergrößern. Da sie nun die weiblichste, rein gewölbteste Stirn hatte und dabei ein paar starke schwarze Augenbrauen und vorliegende Augen, so entstand aus diesen Verhältnissen ein Contrast, der einen jeden Fremden für den ersten Augenblick wo nicht abstieß, doch wenigstens nicht anzog. Sie empfand es früh, und dies Gefühl ward immer peinlicher, je mehr sie in die Jahre trat, wo beide Geschlechter eine unschuldige Freude empfinden, sich wechselseitig angenehm zu werden.“ Dafür schloß sie sich aber desto inniger als Seelenvertraute an ihren Bruder an. „Ihre Neigung,“ fährt Goethe fort, „wendete sich desto kräftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Vertraute, denen man ein Liebesgeständniß offenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heranwachsen und die Neigung zuletzt wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwistern, denn indem mein Verhältniß zu Gretchen zerriß, tröstete mich meine Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufriedenheit empfand, eine Nebenbuhlerin losgeworden zu sein, und so mußte auch ich mit einer stillen Halbschadenfreude empfinden, wenn sie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der Einzige sei, der sie wahrhaft liebe, sie kenne und sie verehre.“
Wir hatten uns jedoch schon zu lange in diesen Räumen verweilt; ich trieb daher die Freunde an, die breite Treppe, die von da an nicht mit Eisengitter, sondern mit einem hölzernen Geländer von geringelten und bauchig gedrehten Säulen versehen ist, zum dritten Stocke, dem ersten Dachstock oder, wie ihn Goethe nach damaliger Redeweise nannte, „Mansard“, hinaufzusteigen, wo sich das echte Heiligthum, das Giebelzimmer Wolfgang’s, befindet. –
Nicht die Dachstube im Hinterflügel ist das weltberühmte Gemach, wo der Dichter seine Jugendträume träumte, seine ersten Kunstversuche übte, als Jüngling den Götz und Werther, wie andere seiner Sturm- und Drangdichtungen gedichtet und den Besuch der geistigen Mithelden seiner Zeit empfangen hat. Bettina, die sich als Kind und bei Lebzeiten der Frau Rath nie um Goethe’s Vaterhaus bekümmert, hat um so mehr zu diesem Irrthum beigetragen, als sie gerade dieses Dachstübchen im Hinterflügel, mit seiner nüchternen Aussicht auf die Krönung der Brandmauer des südlichen Nachbarhauses mit seinem Schornstein und einem durch dieses Bild berühmt gewordenen „Gückelhahn“, der jetzt auf einer gegenüberstehenden Garküche sich herumdreht, als Vorblatt zu ihrem erdichteten „Briefwechsel Goethes mit einem Kinde“ in die Welt gesandt hat. Das echte Heiligthum ist vielmehr das Giebelzimmer im Dachstocke nach der Straße zu, welchem die drei Fenster als dem geräumigsten angehören und das noch je ein Nebenzimmer hat, welche mit demselben durch Thüren verbunden sind. In diesem großen Giebelzimmer, das gegen die Morgensonne liegt, reifte der Knabe zum Jüngling und der Jüngling zum Mann heran. Es war dem Knaben alsbald nach dem Umbaue eingeräumt worden, und so beschaffen, daß der bereits weltberühmte Sohn eines hoch angesehenen Hauses nicht allein als ausübender Sachwalter in demselben hausen, sondern auch die Besuche der gefeiertsten Männer auf demselben empfangen konnte. In seiner Knabenzeit war es in höchster Einfachheit eingerichtet, wurde aber später gewiß schöner ausgeschmückt.
[84]
Wie glücklich hat sich Goethe in diesem Giebelzimmer gefühlt! „Ich fühle täglich mehr Anhänglichkeit an das kleine Plätzchen, wo ich so manche Freude genoß;“ in diesem Zimmer hat er Friede und Sturm erlebt. Wie malt er es aus im Dämmerlicht seiner Einsamkeitsstunden!
