ADB:Anzengruber, Ludwig

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Artikel „Anzengruber, Ludwig“ von Anton Bettelheim in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 19–23, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Anzengruber,_Ludwig&oldid=- (Version vom 19. März 2024, 11:07 Uhr UTC)
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Anzengruber: Ludwig A., Dichter, geboren am 29. November 1839 in Wien, † am 10. December 1889 ebenda. – Das Geschlecht der A. stammt aus Oberösterreich. Der Großvater (Jakob A.) war Bauer am Obermayrhofgut zu Weng bei Hofkirchen a. d. Trattnach; der Vater (Johann A., geboren am 21. März 1810) verließ das Heimathsdorf im Knabenalter; als Sängerknabe kam er an das Salzburger Lyceum; dort absolvirte er die Gymnasialstudien; späterhin fand er in Wien eine kleine Stelle als Ingrossist bei der Gefällen- und Domänen-Hofbuchhaltung; am 13. Februar 1838 vermählte er sich mit Maria Herbich, der Tochter eines Apothekenprovisors. Johann A. pflegte in seinen sparsam bemessenen Mußestunden bis zur Ueberanstrengung dichterische Anlagen. Schon auf der Schule hatte er seine Lehrer bei besonderen, festlichen Anlässen besungen; Oden und Balladen gingen ihm rasch von der Hand; entschiedene Neigung wies ihn späterhin auf das Drama hin; eine Reihe von hochdeutschen Jambenstücken hat sich handschriftlich erhalten („Sophonisbe“, „Das Orakel“, „Ziani oder Vaterland und Liebe“). Die Tragödie „Berthold Schwarz“ wurde sogar am 19. December 1840 in Ofen aufgeführt (und 1891 in Weichelt’s „Deutschösterreichischer Nationalbibliothek“ gedruckt). Grillparzer, dem Johann A. seine Dramen persönlich überreichte, hat sich nicht darüber ausgesprochen. Desto nachdrücklicher hat Ludwig A. das Andenken seines früh (1844) geschiedenen Vaters in gebundener und ungebundener Rede gefeiert: „der Vater starb, als ich fünf Jahre war. Ich bitte als Beweis für meines Vaters Talent den nachgelassenen lebenden Commentar zu nehmen, der ich selbst bin“ (so schrieb er 1871). Und in einem seiner ersten Jugendgedichte hieß es:

Bin früh verwaist, mein Vater starb
Ein kleiner Knirps war ich zur Zeit;
Was er mit saurem Fleiß erwarb
Hat Weib und Kind von Noth befreit.
Doch blieb nicht Gut, doch blieb nicht Rang
Doch hoff’ ich, daß ich nie verderbe
Und sprech’ mit freudig stolzem Klang:
Ich bin doch meines Vaters Erbe.

Daß Ludwig A. nicht verdarb, hat er vor allem seiner herrlichen Mutter zu danken. Die tapfere Frau, der Alles in Allem ein Wittwengehalt von 166 fl. 40 kr. C. M. zu Gebote stand, war zu jedem Opfer bereit für den Kleinen, den sie die Volks- und Realschule absolviren ließ (1847–1855). Anfangs hatte sie einen bescheidenen Rückhalt an ihrer Mutter, einer Ur-Wienerin, die den milden und herben Humoren der Mutter Hammer in „Heimg’funden“ nicht fernsteht; nach deren Tod betrieb sie des kärglichen, täglichen Brodes wegen eine „Pfaidlerei“, indessen Ludwig A. als Lehrling in die Sallmayerische Buchhandlung eintrat. Der Lesedrang Anzengruber’s war unersättlich; schon daheim hatte er alle Bücher der väterlichen Bibliothek verschlungen; auch im Buchladen [20] „war ihm mehr um das Lesen als um das Verkaufen zu thun; so ergab sich nach dreijähriger Praktikantenzeit (1856–1858) eine Differenz zwischen mir und meinem Principal und ich schied aus“. Ein Typhus suchte den 19jährigen heim, der nun Künstler werden wollte. Eine Weile dachte er daran, sich als Radirer autodidactisch auszubilden; immer bestimmter trat indessen der Wunsch auf, sein Heil als Schauspieler zu versuchen. Und seine treue Mutter entschloß sich, dem Jüngling auf seinen „Kunstreisen, unter Verhältnissen, wo Reisen eine Kunst war“, das Geleit zu geben. Sein erstes (und zugleich bestes) Engagement war 1860 in Wiener Neustadt. 