Die Gartenlaube (1858)/Heft 50

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 50. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Todtenbesuch am Skagerhorn.
Nach wirklichen Begebenheiten mitgetheilt von Ernst Willkomm.
(Fortsetzung.)
IV.
Die Spur des Brauträubers.

Es war Abend, als wir die kleine, aber lebhafte Hafenstadt betraten. Wir verfügten uns sogleich nach Colhorn’s Laden, in dem es, wie immer, viel zu thun gab. Eine beträchtliche Anzahl Matrosen, deren Aeußeres wenig Anziehendes hatte, weil sie eben erst gelandet waren, versorgten sich mit neuen Kleidungsstücken. Besonders stark begehrte Artikel waren blau- und rothwollene Jacken. Aber auch Beinkleider, feine seidene Halstücher, schwarzlederne Glanzmützen und andere Dinge mehr fanden guten Absatz.

Wir warteten, bis der Laden sich etwas geleert hatte, und fragten dann nach dem Besitzer desselben. Herr Colhorn trat uns sogleich entgegen, um zu hören, was wir etwa begehren möchten. Henricksen zog das sauber zusammengelegte Tuch hervor und reichte es ihm mit der Frage, ob er dasselbe als bei ihm gekauft anerkenne.

Herr Colhorn unterwarf es einer genauen Prüfung und bejahte dann die Frage, indem er etwas pikirt den Grund derselben zu wissen verlangte. Henricksen wollte aufbrausen, weshalb ich ihn zu schweigen bedeutete und statt seiner das Wort ergriff.

„Sie werden uns einige Minuten Gehör schenken, Herr Colhorn,“ sprach ich, „und zwar ohne Zeugen. Es handelt sich um ein Menschenleben, um die Entdeckung einer spurlos verschwundenen Persönlichkeit.“

„Und die vermuthen Sie mit Hülfe dieses Tüchleins aufzufinden?“ warf er lächelnd ein.

„Wir hegen in der That diese Hoffnung.“

Herr Colhorn schüttelte den Kopf, öffnete aber gleichzeitig die Thür seines Privatzimmers und bat uns, einzutreten. Er folgte und schloß hinter sich zu.

„Wir sind jetzt ungestört,“ sagte er, „sprechen Sie also!“

Ich theilte ihm möglichst kurz das Vorgefallene mit und Herr Colhorn hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Als ich geendet hatte, sagte er:

„Was aber kann ich dabei thun? Es sind bei mir ganz ähnliche Tücher von Vielen gekauft worden, kann ich da wissen, wer gerade dieses eine davon käuflich an sich gebracht hat?“

„Es verkehren bei Ihnen vorzugsweise viele nordische Seeleute,“ versetzte ich, „Schweden, Norweger, Finnen und Russen.“

„Wohl wahr,“ erwiderte Colhorn, „allein die meisten dieser meiner ab- und zugehenden Kunden kenne ich nicht dem Namen nach.“

Ich machte den Kaufmann jetzt darauf aufmerksam, daß der Kauf des Tuches vor drei Jahren stattgefunden habe, bemerkte ferner die Jahreszeit, in der dies ohne Frage geschehen sein mußte, und wagte zuletzt sogar den Tag des Kaufes zu bestimmen.

„Sie sind gewiß ein gewissenhafter Kaufmann und führen also genau Buch,“ schloß ich meine Bemerkungen, „Es dürfte sich daher der Tag ermitteln lassen, an welchem das Tuch bei Ihnen gekauft ward, und wenn ich Ihnen außerdem noch sage, daß der Käufer ein Steuermann war, starkes strohfarbenes Haar trug und von Figur völlig diesem meinem Freunde hier glich: so genügen vielleicht diese Andeutungen zur Ermittelung des Käufers.“

„Das wäre in der That nicht unmöglich,“ versetzte Herr Colhorn. „Steuerleute entnehmen von mir gewöhnlich viele Artikel, es kommt sogar häufig vor, daß sie für einen Theil der Mannschaft mit einkaufen, weil diese gewöhnlich kein Geld hat. In diesem Falle pflege ich den Namen der betreffenden Steuerleute in mein Buch zu schreiben und die von mir entnommenen Artikel einzeln dabei aufzuführen! Wollen Sie mir noch einmal den Tag nennen?“

Ich that es.

„Sie sollen auf der Stelle eine ganz bestimmte Antwort erhalten,“ sprach Herr Colhorn, zog den Schellenzug und befahl dem eintretenden Burschen, das Ladenbuch vom Jahre 17.. zu bringen.

Eine Minute später lag dasselbe vor uns.

Unter lautem Herzklopfen folgten wir den suchenden Augen des Kaufmannes.

„Der achte September, glauben Sie, war es?“ fragte er, die einzelnen Tage überfliegend.

„Der Kauf muß zwischen dem sechsten und neunten dieses Monats geschehen sein,“ antwortete Henricksen.

Colhorn las weiter und murmelte dabei halblaut eine Menge fremd klingende Namen vor sich hin. Plötzlich rastete der suchende Finger.

„Steuermann Torkel Veen vom russischen Schoonerschiff „Pawlowsk?“ sprach er. „Den Mann muß ich kennen – er trägt strohblondes Haar, ist von gedrungener Gestalt, jung und gewandt, und er hat, wie ich selbst hier notirt habe, am siebenten September des genannten Jahres ein solches Tuch gekauft.“

Henricksen ward bald bleich, bald roth. Die Spur des Räubers seiner Braut – denn dafür hielt er jetzt den bezeichneten Steuermann – war durch das zufällig aufgefundene Tuch, wie es schien, glücklich entdeckt worden.

„Hat sich der Mann inzwischen wieder hier blicken lassen?“ fragte ich den gefälligen Kaufmann.

[714] „In meinem Locale wenigstens nicht,“ versetzte dieser. „Aber das können Sie ja sehr leicht erfahren beim Wasserschout oder beim russischen Consul. Dort wird man Ihnen auch den Bestimmungsort des „Pawlowsk“ nennen, als er vor drei Jahren den hiesigen Hafen verließ.“

Wir dankten Herrn Colhorn für seine Zuvorkommenheit, ich kaufte ein paar seidene Tücher, eine goldgestickte Mütze, um mein der hübschen Leonore gegebenes Wort zu halten, ging dann noch in den Laden eines Goldschmiedes, um einen blitzenden Ring beizufügen, und befolgte hierauf in Henricksen’s Begleitung die Rathschläge des Kaufmannes.

Am nächsten Morgen schon hatten wir ermittelt, daß der russische Schooner „Pawlowsk“ damals mit einer Ladung Colonialwaaren, nach Reval bestimmt, die Anker gelichtet hatte. Es war dies am Tage der Verlobung Henricksen’s mit Marie Anne geschehen. Wir brachten außerdem noch in Erfahrung, daß der genannte Schooner wegen ungünstigen Windes ein paar Meilen vom Lande ab nochmals Anker geworfen hatte und der erste Steuermann Torkel Veen bis in die Nacht hinein am Lande gewesen sei. Der „Pawlowsk“ hatte seitdem nicht mehr diese Hafenstadt besucht.

Diese Ermittelungen vermochten jedoch Henricksen nicht zu beruhigen. Marie Anne’s Schicksal, die er bisher für todt gehalten, folterte ihn unaufhörlich. Daß das junge Mädchen eine kurze Zeit geschwankt und ihr Herz befragt hatte, konnte er ihr nicht zum Vorwurfe machen. Die Entscheidung war ja schließlich zu seinen Gunsten ausgefallen. Aber die Verlockung der Arglosen, ihre wahrscheinlich gewaltsame Entführung schmerzte ihn tief. War Veen wirklich der Räuber seiner Braut, so mußte dieser Mann, ein Esthe von Geburt, wie uns weitere Erkundigungen sagten, einen leidenschaftlichen, zu roher Gewalt sich hinneigenden Charakter besitzen. Im Geiste sah Henricksen seine Braut unglücklich, gemißhandelt! Und wer konnte wissen, ob sie den Qualen eines allem Anscheine nach auch höchst eifersüchtigen Mannes nicht längst erlegen war!

So trüben Gedanken lange nachzuhängen, blieb meinem Freunde zum Glück wenig Zeit übrig. Unsere Lage verlangte, daß wir uns möglichst bald wieder nach einer Heuer umsahen, doch nahmen wir uns gegenseitig das Versprechen ab, diesmal nur auf nach dem Norden bestimmten Schiffen Dienste zu nehmen. Daß wir ein russisches Fahrzeug unter allen Umständen jedem andern vorziehen würden, verstand sich von selbst.

Leider lag gerade kein einziges russisches Schiff im Hafen. Um nun wo möglich zum Ziele zu gelangen, reiste Henricksen sofort ab nach einer andern, nicht allzuweit entfernten Hafenstadt, die in der Regel häufig von russischen Kauffahrern besucht ward. Er hatte Auftrag, für mich mit zu handeln, wenn die Verhältnisse es zulassen sollten. Ich selbst mußte, ehe ich persönlich für mein weiteres Fortkommen sorgte, Leonore noch einmal sehen. Die Augen des muntern Mädchens hatten mich gar so freundlich angelächelt! Und dann wartete sie ja auf Rückgabe des entliehenen Tuches und – so hoffte ich – auch wohl auf die verheißenen glänzenden Geschenke, die ich ihr freigebig versprochen.

Wir sahen uns wieder. Sie nahm aufrichtigen Antheil an dem, was ich ihr über den Erfolg unserer Erkundigungen mittheilen konnte, und als ich von ihr ging, wehrte sie mir nicht, daß ich den mitgebrachten Goldreif an ihren Finger steckte. Ich verließ Leonore mit der Gewißheit im Herzen, sie werde sich als meine still Verlobte betrachten.

Inzwischen waren auch die Bemühungen Henricksen’s von gutem Glück begünstigt. Der Capitain der Brigg „Olga“ von Kronstadt, ein Deutscher von Geburt, suchte gerade noch einige seegewandte Matrosen, um sein übrigens größtentheils finnisches Schiffsvolk leichter regieren zu können. Der wackere Mann heuerte uns Beide, mich als Vollmatrose, Henricksen, der schon vor ein paar Jahren sein Steuermanns-Examen gemacht hatte, als solcher aber bisher noch kein Unterkommen finden konnte, als zweiten Steuermann. Die Bestimmung der „Olga“ war Reval, und da sie ihre Ladung zum größten Theile bereits eingenommen hatte, brauchten wir nur noch guten Wind abzuwarten, um auszuclariren. Letzteres geschah nach Verlauf einer Woche.

Diese zweite Reise traten ich und Henricksen mit sehr gemischten Empfindungen an. Mein Freund sprach sich gar nicht über seine Pläne aus, so oft ich ihn aber auszuforschen suchte, las ich in dem unheimlichen Funkeln seiner Augen, daß sein Herz gegen Torkel Veen von Haß überlaufe. Traf er mit dem Gesuchten zusammen und fand er Marie Anne bei ihm, dann gab es zwischen Beiden einen Kampf auf Leben und Tod. Gerade diesem Aeußersten vorzubeugen, war mein Vorsatz, und ich ging Tag und Nacht mit mir zu Rathe, wie ich wohl am besten eine verbrecherische Handlung möchte verhindern können.

Gegen den Capitain der „Olga“ beobachteten wir Beide tiefes Schweigen. Er hätte Verdacht schöpfen und unser Vorhaben, wenn auch nur aus Klugheitsrücksichten, in irgend einer Weise durchkreuzen und unausführbar machen können. Nur ganz nebenbei und ohne daß es ihm auffallen konnte, erkundigten wir uns nach den Rhedern Reval’s, nach der Zahl der Schiffe, die sie besaßen, und nach den Namen der vorzüglichsten derselben. Der „Pawlowsk“ war eins der ersten, das er uns nannte.

„Ist’s nicht ein Schooner?“ sagte Henricksen.

„Kennst Du ihn?“ fragte der Capitain.

„Hab’ ihn, glaub’ ich, ’mal gesehen,“ erwiderte Henricksen. „Sein Steuermann galt für einen ausbündig wilden Menschen.“

„War er auch,“ sagte der Capitain unwillig. „Hab’ mich fast zu Tode geärgert über den Bengel, als ich ihn ein halbes Jahr lang als Junge an Bord hatte. Sein Kopf ist so hart, wie sein strohernes Haar, und was er sich einmal vornimmt, das führt er auch aus, und sollten Galgen und Rad gleich daneben stehen. Den jüngsten Mat stürzte er in wilder Wuth über Bord, blos weil er in der Eile in seine Schuhe gefahren war. Der arme Mensch ward zum Glück gerettet, aber den Torkel Veen behielt ich nicht länger an Bord.“

„Ich hörte seine große Entschlossenheit rühmen,“ warf ich ein, obwohl das eine reine Erfindung war, denn ich hatte nie von Jemand auch nur ein Wort über den Esthen vernommen.

„Wäre er nicht so unbändig, so eigenwillig, so jähzornig und deshalb so überaus schwer zu behandeln, kein Seemann könnte sich einen tüchtigeren Steuermann in gefahrvollen Stunden wünschen.“

„Fährt er noch auf dem „Pawlowsk“?“ fragte Henricksen.

„Bestimmt weiß ich es nicht,“ erwiderte der Capitain. „Es gab immer Reibungen, auch munkelte man vor Jahr und Tag etwas von einer Geschichte, die am Bord vorgekommen sein sollte und die beinahe zu einer criminellen Untersuchung geführt hätte. Ich hab’ mich absichtlich nicht darum gekümmert, um nicht mit den Gerichten, wenn auch nur als Zeuge, in Berührung zu kommen. Anderen mochte es wohl eben so gehen, und so kam nichts an den Tag. Den Torkel Veen aber soll man damals gleich einem Rasenden auf dem Schiffe wie am Lande haben herumlaufen sehen, worauf er verschwand.“

Näheres über den Esthen war nicht zu erfahren, auch durften wir nicht weiter in den Capitain der „Olga“ dringen, wenn wir durch unsere Fragen nicht Verdacht erregen wollten.

Die Reise verlief, eine höchst unbedeutende Havarie abgerechnet, die wir auf der Höhe von Bornholm erlitten, ganz glücklich. Wir hatten mit keinen widrigen Winden zu kämpfen, überhaupt keinerlei Unfälle, wie sie Seefahrern so häufig zustoßen. Erst in unmittelbarer Nähe von Reval begegnete uns etwas ganz Ungewöhnliches.

Windstilles Wetter nöthigte den Capitain, vor Anker zu gehen, um in dem schwierigen Fahrwasser nicht mit einem entgegenkommenden Schiffe bei der dicken Luft, die über dem Meere lagerte, in Collision zu gerathen. Wir hatten die üblichen Laternen aufgehängt, die vorschriftsmäßigen Wachen beschritten das Deck. Da vernahmen wir plötzlich ein unerklärliches Geräusch vom Lande her. Es klang wie dumpfes Rauschen in der Ferne rasenden Sturmes, dann wieder Gezisch heißen, aus enger Oeffnung strömenden Dampfes. Dazwischen ließ sich Geschrei, Jammer, Geheul hören, und zwar so laut, so angstvoll, so andauernd, daß uns Allen grauste. Sonst blieb es ringsum todtenstill. Die Nebelluft stand fest wie eine graue Mauer, das Meer lag ruhig vor uns, wir befanden uns in der absolutesten Einsamkeit. So verging etwa eine halbe Stunde. Dann ward das Rauschen, Zischen, Heulen und Winseln schwächer und hörte nach einiger Zeit ganz auf.

Während der Dauer dieser unerklärbaren Töne hatte nur Einer oder der Andere ein paar abgebrochene Worte gesprochen, um sein Erstaunen auszudrücken. Henricksen und ich, wir Beide begnügten uns mit schweigendem Horchen. Uns waren Meer, Land und Leute völlig unbekannt, wir konnten also nicht eingeweiht sein in die Geheimnisse der Küstengegenden, in denen ja vielleicht seltsame Naturstimmen [715] zu gewissen Zeiten bei tiefer Nacht und Windstille hörbar wurden.

Aber auch der Capitain und die übrige zum größeren Theil hier heimische Mannschaft der „Olga“ theilte unser Staunen, um nicht zu sagen, unser Entsetzen. Kein Mensch auf dem Schiffe hatte je – das war unverkennbar an der Haltung Aller zu gewahren – solche schauerliche Töne und Stimmen vernommen. Henricksen’s Frage, was wohl die Ursache dieses Geräusches sein könne, beantwortete der Capitain mit einem barschen:

„Ich weiß nicht!“

Es war Mitternacht, als sich diese markdurchschütternden Töne hören ließen. Um ein Uhr war Alles wieder still, und der lautloseste Friede lag über Meer und Land. Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang hob sich der Nebel, wir erkannten die Küsten zur Rechten und sahen, daß wir nur etwa eine Stunde in gerader Richtung davon entfernt sein mochten. Zwischen Schiff und Land aber lag ein felsiges Eiland, dem Ansehen nach völlig unbewohnt, und über diesem Eilande zitterte ein grau-weißer Schatten, als steige aus tiefer Felsschlucht Rauch auf.

Der Capitain betrachtete diesen Felsbrocken geraume Zeit sehr genau durch sein Fernrohr, ohne sich weiter gegen uns über sein Denken auszulassen.

Als die Sonne höher stieg, kam auch wieder Bewegung in die Luft. Das Meer kräuselte sich, wir konnten die Anker lichten, setzten möglichst viele Segel auf, und erreichten noch vor Abend die Rhede von Reval.




V.
Sturm und Schiffbruch.

Von einem frühen Winter überrascht, waren wir genöthigt, Monate lang hier zu verweilen. Wir hatten demnach Zeit, dem Manne nachzuspüren, der uns vor Allem interessirte. Das war jedoch mit sehr großen Schwierigkeiten verbunden. Es ließ sich nichts ermitteln, als daß Torkel Veen aus Gründen, die uns verborgen blieben, den „Pawlowsk“ verlassen hatte, und gleich darauf verschwunden war. Es gelang uns, ehemalige Freunde des Mannes aufzufinden, aber auch von diesen war nichts zu erfahren. Höchst wahrscheinlich hätten sie sprechen können, wenn nicht Furcht oder Angst, vielleicht gar ein furchtbarer Eid, ihnen Stillschweigen gebot. Unsere Vermuthung, es müsse mit dem von uns Gesuchten sich etwas ganz Ungewöhnliches zugetragen haben, gestaltete sich mehr und mehr zur Gewißheit.