„War ich guter Junge nicht so selig,
In der öden Nacht
Heimlich in mein Zimmerchen verschlossen?[WS 1]
Lag im Mondenschein,
Ganz von seinem Schauerlicht umflossen
Und ich dämmert’ ein;
Träumte da von vollen, goldnen Stunden
Ungemischter Lust …“
In diesem Giebelzimmer brachte er dem „Höchsten“, dem er einen Altar mit seiner Naturaliensammlung aufgebaut, mit Räucherkerzen,
[85][86] die er mit einem Brennglas angezündet, in seiner kindlichen eigenthümlichen Weise sein „Morgenopfer“ dar. Dort wurde er in den Dienst der Bühnenkunst eingeführt. Dort hatte man das von der Großmutter hinterlassene Puppenspiel wieder aufgestellt und zwar dergestalt, wie der Dichter selbst in Wahrheit und Dichtung und in Wilhelm Meister erzählt, „daß die Zuschauer in meinem Giebelzimmer sitzen konnten, die spielenden und dirigirenden Personen aber, sowie das Theater selbst vom Proscenium an in dem Nebenzimmer Platz und Raum fanden, wodurch bei mir das Erfindungs- und Darstellungsvermögen, die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert wurden.“
So waren dem Knaben Wolfgang die Jahre 1757 und 1758 vergangen; das folgende Jahr raubte ihm das bisher innegehabte Reich seines Giebelzimmers, denn in ihm führten nun die Frankfurter Maler und Seekatz von Darmstadt für den Grafen Thorane ihre Bilder aus, durch deren Anblick und Mitgenuß sich ihm ein neues Reich, das der bildenden Kunst, erschloß. Hier auf diesem Giebelzimmer machte er die Gelegenheitsgedichte, deren Ertrag im Jahre 1762 und in den zwei folgenden des Freundes „lustige Gesellen“ verzechten, während er in Gretchen’s Umgang sich entschädigte und zu immer neuem Thun begeisterte.
Mit Gretchen nimmt die Schönheitsgalerie der Mädchen und Frauen, die den Dichter liebten, fesselten und begeisterten und denen er dafür die Unsterblichkeit des Namens verliehen hat, ihren Anfang. Gretchen beginnt den Geisterzug und schreitet als seine Muse durch die Jahre 1762 bis 1764, ja bis an das Ende seiner dreiundachtzig Lebensjahre. Dieser „Frühgeliebten“ hat er auch den vollen Glorienschein der Poesie um’s Haupt gewoben. Wir haben uns, ehe wir in dieses Haus eintraten, jenes Haus in der Weißadler- und Rosengasse angesehen, das früher sogenannte „Puppenschränkchen“ (in Frankfurter Mundart „Bobeschränkelchen“), wo Goethe an Gretchen’s Seite, dem Mädchen aus dem Volke, die ersten starken, aber unschuldigen Regungen der Liebe empfand, die zu ihm sprach: „Nicht küssen! Das ist so was Gemeines, aber lieben, wenn’s möglich ist!“ – „Meine Neigung wuchs unglaublich,“ sagt er und charakterisirt seine erste Liebe im dreizehnten Lebensjahre in den Worten: „Die ersten Liebesneigungen einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine geistige Wendung. Die Natur scheint zu wollen, daß ein Geschlecht in dem andern das Gute und Schöne sinnlich gewahr werde, und so war auch mir durch den Anblick dieses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr eine neue Welt des Schönen und Vortrefflichen aufgegangen. Die Gestalt dieses Mädchens,“ fährt er fort, „verfolgte mich von diesem Augenblicke an auf allen Wegen und Stegen, es war der erste bleibende Eindruck, den ein weibliches Wesen auf mich gemacht hatte. – Das liebe Mädchen zu sehen und neben ihr zu sein, war nun bald eine unerläßliche Bedingung meines Lebens.“