1861 spielte er in Krems und Steyr. Im Sommer 1862 verschlug ihn das Mißgeschick seiner Wandertruppe nach Apathin, Mittrowitz, Essegg; 1863 nach Marburg a. d. Drau und Vöslau; 1864 nach Warasdin, Kanisza, Czakathurn, Sauerbrunn, Bruck a. d. Mur, Leoben, Pettau, Radkersburg. „Ach, es waren harte Jahre, diese dramatischen Lehrjahre; ich glaubte nun erst ins Land der Ideale gelangt zu sein, aber es war hier realistischer, wie irgendwo. Der kleine Ehrgeiz, der Beste in einem Dorfe zu sein und mit allen Intriguen diesen ersten Platz zu behaupten – ach wie kleinlich, und doch es war eine Brodfrage. Ich hatte als Menschendarsteller wenig Glück, als Dichter, denn ich führte dabei fleißig die Feder, gar keines.“ 1865 spielte A. noch in der Vöslauer Arena; 1866 mißglückte sein Debut in Znaim; 1867 statirte er im Sommertheater der Hietzinger „Neuen Welt“; 1868 lieferte er dem „Wanderer“ ein paar Novellen (das Stück zu 10–15 fl.) und dem „Kikeriki“ Witze zum Zeilenhonorar von ein paar Kreuzern; mitunter wagte er sogar, den in Wiener Wirtshäusern umherwandernden Singspielhallen Texte anzubieten, die jedoch – z. B. der „politische Laternanzünder“ – von der Censur nicht zugelassen wurden. „Also zurück in die Reihe der gewöhnlichen Arbeiter. Man bot mir (1869) die kleine Protection, trotz meines „Vorlebens“ bei der Polizei als Praktikant einzutreten. Ich verbrannte von meinen poetischen Erzeugnissen, was mir nicht des Aufhebens werth schien, und das war viel. Und über der Asche gedachte ich Spinoza’s – Glasschleifen und tief im Herzen die Gedanken verschließen – tief im Herzen. Da, noch einmal, weil auch von allen Seiten der Realismus drängte, noch einmal fragte ich meine getreue Rathgeberin – meine Muse? nein, meine Mutter: „Ich habe einen Stoff zu einem Volksstück; soll ich ihn schreiben? Vielleicht nimmt das Stück diesmal die Direction und verbietet es die Censur“. – „Du hast so viel für die Tischlade geschrieben, wag’s daraufhin wieder.“ Ich wagte, und was dabei herauskam, weiß jeder, der den „Pfarrer von Kirchfeld“ kennt.“ 1869 entstanden, kam das Volksstück im November 1870 zur ersten Aufführung im Theater an der Wien. Zunächst vom Publicum und der Kritik wohlwollend begrüßt, doch nicht in seiner vollen Bedeutung erkannt, war es Heinrich Laube vorbehalten, in einem markigen Feuilleton auf die neue, starke Dichterkraft hinweisen, die Deutschösterreich und Deutschland in „L. Gruber“ (denn unter diesem Namen barg sich der Autor) erstanden war. Und die folgenden Jahre brachten neue Proben der Schöpfergaben Anzengruber’s: 1871 den „Meineidbauer“, 1872 die „Kreuzelschreiber“, 1873 „Elfriede“, 1873 „Die Tochter des Wucherers“, 1874 „G’wissenswurm“, „Hand und Herz“, 1875 „Doppelselbstmord“, 1876 den „Ledigen Hof“, 1877 den „Faustschlag“ und „Das vierte Gebot“, 1878 „Jungferngift“, „Die Trutzige“, „Alte Wiener“. Die starken Theatererfolge der ersten drei Stücke hatten sich bei den folgenden hochdeutschen und mundartlichen Dramen nicht wiederholt. Die wirthschaftliche Krise des Jahres 1873 war am gefährlichsten für den Stand geworden, der das eigentliche Publicum der Volkstücke ausmachte. So wurde A. mehr und mehr von den Bühnen Wiens zurückgedrängt. Seine Posse „Aus’m g’wohnten G’leis“ (1879) wurde von den Theatergängern abgelehnt; [21] sein Volksstück „Brave Leut’ vom Grund“ (1880), dessen Hauptrolle eine Virtuosenrolle für Marie Geistinger brachte, kam gar nicht mehr zur Aufführung. Schweren Herzens mußte A. in den Jahren 1881–1883 darauf verzichten, für die Bühne thätig zu sein. Die Sorgen seines (am 11. Mai 1873 begründeten) Hausstandes – er hatte die Schwester eines Jugendfreundes, Adelinde Lipka, geheirathet – nöthigten ihn, nicht nur, wie bisher, auch als Erzähler, Kalendermann und Romanschreiber seine geringen Einnahmen zu sichern: er mußte (April 1882 bis Sommer 1885) das illustrirte Familienblatt „Die Heimat“ und (vom 21. Mai 1885 bis an sein Lebensende) das Wiener Witzblatt „Figaro“ redigiren. 