So verging der Winter, ohne uns dem ersehnten Ziele auch nur einen einzigen Schritt näher zu bringen. Henricksen verfiel wieder in seine frühere melancholische Stimmung, und ich selbst verlor ebenfalls meine angeborene Heiterkeit. Ich sah mit Sehnsucht dem Zeitpunkt entgegen, wo die starre Eisdecke brechen, und wärmere Lüfte uns die Wasserstraße nach der milderen Heimath wieder öffnen würden.

Gerade im härtesten Winter machten einige verwegene Menschen in der Umgegend Reval’s viel von sich reden. Im Innern des unermeßlichen russischen Reiches waren Verbrecher auf ihrem Transport nach Sibirien ihren Wächtern entsprungen. Sie entkamen wie durch ein Wunder ihren Verfolgern, gewannen die nordischen Küstenstriche, und verschwanden hier jeglichen Nachstellungen. Man erzählte sich, daß sie versteckt auf den unzähligen Klippen der finnischen Bucht hausten, und früher eine Art Seeräuberleben geführt hätten. Schiffe waren von diesen waghalsigen Flibustiern niemals belästigt worden; überhaupt hatten sie sich der Sage nach in ihren gebrechlichen, aber mit unglaublicher Kühnheit geführten Fahrzeugen niemals auf offener See, sondern nur zwischen den zahllosen Klippen und Felseninseln der Küste gezeigt. Es mußten sich demnach auch tüchtige Seeleute zu diesen verzweifelten Menschen gesellt haben. Daß die große Menge jegliches Verbrechen, jede Schandthat nur diesen gleichsam unsichtbaren Räubern zur Last legte, war Selbstfolge.

Henricksen gab zuerst meinen eigenen Gedanken Worte, als die Kunde von einem mehrfachen Morde, der erst kürzlich verübt worden sein sollte, mehr als je von der gefährlichen Bande sprechen machte. Die fest zugefrorene Bucht war für diese gewissenlosen Räuber ein Terrain, auf dem sie sich nach Belieben tummeln konnten.

„Wenn Torkel Veen noch lebt,“ sagte Henricksen, „so hat er sich gewiß diesem Gesindel zugesellt. Ich besorge sogar, daß er mit unter den Verbrechern gewesen ist, die in so unbegreiflicher Weise ihre Flucht auf dem Transport veranstalteten. Damit hängt wahrscheinlich jene dunkele Geschichte zusammen, die unser Capitain nicht genau kennen will. Aus einem Mörder ist zuletzt ein Raubmörder geworden.“

„Unmöglich wäre dies nicht,“ gab ich zur Antwort, „doch kommt es mir auch nicht recht wahrscheinlich vor.“

„Mir desto mehr, Tom Peter. Jetzt erkläre ich mir auch jene entsetzlichen Töne in der Nacht vor unserer Ankunft in Reval. In dem öden Felsenhorn in der Bucht, unfern einer wenig bevölkerten Küste hat das Volk seinen Versteck. Dorthin schleppen sie ihre Beute, dort entledigen sie sich aller unbequemen Zeugen ihres Thuns, die sie verrathen könnten, dort zechen und schwelgen sie in den Reichthümern, die die verabscheuungswürdigsten Verbrechen ihnen liefern.“

„Wenn dies im Ernst Deine Ueberzeugung ist, dann wäre es Pflicht für Dich, Anzeige von unserer Entdeckung zu machen.“

„Um sich von den Behörden hudeln zu lassen? Dazu habe ich keine Lust.“

„Aber Du begegnetest vielleicht dem Räuber Marie Anne’s!“

Henricksen zitterte vor Aufregung, indeß faßte er sich bald wieder.

„Ich will es doch lieber nicht thun,“ sagte er. „Wie leicht könnte auch ich mich vergehen bei solch’ einem Zusammentreffen, und statt mich zu rächen an einem Todfeinde, fiele ich mit dem Brandmale des Verbrechens behaftet, den Schergen in die Hände.“

Damit endigte unsere Unterredung. Die umlaufenden Gerüchte verloren sich, man entdeckte weder die beispiellos frechen und in ihrer Frechheit glücklichen Räuber, noch konnte man die Spuren derer auffinden, die aller Wahrscheinlichkeit nach als Opfer den verbrecherischen Menschen in die Hände gefallen waren.

Endlich änderte sich die Witterung. Milde Südwinde brachen das Eis, das Wasser ward frei und auf allen Werften, in allen Häfen rührten sich tausend Hände.

Die „Olga“ ward neu aufgetakelt und mit nordischen Producten befrachtet. Mit dieser Ladung sollte sie nach Leith abgehen. Der Capitain schien froh zu sein, wieder sein Schiff unter sich zu fühlen. Er heuerte noch ein paar kräftige Jungen, um nicht Mangel an Mannschaft zu haben, verproviantirte sich reichlich und auf einen Monat länger, als eigentlich nöthig gewesen wäre, und wartete auf die erste günstige Brise, um den Anker zu lichten.

Es war Ende April, als wir auf die Bucht hinaussteuerten, in der noch Eis in Masse trieb. Aber wir hatten Vorkehrungen gegen den Anprall scharfer und schwerer Schollen getroffen, so daß wir ohne Furcht uns auf die hohe See wagen durften. Plötzlich eintretendes Sturmwetter freilich würde auch diese Vorsichtsmaßregeln zu Schanden gemacht haben.

Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder Absicht, genug, die „Olga“ segelte bei scharfer Brise nur etwa drei Kabellängen an dem zackigen, strauch- und baumlosen Felseneilande vorbei, über dem wir auf der Hinreise am Morgen nach der windstillen Nebelnacht die verdächtige Rauchwolke aufwirbeln sahen.

„Der denkt, wie ich,“ flüsterte Henricksen mir zu, als er den Capitain das Fernrohr auf die unbewohnte, ziemlich umfangreiche Klippe richten sah. Etwas Verdächtiges war nicht zu entdecken. Das Meer wogte in weißen, schäumenden Brandungen um das schwarze Granitgestein und ein Schwarm gefräßiger Seevögel wogte über dem fast gespenstisch anzusehenden Eilande hin und her. Traf ein Strahl der noch matten Sonne ihr Gefieder, so schimmerte es weißlichgrau und glich dann fast aufwirbelndem Rauche.

„Was meinst Du, Henricksen,“ sprach ich, „sollten uns die eigenen Augen wohl im Herbst vorigen Jahres geäfft haben?“

Henricksen antwortete nicht und der Capitain stieß offenbar verdrießlich sein Fernrohr zusammen. Die „Olga“ fuhr unangefochten, nur von dem Gekrächz des Raubgevögels begleitet, an der düstern Klippe vorüber.

Aber die Ostsee hat, wie bekannt, böse Tücken. Kaum waren wir auf der Höhe von Oesel angelangt, als es zu blasen begann, wie im tiefsten Herbst. Die Luft ward dick von Nebel und dabei so kalt, daß Raaen, Stangen, Spieren und alles Tauwerk sich mit glasiger Eiskruste überzog und der Mannschaft die Arbeit auf Deck zur Qual machte. Die See ging ununterbrochen hoch und ihre scharfen, harten Wellen schlugen mit so fürchterlicher [716] Gewalt an die Planken der „Olga“, daß das ganze Schiff seufzte und stöhnte, als sei es ein beseeltes Wesen, Das ging vier Tage mit nur sehr kurzen Pausen so fort. Da der Wind bald dick aus Osten, bald wieder aus Nord und West blies, kamen wir nur langsam von der Stelle. Merkwürdigerweise begegnete uns in dieser ganzen Zeit am Tage kein einziges Segel, des Nachts nur strich ein paar Mal in Sehweite ein Schiff vorüber, dessen Laternen am Maste gespenstigen Augen gleich die Finsterniß durchglühten. Es war eine unheimliche Reise und wir Alle, der Capitain nicht ausgenommen, empfanden fröstelnd dies Unheimliche, ohne uns darüber auszusprechen.

Durch die häufig wechselnden Winde genöthigt, oft Tage lang zu kreuzen, näherten wir uns nur sehr langsam dem dänischen Inselreiche. Wir waren froh, als der Sund endlich vor uns lag, und glaubten, alle Noth sei nunmehr überstanden. Kaum aber steuerten wir in das Kattegat, so überfiel uns ein abermaliges, nur viel schlimmeres Unwetter, als alle früheren. Es war ein Orkan aus Nord, begleitet von flammenden Blitzen und fürchterlichen Donnerschlägen, und dies Wetter brach los mitten in finsterer Nacht.

Die öde, schaurige Landspitze von Skagen lag wenige Meilen von uns zur Linken. Der Capitain erkannte die uns drohende Gefahr, wenn es nicht möglich sei, das Schiff von diesem Sandrücken abzuhalten. Aber der Sturm fegte gerade darauf zu und die gegen die Breitseite der „Olga“ heranrollenden Wasserberge trieben sie dem verrufenen Strande näher und näher.

Obwohl kein Fetzen Leinwand mehr an den Raaen hing, brach doch bald da, bald dort der Orkan eine derselben ab und schleuderte sie weit hinaus in die wüthende See. Schon nach einer halben Stunde fruchtlosen Kampfes hing das Takelwerk zerfetzten Spinnengeweben vergleichbar um die knarrenden und krachenden Masten. Um nicht erschlagen zu werden, mußten wir erst den Mittel-, dann den Fockmast kappen. Ein Feuerball rollte darüber hin, als sie über Bord stürzten und das schäumende Meer sie gierig, weiße Säulen strudelnden Wassers gen Himmel spritzend, einschluckte. Jeder Blitz zeigte uns die von Minute zu Minute wachsende Gefahr. Hob sich die „Olga“ auf dem zitternden Riesenhaupte einer Woge, dann erblickten wir das grelle rothe Licht des Leuchtfeuers auf Skagen, und fuhren weißzackige Blitze über und neben uns in die wildbewegte See, so konnten wir schaudernd den schauerlichen Todtenacker am Skager Strande erkennen, bei dessen Anblicke das Herz jedes Seemannes erbebt. Wie bleiche, fleischlose Riesenarme griffen dort Rippen und gebrochene Masten gestrandeter, vom Sande halb überschütteter Schiffe in die gespenstische Nacht hinein. Zwischen diesen zahllosen Wracks aber und darüber hin peitschte der rasende Nordsturm haushohen Schaum zerstäubender Wogen. Im Schein der Blitze schien der ganze Strand auf einer Strecke von wohl einer halben Stunde von Schneewirbeln umtost zu sein.

Da blitzte ein grelles Licht vor uns auf, ein Schuß verhallte dumpf über dem Meere. Gleich fuhr ein breiter glührother Blitz aus dem schwarzen Gewölk und im Aufleuchten dieses Naturfeuers sahen wir einen großen Dreimaster vor uns, der das Steuer verloren hatte und gerade auf Skagenhorn zutrieb. Dieser fürchterliche Blitz zersplitterte den großen Mast und gleich darauf schlugen rothe Lohen aus dem zerborstenen Holze. Sie breiteten sich schnell aus, noch wenige Minuten, und das Schiff trieb flammend gerade zwischen die verwesenden Schiffsleichen auf den todbringenden Sand zu.

Es war ein fürchterlich schöner Anblick, wie das gewaltige Schiffsgebäude, umringt von den starrenden Masten längst verlorener Fahrzeuge, jetzt aufrannte im Sande, wie dann wieder weißstrudelnde Wellenberge es umhüllten, eine neue stärkere Woge es nochmals hob und Rauch und Flammen abermals den Sieg über die zurückrollenden Wogen gewannen.

Den Gestrandeten zu Hülfe zu eilen, war unmöglich. Sahen wir doch das gleiche Schicksal vor Augen! Die „Olga“ war verloren, das wußten wir Alle, das Leben aber konnten wir im glücklichsten Falle wohl noch retten.

Der Capitain trat selbst an’s Steuer. Mit einer Stimme, die momentan das Geheul des Sturmes und das Brüllen der Wogen überschrie, rief er Henricksen zu, mit aller Gewalt die Speichen des Rades zu fassen, um das Schiff gerade auf den Sand rennen zu lassen. Sechs Menschen warfen sich zugleich auf die Speichen, das Schiff krachte, als berste es mitten auseinander. Sein Bug hob sich, wie ein steigendes Roß, das seinen Reiter abschütteln will, aber es gehorchte doch dem Steuer. Die nächste hinter uns aufrauschende Woge warf es halb zur Seite, das Bugspriet senkte sich wieder und rasselnd, knirschend, als durchfurche schwerer Stahl kiesiges Gestein, rannte es mitten zwischen zwei fast ganz vermoderten Schiffsleibern auf die fahle, öde, menschenleere Sandspitze.

Der fürchterliche Stoß warf uns nieder, der Boden des Schiffes zerbarst und gurgelnd hörten wir das Wasser in den Raum stürzen. Dennoch verloren wir nicht den Muth. Hüben und drüben, auch vor uns ragten Schiffstrümmer aus ihrem sandigen Grabe. Da lag noch ein halber Rumpf, dort starrte ein Mast, daneben der Kiel eines zerborstenen Fahrzeuges in die Nacht, grell beleuchtet von dem Flackerschein des Feuers, das ein paar hundert Schritte weiter den Dreimaster verzehrte. Jede neue Brandung rollte schwere Seen gegen den Strand, die jedem von ihnen Ergriffenen den Tod drohten. In der Finsterniß der Nacht würde ein menschliches Wesen hier nur durch ein Wunder zu retten gewesen sein.

Uns aber leuchteten die Flammen des vom Blitz getroffenen Schiffes. Bei ihrem Schein konnten wir uns leichter orientiren und die Pausen abwarten, in denen der Strand von den verheerenden Sturzseen nicht berührt ward. Diesem glücklichen Zufalle allein verdankten wir unsere mühselige Rettung. Wir unterstützten uns dabei gegenseitig, so viel wir vermochten, und als das Feuer bereits die Masten gänzlich verzehrt hatte, standen wir, ein erschöpftes Häuflein gänzlich hülfloser Schiffbrüchiger, auf der sturmumtobten, meergepeitschten Sandspitze, vergebens nach dem Orte ausschauend, der uns Obdach gewähren möge.




VI.
Der Priester von Skagenhorn.

Die Wuth des Orkanes nahm noch immer zu und schürte die Gluth des brennenden Schiffes, dessen Mannschaft schon größtentheils um’s Leben gekommen war. Einige Männer nur klammerten sich verzweiflungsvoll an der Schanzkleidung der Backbordseite fest, die den Flammen am wenigsten ausgesetzt war. Hier aber wurden sie ein Spielzeug des Sturmes, der sie jeden Augenblick in die rasende Brandung hinabzuschleudern drohte. Wirklich sahen wir auch innerhalb weniger Minuten drei dieser Unglücklichen auf solche Weise in den aufsprühenden Schaumwirbeln für immer versinken.

Es war ein schrecklicher Anblick, die noch am Bord des Dreimasters hängenden Menschen mit den verzerrten Gesichtern, von den Flammen grell beleuchtet, über ihrem offenen Grabe schweben zu sehen, ohne ihnen in ihrer Noth beispringen zu können. Einer namentlich sah fürchterlich aus. Er saß auf dem Stag des noch stehenden Besaanmastes, und Rauch und Flammen umzüngelten ihn abwechselnd. Der Mann mußte schrecklich leiden, denn dem Anscheine nach versengte ihn die von unten herausschlagende Gluth. Dennoch lebte er und beschäftigte sich noch immer mit Rettungsgedanken.

„Nie sah ich so gräßlich verzerrte Züge,“ sprach Henricksen, der seine Augen eben so wenig, wie ich, von dem Verlassenen abwenden konnte. „Und wie sein langes Haar im Sturme flattert!

„Das Feuer läßt es selbst feurig erscheinen!“ fügte ich noch hinzu.

Da hörten wir ein Krachen, ein wildes Aufschreien – dann senkte sich der Mast leewärts und mit ihm in einem Wogensprühen, das mit den Flammen sich zu vermählen schien, verschwand der Unglückliche unseren Blicken.

An dem Heranlecken der immer höher gehenden See, die erst seit etwa drei Stunden fluthete, gewahrten wir, daß die Stelle, wo wir standen, in kurzer Zeit von den Wogen überspült sein werde. Wir mußten uns deshalb nach einem gesicherteren Orte umsehen.

(Schluß folgt.)




[717]
Bürgersleute und Bürgermeister.[1]
Deutschlands erste Eisenbahn und ihr Gründer Johannes Scharrer.

Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.
 Johannes Scharrer.

Es gibt Wahrheiten, die so lange wiederholt werden müssen, bis sie Anerkennung finden; so ist es seiner Zeit mit den Eisenbahnen gegangen. Eine Reihe von Jahren war erforderlich, den Eisenbahnen in Deutschland die verdiente Anerkennung zu verschaffen, und dem größeren Publicum begreiflich zu machen, daß sie alle anderen Verkehrsmittel zu Wasser und Lande an Wichtigkeit übertreffen. Das praktische und unternehmende England war Deutschland mit dem Bau von Eisenbahnen um mehrere Jahre vorausgegangen, und erfreute sich bereits der günstigen Resultate seiner Schienenwege, als zuerst in Nürnberg der Gedanke realisirt wurde, die Erfindung der Eisenbahnen mit Dampfkraft auch auf den deutschen Boden zu verpflanzen.