In diese Zeit der „ersten jungen Liebe“ fiel am 3. April 1764 der feierliche Krönungstag Joseph’s des Zweiten. In der darauf folgenden Nacht wandelte er an Gretchen’s Seite „in jenen glücklichen Gefilden Elysiums“. „Von ‚Pylades‘ (seinem jungen Freunde) geleitet,“ berichtet uns der Dichter selbst, „fanden wir ein ganz artiges Speisehaus (eben jenes sogenannte Puppenschränkchen, welches bereits seit mehreren Jahren einem neuen Gebäude Platz gemacht hat), und da wir keine Gäste weiter antrafen, indem Alles auf den Straßen umherzog, ließen wir es uns um so wohler sein und verbrachten den größten Theil der Nacht im Gefühl von Freundschaft, Liebe und Neigung auf das Heiterste und Glücklichste. Als ich Gretchen bis an ihre Thür begleitet hatte, küßte sie mich auf die Stirn. Es war das erste und letzte Mal, daß sie mir diese Gunst erwies, denn leider sollte ich sie nicht wieder sehen.“
Der Verlauf dieser ersten Liebesgeschichte knüpft sich an das Giebelzimmer, denn auf dieses bannte ihn – o, der schmerzlichen Wandlung! – am folgenden Tag die ängstliche und bedrängte Mutter, nachdem sie ihm, da er noch im Bette lag, verkündet hatte, es sei herausgekommen, daß er „sehr schlechte Gesellschaft“ besucht und sich in die „gefährlichsten und schlimmsten Händel“ verwickelt habe. Der Hausfreund, Rath Schneider, vermittelte endlich glücklich; nur von Schwester und Mutter besucht, verbrachte der plötzlich sich unsäglich unglücklich fühlende Jüngling in diesem Giebelzimmer schmerzliche Tage „im Wiederkäuen seines Elends“, bis er sich allmählich und hauptsächlich dadurch wieder fand, daß er mit entsetzlicher Täuschung vernahm, Gretchen habe ihr Verhältniß als ein gänzlich unverfängliches, wahrhaft geschwisterliches dargestellt, ja den liebesiechenden Knaben „für ein Kind zu den Acten erklärt“. Da war er auf einmal geheilt.
Goethe hat, nach meiner Zusammenrechnung, zwölf Frauen geliebt; wechselnd war es bald mehr eine ideale, bald mehr eine sinnliche Neigung, die ihn entflammte, doch waltete die ideale zur Frau von Stein am längsten vor. Da hatte er Käthchen Schönkopf in Leipzig geliebt, vom Herbst 1765 bis 1769. In demselben Jahre, (1769) fesselte ihn vorübergehend Charitas Meixner, und ich habe selbst in ihrem früheren Wohnhause, der „Eulenburg“ zu Worms, auf der Fensterscheibe, die noch unversehrt ist, den von Goethe eingegrabenen Namen mit der Jahreszahl 1769 gelesen. Dann leuchtet uns vom October 1770 bis August 1771 aus der Idylle von Sesenheim Friederike Brion als das schönste und rührende Frauenbild aus dem Kreise des Dichters entgegen. In das Jahr 1771 bis Ende April 1772, vor dem Abgang nach Wetzlar, fällt einer Liebesgeschichte des Dichters mit der feurigen und reizenden Lila von Ziegler, an die er „Pilgers Morgenlied“ gedichtet hat. Sie war Hofdame der Landgräfin von Hessen-Homburg, hielt sich oft in Darmstadt auf und war eine innige Freundin von Merck und Caroline Flachsland, der Braut Herder’s. Vom Mai 1772 bis zum 11. September desselben Jahres schwärmte der vielliebende und vielgeliebte Dichter für Lotte Buff in Wetzlar, die