„Naturwissenschaftliche“ Geschichtsforschung?

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Autor: Ernst Bernheim, mit Entgegnung durch Felix Stieve
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Titel: „Naturwissenschaftliche“ Geschichtsforschung?
Untertitel:
aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 6 (1891), S. 356–358.
Herausgeber: Ludwig Quidde
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung J.C.B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. Br
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Quelle: Scans auf Commons
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[356] „Naturwissenschaftliche“ Geschichtsforschung? Felix Stieve hat in der Einleitung zu einem Aufsatz im vorigen Heft dieser Zeitschrift, S. 40–43, Gedanken über Geschichtsschreibung und deren Methode geäussert, die zu entschiedenem Widerspruch Anlass geben. Er befürwortet gegenüber den jetzt herrschenden Arten des Geschichtsbetriebes eine „empirische Forschungsweise, die Methode, ganz voraussetzungslos in die Untersuchung einzutreten und erst auf Grund möglichst zahlreicher, durch prüfende Beobachtung gewonnener Thatsachen Schlüsse zu ziehen, dann aber auch sich nicht mehr durch „Autoritäten“ binden zu lassen und die Erscheinungen in ihrer Ganzheit und in ihrem organischen Zusammenhange mit anderen aufzufassen“; er meint, „es möchte sich empfehlen, diese Forschungsweise der Naturwissenschaften auch auf die Geschichte anzuwenden“.

Geben wir einmal zu, worüber ja jetzt mehrfach geklagt wird, dass unsere Arbeiten einerseits viel in quellenkritischem Detail stecken bleiben und dass andererseits eine stark subjective, constructive Geschichtsschreibung im Schwange ist –, aber sind solche Einseitigkeiten und Ausschreitungen, die vorkommen, Erscheinungen, welche der Durchschnittsrichtung unserer Historiker entsprechen? Ist nicht vielmehr das, was Stieve als Inhalt der von ihm als neu empfohlenen Methode hinstellt, das Glaubensbekenntniss aller unserer ernstlich wissenschaftlich gebildeten Historiker, nicht die genaue Wiedergabe dessen, was seit Niebuhr und Ranke als Grundlage unserer Forschung und Darstellung gilt? Es liesse sich verstehen und berechtigt finden, wenn Stieve gegenüber den erwähnten Einseitigkeiten der zeitweiligen Arbeitsweise auf diese unveräusserliche Richtschnur von Neuem mit Nachdruck hinwiese, aber wie kommt er dazu, dies als eine neue Methode hinzustellen? Und gar als eine naturwissenschaftliche?! Wenn man heutzutage von einer specifisch naturwissenschaftlichen Methode redet, so kann darunter doch nur jene verstanden werden, welche, wie Stieve sie zutreffend bezeichnet, die Natur- und auch die [357] Geschichtsentwicklung durch innere auf inductivem Wege gefundene Gesetze mit zwingender Nothwendigkeit bestimmt werden lässt; diese weist Stieve aber als nicht auf die Geschichte anwendbar mit Entschiedenheit zurück. Wesshalb nennt er denn die von ihm als neu empfohlene, thatsächlich allgemein anerkannte Methode eine naturwissenschaftliche? Weil sie „empirisch ist und voraussetzungslos auf Grund möglichst zahlreicher durch prüfende Beobachtung gewonnener Thatsachen Schlüsse zieht“? Das ist ja doch das bei allen Wissenschaften der Neuzeit angewandte Verfahren. Weil sie sich „nicht durch Autoritäten binden lässt“? Wenn hierunter, wie anzunehmen, quellenmässige Autoritäten verstanden sein sollen, so dächte ich doch, wir hätten nicht erst die Naturwissenschaften nöthig, um uns über eine unabhängige Stellungnahme zu den einzelnen Quellen zu belehren. Weil sie „die Erscheinungen in ihrer Ganzheit und in ihrem organischen Zusammenhange mit anderen auffasst“? Diese Auffassungsweise ist doch seit Leibniz immer mehr die allgemeine Grundlage unserer gesammten wissenschaftlichen Anschauungen geworden. Niemand wird leugnen, dass an der Ausbildung dieser modernen wissenschaftlichen, also auch historischen Anschauungsweise die Naturerkenntniss und deren realistische Methode einen bedeutenden Antheil gehabt hat, aber kaum geringeren Antheil haben daran doch die rein philosophischen, philologischen und historischen Disciplinen, und es lässt sich immerhin darüber streiten, ob nicht die neuere genetische Naturerkenntniss und Entwicklungslehre nebst ihrer Methode im Grunde auf dem Durchdringen und der Anwendung historischer Denkweise beruht. Jedenfalls aber haben unsere sogen. Geisteswissenschaften auf der gemeinsamen Grundlage der modernen Anschauung ihre Methode und Auffassung durchaus selbständig entwickelt, und wir haben durchaus keinen Anlass, diese als naturwissenschaftliche zu bezeichnen. Von Anwendung naturwissenschaftlicher Forschungsweise kann daher bei uns nur in dem Sinne die Rede sein, den Stieve als unzulässig zurückweist: im Sinne Comte’s, Buckle’s und all’ jener Socialisten und Materialisten, die der Geschichte Umkehr und Bekehrung zur Naturwissenschaft zumuthen. Wir haben wahrlich genug mit der ungeheuren Verwirrung der Anschauungen zu schaffen, welche durch diese „Geschichte auf materieller Grundlage“, wie die Socialisten sie gern nennen, angerichtet wird, um nicht neue Verwirrung durch Bemerkungen zu veranlassen, welche von den Anhängern jener Irrmeinungen, ganz gegen die Ansicht unseres Historikers, als Wasser auf ihre Mühle betrachtet werden, und welche in unberechtigter Weise die eigensten Errungenschaften unserer Disciplin unter den Scheffel stellen.

E. B.     

[358] Entgegnung. Auf vorstehende Auslassungen erlaube ich mir Folgendes zu erwidern: Es ist mir nicht eingefallen, die von mir befürwortete Methode als eine neue zu bezeichnen; ich habe ausdrücklich das Gegentheil gesagt. Dass ferner jene Methode für alle Wissenschaften die allein berechtigte ist, unterliegt keinem Zweifel. Wenn ich sie die naturwissenschaftliche nannte, so geschah das theils aus Höflichkeit gegen meine Fachgenossen, theils um ohne viel Worte meine Meinung zu erläutern, da unstreitig die Naturwissenschaften die fragliche Methode am eifrigsten und erfolgreichsten verwerthet haben, theils endlich, um in kürzester Weise einige Bemerkungen gegen ein neuestes Buch, welches jeder Fachgenosse kennen sollte, einfügen zu können. Das von E. B. so angelegentlich bekämpfte Missverständniss habe ich dabei, wie er ja selbst bemerkt, zurückgewiesen. Ich fürchte daher nicht, es zu nähren, und hoffe überhaupt, dass, wenn Jemand die Güte hat, den Sinn des von mir Gesagten zu erwägen, er erkennen wird, was ich bekämpfen und anregen wollte. Auf die Sache näher einzugehen, ist hier nicht Raum.

F. Stieve.