In dem alten Nürnberg, das schon in früheren Jahrhunderten die Mutter zahlreicher Erfindungen auf dem Gebiete der Kunst und Industrie war, und auch schon im 15. Jahrhundert die Erfindung der Buchdruckerkunst unter allen Städten Deutschlands zur Verbreitung derselben mit am meisten beigetragen hatte, war die Wichtigkeit und der Einfluß richtig erkannt worden, den das schnellste und wohlfeilste Transportmittel auf das ganze sociale Leben ausüben müsse. Die glänzenden Resultate, welche in England auf der Liverpooler Eisenbahn und in Frankreich auf der zwischen Lyon und St. Etienne erzielt worden waren, lenkten die Aufmerksamkeit eminenter Köpfe in Nürnberg auf die Unternehmungen des Auslandes. Vornehmlich hatte Johannes Scharrer, Nürnbergs wackrer Bürgermeister, und nächst ihm sein Freund Platner, die hohe Bedeutung der neuen Erfindung erkannt. Scharrer verfolgte mit höchstem Interesse die Entwickelung der bereits erbauten auswärtigen Bahnen, indem sein Scharfblick mit Bestimmtheit voraussah, daß die Erfindung der Eisenbahn mit Dampfkraft für den materiellen Verkehr der Staaten und für die Verbindung der Völker von einer ebenso unberechenbaren Wichtigkeit sei, als die Erfindung der Buchdruckerkunst für ihren geistigen Verkehr. Er ging von der Ansicht aus, wie durch die Buchdruckerpresse die Producte des menschlichen Geistes in Tausenden von Exemplaren für die ganze civilisirte Welt geliefert werden, und wie sie als ein Hebel von unermeßlicher Kraft zur Beförderung des geistigen Verkehrs, zur Verbreitung der Kenntnisse und zur Emporhebung der Wissenschaften und Künste wirkte, ebenso müsse durch die Eisenbahnen mit Locomotiven der persönliche und materielle Verkehr der Menschen und der Austausch der Producte der Natur und des Gewerbfleißes erleichtert und beflügelt werden.

Es leuchtete ein, daß bei weiterer Entwicklung der Eisenbahnen selbst große Entfernungen durch das dem Fluge der Vögel nachstrebende Verbindungs- und Transportmittel immer kleiner werden, und Staaten und Nationen dadurch immer näher und näher an einander rücken müßten.

Einem energischen und weiter strebenden Charakter, wie dem Scharrer’s, war es nicht gegeben, in einer so bedeutungsvollen Entwickelungsperiode müßig zuzusehen, und nur andere Länder die [718] weltumgestaltende Erfindung genießen zu lassen. Da galt es, zu handeln und zunächst dahin zu streben, daß auch in Deutschland das wenigstens versucht werde, was sich bereits im Ausland als zweckmäßig erwiesen hatte. Konnte man auch für den Anfang keinen großartigen Plänen Raum geben, so erschien es doch rathsam, einen den Verhältnissen entsprechenden Versuch im Kleinen zu machen. War es auch von jeher schwierig, bei industriellen Unternehmungen einen Erfolg und Ertrag im Voraus mit Zuverlässigkeit zu berechnen, und steigerte sich diese Schwierigkeit namentlich bei Eisenbahnen, weil sich die bestehenden Verhältnisse durch ein neues hineingeschobenes Element außerordentlich verändern, ja sogar neugestalten, so gab doch die bedeutende Frequenz, wie sie schon seit Jahren zwischen den Schwesterstädten Nürnberg und Fürth bestand, um so mehr Bürgschaft, daß der Bau einer Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth günstige Resultate liefern würde, als die Industrie beider Städte von Jahr zu Jahr im Zunehmen begriffen war.

Scharrer stimmte in seinen hochherzigen und wohlerwogenen Plänen mit Platner überein, indem beide Männer immer das eine Ziel im Auge hatten, ihre Vaterstadt mit einem erfolgreichen Unternehmen zu beglücken, dessen Ausführung an andern Orten des Vaterlandes an den vielen sich bietenden Schwierigkeiten bereits gescheitert war. Welche Vorurtheile machten sich von den verschiedensten Seiten geltend, als Scharrer sein Project zum ersten Male öffentlich zur Sprache brachte! Aus dem Chaos von Meinungen und Ansichten tauchten die merkwürdigsten Urtheile auf. Jetzt, wo nach allen Ecken und Enden Deutschlands Schienenwege laufen, klingen diese Dinge fast komisch! Manche bezeichneten die Eisenbahnen als ein Symptom krankhafter Unruhe und nervöser Ungeduld der Zeitverhältnisse, oder als nothwendiges Uebel, das die Engländer über die Menschheit gebracht hätten. Wieder andere beschränkte Köpfe machten sogar auf den starken Luftzug und die nachtheiligen Folgen aufmerksam, welche dieser für die Gesundheit der Fahrenden haben müsse. Statt die Eisenbahn als Besiegerin der Zeit anzuerkennen, durch deren Benutzung die Weltanschauung der Menschen sich mannichfaltiger und reicher gestalten werde, klagten Viele, daß man in Zukunft die Gegenden zu rasch durchfliege, um angenehm reisen zu können. Alle diese Vorurtheile und Absurditäten eines von den Zeitverhältnissen überflügelten Philisterthums boten zwar Hindernisse, die jedoch durch die erhabene Idee, von der bereits einzelne Männer durchdrungen waren, bald beseitigt wurden.

Scharrer hatte sehr richtig die Behauptung aufgestellt, daß Eisenbahnen mit der Aussicht auf eine den gewöhnlichen Capitalzinsfuß übersteigende Ertragsfähigkeit nur da hergestellt werden könnten, wo eine in starkem Verkehr mit einander stehende Bevölkerung durch die Bahnlinie verbunden würde, und sowohl die Bau- und Einrichtungskosten, als auch die Unterhaltungskosten mit der zu erwartenden Personenfrequenz in einem günstigen Verhältniß ständen.

Die Frequenz der Straße zwischen Nürnberg und Fürth hatte man zwei Monate lang genau beobachtet, und aus den gesammelten Notizen sehr befriedigende Schlüsse gezogen, wie sich der Verkehr auf der Eisenbahn gestalten müsse. Der Kostenanschlag einer Eisenbahn mit Dampfkraft zwischen Nürnberg und Fürth belief sich anfangs auf 132,000 Gulden, und das ganze Unternehmen sollte durch eine Gesellschaft in Ausführung gebracht werden, deren Mitglieder das erforderliche Capital durch Actien à 100 Gulden zusammenschießen würden. Man hatte die Proposition gemacht, daß nach vollendeter Subscription die Mitglieder der provisorisch gebildeten Actiengesellschaft sich vereinigen möchten, um über den Entwurf einer Gesellschaftsacte, über die Wahl der Repräsentanten und die Ausführung des Unternehmens selbst zu berathen und zu beschließen.

Waren auch vielen Kaufleuten der beiden Handelsstädte die Vortheile eines Actienunternehmens bekannt, so war doch das größere Publicum hiermit im Anfang nur wenig vertraut. Scharrer war desto mehr von der Zweckmäßigkeit eines solchen Unternehmens überzeugt, und es gelang ihm, noch andere hochgeachtete Persönlichkeiten für das Project zu gewinnen. Im Verein mit ihnen wurde im Mai 1833 der erste Aufruf an die Bürger Nürnbergs und Fürths erlassen, und darin zur Betheiligung an dem Unternehmen eingeladen. Den gemachten Vorschlägen wurde von vielen Seiten die größte Aufmerksamkeit geschenkt, man prüfte sie genau, und erkannte ihre Wichtigkeit. Viele betrachteten es gleichsam als eine Ehrensache, das vorgelegte Project nach besten Kräften zu unterstützen, und zum Ruhme von Nürnberg und Fürth auch in Ausführung zu bringen.

Ohne manche aus kleinlichen Nebenabsichten entspringende Meinungen zu beachten, und sich dadurch irre führen zu lassen, schritt das im Mai 1833 zusammengetretene Comité mit Sicherheit vorwärts, und hatte schon im November desselben Jahres die Genugthuung, durch 207 Theilnehmer das erforderliche Capital gedeckt zu sehen. Konnte man auch mit diesem vorläufigen Resultat in jeder Hinsicht zufrieden sein, so waren doch bis zur Erreichung des schönen Zieles noch große Schwierigkeiten zu überwinden. Allen Betheiligten war es klar, daß bei der Wichtigkeit einer Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth, als derartiges erstes Unternehmen in Deutschland, besonders viel daran gelegen sei, dieselbe auf die möglichst vortheilhafte und zweckmäßige Art auszuführen und dabei jeden Mißgriff zu vermeiden, wodurch das vollkommene Gelingen des Projectes in technischer und ökonomischer Hinsicht ganz oder zum Theil verhindert werden könnte. Denn da bekanntlich der große, aus Nichtsachverständigen bestehende Theil des Publicums den Werth jeder neuen Unternehmung nach dem Erfolge zu beurtheilen pflegt, und selbst den besten und solidesten Plan nach einem fehlgeschlagenen ersten Versuche zu verwerfen geneigt ist, ohne genau zu untersuchen, woran die Schuld des Mißlingens eigentlich liegt, so hätte irgend ein Fehler oder eine getäuschte Erwartung sehr nachtheilig auf die öffentliche Meinung einwirken und wo möglich das Vorurtheil für lange begründen können, daß Eisenbahnen in Deutschland überhaupt nicht anzuwenden seien.

Man erbat sich daher zunächst die Ansicht eines Sachverständigen, des Oberst-Bergrath von Baader in München, eines Mannes, dessen langjährige Studien auf dem Gebiete der Mechanik und Technik allseitige Anerkennung gefunden hatten. Außerdem wurde mit dem Ingenieur Stephenson in Newcastle eine lebhafte Correspondenz unterhalten. Unter seiner Direction war nicht nur die Liverpooler Eisenbahn erbaut worden, sondern er hatte auch bereits im Jahre 1829 durch eine neu erfundene Construction der Locomotive einen Preis von 500 Pfund Sterling davongetragen. Der Rath eines so praktisch und theoretisch gebildeten Mannes verdiente vollkommene Beachtung. Er erbot sich, zwei Locomotiven für die Nürnberg-Fürther Bahn zu 21,000 Gulden inclusive der Transportkosten bis nach Nürnberg zu liefern. Auch versprach er, einen seiner tüchtigsten Ingenieure zur Erbauung der Bahn nach Nürnberg zu senden, wenn man sich verbindlich mache, demselben einen jährlichen Gehalt von 7200 Gulden und seinem Begleiter, einem jüngeren Techniker, 2400 Gulden auszubezahlen.

Solchen hohen Honorarforderungen der beiden Engländer konnte für den Anfang nicht genügt werden. Glücklicherweise wurde auch das Comité während der mit den Ausländern gepflogenen Unterhandlungen auf den in München lebenden Ingenieur Denis aufmerksam, der kurz zuvor von einer längeren Reise in Nordamerika und England zurückgekehrt war. Denis hatte in diesen Ländern die Construction der verschiedenen angelegten und im Bau begriffenen Eisenbahnen zum Hauptgegenstand seiner Beobachtungen und seines Studiums gemacht, und sich treffliche Kenntnisse und Erfahrungen erworben. Einen solchen Mann bedurften die Nürnberger zur Ausführung ihrer Pläne, durch ihn wurden sie der Mühe überhoben, den Engländern gute Worte und viel Geld zu geben, damit solche durch persönliche Leitung des Baues das Eisenbahnproject realisirten.

Denis nahm alsbald an Ort und Stelle die erforderlichen Arbeiten in Angriff, und schon nach wenigen Monaten war das Ergebniß seines Nivellements, sowie die übrigen zum Bau nothwendigen Pläne, nebst den Kostenvoranschlägen, in den Händen des Comités.

Von Anfang hatte man die Absicht, auf der Nürnberg-Fürther Eisenbahn neben der Dampfkraft die Pferdekraft in Anwendung zu bringen. Es fand diese Frage nunmehr ebenfalls ihre Erledigung, indem es einleuchtete, daß durch die Benutzung der Pferdekraft hinsichtlich des Feuerungsmaterials und der Reparatur der Dampfmaschine eine nicht unbedeutende Ersparniß erzielt werden könne. Die zwischen Nürnberg und Fürth liegenden Grundstücke waren unterdessen, soweit wie es nöthig erschien, von den Besitzern acquirirt worden, für Anfertigung der Schienen hatte man schon früher einen Eisenwerkbesitzer gewonnen, der Grundbau der Bahn war ebenfalls vollendet, so daß im Juli 1835 die ersten Schienen auf den die Unterlage bildenden Quadersteinen befestigt werden konnten.

[719] Die Locomotive „Adler“, welche auf der ersten deutschen Eisenbahn benutzt werden sollte, hatte Stephenson rechtzeitig abgeliefert, und außerdem einen tüchtigen Mechaniker dem Comité zur Beifügung gestellt, dem nicht nur das Zusammenfügen des Dampfwagens, sondern auch dessen künftige Führung anvertraut werden sollte.

Im December 1835, also nach Verlauf von kaum 9 Monaten, war der Bau der Eisenbahn glücklich vollendet. In Denis hatte man während dieser Zeit einen trefflichen Baumeister kennen gelernt, das Werk, das er geschaffen, lieferte schon damals den besten Beweis seiner ausgezeichneten Fähigkeiten und Kenntnisse, die sich dann auch in spätern Jahren, bei vielen Gelegenheiten trefflich bewährt haben. Mit Stolz konnten die Actionaire jetzt auf ihr Unternehmen blicken, das sie durch Widmung eines namhaften Capitals ermöglicht hatten. Es lag dieser Eisenbahn keine speculative Gewinnsucht von Seiten der Betheiligten zu Grunde, sie war vielmehr aus gemeinnützigen und patriotischen Gesinnungen entstanden. Scharrer hatte gemeinsam mit Platner seit Beginn des Unternehmens, für das er durch Wort und Schrift unermüdlich wirkte, viel Mühen und Beschwerden ertragen, so daß oft eine große Willenskraft und Unverdrossenheit nöthig war, um bei den mannichfachen Chicanen und Calamitäten das wahre Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Nun war es aber glücklich erreicht, denn das schöne Unternehmen, wozu nur Privatleute den Impuls gegeben hatten, war trotz aller Hindernisse vollendet und gewährte die Genugtuung, daß durch den Schienenweg die beiden Schwesterstädte Nürnberg und Fürth einander bedeutend näher gerückt waren. Nicht nur Handel und Verkehr derselben mußte durch die Eisenbahn wesentlich gewinnen, sondern mit ihr war auch gleichsam ein neues Glied in der Kette des geselligen Lebens, ein wohlfeiles Mittel des Vergnügens und der Erholung entstanden.

Der 7. Dec. 1835 war zur Eröffnungsfeierlichkeit festgesetzt worden. Ein Kanonenschuß gab um 8 Uhr Morgens das Zeichen zum Beginn der Dampfwagenfahrt, und dahin brauste der reich mit Fahnen geschmückte Bahnzug, überall von dem Jubel der staunenden Menge begrüßt. Die Begeisterung der zahllosen Menschenmasse wollte nicht enden, als die Locomotive „Adler“ gleich der Windsbraut dahin flog, und in wenig Minuten dem Blick entschwunden war. Die Zuschauer waren gleichsam von Erstaunen hingerissen über die Wirkung der in einen kleinen Raum eingeschlossenen Riesenkraft eines Elementes, dessen Benutzung die ungeheueren Fortschritte des menschlichen Erfindungsgeistes tatsächlich darstellte.

Die Aussichten, welche sich für die Actionaire darboten, gestalteten sich täglich günstiger und erfreulicher. Wiewohl die anfangs auf 132,000 Gulden veranschlagten Kosten der Bahn sich bis auf 177,000 Gulden gesteigert hatten, so lieferte doch schon das zweite Jahr des Bestehens einen Reinertrag von 34,000 Gulden. Jetzt, wo Zahlen und Thatsachen für das Unternehmen sprachen, und die Eisenbahn eine so bedeutende Rente abwarf, schwiegen die Widersacher, welche früher behauptet hatten, die wohlüberlegten Pläne Scharrer’s und seiner Freunde grenzten an Tollkühnheit. Mancher jener Zweifler mochte sich nun ärgern, daß ihn seine Bedenklichkeit vom Ankauf der Actien abgehalten hatte, und ihm dadurch ein schöner materieller Gewinn entgangen war.

Das Directorium hatte auf solide Erhaltung der in vortrefflichem Zustand befindlichen Bahn- und der Transportmittel in jeder Hinsicht Bedacht genommen, war aber zugleich mit der größten Sparsamkeit zu Werke gegangen. Die ganze Einrichtung paßte zusammen, das heißt, sie erfüllte das Bedürfniß. Treten wir noch heute hinein, so finden wir, daß sich die verschiedenen Gebäulichkeiten durchaus nicht über das Niveau des Gewöhnlichen erheben.

Man hat Scharrer’s große Verdienste um Gründung der ersten Eisenbahn in Deutschland gebührend gewürdigt, indem man ihm nach seinem Tode, im Jahr 1844, auf einem von grünen Büschen umgebenen Platz des Bahnhofes ein in Erz gegossenes Denkmal errichtete. Nicht allein auf dieser Stätte, wo uns noch jetzt seine treu wiedergegebenen Züge anschauen, leistete er während einer Reihe von Jahren als Director der Eisenbahn Vortreffliches, sondern in Nürnberg überhaupt treten uns noch so zahlreiche Zeugen seiner vielseitigen Wirksamkeit entgegen, daß er sich selbst in ihnen das schönste Denkmal gesetzt hat. Eine Schilderung dieser seiner echt bürgerlichen Thätigkeit behalten wir uns für einen andern Artikel vor.




Ekliches am Menschen.
(Fortsetzung und Schluß.)

Durch der Sinne Pforten zieht der Geist in unsern Körper (und zwar in das Gehirn) ein. Darum sind auch diese Pforten, diese Zubringer der geistigen Nahrung, mit der größten Sorgfalt zu behandeln, vorzugsweise der Gesichts- und Gehörsinn. Doch dürfen auch Nase und Mund, wenn sie auch weniger wichtig als Auge und Ohr, nicht geschändet werden, da sie mehr noch wie jene für das Menschliche charakteristisch sind.