er in „Werther’s Leiden“ mit dem unvergänglichen Zauber der Romantik mit tragischem Ausgang verherrlicht hat. Nachdem er sich einmal um jene Zeit von ihr losgerissen, schlich sich die schöne Maximiliane La Roche bereits auf der Rückreise in Coblenz in sein Herz ein, welche ihre Mutter, die trotz ihrer gefühlsseligen Zartheit in ihrem „Fräulein von Sternheim“ doch ihre Kinder „gute Partien machen“ ließ, im Januar 1774 mit dem reichen Kaufmann Brentano, einem Wittwer mit fünf unerzogenen Kindern, verheirathete. Merck schreibt: „Goethe ist bereits Hausfreund dort, spielt mit den Kindern und begleitet das Clavierspiel der jungen Frau. Daneben hat er die kleine Brentano über den sie umgebenden Oel- und Häringsgeruch und die Manieren ihres Ehemanns zu trösten.“ Goethe hat uns selbst in „Wahrheit und Dichtung“ den Wechsel seiner Liebesstimmung für Lotte Buff und Maxe Brentano in den Worten angedeutet: „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte noch ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehen und freut sich an dem Doppelglanze der beiden Lichter.“
Ich habe Ihnen auf dem Wege zum Hirschgraben in der großen Sandgasse das hohe, alte, vornehme Giebelhaus Nummer zwölf gezeigt, wo die „Maxe“ wohnte und ihre berühmte romantische Tochter, die „Bettina“ geboren hat, die den Dichter als Enkelin der Sophie La Roche und Tochter seiner geliebten Maxe in Weimar 1808 mit einem Besuch überraschte, sich „als Kind“ geberdete, sich auf seinen Schoß setzte und eine leidenschaftliche Neigung zu Goethe faßte, ohne daß derselbe sie erwiderte, da damals in seinem Herzen eine neue Flamme für Minna Herzlieb, die Pflegetochter des Buchhändlers Frommann in Jena, entzündet worden, die er als „Ottilie“ in den Wahlverwandtschaften feierte, an die er seine Sonette mit deutlicher Bezeichnung ihres Namens richtete, denen Bettina das Zeug zu ihrem erlogenen romantischen „Briefwechsel Goethe’s mit einem Kinde“ entnahm.
Ich habe Ihnen ebenfalls das nicht weit von hier auf dem großen Kornmarkt auf der rechten Seite neben der reformirten Kirche stehende schöne dreistöckige Wohnhaus Nummer fünfzehn mit fünf Fenstern gezeigt, in welchem im December 1774 Goethe, der junge Sachwalter, der schon berühmt war, „ein Mann von großem Genie, einnehmender Liebenswürdigkeit und eigenthümlicher Originalität“, im Zimmer gleicher Erde rechts vom Eingange, dessen gegenwärtig fast beständig geschlossene Läden (das Haus ist im Besitz des Bankiers Bonn) kaum mehr noch eine Bewohnung desselben vermuthen lassen, seine Lilli oder, wie sie eigentlich heißt, Anna Elisabeth Schönemann, zum ersten Male am Piano erblickte und von ihrem talentvollen Spiele hingerissen, die ersten Eindrücke mit sich fortnahm, die später ihr geistreicher Umgang zur heißen Liebe entflammte. Und an derselben Stelle war es wieder, wo Goethe, [87] den Entschluß der Trennung von Lilli im October 1775 im Herzen, an jenem Abend vor seiner Abreise nach Italien sein Ohr lauschend an das Fenstergitter preßte, um zum letzten Male die süße Stimme zu vernehmen, die, ohne die Nähe des Treulosgewordenen zu vermuthen, seiner mit dem Liede:
Warum ziehst Du mich unwiderstehlich,
Ach, in jene Pracht?
gedachte, das er vor kaum einem Jahre aus liebeglühendem Herzen für die Geliebte gedichtet, nicht ahnend, daß es einst die letzten Regungen für sie darin erwecken und damit auch zum Grabgesang seiner Liebe werden würde. Goethe lernte sie kennen als die einzige Tochter eines großen Frankfurter Bankiers und reichen Handelsherrn, nach dessen frühem Tode die Mutter, eine feingebildete, gescheidte Frau, eine geborene d’Orville, ebenso das Geschäft, wie das im fürstlichen Stile geführte Leben des Hauses fortsetzte. Goethe, zwar der „Löwe des Tages“, stand diesmal mit der bürgerlichen Beschränktheit seines Vaterhauses, mit seinem genialen Sturm und Drang, der sechszehnjährigen reizenden Lilli gegenüber, die seinem Vaterhause und seinen Eltern durch gesellige Stellung, durch Rang, Reichthum, wie durch Weltgewandtheit überlegen war. Durch eine alte, mit den beiden Familien befreundete Jungfer, Demoiselle Delfs aus Heidelberg, ging der Liebeshandel in eine Verlobung über. Aber die schöne Bankierstochter, die „Staatsdame“, wie sie im Vaterhause des Dichters genannt wurde, paßte nicht zu den Eltern Goethe’s, zu den alten, bürgerlich beschränkten Verhältnissen der Familie. Goethe hatte wenigstens erfahren, „wie es einem Bräutigam zu Muthe ist“, er liebte sie wirklich, und noch in späteren Jahren gestand er Eckermann im Gespräche, „Lilli sei die Erste und im Grunde auch die Letzte gewesen, die er tief und wahrhaft geliebt.“
Wir haben noch fünf Frauen, die mit Goethe innig befreundet waren und ihn fesselten, darunter Frau von Stein, eine zweite Charlotte, Mutter von sieben Kindern, sieben Jahr älter, die vom 3. Januar 1776 bis zu seiner Rückkehr aus Italien im August 1788 mit dem Dichter auf seiner Dichterhöhe im innigsten Lebensverkehre stand, aus dem uns wenigstens Goethe’s Briefwechsel und damit der Blick in jene reiche Zeit seines inneren Lebens glücklicher Weise gerettet worden ist. Das war die Frau, welche Goethe für immer hätte geistig fesseln können! Doch während des italienischen Aufenthaltes vom 3. September 1786 bis zum August 1788, in welchen die Liebesepisode mit der „schönen Mailänderin“ fällt, siegte in Goethe, wie auch nach der Rückkehr, die Natur über das Ideal und bewirkte jene Wandlung, die am bald darauf mit seiner Gewissensehe mit Christiane Vulpius begann, welche ihm bereits am 25. December 1789 seinen einzigen Sohn August gebar. Die Geschicke, welche die Ordnung der Stadt umkehrten, brachten den Dichter zur bürgerlichen Ordnung zurück. Am 19. October 1806, nach den Unglückstagen von Jena und Auerstädt, ließ er sich mit seiner „kleinen, dicken, runden Freundin“ in Gegenwart seines einzigen Sohnes August und seines Secretairs und Hausofficianten Dr. Riemer in der Sacristei der Schloßkirche zu Weimar kirchlich trauen. Damit schloß sich sein Familien- und Hauswesen bürgerlich ab. Erst am 6. Juni 1816 starb die Frau Geheimräthin Christiane von Goethe. Der Dichter schien sich einer ewigen Jugend zu erfreuen, er schien nicht zu altern, denn im Jahre 1808 erglühte er für Minna Herzlieb und noch als Siebenzigjähriger, im Jahre 1819, flammte er in leidenschaftlicher, aber auch bald erlöschender Gluth zum letzten Mal für Fräulein von Lewetzow auf.