Wie sogar eine gesunde Nase, wenn sie häßlich geformt oder widernatürlich colorirt ist, auch ein sonst hübsches Gesicht unhübsch machen kann, ist bekannt. Nichts entstellt ferner das menschliche Antlitz mehr und ist abstoßender, als Verlust und grobe Verunstaltung der Nase, und nichts fällt mehr in die Augen, als Ungehörigkeiten gerade an der Nase. Schon aus den Nasenlöchern hervorwuchernde Haare, zumal wenn ihnen, was so leicht geschehen kann, getrockneter Nasenschleim anklebt, machen einen widerwärtigen Eindruck, und wenn sie gar, wie bei Schnupfern der Sitz von Schnupftabak und braunen Tabakstropfen werden, dann gibt das einen sehr eklichen Anblick. – Wegen der vielen Talgdrüsen in ihrem Hautüberzuge wird die Nase, besonders an den Flügeln, und zwar in Folge der Talgverhaltung innerhalb der Bälge oder Ausführungsgänge der Drüschen, sehr häufig der Sitz von Ausschlägen, Mitessern, Finnen, Blüthchen und Flechten. Um nun seine Nase vor solchen, die Nase durchaus nicht verschönernden schwarzen Punkten, rothen Knötchen, weißen Eiterbläschen und nässenden Geschwürchen, die nicht selten blatterähnliche Narben hinterlassen, sowie vor harten braunrothen Knoten zu bewahren, muß man aus den Talgdrüsen den Talg öfters auf mechanische Weise herausbefördern und zwar durch derbes Ueberstreichen der Nasenhaut mit einer starken Nadel oder einem Messerrücken. Die Mitesser entferne man durch Ausdrücken zwischen zwei Daumennägeln, oder mittels eines Uhrschlüssels, oder durch Aufsetzen eines trockenen Schröpfkopfes. Zur Vorbereitung, d. h. zur Lockerung der Talgpfröpfe können angewendet werden: warme Breiumschläge, örtliche Dampfbäder, oder Auflegen (über Nacht) eines Breies aus Sauerteig, Mehl und Honig. Entzündete und eiternde Hautstellen bestreiche man fleißig und dick mit frischem Rindstalge (s. Gartenl. 1858. Nr. 44.). – Die Kupfer- oder Burgundernase ist eine harte knotige Schwellung von kupfrig glänzender, bläulicher Röthe an der Spitze und zu beiden Seiten der Nase, hervorgerufen durch Erweiterung und Blutüberfüllung der kleinen Hautblutadern, sowie durch Ausschwitzung in und um die großen Talgdrüsen. Dieses langwierige und schwer heilbare Uebel besteht bisweilen ohne alle Beschwerden, erzeugt aber auch manchmal ein Gefühl von Spannen und Brennen. Bei dem höchsten Grade nimmt die Nasenspitze einen monströsen Umfang ein, wobei sich Höcker auf Höcker aufthürmen und die Haut immer dicker, runzliger und dunkelblauer wird. Die Burgundernase ist oft die Folge einer schwelgerischen Lebensweise, namentlich des Genusses schwerer Weine (Burgunders) oder überhaupt starker Spirituosa, besonders bei sitzender Lebensart. Doch kommt sie auch ohne das bei Ausschweifenden beider Geschlechter und bei Frauen in den späteren Lebensjahren vor. Um Heilung dieses Uebels zu erzielen, muß man so zeitig als möglich dazu thun, da höhere Grade desselben gar nicht heilbar sind. Deshalb vermeide man schon beim Beginn der Röthung der Nase Alles, was Blutandrang nach dem Gesichte machen kann, wie: starke Hitze und Kälte, Spirituosa, aufregende Gemüthsaffectionen und überhaupt Erhitzungen aller Art. Oertlich salbe man tüchtig und fleißig frischen Rindstalg ein. – Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß das Schnäuzen und Ausputzen der Nase von Manchen viel zu auffallend und ungeschickt vorgenommen wird, so daß diese Reinigung mit ihren Folgen ziemlich eklich wird, zumal bei Schnauzbärtigen. Auch überwache [720] man das Niesen in Gesellschaft ja gehörig, denn nicht selten sprudelt die Nase Partikel ihres Inhaltes dahin, wo diese den Blicken Anderer leicht begegnen und unappetitlich werden können.

Der Mund, d. i. die von der Ober- und Unterlippe eingegrenzte, dicht vor den vordern Zähnen befindliche Spalte, welche in die Mundhöhle führt, dient ebenso der Nahrungs- wie Luftaufnahme, kommt bei der Sprache wie beim Gesange in Thätigkeit und hat selbst eine gewisse geschlechtliche Bedeutung. Daß ein in so vieler Hinsicht bedeutungsvolles Organ, durch welches eine Menge von Regungen, Gefühlen, Eindrücken und Leidenschaften mehr oder minder ihren Ausdruck finden, die größte Aufmerksamkeit, die sauberste Behandlung und Gewöhnung verlangt, lehrt das gewöhnliche Leben. Denke Dir nur, Du müßtest einen zahnlosen Mund küssen, dessen wunde Ecken schmutzig und dessen Lippen trocken, rissig und braun berändert. Denke Dir einen Tischnachbar, dem beim Essen zwischen den schmatzenden Lippen Speichel aus den Winkeln auf den Teller herabspinnt. Denke Dir einen Redner, aus dessen Munde beim Oeffnen dem Zuhörer grüne, gelbe und schwarze, kurze und lange Zahnsturzel entgegenstarren. Denke an einen Sänger, der „seinem süßen Lieb’“ mit fratzenhaft verzerrtem Munde „hin nimm die Seele mein“ zusäuselte. Kurz Mund und Zähne können viel zum Angenehm- und Unangenehmsein eines Menschen beitragen. Herder sagt: „Jedermann weiß, wie viel die Oberlippe über Geschmack, Neigung, Lust und Liebesart eines Menschen entscheide; wie diese der Stolz und Zorn krümmen, die Feigheit spitze, die Gutmüthigkeit runde, die schlaffe Ueppigkeit welke, wie an ihr mit unbeschreiblichem Zuge Liebe und Verlangen, Kuß und Sehnen hange, und die Unterlippe sie umschließe und trage, ein Rosenkissen, auf dem die Krone der Herrschaft ruht.“ Derselbe behauptet ferner auch: „Ein reiner zarter Mund ist vielleicht die schönste Empfehlung im Leben, denn wie die Pforte, so, glaubt man, sei auch der Gast, der heraustritt, das Wort des Herzens und der Seele.“

Die Zähne machen den Mund, wenn sie weiß, reinlich gehalten und gut gereiht sind, äußerst appetitlich. Das wissen Alle und trotzdem vernachlässigen die meisten Menschen die Pflege derselben doch so sehr oder fangen dann erst damit an, wenn nichts mehr daran zu pflegen ist. Namentlich sind die Mütter, zumal von Mädchen, sehr tadelnswerth, wenn sie nicht schon dem kleinen Kinde das gehörige Reinigen der Zähne zur andern Natur machen. Die richtige Pflege der Zähne besteht nun aber hauptsächlich darin, daß man die Bildung von Zahnthierchen, Zahnpilzen und Zahnstein soviel als möglich zu verhindern und diese zahnzerstörenden Schmarotzer so schnell als möglich zu entfernen sucht. Zu diesem Zwecke ist zuvörderst das fleißige Bürsten der Zähne mit Spiritus (s. Gartenl. 1858. Nr. 47.) nöthig, damit die Speisereste nicht zum Faulen kommen, denn in faulenden (übelriechenden) thierischen Stoffen bilden sich und gedeihen jene Zahnschmarotzer am besten, während der fäulnißwidrige Spiritus die Wiege und das Leben derselben zerstört. Das Bürsten der Zähne mit Spiritus allein wird nun aber das Anlegen von grünlichen und schwärzliches Massen an die Ränder und auf die Kauflächen der Zähne nicht verhindern, deshalb wird noch das Abscheuern der Zahnkrone mit einem feinen Pulver (Cigarrenasche, Bimsstein, Zahnpulver) unentbehrlich. Von Zahnpulvern sind die rothen den schwarzen (aus Holzkohle) darum vorzuziehen, weil sich letztere zwischen Zähne und Zahnfleisch eindrängen und so den Zahnfleischrand grau färben. Wenn sich dann, trotz des Putzens der Zähne mit Spiritus und Pulver, doch noch hier und da schwarze Stellen an den Zähnen zeigen, so müssen diese mit einem spitzigen oder scharfen Instrumente abgekratzt werden. Man fürchte dabei durchaus nicht, dem Schmelz der Zahnkrone Schaden zu thun. Denn wenn sogar ein Stückchen davon abspringt, so hat dies nichts auf sich, da der Schmelz zur Erhaltung des Zahnes nicht so unentbehrlich ist, als man gewöhnlich glaubt. Es lassen sich ja auch die Zähne ohne allen Nachtheil abfeilen und bei einigen wilden Völkerstämmen (an der Küste von Guinea und Sumatra) ist es üblich, den Schmelzüberzug ganz oder theilweise abzusprengen. – Allerdings gibt es noch andere Ursachen des Zahnfraßes, als jene Schmarotzer, z. B. Entzündungen in Folge heftigen Druckes oder starker Kälte- und Hitzeeinwirkung auf die Zähne, allein in den allermeisten Fällen rührt die Verderbniß der Zähne von jenen Pilzchen und Thierchen her. Wer nun von den Lesern dieses Aufsatzes garstige Zähne hat, der eile sofort zum Zahnarzte, lasse retten und reinigen, was noch zu retten ist und behandle dann seine Ueberbleibsel auf die angegebene Weise. – Was das Ausstochern der Zähne und das Ausspülen des Mundes nach einem Gastmahle betrifft, so scheint es zur Zeit zum guten Tone zu gehören, dies recht auffallend und öffentlich zu machen; mir erscheint’s eklich.

Das äußere Ohr, obschon den Blicken Anderer weniger als die übrigen Sinnesorgane ausgesetzt, verlangt doch auch für sich und seine nächste Umgegend die gehörige Abwartung, wenn es nicht unangenehm auffallen soll. Die Sprüchwörter: „noch nicht trocken hinter den Ohren sein“, „es faustdick hinter den Ohren haben“ und „sich’s hinter die Ohren schreiben können“, müssen ja nicht zu Thatsachen werden. – Gegen Ausschläge, die häufig am Ohre nässende sind, dient am besten frischer ausgelassener Rindstalg. Die Entfernung vertrockneten Ohrenschmalzes aus den tieferen Partien des äußeren Gehörganges darf nicht unsanft geschehen, weil sonst leicht ein von Entzündung und Eiterung der Gehörgangshaut abhängiger Ohrenfluß entstehen kann. Uebrigens muß bei allen Ausflüssen aus dem Ohre das Innere desselben von einem Arzte genau untersucht werden, weil ein solcher Ausfluß in Folge von Zerstörung des Trommelfelles gar nicht selten Taubheit nach sich zieht. – Wie bei der Nase kann sich übrigens aus dem Ohre übler Geruch entwickeln (Stinkohr) und dies ebenfalls in Folge von Anhäufung und Fäulniß des Gehörgangs-Inhaltes. Häufige Einspritzungen mit lauem Wasser helfen hier. Bisweilen werden etliche Ohrübel dadurch hervorgerufen, zumal bei Kindern, daß fremde Körper (Erbsen, Bohnen u. dgl.) in den Gehörgang gesteckt und nicht wieder herausgezogen wurden.

Was nun schließlich die unserm Gehörsinn eklich werdenden Erscheinungen an Anderen betrifft, so sind dies in der Regel üble Angewohnheiten, meistens Geräusche, welche in der Nasen- und Mundhöhle erzeugt werden. Wie widerwärtig das Schnüffeln, Schnieben, Rülpsen, Racksen, Spucken und Schmatzen beim Essen ist, zumal wenn man öfters und längere Zeit Solches hören muß, hat gewiß schon Jeder erfahren.

Daß diesen meinen Aufsatz Manche und Mancher tadeln werden, weiß ich; Diesen sei hiermit aber gesagt: zur Unterhaltung und für prüde Klugthuer schreibe ich nicht, ich will durch Belehrung nützen. Vielleicht haben gerade manche dieser Tadler Etliches an sich.

Bock.




Ein aufgelöstes Räthsel.
Von E. Pirazzi in Offenbach.
(Fortsetzung.)


Carolinen’s Schulunterricht und ihre fein berechnete Lernweise. – Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern. – Zweifel an die Wahrhaftigkeit der Bibel. – Ihr Betragen im Hause. – Das Schloß ihrer Eltern in Siebenbürgen. – Ein ungarischer Priester.

Hatte Caroline in der Aussprache einiger Wörter und in der Kenntniß ihrer Bedeutung Fortschritte gemacht, so gab sie ihre Freude darüber in der Familie, worin sie Aufnahme gefunden, auf die kindlichste Weise zu erkennen. So kam sie öfter aus dem Unterricht sehr vergnügt nach Hause und berichtete dort: „Ich wissen jetzt, wie dies heißt, und wie das heißt.“ Als man ihr gelegentlich bemerkte, daß sie sagen müsse: „Ich weiß,“ protestirte sie feierlichst: „O nein! Schnee weiß ist, Mehl weiß ist (dies waren Sätze, die sie im Unterricht gelernt hatte), aber ich nicht weiß: ich wissen!“

Allerdings waren ihre Fortschritte, obschon keineswegs mißtrauenerregend, doch so rasch und befriedigend, daß sie sich bereits im Frühjahr 1855 mit ihr näher bekannten Personen innerhalb des Kreises ihrer Anschauung leidlich verständigen und ein Jahr darauf ziemlich fließend ausdrücken konnte. Ueberschritt man jedoch diesen scheinbar noch immer sehr engzezogenen Kreis in der [721] Unterhaltung mit ihr, so schien das intellectuelle Fluidum des gegenseitigen Verständnisses plötzlich wie unterbrochen und sie selbst gleichsam auf einen geistigen Isolirstuhl versetzt – sie hörte wohl noch, aber sie verstand nichts mehr! Viel befangener, schüchterner und zurückhaltender schien sie auch in der Unterhaltung mit ihr weniger bekannten Personen – gerade als schäme sie sich bei diesen mehr der für sie unvermeidlichen Sprachschnitzer.

Sehr bald nach den ersten Sprachstunden begann Herr Eck auch mit ihr den Schreib- und Leseunterricht; auch hier waren Carolinens Fortschritte erfreulich, und seit Herbst 1855 las sie bereits Gedrucktes und Geschriebenes fließend und in ziemlich richtiger Betonung. Schon im April desselben Jahres schrieb sie einfache Sätze, die ihr Eck dictirte, passabel richtig nach, obgleich sie es bis zu einer gänzlich fehlerfreien Orthographie nie brachte. Manche uns vorliegende Proben ihrer Hand aus den verschiedensten Perioden ihres Hierseins zeigen eine sich in deutschen wie in lateinischen Charakteren immer fester entwickelnde Schrift jenes derben, großen Schlages, wie sie gewöhnlich zehn- bis zwölfjährigen Schulkindern eigen ist.

Doch bietet das allmähliche und verhältnißmäßig rasche Erlernen von Lesen und Schreiben bei ihr bei weitem nicht jenes Interesse, als ihr angebliches Erlernen des Deutschsprechens. Freilich täuschte sie auch in Bezug auf jene Fertigkeiten, denn etwas schreiben und lesen konnte sie jedenfalls schon von ihrer Schulzeit her, wogegen sie im Deutschreden, als in ihrer Muttersprache, selbstverständlich doch so gut bewandert war, als Jeder von uns auch, überdies die Gefahr, sich zu verrathen, hier viel näher lag als dort, und zu dieser Täuschung eine weit eminentere Verstellungskunst gehörte, als zu jener. Die Art und Weise aber, wie sie diese Kunst verstand und übte, ist ohne Uebertreibung – bewunderungswerth!

Caroline legte einen bedeutenden Lerneifer an den Tag, und ein entschiedener Bildungstrieb machte sich nach dieser Seite hin bei ihr geltend. Sie wußte bald Herrn Eck zu bestimmen, ihre Unterrichtsstunden zu vermehren. Im März 1855 begann Herr Eck auch mit dem Rechenunterricht. Was Caroline seiner Zeit von den Buchstaben, das behauptete sie jetzt auch von den Ziffern: daß sie nämlich früher gar nicht gewußt habe, daß es dergleichen gäbe. Doch konnte sie in ungarischer Sprache von 1 bis 29 ziemlich richtig zählen, und auch im Rechnen machte sie rasche Fortschritte. Sie brachte es darin bis zum richtigen Schreiben und Aussprechen siebenstelliger Zahlen, und wußte zuletzt einfache Aufgaben der Regel de tri sowohl schriftlich, als auch im Kopfe zwar etwas langsam, aber doch stets mit Bewußtsein der Gründe zu lösen.

Im Frühjahr 1855 veranlaßte sie ihr umsichtiger Lehrer, die nicht geringe Anzahl von Wörtern, deren sie in der ungarischen Sprache mächtig war, aufzuschreiben und die deutsche Benennung für jedes ungarische Wort möglichst beizusetzen. Diese Aufzeichnungen ergaben ein Resultat, welches nur dazu beitragen konnte, ihre Glaubwürdigkeit zu approbiren. Denn jene Zusammenstellung enthielt auch nicht ein einziges Wort, das einen Gegenstand bezeichnete, welcher außerhalb des sehr engen Kreises ihrer sinnlichen Anschauung in jener Waldwohnung lag, worin sie vorgab, den größten Theil ihrer Jugend verbracht zu haben: unseres Bedünkens einer der feinstgesponnenen Fäden ihres meisterhaften Betrugs! – Wenn Herr Eck in diesem Verzeichniß auch nur ein Wort gefunden, welches nicht innerhalb jener sehr beschränkten Begriffssphäre gelegen gewesen, er hätte ihren Betrug vielleicht sofort entschleiert; wogegen die Unantastbarkeit jenes Verzeichnisses nicht wenig dazu beitrug, das Siegel der Wahrhaftigkeit erst recht auf ihre Lebensbeschreibung zu drücken, mit deren Erzählung sie ungefähr um dieselbe Zeit begann.