„Lassen Sie uns jetzt,“ ergriff Halliwell das Wort, „ehe wir das Giebelzimmer verlassen, das uns in das Leben des Dichters so tief hineingeführt, auch seiner Freunde gedenken, die sich innerhalb dieser Wände um ihn versammelten, der plötzlich durch Götz von Berlichingen nicht allein zum Haupt- und Mittelpunkte aller strebenden Schöngeister, sondern auch durch des armen Werther’s Leiden aller Sturm- und Dranggeister geworden war. Zwei Männer treten vor Allen in den Vordergrund, Johann Heinrich Merck aus Darmstadt und Goethe’s Landsmann, Friedrich Maximilian Klinger, der ‚Sohn der Armuth‘. Sagt doch Goethe selbst von Merck: ‚Dieser eigne Mann, der auf mein Leben den größten Einfluß gehabt, war von Geburt ein Darmstädter. Als ich ihn kennen lernte (es war durch die Vermittelung Herder’s in Straßburg und seiner Braut Caroline Flachsland am Ende des Jahres 1771 nach seiner Rückkehr von Straßburg), war er Kriegszahlmeister und später Kriegsrath in Darmstadt. Mit Verstand und Geist geboren, hatte er sich schöne Kenntnisse, besonders der neuen Literatur, erworben und sich in der Welt- und Menschengeschichte nach allen Zeiten und Gegenden umgesehen. Treffend und scharf zu urtheilen war ihm gegeben; man schätzte ihn als einen wackeren, entschlossenen Geschäftsmann und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat er überall ein als ein sehr angenehmer Gesellschafter für die, denen er sich durch beißende Züge nicht furchtbar gemacht hatte. Er war lang und hager von Gestalt; eine hervordringende spitze Nase zeichnete sich aus, hellblaue, vielleicht graue Augen gaben seinem Blick, der aufmerkend hin und wieder ging, etwas Tigerartiges. In seinem Charakter lag ein wunderbares Mißverhältniß. Von Natur ein braver, zuverlässiger Mann, hatte er sich gegen die Welt erbittert und ließ diesen grillenkranken Zug dergestalt in sich walten, daß er eine unüberwindliche Neigung fühlte, vorsätzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu sein.‘ Merck, der nun eben einmal für Goethe’s Urbild des Mephistopheles gilt, kehrte von jener Zeit an oft bei dem Dichter im Vaterhause ein, nicht blos an des Vaters wohlbestellter Tafel, der sich in seinem Sohne durch einen solchen Gast geehrt fühlte, sondern ganz besonders war es auf des Dichters Giebelzimmer, wo er begeistert dessen Vorlesungen lauschte und dessen Freude am Hervorbringen zu immer neuer Lust entflammte. Auf Merck’s Zuruf:
‚Bei Zeit auf die Zäun’,
So trocknen die Windeln!‘
schickte er den Götz von Berlichingen in die Welt hinaus, zu dem Goethe das Papier herbeischaffte, und den Merck im Jahr 1773 in seiner Privatdruckerei im Dorfe Arheilgen bei Darmstadt druckte. Auf dem Giebelzimmer vollendete Goethe im Jahr 1774 „des armen Werther’s Leiden.“ Aber eine Verstimmung durch Merck hätte das Werk beinahe wieder vernichtet.
„Einst besuchte er mich,“ erzählt Goethe in ‚Wahrheit und Dichtung‘, „und als er nicht sehr gesprächig schien, bat ich ihn mir zuzuhören. Er setzte sich auf’s Kanapee und ich begann Brief vor Brief das Abenteuer vorzutragen. Nachdem ich eine Weile so fortgefahren hatte, ohne ihm ein Beifallszeichen zu entlocken, griff ich mich noch pathetischer an, und wie ward mir zu Muthe, als er mich, da ich eine Pause machte, mit einem: Nun ja! es ist ganz hübsch! auf das Schrecklichste niederschlug und sich, ohne etwas Weiteres hinzuzufügen, entfernte. Ich war ganz außer mir; denn wiewohl ich Freude an meinen Sachen, aber in der ersten Zeit kein Urtheil über sie hatte, so glaubte ich ganz sicher, ich habe mich im Sujet, im Ton, im Styl, die denn freilich alle bedenklich waren, vergriffen und etwas ganz Unzulässiges verfertigt. Wäre ein Kaminfeuer zur Hand gewesen, ich hätte das Werk sogleich hineingeworfen; aber ich ermannte mich wieder und verbrachte schmerzliche Tage, bis Merck mir endlich vertraute, daß er in jenem Momente sich in der schrecklichsten Lage befunden, in die ein Mensch gerathen kann; er habe deswegen nichts gesehen noch gehört, und wisse gar nicht, von was in dem Manuscripte die Rede sei.