Nachdem nämlich Caroline in ungefähr 120 Stunden und beinahe dreivierteljährigem Unterricht sich einigermaßen in deutscher Sprache verständlich zu machen gelernt hatte, veranlaßte sie ihr Lehrer, ihm die Hauptmomente ihrer Vergangenheit mitzutheilen. (Auf diese die Neugier schon im Voraus zu spannen, hatte sie durch frühere gelegentliche Aeußerungen, wie: „Ich nicht sagen können, was ich denke; ich viel wissen und nicht sagen können!“ trefflich verstanden.) Dies geschah jedoch keineswegs in geordneter, zusammenhängender Erzählung; vielmehr gab sie ihre Geschichte in vielen einzelnen Bruchstücken, die Herr Eck zum großen Theile erst aus ihr herausfragen mußte, sammelte und aus allen diesen Theilen und Theilchen erst nach Monaten ihre Geschichte mosaikartig zusammenfügte. Die wichtigeren und kritischsten Partien derselben wurden überdies durch vielfach wiederholten Fragen festgestellt.

Die auf diesem Wege erhaltene Geschichte war der Art, daß sich Herr Eck veranlaßt, ja gleichsam verpflichtet fühlte, sie in Gestalt der genugsam bekannten Broschüre in die Oeffentlichkeit zu geben. Diese Schrift erregte die ungetheilteste Aufmerksamkeit in den weitesten Kreisen und die drei P: Presse, Publicum und Polizei waren auf’s Eifrigste dahinter her. (Im Jahre 1856 erschien zu Amsterdam sogar eine wortgetreue holländische Uebersetzung der Schrift, und selbst amerikanische Zeitungen referirten die Sache.)

Der Grundton, auf den Carolinens ganzer Seelenzustand gestimmt, auf den all’ der tiefe Kummer, welcher an ihrem Herzen zu zehren schien, sich in unsern Augen zurückführen ließ: es war die beständige Sehnsucht nach ihrer früh verlorenen Mutter! Mit dieser Sehnsucht wußte sie sehr fein berechnet ein allgemeines menschliches Interesse für ihr Schicksal in vielen Gemüthern wach zu rufen. Auch nach „Magyar“ (Ungarn) schien sie zuweilen ein Heimweh zu überkommen, selbst nach Bertha. Lieder von der Heimath stimmten sie wehmüthig und in sich gekehrt. In solcher Stimmung äußerte sie einmal: „Mein Leben ist ganz zerknickt; ich habe Niemand, was mich fesseln sollte! Ach, wenn ich Abends gegen Himmel sehe – ich freue mich oft auf den Abend, daß ich mich recht satt weinen kann – das ist mein einziger Trost!“

Ihr Lehrer hatte nicht verfehlt, vor Herausgabe der Bekenntnisse dieser schönen Seele Carolinen nochmals nachdrücklichst auf die große Verantwortlichkeit hinzuweisen, die er damit vor der Oeffentlichkeit übernehme, und ihr geschildert, wie schrecklich es für ihn sein müsse, auch nur eine Unwahrheit unter seinem Namen zu publiciren. Mit Entschiedenheit entgegnete sie ihm: „Ich sagen, was ich wissen! Ich nicht sagen können, was ich nicht wissen!“ Zudem schien sie auch die Hoffnung, vermöge der Eck’schen Veröffentlichungen ihre Mutter wiederfinden zu können, mit sichtlicher Freude zu erfüllen. Ja, es war ordentlich, als ob die chimärische Mutter sich so sehr in ihrer Einbildungskraft festgesetzt habe, daß sie zuletzt gleichsam zur fixen Idee in ihr wurde, an die sie schließlich selbst glaubte.

Wer mochte wohl auch an eine bloße Erfindung glauben bei einem Geschöpf, dessen Anschauungs- und Erkenntnißvermögen von einer noch so durchaus kindischen Naivetät zeugte! Einer ihrer vollendetsten Züge war aber der, nicht nur das Nothwendige, sondern auch noch das Ueberflüssige zu unserer Bethörung zu thun. So z. B., als sie einst bei einem Leichenbegängniß eine große Anzahl von Menschen sah – wem wäre es da wohl aufgefallen, wenn sie sich darob nicht verwundert hätte! Und dennoch verwunderte sie sich baß, daß es „so viele Menschen gäbe auf der Welt!“ Auf verschiedene an sie gerichtete, an sich höchst geringfügige Fragen in Betreff dieser und jener Einzelheiten ihrer Geschichte beharrte sie auf einem entschiedenen „Das weiß ich nicht mehr!“ wo es ihr ein Leichtes sein mußte, ebenfalls eine Erfindung zum Besten zu geben, was wiederum nur dazu beitragen konnte, die Glaubwürdigkeit für ihre übrigen positiven Aussagen um ein Wesentliches zu erhöhen.

Da Caroline vorgab, auch von Religion, Gott, Christus etc. nicht das Mindeste zu wissen, so war es Herrn Eck’s nächste Aufgabe, sobald er sich ihr nur einigermaßen im Deutschen glaubte verständlich machen zu können, mit dem Religionsunterrichte ebenfalls bei ihr zu beginnen. Da sie hierbei fast noch größere Aufmerksamkeit entwickelte, als in den übrigen Fächern, so konnte sie bereits von Ende Januar 1856 an den Religionsunterricht besuchen, welchen Eck als Lehrer der Volksschule zu Offenbach den Mädchen seiner Classe ertheilte. Auch an Mittheilung von Schriften sittlich-religiösen Inhaltes ließ es Herr Eck bei ihr nicht fehlen, als das Verständniß dafür bei ihr immer mehr zu erwachen schien. Sie hat viel und mit Eifer solche Schriften gelesen; eine Lectüre, welche schädlich auf sie einzuwirken vermochte, hat man nie bei ihr gefunden. Unter allen die liebste ist ihr stets geblieben die Geschichte Josephs und seiner Brüder aus dem alten Testamente; diese hat sie unzählige Mal gelesen und wieder gelesen, oft selbst Abends im Bette. Den Grund für diese tiefgehende Vorliebe suchte man natürlich zunächst darin, daß die Schicksale Josephs mit ihren eigenen einige Aehnlichkeit hätten.

„Warum,“ frug sie Herrn Eck, als ihr dieser die Geschichte von Joseph zum ersten Male erzählt hatte, „hat Joseph so lange wartet, bis seine Brüder kommen sin, und hat nicht gleich Getreide [722] sein Papa schickt? Ich hätte meine Mama nicht so lang warten lassen; ich hätte meine Mama gleich Getreide schickt. – Wo nur meine Mama is?“ setzte sie darauf seufzend hinzu.

Doch nahm sie durchaus nicht Alles so ohne Weiteres als baare Münze hin, was geschrieben stand. Sie frug ihren Lehrer viel die Kreuz und Quere, und machte oft Einwürfe so verfänglicher Art (wie ja auch Kinder oft Fragen thun, die Erwachsene in Verlegenheit setzen), daß deren Beantwortung ihre Schwierigkeit hatte. Besonders in Bezug auf die biblischen Wunder und Gleichnisse bekundete sie schon zeitig einen gewissen skeptischen, grübelnden Rationalismus, der gleich dem Kern der Sache entschieden zu Leibe ging und keine Ausflüchte dulden wollte. So sagte sie einst zu Eck, nachdem ihr dieser die Frage, ob die Schlange im Paradiese denn sprechen gekonnt habe, verneint hatte, indem sie mit der Hand schnell über das aufgeschlagene Buch strich, voll Entschiedenheit: „Dann ist auch die ganze Geschichte nicht wahr!“ – Es waren Aeußerungen derselben Intelligenz, die man bei Kindern sonst als Symptome frühreifer Kritik mit dem Namen „Naseweisheit“ belegt.

Doch wenden wir uns jetzt einmal zu Carolinens Stellung im Hause und in der Familie, so erscheint sie uns dort von einer ganz andern und minder erfreulichen Seite, als im Unterricht. Sie entfaltete im Hause durchaus nicht jenen Lern- und Arbeitstrieb, jene Anstelligkeit, wie Herrn Eck gegenüber, gab dagegen häufig genug wegen großer Eigenwilligkeit, Launenhaftigkeit und Unliebenswürdigkeit Anlaß zu gegründeten Klagen. Doch maß Herr Eck die bei Carolinen zu Tage tretenden Fehler um so mehr einer „unrichtigen Behandlung“ zu, als ihr Betragen ihm gegenüber, der sich liebevoll wie ein Vater ihrer annahm, fast durchweg tadellos war. Ihm gegenüber war sie aber auch stets bemüht, sich im besten Lichte zu zeigen, und das bis fast ganz zuletzt. Er glaubte sie unschuldig wie ein Kind, gleichsam direct aus den Händen der Natur überkommen zu haben; ihm war sie wie ein „rohes Ei,“ das Niemand anzugreifen verstand, ohne es zu verletzen, und an dessen zartes Seelenleben sich der Rost und Schmutz dieser Welt nur zu leicht ansetzte.

Aber auch auf kleinen Unwahrheiten ließ sich Caroline bald – doch niemals von Herrn Eck – betreten, wußte sich dagegen bei diesem jedesmal so glänzend herauszuschwatzen, daß sich ihm schließlich alle jene angeblichen Unwahrheiten immer in leere Mißverständnisse (diese ohnehin ja so leicht möglich bei einem eingeschüchterten Geschöpf, das die Sprache seiner Umgebung nicht gründlich versteht und spricht!) und in die natürlichen Folgen „falscher Behandlung“ Carolinens auflösten. Aber selbst die, welche sie hin und wieder belog, bezweifelten deshalb keineswegs den Kern ihrer abenteuerlichen Geschichte: der kolossale Bau derselben stand doch zu fest in sich geschlossen, um durch etwelche kleine Lügen sich erschüttern zu lassen. Und einzelne Ungläubige, die vielleicht auch ihre vornehme Abkunft in Frage stellten, bezweifelten doch keineswegs, daß sie bei ihrer Hierherkunft kein Wort Deutsch gekonnt habe.

Acht Monate lang war Caroline in der Familie der Wittwe geblieben, als wegen beabsichtigter Aufgabe des Putzgeschäfts ihrer Tochter Caroline am 1. August 1855 in der Familie des Kaufmanns K. Aufnahme fand, und die freundlichste dazu. In dieser Familie, wo sich die für ihre Entwicklung nothwendigen Bedingnisse alle zu vereinigen schienen, ist sie bis zum Mai 1857 verblieben. Aber auch hier entfaltete sie nicht mehr häusliche Tugenden, obwohl ihr die Familie viele Wohlthaten erzeigte und z. B. von ihrem Kostgelde 160 Gulden für sie zur Sparcasse einschreiben ließ, wo sie jetzt noch stehen.

Ihre Uebersiedelung in die K.’sche Familie ging im August vor sich; im December desselben Jahres erschien die Broschüre. In Bezug auf diese bleibt uns noch eine wunderbare Thatsache hier zu erwähnen: daß sich Caroline zwar manchmal in ihrem hiesigen Leben auf Unwahrheiten, nie aber auch nur auf dem leisesten Widerspruch bezüglich der doch rein erfundenen Geschichte ihrer Vergangenheit betreffen ließ! Und dies, sowie ihre Verstellung im Punkte der Sprache ist es, was wir als die beiden Gipfel ihrer Kunst bezeichnen müssen.

Bekanntlich hatte sie das Schloß ihrer Väter, besonders aber die unterirdische Wohnung im Walde bis in die eingehendsten, minutiösesten Details herab zu schildern gewußt, in allen Einzelheiten des Ameublements und der ganzen Einrichtung, sogar mit Angabe vieler Größen und Maße, wie das Alles Herr Eck dann in seiner Schrift mit Walter Scott’scher Breite und Anschaulichkeit wiedergegeben hat. Nun durfte sie aber Herr Eck noch nach Jahren, ganz unvorbereitet, um diese oder jene Specialität der Waldwohnung etc. befragen, so hatte sie sofort die genaueste, präciseste und mit ihren früheren Aussagen stets auf’s Schärfste klappende Antwort zur Hand.

Inzwischen begann die Broschüre zu wirken. Die österreichische Regierung ließ es an nichts fehlen, dem Verbrechen, das innerhalb ihrer Grenzen begangen schien, auf die Spur zu kommen. Ein Hauptmann-Auditor der österreichischen Besatzung zu Mainz ist oftmals in dieser Sache, höherem Auftrage zufolge, hier gewesen und hat aus eigener Anschauung ausführlich darüber nach Wien berichtet,[2] und ein k. k. Rath der obersten Polizeibehörde dortselbst, Referent in Carolinens Angelegenheit, hat im Juli und November 1856 unsere Stadt dieserhalb ebenfalls besucht. Nachdem er Carolinen drei Mal mehrere Stunden lang verhört hatte, gelangte er zu dem Resultate: daß er zwar von ihr nichts erfahren, was nicht schon in der Broschüre über sie gesagt sei – das dort Gesagte aber mit ihren eigenen Aussagen völlig übereinstimmend gefunden habe; auch spreche sie das Ungarische in einer Weise aus, wie es nur bei eingebornen Ungarn vorkomme. Also selbst gewiegten Inquirenten gegenüber wußte sich Caroline völlig im Sattel zu behaupten. Wer hätte da noch zweifeln mögen?!

Aber noch mehr! Im Sommer 1856 gelangte an Herrn Eck, nachdem ihm schon früher gegründete Aussicht eröffnet worden, dem Verbrechen auf die Fersen zu kommen, plötzlich aus zuverlässiger Quelle die Mittheilung: daß das Schloß, worin Carolinens Wiege stand, gefunden sei! Die davon in der Broschüre gegebene Beschreibung stimmte bis auf wenige Kleinigkeiten. Das konnten indeß Veränderungen sein, die das Schloß inzwischen erfahren hatte, oder Caroline irrte in der Erinnerung. Sie bestand jedoch fest auf ihren früheren Angaben, und das war wieder sehr klug. Weiter hörte man jedoch nichts mehr von der Sache, aus dem sehr leicht erklärlichen Grunde, weil ein Schloß, das gar nicht existirte, auch nicht gefunden werden konnte.

Allein immer noch mehr Thatsachen häuften sich, Carolinens Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Jenes Schloß meinte man nicht in Ungarn selbst, sondern im Großfürstenthum Siebenbürgen gefunden. Einige Wochen nach dem Eintreffen dieser Kunde kam ein ehemaliger ungarischer Geistlicher, in allen Dialekten des Landes wohl erfahren, hierher, um Carolinen zu sehen und zu sprechen. Diesem gelang es, sich besser mit ihr zu verständigen, als allen früheren Personen, welche ungarisch mit ihr zu reden versuchten. Nach der Unterredung bezeichnete er Herrn Eck dieselbe Gegend Siebenbürgens, worin sich angeblich das Schloß gefunden haben sollte (wovon er jedoch nichts wußte!), auch als diejenige, worin die von Carolinen gesprochene, eigenthümlich gemischte magyarische Mundart heimisch sei. So schien sich Alles zu vereinigen, Caroline in ihren Aussagen zu unterstützen.

In der früher in diesen Blättern erschienenen Mittheilung über die Unbekannte ist gesagt, daß man vor Allem hätte den Versuch machen sollen, sie unter Begleitung den Weg durch Feld und Wald und Dorf wieder auffinden zu lassen, auf dem sie nach ihrer Aussetzung durch Bertha nach Weiskirchen gelangt war, von wo sie andern Tages nach Offenbach abgeliefert worden.


  1. Unter obigem Titel werden wir eine Reihe von Artikeln veröffentlichen, deren Aufgabe es sein soll, das Vaterland mit dem Wirken von Ehrenmännern bekannt zu machen, deren Ehrgeiz darin bestand und besteht, tüchtige Bürger, gesunde, kräftige Mitglieder der bürgerlichen Gemeinde zu sein. Gott sei Dank, es fehlt uns in Deutschland nicht an Stoff für derlei Skizzen, und wir dürfen unsern Lesern eine gute Auswahl versprechen – eine Reihe wahrhaft tüchtiger und treuer Bürger. Daß wir unter dem Begriff Bürger nicht nur Haus- oder Grundbesitzer verstehen, brauchen wir wohl nicht hinzuzusetzen.
    D. Redact.
  2. Außer den ausführlichen Protokollen wurden auch Carolinens Schreibhefte, das Verzeichniß ihres ungarischen Wortvorraths und ihre Photograpbie nach Wien geschickt; ebenso das lithographische Portrait eines jugendlich-schönen Mannes mit Schnurr- und Kinnbart, und in umgeworfenem Mantel, vor dem sie oft in stille Betrachtung versenkt stand, und von dem sie behauptete: so habe ihr Papa auf dem Bilde in der Waldwohnung ausgesehen, – es war das bekannte Portrait des Sängers Pischek, das vermuthlich in den Archiven der obersten Polizeibehörde zu Wien noch heute ruht.


(Fortsetzung folgt.)




[723]
Aus dem Meer-Leben.[1]
Der Sturmvogel. – Der Albatroß. – Vogelfang auf St. Kilda. – Wunderbare Rettung eines Vogelfängers. – Der Guano der Chincha-Inseln.

So wie der Wallfischfänger über die Shetlands-Inseln hinausfährt bis in die höchsten Breiten, sieht er sich von dem entengroßen, weißgrauen Eissturmvogel oder Fulmar begleitet, der ewig wachsam sogleich auf Alles, was über Bord geworfen wird, pfeilschnell herabschießt. Der auf der Feste unbeholfene Vogel fliegt im stärksten Sturme gegen den Wind. Oft sieht man ihn zu Tausenden um einen todten Wallfisch versammelt; und so wie auf der peruanischen Hochebene Condore und Aasgeier aus unbegreiflichen Fernen um das gefallene Maulthier sich zusammenschaaren, so lockt auch aus allen Himmelsgegenden die leckere Riesenmahlzeit den Fulmar herbei. Wirft man einen Stein unter die Menge, so erheben sich die zunächst schwimmenden; und der Schrecken pflanzt sich fort, bis endlich die ganze Bande auffliegt, deren heiseres Geschrei mit dem Plätschern des Wassers zu einem ganz eigenthümlichen Concert sich verbindet. Die Gierigkeit des dummdreisten Vogels, der sich nicht wegjagen läßt, man mag noch so viele mit Boothaken erschlagen, gewährt den rohen Matrosen ein unterhaltendes Schauspiel. Wie neidisch sieht er den andern ein leckeres Stück davontragen, wie frech und verwegen stürzt er sich auf ihn, um ihm den Bissen zu entreißen, wie hastig verschlingt er das Seinige, um ja nicht auf dieselbe Weise gestört zu werden! Wenn das Aas selten ist, folgt der Fulmar auch dem lebenden Wallfische, als ob er schon auf dessen künftiges Loos speculirte, und zeigt dann durch sein eigenthümliches Hin- und Herfliegen dem erfahrenen Jäger an, wo er seine Beute zu suchen habe.

Der arktische Sturmvogel scheint dem Pole nicht so nahe zu rücken, wie der Fulmar. Er ist selten in Island und nistet viel auf Neufundland. Dasselbe ist der Fall mit der Procellaria Anglorum, welche auf den Faröern und den Orkaden häufig angetroffen wird. Die tropischen Petrels sind am wenigsten bekannt. Sie scheinen sich nicht truppweise zu versammeln und folgen selten den Schiffen. Gegen 45° S. B. zeigen sich die ersten Pintaden und fangen an, seltener zu werden, sowie man 60° überschreitet. Der Riesensturmvogel reicht bis an die Eisbänke der Südens, wo zuerst der antarktische und der Schneesturmvogel erscheinen, welche jenes rauhe Klima nicht verlassen und oft zu Hunderten auf dem Treibeis gesehen werden.

Die Nahrungsweise der Sturmvögel stimmt wenig mit ihrer äußeren Schönheit überein, sie sind die Raben des Oceans und leben von allen todten, thierischen Substanzen, die auf der Oberfläche umherschwimmen. Wo nur ein verwesender Wallfisch, von der Strömung getragen, das Meer in weiter Ferne mit einem Streifen faulenden Thranes überzieht, sieht man sie in den unreinen Gewässern beschäftigt. Alle Petrels haben die merkwürdige Eigenschaft, ein übelriechendes Oel aus ihren Nasenlöchern zu spritzen oder zu erbrechen, wenn man sie erschreckt.

Der Albatroß ist der eigentliche König des hohen Meeres, das Bild eines Helden, der unter den heftigsten Stürmen des Mißgeschicks den unerschütterlichen Gleichmuth eines starken Herzens bewahrt.

Stolz und edel schwimmt er auf seinem Elemente und Trotz bietet er jedem Toben der See und jedem Brausen des Sturmes; ohne das Wasser auch nur mit den Flügelspitzen zu berühren, erhebt er sich mit der steigenden Woge und senkt sich wieder in den nahen Abgrund hinab.

„Es ist wunderbar,“ sagt Herr von Tessan, „wie die Albatrosse die Wuth der entfesselten Elemente verachten und gegen den furchtbarsten Wind anfliegen. „„Sie scheinen so ungenirt, als ob sie zu Hause wären,““ sagten unsere Matrosen. Und wahrlich, dieses Wort ist vollkommen bezeichnend, denn kaum daß man alle fünf Minuten, alle halbe Viertelstunden sogar einen einzigen Flügelschlag wahrnimmt; sonst schweben sie fast beständig in der Luft. Nur in der Nähe bemerkt das Auge eine leichte zitternde Bewegung am hintern Flügelrande und hört das Ohr ein schwaches Anstreifen der Federn gegeneinander. Wahrscheinlich muß man in dieser vibrirenden Bewegung der Schwingen, welche an die ähnliche des Fischschwanzes erinnert, die Ursache des so lange anhaltenden Schwebens suchen.“

Der Albatroß übertrifft den Schwan an Größe, wiegt 12 bis 28 Pfd. und erreicht eine Flügelweite von 10 bis 15 Fuß.

Wochen und Monate lang folgt er dem Laufe der Schiffe, doch glaubt Harvey, daß man die Dauer seines Fluges sehr überschätzt hat. Obgleich er, wie die Möve und die Seeschwalbe, kein Tauchvogel ist, so schwimmt er mit großer Leichtigkeit, und trotz der ungeheueren Weite seiner Flügel weiß er sich recht gut wieder in die Lüfte zu erheben. Es ist wahr, daß der gefangene Albatroß vom engen Raume des Schiffsverdecks nicht wieder auffliegen kann, woraus man voreilig geschlossen hat, daß die Vögel, welche wochenlang den Seefahrer begleiten, diese ganze Zeit in der Luft zubringen. Aber Niemand kann den wandernden Albatroß aufmerksam beobachtet haben, ohne zu sehen, daß er sich häufig auf’s Wasser niederläßt. Er lebt von thierischen Substanzen, die auf der Oberfläche schwimmen, und obgleich er manchmal seine Nahrung im Fluge erhascht, so faltet er eben so häufig seine Flügel und schwimmt wie eine Möve herum. Wünscht er sich dann zu erheben, so sieht man ihn laufen und mit den Flügeln auf’s Wasser schlagen, bis er den gehörigen Schwung bekommen und eine Welle von hinreichender Höhe gefunden hat, von deren Kamme er alsdann wie von einer Felsenkante aufspringt und seinen majestätischen Flug über eine weite Strecke des Oceans von Neuem beginnt. Der Albatroß wird selten im Norden gesehen; er gehört besonders der südlichen Hemisphäre an.

Alle Reisenden wissen, daß sie der Südspitze Afrika’s nicht mehr fern sind, sowie die Albatrosse in größerer Anzahl erscheinen. Diese Vögel sind die Geier des Oceans; ihr gekrümmter scharfkantiger Schnabel ist eher dazu geeignet, eine leblose Beute zu zerreißen, als den schnellen Fisch im Schwimmen zu erhaschen. Aus weiter Ferne riechen sie das todte Wallthier und versammeln sich bald in großen Schaaren um die riesige Leiche. Außer dieser mehr zufälligen Speise verschlingen sie auch Crustaceen und Pteropoden, besonders aber Kopffüßler, die auf offenem Meere sehr häufig vorkommen und, wie wir wissen, auch den riesigen Cachalot ernähren. Fast immer werden Cephalopodenreste in ihrem Magen gefunden, niemals Ueberbleibsel von Fischen. Die Aucklands- und Campbellinseln scheinen Lieblingsbrüteplatze des Albatroß zu sein. Während Sir James Roß im November sich dort aufhielt, waren sie so eifrig mit dem Brüten beschäftigt, daß sie sich ohne allen Widerstand fangen ließen. Das Nest besteht aus einem mit trockenen Blättern und Gräsern untermischten Sandhügel, der durchschnittlich 18 Zoll hoch ist und einen Durchmesser von 27 Zoll an der Oberfläche und von 6 Fuß an der Basis hat. Während des Brütens überragt der schneeweiße Kopf und Hals des Vogels die Gräser und verräth ihn aus weiter Ferne. Will man ihn von seinen Eiern vertreiben, so vertheidigt er sich herzhaft und klappert mit dem Schnabel, als ob er dem Angriffe Trotz bieten wollte. Sein größter Feind ist eine wilde Raubmöve, die immer auf der Lauer ist und, so wie der Vogel das Nest verläßt, darauf losschießt, um es zu plündern.

Schnell fliegt der Albatroß, aber noch schneller durcheilt der Gedanke den Raum und führt uns plötzlich von den wüsten Inseln der Südsee in eine andere Hemisphäre. So bitten wir denn den Leser, dem wir gerne noch das Bild einer großen nordischen Seevogelrepublik vorführen möchten, uns nach Saint Kilda, der äußersten der Hebriden, zu begleiten, wo ihn zugleich die großartigste Felsenscenerie erfreuen wird. Das kleine, etwa eine Meile im Umfange messende Eiland steigt überall fast senkrecht aus dem Schooß des Oceans empor und bildet an seinem östlichen Ende, welches sich 1380 Fuß über dem Wasserspiegel erhebt, die höchste Felsenwand der britischen Inseln. Vom Rande dieses Abgrundes genießt man eine Aussicht, die alle Vorstellungen übertrifft, die man sich von der Erhabenheit eines wilden Steilufers hat machen können. Weit unten in der Tiefe sieht man die Brandung den schwarzen [724] Felsengrund heranklimmen und dessen Fuß mit breiten Schichten schneeweißen Gischtes überziehen. An vielen Stellen verschwindet das Gestein unter Myriaden von brütenden Seevögeln; die Luft ist mit ihren kreischenden Schaaren angefüllt und das Wasser scheint überall von den größeren Arten zu wimmeln, da die kleineren in der Entfernung verschwinden. Jede höher liegende Felsenplatte ist mit dreizehigen Möven, Alken und Guillemots dicht besetzt, von allen Rasenabhängen haben die Fulmars und Puffins Besitz genommen, während in der Nähe des Wassers auf den nassen, vom Wogenschwall tief ausgehöhlten Klippen Gruppen von Seeraben bewegungslos und aufrecht stehen, gleich unreinen Geistern, welche den Eingang einer dunkeln Zauberhöhle bewachen.

Läßt man einen gewaltigen Steinblock von der Höhe in’s Meer hinabrollen, so entsteht ein gar merkwürdiger Tumult. Vielleicht erschlägt der tückische Marmor zunächst einen unglücklichen, auf seinem Neste brütenden Fulmar, springt dann mit gewaltigen Sätzen und tausendfältige Echo’s erweckend, tiefer und tiefer in den Abgrund, hier gewaltige Furchen in die grasigen Abhänge reißend, dort an vorspringenden Felsennasen zerschellend, und treibt die erschreckten Vogelschaaren auseinander. Ihre aufsteigenden Wolken bezeichnen seinen verderblichen Pfad, bis er endlich, zahlreiche Opfer nach sich ziehend, unter den Fluthen verschwindet. Bald darauf kehren auch die gestörten Felsbewohner zu ihren Ruheplätzen zurück und der ungewöhnliche Tumult verhallt.

In unglaublicher Anzahl brütet der Fulmar auf Saint Kilda und ist für die Eingebornen bei weitem das wichtigste Product ihrer Heimath. Man trifft ihn auf den höchsten Felswänden und nur auf solchen, die mit kleinen grasbewachsenen Abhängen versehen sind. So wie man ihn ergreift, erbricht er ein klares bernsteinfarbiges Oel, welches von den Insulanern als ein Universalmittel gegen alle körperlichen Leiden, vorzüglich gegen chronischen Rheumatismus gerühmt wird, und auch zum Speisen ihrer Lampen dient. Das vorzüglichste wird von den alten Vögeln gewonnen, indem man sie Nachts auf dem Felsen überrascht und ihnen den Schnabel zudrückt. Hierauf läßt man sie ein paar Eßlöffel Oel in den getrockneten Magen eines Baßtölpels ergießen, den man als Behälter braucht.

Es ist besonders im Verfolgen des Fulmars, daß die Vogelfänger auf Saint Kilda ihr Leben so häufig auf’s Spiel setzen. Zwei von ihnen, mit langen Stricken versehen, begeben sich an den Rand des Abgrundes. Hierauf befestigt der Eine das stärkste der mitgebrachten Taue unter seinen Armen und, das Ende eines andern Strickes in die Hand nehmend, wird er vom Felsen hinabgelassen. Sein Gefährte steht von der Kante etwas entfernt, das Tragseil, dessen anderes Ende er ebenfalls um den Leib gebunden hat, mit beiden Händen festhaltend und langsam abgebend, während er das Signaltau unter dem Fuße weggleiten läßt. So wie der Vogler zu einem mit Fulmars besetzten Abhange gelangt, hält er seine Lese, rafft Eier und Junge auf und erschlägt die Alten mit einem kurzen Stocke oder fängt sie mit einer an eine lange schmale Ruthe befestigten Schlinge. Darauf bindet er die Vögel zusammen und sucht eine neue Colonie auf, bis er endlich, reich beladen, sich wieder hinaufziehen läßt.

Die Geschicklichkeit dieser Felsenbewohner ist erstaunlich. Die kleinste Platte genügt ihnen zum Stehen und sie kriechen auf Händen und Knieen, mit Vögeln beladen, die schmalsten Kanten entlang. So groß ist ihre Kraft, daß, wenn der hinabgelassene Vogler einen Fehltritt macht und die ganze Länge des Seiles in die Tiefe stürzt, sein Gefährte durch festes Anstemmen seinen Freund und sich noch rettet. Eine solche Mannesstärke erinnert an das heroische Zeitalter. – Noch Wunderbareres wird erzählt. Eines Morgens ging ein Vogler allein auf den Fang. Nachdem er das Seil oben am Felsen befestigt hatte, ließ er sich hinunter, bis er einen Abhang erreichte, wo er eine reiche Beute zu machen hoffte. Durch ein geschicktes Hin- und Herschaukeln kam er richtig zur Stelle, vergaß aber beim Landen, sich den Strick um den Leib zu binden. Ueber das eifrige Einsammeln entglitt dieser seinen Händen, schwankte einige Male hin und her und blieb endlich unbeweglich 6 bis 8 Fuß vom Abhange frei in der Luft schweben. Einen Augenblick stand der arme Vogler stumm vor Entsetzen da, durch das plötzliche Schreckniß seiner Lage fast aller Besinnung beraubt. Furchtbar war sie in der That: die Steinmassen über ihm senkrecht wie eine Mauer, das Meer unten gegen zackige Klippen anbrausend; keine Möglichkeit, daß aus der Tiefe, bis zu welcher er sich hinabgelassen hatte, sein Hülferuf durch das Wogengeräusch zu den Ohren der Menschen gelangen könnte. Nur eins blieb ihm übrig: ein gräßlicher Sprung konnte ihm das Seil wieder in die Hände geben und ihn retten. Verfehlte er ihn, so war der sichere Tod unfehlbar, aber noch besser dieser, als das langsame Verschmachten auf der Felsenplatte. Er faßte also einen herzhaften Entschluß, murmelte ein kurzes inbrünstiges Gebet, sammelte seine ganze Kraft und sprang in’s Bodenlose hinein. Er lebte, um die That zu erzählen; denn es gelang ihm, das rettende Seil zu greifen und zu den Seinigen zurückzukehren.

Sturmvögel, Lummen, Puffins und Alken kommen ebenfalls in großer Menge auf Saint Kilda vor. Bedenken wir nun, daß an allen Küsten und auf allen Inselgruppen des europäischen Nordmeeres ähnliche Vogelberge sich befinden, – die alle mehr oder weniger von muthigen Jägern ausgebeutet werden – so lernen wir die unendliche Fülle der Natur bewundern, die ein so reiches Leben auf nackte Felsen hinzaubert. Die ungeheuere Menge, in welcher manche Seevögel vorkommen, ist um so erstaunlicher, da viele Arten, wie die Lummen, Alken, Lunde, Fulmars, Tölpel und Puffins, nur ein einziges Ei ausbrüten, welches oft auf dem nackten Felsen in so bedenklicher Stellung liegt, daß man nicht begreift, wie das Bebrüten möglich ist. Seeadler, große Falken, Möven saufen die Eier aus und schleppen die Jungen weg; Lestris catarrhactes füttert seine Jungen sogar fast allein mit jungen Lummen, Alken, Tölpeln und Fulmars; selbst große Fische erschnappen manchen Vogel; Hunderte kommen bei strenger Kälte und in den arktischen Stürmen um; manche Brut geht sogar mit einem Schlage durch die Springfluthen verloren, welche die Eier und noch nicht flüggen Jungen mit sich fortreißen, und wie viel tödtet nicht der Mensch!

Dennoch bleibt ihre Anzahl und ihre Wichtigkeit für den Haushalt der nordischen Insulaner und Küstenvölker unverändert. Aber von ungleich größerer staatsökonomischer Bedeutung, als alles Oel und Fleisch, als alle Federn und Eier der hyperboräischen Vogelrepubliken, ist seit den letzten Jahrzehnten der Guano oder richtiger der Huanu für Europa geworden.

Fast auf allen Inseln und den meisten unbewohnten Vorgebirgen der ganzen Westküste Amerika’s, besonders der intertropischen, kommt dieser unschätzbare Dünger vor; seine ergiebigsten und berühmtesten Fundorte sind aber die Chincha-Inseln in der Nähe von Pisco, ungefähr 100 englische Meilen südlich von Callao, wo er ungeheuere, 50 bis 60 Fuß tiefe Lager bildet.

Die obersten Schichten sind von graubrauner Farbe, die tieferen rostbraun. Der Guano wird allmählich dichter und fester von oben nach unten, ein Umstand, der im zunehmenden Gewicht der oberen Schichten seine Erklärung findet. Bekanntlich wird er von den Excrementen verschiedener Seevögel gebildet, unter welchen Tschudi: Larus modestus (Tsoh.), Rhynchops nigra (Lions), Plotus Anhinga (L.), Pelecanus thayus, Phalacrocorax Gaimardii und albigula (Tsch.) nennt, besonders aber Sula variegata (Tsch.) als den bedeutendsten Huanu-Fabrikanten hervorhebt. Wer jemals die ungeheueren Schwärme dieser Vögel gesehen hat und sowohl die erstaunliche Gierigkeit als die Leichtigkeit kennt, mit welcher sie in jenem fischreichen Meere ihren Hunger befriedigen können, wundert sich nicht mehr über die Größe der Guanolager, welche durch die ununterbrochenen Anhäufungen von Jahrtausenden entstanden sind.