“ Ebenso mahnte Merck seinen Freund bei Mittheilung des Clavigo in diesem Giebelzimmer an seine höhere Kraft und Würde mit den Worten: „Solch’ einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben, das können die Andern auch!“ Bei dieser Gelegenheit nannte ihn Goethe, ohne seines Freundes Absicht zu verkennen, „Mephistopheles“. Aber Merck blieb auch später noch Goethe’s Führer und treuer Eckhard. So stellte er ihm vor dem Antritt seiner ersten Schweizerreise das Horoskop: „Dein Streben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben,“ und selbst als Goethe schon als Dichterfürst begrüßt zu werden und die Huldigung der Welt zu empfangen gewohnt war, rief er ihm, als er bei längerem Aufenthalt in Weimar sein contemplatives Wesen mißfällig wahrgenommen, richtend und zurechtweisend die Worte zu: „Siehst Du, im Vergleich mit dem, was Du in der Welt sein könntest, ist mir Alles, was Du geschrieben hast, Dreck!“ und wurde zuletzt so verstimmt, daß er Goethe gar nicht mehr sah und in die Worte ausbrach: „Was Teufel fällt dem Wolfgang ein, hier zu Weimar am Hofe herumzuschranzen und zu scherwenzen, Andere zu hudeln oder, was mir Alles eins ist, sich von ihnen hudeln zu lassen! Giebt es denn nichts Besseres für ihn zu thun?“
„Doch steigen wir,“ mahnte ich, „um auch noch Klinger an der rechten Stelle in Goethe’s väterlichem Hause zu begrüßen, in den Hof hinab.“ Goethe widmete Klingern am 31. Januar [88] 1826 ein Bild dieses Höfchens seines Vaterhauses, mit dem noch erhaltenen Brunnen (Regenpumpe) an der westlichen Mauer, das den hölzernen Schupf an der Südseite zeigt, in dessen niedrigen Dachraum eine kleine Leiter hinaufsteigt. Auf der ersten Seite des Briefbogens (das Original ist im Besitze des ehemaligen Königs Georg des Fünften von Hannover) finden sich folgende Strophen an Klinger (auch in Goethe’s Werken aufgenommen) von Goethe’s Hand:
„An diesem Brunnen hast auch Du gespielt,
Im engen Raum die Weite vorgefühlt;
Den Wanderstab in’s fernste Lebensland
Nahmst Du getrost aus frommer Mutterhand,
Und magst Du gern’ erlosch’nes Bild erneu’n,
Am hohen Ziel des ersten Schritts erfreun.“
Auf der dritten Seite hinter dem Bilde stehen die Zeilen:
„Eine Schwelle hieß in’s Leben
Uns verschied’ne Wege geh’n;
War es doch zu edlem Streben,
Drum auf heitres Wiedersehn!“
Nach gründlichen Untersuchungen, ob wir gleich auch das Wort „eine Schwelle“ im Allgemeinen aus Frankfurt überhaupt beziehen können, ist Friedrich Maximilian Klinger am 17. Februar 1752 in dem vor dem Umbaue vom Hofe aus zugänglichen Nebenhäuschen geboren und Goethe’s Vaterhaus ist demnach auch Klinger’s Geburtshaus. Sein Vater war ein armer Holzhacker und Stadtsoldat und seine Mutter nährte sich nach dessen Tode erst als Waschfrau, dann später durch einen kleinen Feuersteinladen.
Der berühmte Dichter von „Sturm und Drang“, nachdem er bereits russischer Generallieutenant in Petersburg geworden und Gemahl der durch Rang und Schönheit ausgezeichneten natürlichen Tochter der Kaiserin Katharina der Zweiten, Alexandra Alexeff, besuchte in glänzender Militairuniform mit allen seinen Orden die gute Mutter in ihrem Stübchen in der engen Rittergasse (die seit einigen Jahren auf Anordnung des Senats „Klingergasse“ umgetauft worden), die er in zwanzig langen Jahren nicht gesehen hatte und leider nicht bewegen konnte, ihm nach Petersburg zu folgen.
Thaddäus von Bulgarin, der in seinen Memoiren (1856) ebenfalls behauptet, daß Klinger in dem Goethe’schen Nebenhäuschen geboren sei, führt uns das Bild Klinger’s lebendig in den Worten vor: „In Gesellschaft, die ihm zusagte, und in freundschaftlichen Gesprächen war Klinger, wenn überhaupt bei guter Laune, außerordentlich angenehm und interessant; aber im Dienste und seinen Untergebenen gegenüber kalt wie der steinerne Gast im Don Juan. Klinger hatte bei hohem Wuchse und regelmäßigen Gesichtszügen eine starre Physiognomie; nie hat ihn Jemand lächeln sehen.“
Aus dem Höfchen traten wir wieder auf die Straße. Die Freunde warfen noch schweigend einen Scheideblick auf die heilige Dichterstätte.
„Von der Wiege zum Grabe!“ bat nach längerem Schweigen Halliwell. „Unser letzter Gang sei zum Grabe der Mutter.“
Auf dem alten, längst nicht mehr benutzten Kirchhofe, der an die Peterskirche stößt und an dessen Wänden Denkmäler und Wappenschilder anzeigen, wo die alten Patriciergeschlechter Frankfurts gruppenweise ruhen, hat beim östlichen Eingang rechts die Frau Rath am 15. September 1808 ihre letzte Ruhestätte gefunden, an der Seite des ihr vor sechsundzwanzig Jahren im Tode vorausgegangenen Gatten, nachdem sie achtundsiebenzig Jahre gelebt und den vollen Weltruhm ihres Sohnes, wenn auch fern von ihm, in ihrem treuen Mutterherzen mit durchempfunden hatte.
Der schönste Zug bei der ganzen hundertjährigen Geburtstagsfeier ihres großen Sohnes war die Bezeichnung dieser heiligen Stätte durch einen neuen einfachen, das ganze Grab deckenden Sandstein mit der einfachen Aufschrift:
Geboren am 19. Februar 1731.
Gestorben am 13. September 1808.
An dem Fuße des Denksteins die Aufschrift:
Ja, die Frau Rath war der Schutzgeist ihres Sohnes, so lange er sich in Frankfurt aufhielt. Sie war es eigentlich, welche ihn, da sie trotz einer guten Frankfurterin fühlte, er würde an der Seite des nüchternen Vaters seine höhere Bestimmung verfehlen, antrieb, der Einladung seines jungen fürstlichen Freundes nach Weimar zu folgen. Und sie blieb innig mit dem Sohne verbunden ihr Leben lang. Im März 1807 besuchte der Geheime Rath von Goethe mit Frau und Sohn sie zum letzten Mal in Frankfurt, und ihr einziger Enkel August sah Ostern 1808, als er im neunzehnten Lebensjahre nach Heidelberg als Student ging, nochmals die liebe Großmutter und speiste mit ihr beim Fürst-Primas zu Mittag. Der Sohn aber hielt ihr bei Mittheilung eines ihrer Briefe an Zelter die schönste Lobrede in den Worten: „Darin, wie in jeder Zeile, spricht sich der Charakter einer Frau aus, die in alttestamentlicher Gottesfurcht ein tüchtiges Leben voll Zuversicht auf den unwandelbaren Volks- und Familiengott zubrachte und, als sie ihren Tod selbst ankündigte, ihr Leichenbegängniß so pünktlich anordnete, daß die Weinsorten und die Größe der Bretzeln, womit die Begleiter erquickt werden sollen, genau bestimmt war.“
Wir reichten uns zum Abschied die Hände. Paul Nicard, der immer ernster geworden, sprach beim Scheiden die bedeutungsvollen Worte Elisabeth Goethe’s an Bettina Brentano: „Der Mensch wird begraben in geweihter Erd’; so soll man auch große und seltene Begebenheiten begraben in einem schönen Sarg der Erinnerung, an den ein Jeder hintreten kann, das Andenken zu feiern. Das hat schon der Wolfgang gesagt, als er den Werther geschrieben!“Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ in der Vorlage: erschlossen; korrekt heisst es "verschlossen"