Der frische Guano ist weiß und wird von den peruvianischen Landleuten für den vorzüglichsten gehalten. Man sammelt ihn auf der Punta de Hormillas, auf den Inseln Islay, Jesus, Margarita etc. So wie man die Ausbeutung eines Guanolagers vornimmt, wird die Nachbarschaft von den Vögeln verlassen. Auch will man bemerkt haben, daß sie seit der Zunahme des Handels und der Schiffahrt sich von den Inseln, die in der Nähe der Häfen liegen, zurückgezogen haben.

Die Peruvianer kennen den Gebrauch des Guano’s seit vielen Jahrhunderten, unter den Incas wurde er als ein wichtiger Zweig des Nationalvermögens betrachtet. Es war bei Todesstrafe verboten, die jungen Vögel auf den Guanoinseln zu tödten. Jedes Eiland hatte seinen besondern Inspector und wurde einer bestimmten Provinz zur Benutzung angewiesen. Der ganze District zwischen Arica und Chaucay wurde in einer Länge von 200 nautischen Meilen ausschließlich mit Guano gedüngt. Unter der spanischen Herrschaft verlor das Land viel von seiner früheren Betriebsamkeit, [725] doch während der letzten 50 Jahre belief sich noch immer der jährliche Bedarf der Hacienda’s im Chancaythale auf 25 bis 30,000 Scheffel, die vorzüglich auf den Chinchainseln gegraben wurden.

Die Art, wie der Guano in Peru zum Dünger, besonders der Maisfelder, gebraucht wird, ist noch ziemlich unbekannt und dürfte wohl manchen Leser interessiren. Wenige Wochen nach dem Emporkeimen wird neben jedem Wurzelstocke ein kleines Loch gegraben, eine Prise Guano hineingethan und dann mit Erde zugedeckt. Höchstens zwölf bis achtzehn Stunden später wird das ganze Feld unter Wasser gesetzt und einige Stunden so gelassen. Von weißem Guano nimmt man weniger und bewässert darauf länger und schneller. Die Wirkung ist unglaublich rasch; schon nach wenigen Tagen erreicht die Pflanze das Doppelte ihrer früheren Höhe. Wird das Düngen später mit einer geringen Quantität wiederholt, so übertrifft die Ernte um das Dreifache diejenige, die auf einem nicht gedüngten Acker gewonnen wird. Das gleichförmige Klima an einer Küste, wo es niemals regnet, trägt viel dazu bei, daß der peruanische Guano einen schärfern Dünger gibt, als der afrikanische, weil bei jenem weniger Salztheile aufgelöst und verflüchtigt werden.

Der Eissturmvogel.

Reißend schnell nimmt der Gebrauch des Guano’s im westlichen Europa zu. Auf der Iquique-Insel bedeckte eine dreißig Fuß dicke Schicht eine Fläche von 220,000 Quadratfuß: in 27 Jahren war sie abgetragen. Viele kleinere Inseln sind schon rein ausgeplündert. 1854 wurden 250,000 Tonnen, in den drei ersten Monaten des folgenden Jahres 80,000 Tonnen auf den Chincha-Inseln ausgegraben und die jetzige Ausfuhr beträgt gewiß nicht weniger, als eine halbe Million. Der Antwerpener Agent des Londoner Hauses Gibbs und Co, welches schon seit vielen Jahren das Monopol der Guano-Ausbeute auf den Chincha-Inseln besitzt, erhält allein jährlich ein paar hundert Ladungen und lebt wie ein Fürst von den Procenten, welche der Vogeldünger ihm abwirft. Das Einkommen seiner Principale wird auf wenigstens 100,000 Pfd. Sterling geschätzt. Die Verdauungsproducte der Sula tragen der peruanischen Regierung größere Summen ein, als alle Silberschätze von Cerro di Pasco, und der Transport derselben beschäftigt unstreitig eine größere Handelsflotte, als diejenige war, die im vorigen Jahrhundert sämmtliche Verbindungen zwischen Spanien und allen seinen Colonien unterhielt.

„Die Chincha-Inseln,“ sagt Castelnau, „sind ganz wüste und pflanzenleer; ihr Granitboden zeichnet sich deutlich durch seine Farbe von der dicken Guano-Schicht ab, welche ihn bedeckt und deren Oberfläche von weitem wie Schnee aussieht. Die steilen, senkrecht abgeschnittenen Ufer erschweren das Landen, erleichtern aber zugleich die Gewinnung des Produktes, denn die Fahrzeuge ankern unmittelbar neben den Brüchen, und man hat weiter nichts zu thun, als den Guano durch einen langen Schlauch in den Schiffsraum hinablaufen zu lassen. Man gräbt an drei nahe bei einander liegenden Stellen, und der Reisende braucht nur die ungeheueren Lager mit der Kleinheit der in einiger Entfernung kaum wahrnehmbaren Aushöhlungen zu vergleichen, um sich von der Unerschöpflichkeit der Vorrathes zu überzeugen.

„Ein paar Hütten sind auf dem Eilande errichtet worden, wo unter ammoniakalischen Düften einige peruanische Beamte und Soldaten die Ausbeute der Guano-Schätze überwachen.“




Die Privat-Irrenanstalten.
Von Dr. juris Thesmar in Köln.
(Fortsetzung.)


Schreiben des Mechanikus Franßen in Xanten. – Grauenerregende Behandlung der in der Lindenburg Eingesperrten. – Der Wärter Hermann Schütz. – Mißhandlung eines achtzigjährigen Greises. – Schuhmacher in Königsberg.

Jenes Schreiben rührt von dem Mechanikus Wilhelm Franßen aus Xanten her, den seine Bekannten übereinstimmend als einen sehr gebildeten und wahrhaftigen Mann schildern; sein Brief scheint dieses Zeugniß zu bekräftigen. Jenes Schreiben vom 15. September c. lautet unter Weglassung der bittersten Stellen, für welche demselben die erlittenen Qualen zur Entschuldigung gereichen mögen, wörtlich wie folgt:

„Sehr geehrter Herr Doctor! Da ich aus der heutigen Nummer 256 der Kölnischen Zeitung ersehe, daß Sie sich der Sache des Herrn H. (Heesmann) von Köln angenommen haben und, wie es scheint, sich für das Schicksal des armen Irren interessiren, so dürfte es Ihnen vielleicht nicht unangenehm sein, durch einen Augenzeugen bezüglich dieses Gegenstandes einen kleinen Beitrag zu erhalten. Ich hatte selbst das Unglück, im August 1855 nach der Lindenburg gelockt zu wenden, und schmachtete fünf Vierteljahre darin unter den schrecklichsten Foltern. Die Kölnische Zeitung brachte kürzlich mehrere Artikel aus China und Indien, und wußte wahrscheinlich nicht, daß sie dicht in der Nähe von Köln hinreichenden Stoff zu ihren Declamationen hätte finden können. Was meinen Namen und meine Person betrifft, so kann Ihnen Herr H. darüber Auskunft geben, und will ich es Ihnen anheimstellen, sich mündlich näher zu informiren, wenn Sie es für gut halten sollten. [726] Zwar weiß ich nicht, von welchem Standpunkt aus Sie, Herr Doctor, die Sache betrachten und behandeln, ob Sie die fragliche Angelegenheit vom Standpunkte des Geschäftsmannes betrachten, oder ob Sie ritterlich als Menschenfreund das Schwert ziehen für einen Theil der unterdrückten Menschheit, der vor Allem des Schutzes seiner Mitmenschen so sehr bedarf. Ich gehe deshalb, hiervon abstrahirend, zur Sache über, voraussetzend, daß Sie in Bezug auf meine Person eine billige Discretion beobachten werden.

„Die Kost auf der Lindenburg ist nicht zu beschreiben; etwas schmutzige Runkelrübenblätter, blos in Wasser gesotten, war den Armen ein Leckerbissen. Dieser Punkt ist überhaupt haarsträubend; der menschliche Mund kann es nicht aussprechen! Der Hunger, Herr, der Hunger thut weh! Viele der Aermsten verschlangen ihren eignen Koth mit Gier oder suchten aus den Gossen des stinkenden Hofes noch etwas aufzufischen; in der offenen Abtrittsgrube suchten sie ihren Hunger zu stillen. Der Wärter Hermann Schütz ist als der schlimmste Peiniger zu bezeichnen. Dieser Schütz rühmte sich, ein intimer Freund von Lucas Waldenburg (einem hingerichteten Raubmörder aus Köln) gewesen zu sein, auch daß er als Soldat einmal in Berlin mit einem Genossen zwei Polizeidiener, d. h. Constabler, niedergemetzelt habe. Dieser Schütz hat eine Reihe der entsetzlichsten Mißhandlungen verübt. Ein gewisser Kellershoven, aus der Nähe von Siegburg zu Hause, hat die gräßlichsten Mißhandlungen erdulden müssen. Er wurde in dem Folterstuhl aufgehängt und so herzzerreißend geschlagen, daß er an Kopf und Leib mit tiefen Wunden bedeckt war; von unten stach man ihn mit Nadeln und Messern. Das Hülfsgeschrei des Unglücklichen hätte die Stadt Köln alarmiren müssen; aber die Aermsten waren von Gott und den Menschen verlassen. Ich that für die Unglücklichen, was in meiner Macht stand, namentlich an das „Divide et impera“ denkend, wodurch es mir selbst gelang, mich noch zu retten, und dem Hungertode zu entrinnen. Auch Herr H. (Heesmann) würde wahrscheinlich nicht mehr unter den Lebenden sein, wenn ich nicht den damaligen Wärter gebunden hätte. Paul Heins ist von dem erwähnten Schütz fürchterlich gefoltert worden; besonders grausam schlug er einen Carl Rabenbrunner von Crefeld todt. Einen Pensionair, E. Dülken, warf er zur Erde und stampfte ihm mit dem Absatze das Gesicht blutig. Man könnte Bände mit diesen Niederträchtigkeiten ausfüllen. Decker von Crefeld, Rohden von Solingen und viele Andere sind auf herzbrechende Weise gefoltert worden. Ein späterer Wärter, Joh. Faust, bat für einen kranken Mann aus Uedem bei Cleve um eine Tasse Thee. Man wies ihn mit harten Worten ab, und der Mann starb hülflos bald nachher.

„Ein Knabe wurde gezwungen, ein ungenießbares Gesudel zu verschlingen, und wurde trotz seiner Schwäche genöthigt, sich bis unter das Dach zu schleppen, wo er am andern Morgen todt im Bette gefunden wurde. Ein Schuster, Kerck, ertränkte sich aus Verzweiflung im Teiche des Gartens, da er kurz vorher seinem Freunde Bergerhaus geklagt, daß er den gräßlichen Hunger und die Mißhandlungen nicht mehr ertragen könne. Man sah einmal einen Verhungernden, wie er zu ersticken drohte, indem derselbe ein Hasengedärm vom Mist genommen und zu verschlingen suchte. Seife war ein Luxusartikel, und war mit den fürchterlichsten Mißhandlungen bedroht, wer es wagte, dergleichen zu verlangen. Die Eßgeschirre waren theilweise grauenhaft sudelig und schmutzig. Wo es einer wagte, zu entfliehen, wurde derselbe zurückgeschleppt und herzzerreißend mißhandelt. Schorn, aus der Gegend von Bonn, machte einen Fluchtversuch, hatte aber das Unglück, von der etwa 20 Fuß hohen Mauer der Anstalt zu stürzen und sich stark die Beine zu verrenken, was aber kein Hinderniß abgab, ihn sofort in den Folterstuhl zu sperren, mit Ketten zu schließen und mehrere Tage ohne Nahrung zu lassen. Auch hing man wohl den Flüchtling oder sonstigen Verbrecher an die Gitterbalken der Käfige, mit Stricken um die Hände, schwebend auf und prügelte ihn dann mit Stöcken. Einem Schilling aus Stolberg wären auf diese Weise einmal bald die Pulsadern durchgeschnitten worden, wie der Augenzeuge Barbier Hein aus Köln bekunden kann. Dümesnil von Köln ist auch namentlich von Schütz fürchterlich mißhandelt worden, der ihm mit dem Stiefelabsatze zwei Löcher in den Kopf schlug. Schult von Frechen wurde blutig geschlagen, da er den Versuch machte, zu entweichen; ein Postillon ist Zeuge davon gewesen. Die Mißhandlungen sind nicht zu beschreiben, die Tendick von Huyn erduldet. Da er einst dem Lennartz sagte, er könne es bei Gott nicht verantworten, wie er die Armen foltere, meinte er, das sei ein Leichtes, das könne er sehr gut verantworten.

„Der alte Diedrich, ein zitternder schwacher Greis, wollte nicht essen; es wurde ihm unter den ärgsten Mißhandlungen eingezwungen; ein Anderer, Gottlieb Linke von Freistadt in Schlesien, ließ sich für ein Stückchen Brod durchprügeln vom Wärter.

„Mit der größten Aengstlichkeit wurde Alles gehütet, was nur irgendwie zum Schreiben dienen konnte, und wer darüber ertappt wurde, hatte die fürchterlichsten Strafen zu erwarten. Wurde einem erlaubt, zu schreiben, so dictirte man ihm, was in den Kram paßte: „es ginge den Patienten sehr gut, und sie hätten sich gar nicht zu beklagen, verlangten auch nicht aus der Anstalt fort.“ Erhielten sie Besuch, so wurde der Mund durch die entsetzlichsten Drohungen geschlossen. Und selbst amtliche Besuche sahen nie das, was hier geschildert ist. Man war in der Regel davon benachrichtigt, und wußte dann schnell zu säubern. Sobald die Herren den Rücken gewandt, ging dann die Wirthschaft wieder ärger los. Mit Lügen, scheinheiliger Verstellung, Maskirungen aller Art half man sich immer durch. Es sind meistentheils Leute, die von habsüchtigen Erben hingeführt werden, da man die gewöhnliche Art zu erben zu langsam und unsicher findet.

„So wie bis dahin die Sachen stehen, ist es möglich und wirklich geschehen, Jeden ohne Ausnahme in eine Irrenanstalt zu sperren, und um Gründe ist man niemals verlegen. Mein Herr! Ich sehe aus Ihrem Artikel, daß Sie gegen Privatanstalten sind. Ich will mir darüber kein Urtheil erlauben, allein ich fürchte fast, daß die Armen, wie man so zu sagen pflegt, „vom Regen in die Traufe kommen möchten.“ Es ist jedenfalls schwierig, eine bestimmt abgegrenzte Definition zu geben von „geisteskrank.“ Für Lennartz ist möglicherweise Jeder geisteskrank, von dem er etwas erpressen kann. Ich meinerseits würde gerade diesen Herrn für geisteskrank halten und es angenehm finden, ihn in einer Anstalt nach seiner eigenen Methode zu behandeln. Herr Doctor, ich bin der Meinung, daß an diesem ein Exempel müsse statuirt werden! Die unschuldigen, grenzenlos mißhandelten Kranken und Gesunden schreien um Rache! Das unschuldig vergossene Blut schreit zum Himmel empor! Herr Doctor, ich lege vertrauensvoll diese Zeilen in Ihre Hände und erwarte, daß Sie geeigneten discreten Gebrauch davon machen werden.

„Adressen: Kentmann in Inden bei Jülich, Steffens in Langerfeld bei Düsseldorf, Joh. Schult in Frechen bei Köln, Springer von Huyn, Schreiber des Lennartz, Wärter Leopold Günther in Siegburg, Franz Joseph Bergerhaus, Abraham Brückner, Wärter Joh. Staudt, Joh. Kellershoven, E. Vogel von Duisburg pp., theilweise noch zu Lindenburg.“
Den 22. September 1858. 
Herrn Doctor Thesmar in Köln.

„Mein Herr, wie Sie aus Beiliegendem ersehen, hatte ich schon am 15. d. M. ein Schreiben gefertigt, in der Absicht, dasselbe Ihnen auf sichererem Wege, als durch Post, zu übersenden. Da ich aber bei meiner völligen Hülflosigkeit in pecuniairer Hinsicht gebunden bin, so lege ich dasselbe auf die Post, obschon ich fast zweifle, daß dasselbe zu Ihnen gelangen wird, indem Sie wahrscheinlich, wie es gewöhnlich Regel, keine unfrankirten Briefe annehmen werden. Zu meinem Bedauern sehe ich, daß Sie mich in einem öffentlichen Blatte genannt haben. Sie hätten dies gewiß nicht gethan, wenn Sie wüßten, was für entsetzliche Dinge dort vorgegangen, die unmöglich veröffentlicht werden können, ohne die Unglücklichen bloßzustellen, die Sie so edelmüthig in Schutz nehmen. Es ist das leider wahr, was dort auf meine Person ist gesagt worden; nur habe ich zu berichtigen, daß ich nicht geschrieen, was mir nichts würde geholfen haben, aber ich habe dem Lennartz gesagt, ich würde ihn anklagen, wenn Marx zurückkäme. Dann muß ich entschieden Verwahrung dagegen einlegen, als ob ich jemals geisteskrank gewesen wäre! Niemals, nicht die Spur! Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie sich persönlich davon überzeugen könnten. Ich stehe nicht an, mit Jedem, der competent in der Sache ist, in die Schranken zu treten. Mein Herr, ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie öffentlich den „völligen Wahnsinn“ auf mein Haupt geschleudert haben! Was ich übrigens hier geschrieben, ist nicht entfernt im Stande, Ihnen ein nur annäherndes Bild von den unmenschlichen Gräueln zu geben, die dort verübt sind. Alles menschliche Gefühl sträubt sich dagegen, es auszusprechen. Die Stadt Köln hat schwere [727] Schuld auf sich geladen, daß sie solche Gräuel in ihren Mauern oder deren Nähe geduldet hat. Als ich zuletzt entfloh und hülfesuchend umherirrte durch die Straßen von Köln, wies man mir die Thür, wo ich anklopfte! Ich schüttelte den Staub von meinen Füßen, und verließ die Stadt. Den Weg von Köln nach Xanten habe ich trotz meines schmerzhaften, verrenkten Beines, mich mit der größten Mühe aufrecht haltend, in 48 Stunden zurückgelegt. Ich war nämlich in der Dunkelheit von der Mauer herabgestürzt. Wenn Schmerz und Müdigkeit mich niederzogen, schlief ich wohl zuweilen einen Augenblick auf einem der Kieshaufen der Chaussee ein. Ein solches köstliches Kissen hatte ich lange nicht gehabt. Mein Herr, Sie haben meine Wunde aufgerissen, aber es geschah nicht in böser Absicht. Sie mögen die Thatsachen immerhin öffentlich machen, aber Sie werden gewiß wohl ein wenig die Person berücksichtigen. Es stehen Ihnen gewiß große Mittel zu Gebot; o Herr, Sie haben einen starken Arm. Tröpfeln Sie Balsam in die Wunden der Mißhandelten. Ich spreche nicht für mich. Mit blutendem Herzen mußte ich es ansehen, wie die Unglücklichen zertreten wurden. Man hielt mich auf den geringsten Verdacht in Ketten geschlossen. Hätte ich entkommen können, würde ich Kölner Bürger herbeigeholt haben zu den blutenden Schlachtopfern. Nochmals, Herr Doctor, bitte ich Sie, nicht leichtgläubig zu sein: niemals war ich geisteskrank, niemals wahnsinnig! Das wußte man gewiß gut, und darum suchte man mich auf jede Weise fortzuschaffen. Doctor Canetta hat im Depôt zu Köln die Wunde besichtigt, als ich bei meiner ersten Flucht in Gefangenschaft gerieth. Wenn Doctor Walten nicht zugegen gewesen wäre, würde ich mich in wenigen Secunden verblutet haben. Ich schwebe noch beständig in Gefahr, fortgeschleppt zu werden. So viel wie möglich habe ich mich vorgesehen. Ueberhaupt es lag kein Grund vor, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Ich bin auch bereit, jede weitere Auskunft zu geben, wenn es verlangt wird.“

Solche Gräuel zu verüben, und der ewig waltenden Gerechtigkeit Hohn zu sprechen, sollte man auf die Dauer für unmöglich halten, wenn man erwägt, daß die Aufsicht über solche Anstalten nach den Bestimmungen des Gesetzes ausgeübt werden soll:

1) durch den Chefpräsidenten der ressortirenden königlichen Regierung,

2) durch den Regierungsmedicinalrath,

3) durch den ärztlichen Specialcommissar bezüglich der ganzen Pflege und Behandlung der Kranken,

4) durch den königlichen Kreisphysikus des Bezirkes, unter welchem die Anstalt belegen ist, und

5) durch den Bezirkspolizeicommissar;

und dennoch wurden auf der Lindenburg nach der Versicherung zahlreicher classischer Zeugen Jahre lang Unthaten verübt, vor welchen die Feder sich sträubt, sie niederzuschreiben, die sich nur dadurch erklären lassen, daß dieselben in abgeschlossenen Räumen vollzogen wurden, und die königliche Regierung ihr Vertrauen, anscheinend ausschließlich, ihrem Specialcommissar, dem Doctor Hergersberg in Köln, zugewendet hatte.

Niemand, keine Behörde, kein Angehöriger, überhaupt kein Draußenstehender hatte von solchen Gräueln auch nur eine Ahnung. Selbst noch einer Empfehlung Seitens der königlichen Regierung in Köln hatte sich die von Lennartz geleitete Anstalt zu erfreuen, einige Jahre früher, bevor derselbe die Lindenburg übernahm. Das desfallsige Rescript vom 12. Februar 1849 findet sich abgedruckt in dem Stücke 8 des Amtsblattes der königlichen Regierung zu Köln von Dienstag den 20. Februar 1849, und lautet wörtlich, wie folgt:

„Der ehemalige Alexianer-Laienbruder Peter Joseph Lennartz, welcher mit Genehmigung des königl. hohen Ministeriums der Medicinal-Angelegenheiten in dem sehr zweckmäßig gelegenen Stein’schen Garten hierselbst eine Privat-Krankenanstalt in Verbindung mit einer Aufbewahrungsanstalt für unheilbare Irre errichtete, hat die Pension für die auf öffentliche Kosten zu verpflegenden Irren, ohne Unterschied der Art des Irreseins und der etwaigen Complicationen mit andern Krankheiten, einschließlich der ärztlichen Behandlung, Arzneien, Beerdigung und aller übrigen Nebenkosten auf 110 Thaler für das Jahr festgesetzt. Dagegen bleibt der vierteljährlich vorauszubezahlende Pensionsbetrag der Anstalt, wenn der Irre vor Ablauf des Vierteljahres mit Tode oder aus jedwelcher anderen Ursache abgeht. Für die Anschaffung der erforderlichen Kleidungsstücke und Leintücher, wenn dieselben nicht vollständig in natura gestellt werden, sind außerdem beim Eintritte eines jeden Irren in die Anstalt 25 Thlr. zu vergüten. Die Beköstigung für diese letzte Classe der unheilbaren Irren in der Lennartz’schen Anstalt ist derjenigen der Irren-Pflegeanstalt zu St. Thomas gleich.

Da in keiner ähnlichen Anstalt der Rheinprovinz für so geringe Vergütung so viel geleistet wird, als in der Lennartz’schen, so empfehlen wir dieselbe den Gemeinden unseres Verwaltungsbezirkes zur Unterbringung derjenigen unheilbaren Irren, welche nicht füglich in ihren Familien verbleiben können.

Köln, den 12. Februar 1849.

Königliche Regierung.“ 

Noch erwähne ich eines speciellen Falles, der von der unglaublichen Rohheit der Behandlung Zeugniß gibt, welche die Unglücklichen Seitens ihrer unbarmherzigen Wärter zu erdulden haben; die Wahrheit hat in allen Einzelheiten ihre volle Bestätigung gefunden. Im Jahre 1856 wurde gegen Otto Derichs, Gutsbesitzer vom Bochheimer Hofe bei Bergheim, einen achtzigjährigen Greis, welcher auf der Lindenburg untergebracht war, das Interdictionsverfahren eingeleitet. Das mit dieser Klage befaßte Landgericht in Köln verordnete zunächst die persönliche Vernehmung desselben, die nach Vorschrift der Gesetze durch ein committirtes Mitglied des Gerichtes in Begleitung des Staats-Procurators und des das Interdictionsverfahren betreibenden Anwaltes stattfand. Es ergab sich aus der Vernehmung, daß der Unglückliche an einer fixen Idee litt, im Uebrigen aber ganz verständig war. Nach Beendigung des Verhörs stellte der Landgerichtsrath die Frage an den alten Mann, wen er zu seinem Curator wünsche, dessen Zuordnung in solchen Fällen von Gerichts wegen erfolgen muß. Derselbe erklärte, er wolle dies ganz den Herren überlassen; allein er spreche zugleich die dringende Bitte aus, ihn aus dieser Anstalt zu erlösen und in eine Staatsanstalt bringen zu lassen, wobei er namentlich Siegburg bezeichnete. Die Nahrung, so fuhr der alte Mann fort, bestehe für sie in einer Art Brei, der ganz ungenießbar sei. Kurze Zeit vor seiner Vernehmung stand sein zinnerner Becher mit solchem Gemengsel unangerührt vor dem Bette, in welchem er den größten Theil des Tages zuzubringen pflegte, als der Wärter hereintrat und ihn fragte, weshalb er sein Essen nicht verzehrt habe. Auf seine Bemerkung, er habe keinen Appetit und der Brei widerstehe ihm, befahl ihm der Wärter, sein Essen alsbald zu verzehren, denn es solle Niemand sagen, die Leute bekämen nicht satt zu essen. Hierauf gab er ihm eine Viertelstunde Zeit, nach deren Ablauf er wiederkommen und sich überzeugen werde, ob der Brei verzehrt sei. Während seiner Abwesenheit versuchte der alte Mann, seinem Befehle nachzukommen; er konnte jedoch den Ekel nicht überwinden und wollte lieber Hunger leiden, als die ungenießbare Kost hinunterwürgen. Nach Verlauf der Viertelstunde erschien der Wärter, und als er sah, daß der Brei unverzehrt geblieben war, bog er sich mit den Worten, „dann wolle er ihn essen lehren“, über den im Bette liegenden Greis, hielt ihm die Hände fest und ergriff einen hölzernen, Löffel, vermittelst dessen er dem zitternden alten Manne, seines Widerstrebens ungeachtet, den Brei so lange in den Mund brachte, bis der Becher leer wurde. Die Folge war, daß unmittelbar nach dem Genüsse der alte Mann die aufgedrungene Kost auf die Bettdecke wieder ausbrach, worauf der Wärter ihm letztere neuerdings von der Bettdecke in den Mund zu bringen suchte und im Gesicht herumrieb.

Die Mitglieder des Landgerichtes waren über diese unglaubliche Roheit so empört, daß, wie mir einer derselben mittheilte, sofort Anzeige an geeigneter Stelle gemacht wurde. Von einem Resultate ist nichts bekannt geworden. Vielleicht sind meine Gegner im Stande, aus den Acten nähere Mittheilung zu machen, wenn sie nicht zufällig das Blatt, auf welchem es vielleicht zu finden ist, aus Versehen herumschlagen. Vor Beschwerden aber über Ungebühr, die nicht zu Tage liegt, mögen sich die unglücklichen Bewohner dieser Institute wohl hüten, denn die Erfahrung lehrt, daß unter Umständen der Zwangsstuhl mit liebevoller Zusprache oder je nach Befinden ein fünfzehn bis zwanzig Minuten langes Aufhängen an den gefesselten Händen, wobei die Fußspitzen eben den Fußboden berühren, in der Ferne winkt.

Allein leider stehen die Fälle des mangelnden Schutzes vor solchen Eingriffen in die persönliche Freiheit für unsern intelligenten Staat nicht vereinzelt da. Ich will mich darauf beschränken, zum Schlusse das Verhängniß mitzutheilen, das den Kreisgerichtsdirector [728] Schuhmacher in Königsberg, einen achtzigjährigen Greis, in gleicher Weise ereilte, und welches die Ergänzung der gesetzlichen Bestimmungen in dem Maße fordert, daß letztere nicht sollten auf sich warten lassen. Ich berichte die Thatsachen über diesen Fall, wie ihn die öffentlichen Blätter mitgetheilt haben, und übernehme selbstredend nicht die Gewähr für die Einzelheiten; weniger sind es die begleitenden Nebenumstände, als vielmehr das Einbringen und die Haftnahme dieses würdigen Greises, was für diese Erörterung von Erheblichkeit erscheint. Die Berliner Gerichtszeitung meldet die Thatsachen, wie folgt:

„Schuhmacher war in Königsberg keine unbekannte Persönlichkeit. Hunderte von Menschen waren mit dem Manne in Berührung gekommen, kannten seinen Charakter, seine Lebensweise, seine engeren häuslichen Beziehungen, seine Eigenheiten, und waren bereit, es aus der Erfahrung eines langjährigen Verkehrs durch Eid zu erhärten, daß dieser Mann so wenig blödsinnig als überhaupt nur geistesschwach oder urtheilsunfähig sei. Nicht wenige und zwar solche, denen der Mann nicht mit einem Heller wohlzuthun Gelegenheit gehabt hatte, sprachen mit Hingebung und hoher Verehrung von ihm, und wenn es geschah, daß sie rücksichtlich der Verwendung seines Geldes und seiner Güter nicht jede seiner Handlungen gut heißen konnten, so waren sie nach der Logik, welche dem gesunden Menschenverstande beiwohnt, auch jederzeit so billig, sich selber zu berichtigen mit der Erklärung: „Aber wer will, wer kann dagegen auch nur mit einem Scheine Rechtens etwas machen? Schuhmacher hat sein Vermögen selber erworben, er hat es während eines langen Menschenlebens eben nicht zu seinem Nachtheile verwaltet, und angenommen selbst, daß seine Verwaltung keine glückliche gewesen, daß er sogar sein Vermögen dabei ruinirt – folgt daraus, daß er wie ein Ruchloser, wie ein Mensch, für den die Gesetze nicht da sind, ohne alle und jede vorgängige Rechtsprocedur aus dem Kreise der Lebendigen gerissen, in ein Irrenhaus versetzt und für die Spanne der Zeit, die der hochbetagte Greis noch zu leben hat, seiner Freiheit, seiner unabhängigen Selbstbestimmung beraubt werden kann, werden darf? Und wer sind diejenigen, die auf einmal die Entdeckung machen, daß dieser Mann verrückt sei, daß es nicht länger verträglich sei mit der öffentlichen Ordnung, denjenigen, der fast achtzig Jahre hindurch in ungetrübter Verträglichkeit mit der öffentlichen Ordnung hingebracht, auch noch für die letzten wenigen Tage seines Lebens im unverkürzten Genusse aller Vortheile zu belassen, welche eben die öffentliche Ordnung Allen und Jeden, zumeist jedoch der natürlichen Ehrwürdigkeit des Alters und des Familienoberhauptes, schuldet und gewährleistet? –!“ Das war die Sprache, der man damals in jedem Winkel unserer Stadt begegnete, die aus allen Mittheilungen tausendfach wiedertönte, und man muß sagen, daß sie die Sprache der Natur und des Gesetzes war.

„Aber wie die Menschen sind, sie ermüden, und was tausendmal verderblicher ist, auch die Regungen der Gerechtigkeit schlafen ein, und lassen es geschehen, daß die Zeit wie mit einem nassen Schwamme über sie hingleitet und sie verwischt. Der so heilsame und unentbehrliche Instinct der Theilnahme des Einen an dem Anderen oder vielmehr der Theilnahme Aller an jedem Einzelnen, dieser so natürliche und das gesellschaftliche Wesen so unbedingt verklärende Instinct, den man füglich den Instinct der öffentlichen Wachsamkeit nennen könnte, ist dem nämlichen Schicksale unterworfen, zieht sich leicht zurück, und verliert und vergißt über der dauernden Zufluthung neuer Erscheinungen die einzelnen älteren, unbekümmert darum, ob über diesem lieblosen Vergessen das Einzelne umkomme oder nicht. So geschieht es, daß oft erst der Drang oder der Zufall einer spätern Zeit das Auge auf das aus seiner eignen Mitwelt gleichsam Verschollene hinlenkt, und wohl dann dem armen Opfer, wenn diese Dazwischenkunft noch zeitig genug erfolgt, es den Genuß wenigstens des Restes seiner Rechte noch schmecken zu lassen! Allein das ist gar selten der Fall, und schaale, verbleichte Rotomontaden sind sehr oft Alles, was das beleidigte Recht aus der menschlichen Erinnerung davon trägt.“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Für den Weihnachtstisch der lieben Kleinen empfehlen wir zuvörderst (für das erste Kindesalter) die allerliebsten Fröhlich’schen Schattenriß-Bilderbücher „Wild und Zahm“ die „kleinen Thierfreunde“ (Leipzig, Friese), die sich durch ihre originellen und fleißig ausgeführten schwarzen Abbildungen auszeichnen. Für Kinder, welche sich nicht nur unterhalten, sondern auch lernen wollen, möchten wir das Gerstäcker’sche geographische Sammelwerk: „Die Welt im Kleinen für die kleine Welt“ vorschlagen, wovon bis jetzt drei Bändchen: „Die Welt im Allgemeinen – Europa – Nordamerika“ vorliegen. – Ein in Text und Ausstattung ausgezeichnetes, für reifere Knaben sehr empfehlenswerthes Buch ist das bei Flemming erschienene: „Zu Lande und zu Wasser“, Erzählungen aus dem Seemannsleben von Heinrich Smidt. Die beigegebenen acht Abbildungen in Farbendruck sind kleine Kunstwerke, die auf den Geschmack der Jugend nur anregend und veredelnd wirken können und neben den albernen, in Text und Ausstattung geschmacklosen Machwerken, wie die in Leipzig erschienenen Abenteuer-Schriften: „Scalpjäger, die Buschjäger“ etc. etc., sehr vortheilhaft abstechen. – Von dem beliebten „Töchter-Album“ der Therese von Gumpert (ein Weihnachtsgeschenk für Mädchen von zehn bis vierzehn Jahren) ist so eben der vierte Band erschienen; von Friedr. Hoffmann, dem beliebten Jugendschriftsteller, ein neues Buch für die reifere Jugend: „Historische Erzählungen“.

S.


Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!

Bock, Dr. Carl Ernst. Das Buch vom gesunden und kranken Menschen. Mit 25 feinen Abbildungen. Zweite Auflage   broch. 1 Thlr. 20 Ngr., eleg. geb. 1 Thlr. 27 Ngr.

Gartenlaube, Die. Jahrgang 1855. 1856. 1857. broch. à 2 Thlr., eleg. geb. in gepreßter Decke à 22/3 Thlr.

Gerstäcker, Friedrich. Eine Gemsjagd in Tyrol. Mit 34 Illustrationen in Holzschnitt und 12 Lithographien. eleg. broch. 3 Thlr. 10 Ngr. eleg. geb. in engl. Preßdecken mit Goldschnitt 4 Thlr. 5 Ngr.

Stolle, Ferdinand. Palmen des Friedens. Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise. Zweite Auflage eleg. geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 10 Ngr.

Stolle, Ferdinand. Ausgewählte Schriften. Volks- und Familienausgabe. 27 Bde., mit dem Portrait des Verfassers, Zweite Auflage. broch. à 71/2 Ngr.

Storch, Ludwig. Gedichte. eleg. cart. 1 Thlr. 6 Ngr., prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

Storch, Ludwig. Ausgewählte Romane und Erzählungen. Volks- und Familien-Ausgabe. 19 Bände mit dem Portrait des Verfassers. broch. à 71/2 Ngr.

Traeger, Albert. Gedichte. eleg. cart. 221/2 Ngr., prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1 Thlr.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mit Genehmigung des Herrn Verlegers aus der soeben erschienenen 4. Auflage des Prachtwerks: „Hartwig, das Leben des Meeres“ entnommen, eins der empfehlenswerthesten populär-naturwissenschaftlichen Werke, das sich eben so sehr durch seine poetisch-warme Sprache, wie durch seine schöne Ausstattung auszeichnet.
    D. Redact.