1878 erhielt er (mit Nissel und Wilbrandt) den Schillerpreis (3400 Mk.) 1884 wandte sich Director Jauner an ihn mit der Aufforderung, für das Theater an der Wien neue Stücke zu schreiben; allein weder die Weihnachtskomödie „Heimg’funden“ (1884/5), noch das Bauernstück „Stahl und Stein“ (1886) fanden Gnade vor den Augen dieses Theatergewaltigen. In den Jahren 1883/4 versuchte es Karl v. Bukovics im Wiener Stadttheater mit Erfolg, die älteren Werke Anzengruber’s cyklisch aufzuführen. Nachdem aber dieses von Laube begründete Schauspielhaus 1884 abgebrannt war, fehlte es A. buchstäblich an irgend einer Wiener Bühne für seine Stücke. Tief hat A. unter diesen trostlosen Zuständen gelitten und in gelegentlichen Aeußerungen zu Rosegger, Schlögl, Bolin, Ada Christen und wenigen Anderen kein Hehl gemacht aus seiner bitteren Enttäuschung: „Gewiß macht es mir Freude“, so schrieb er 1883 an Josephine Gallmeyer, „wenn Sie mit Rollen meiner Stücke Triumphe feiern, ich wußte das lange, daß es so kommen würde, sobald Sie sich damit befassen, daher stimmt es mich ein wenig wehmüthig, denken zu müssen, daß Sie es nicht früher gethan. Ich selbst stehe gealtert; ich bin nicht mehr Der, der dieses Stück (der „G’wissenswurm“) schrieb; mir fehlt die Lust des Schaffens und da hilft auch keine Ermunterung; damals galt mir das Theater, die Bühne nicht nur für mich als der Weg aus Drang und Noth, sondern überhaupt als solcher für das zeitgenössische Publicum; mälig drängte sich mir die Ueberzeugung auf, es sei eben die Schaustellung von Stücken ein Geschäft wie jedes andere. Es sind diese Lamentationen ernüchterter Dichter ja bekannt; ob und bis wann ich aber wieder einmal einen Rausch haben könnte, das weiß ich doch nicht voraus zu sagen“. Erst im J. 1889 – dem letzten Lebensjahr des Dichters – war es ihm beschieden, für das von ihm mitbegründete Deutsche Volkstheater in Wien seine neue Komödie, das Eröffnungsstück zu schreiben: „Der Fleck auf der Ehr’“. Wenige Monate nach diesem Festabende (14. September) erlag der Dichter am 10. December 1889 einer Blutvergiftung. Sein Hauswesen war kurz vorher aufgelöst, seine Ehe (ohne sein Verschulden) gerichtlich getrennt worden. Die Leichenfeier war würdig. Nach dem Heimgange wurden die Landsleute nach und nach erst inne, daß sie in A. den größten Dramatiker Deutschösterreichs seit Grillparzer und einen der allerersten deutschen Volksdichter aller Zeiten besessen und – verkannt hatten. Die (noch bei Lebzeiten Anzengruber’s geplante) zehnbändige Ausgabe seiner gesammelten Schriften erschien ein Jahr nach seinem Tode bei Cotta und erlebte bis zum Jahr 1899 drei starke Auflagen. Sein bedeutendstes Wiener Volksstück „Das vierte Gebot“, das bei seinen Lebzeiten kaum beachtet worden war, erlebte in Berlin und Wien wahre Siege. Hoftheater und Volksbühnen wetteiferten nun, seine Dramen zu spielen. Am 29. October 1893 wurde auf dem von der Stadt Wien gewidmeten Ehrengrab das vom Anzengruber-Curatorium errichtete Grabdenkmal Hans Scherpe’s auf dem Centralfriedhofe – das volksthümlichste, schönste Monument dieser Todtenstadt – enthüllt. 1899 trat ein Ausschuß zusammen, der – wiederum Hans Scherpe – mit der Ausführung eines großen Denkmals im Innern der Stadt [22] Wien betraute, das den Dichter darstellt, wie er sinnend auf dem Spaziergange innehält, zu seinen Füßen im Steinbruch hantirend seine Lieblingsgestalt, sein Doppelgänger: „Der Steinklopferhans“.

A., ein geborener Dramatiker, war zugleich ein geborener Volkserzieher. Durchaus selbständig in seinem Denken, ging er vorurtheilslos an die Prüfung der leibhaftigen Welt. Immer wieder fragte er, ob die Herrschenden und die Beherrschten ihre Pflichten richtig auf- und anfaßten? Staat und Kirche, Elternhaus und Schule zog er als Richter und Sittenrichter in den Kreis seiner Betrachtung. Nicht als Rigorist und Dogmatiker, vielmehr als Menschenkenner und Menschenfreund, der irdische Gebrechen zu heilen bemüht war. Das eine Mal als Humorist, das andere Mal als Wortführer einer neuen freien Kirche im Vaterland, das dritte Mal als Zornredner und Bußprediger wider Gleißnerei und Verlotterung. Im „Pfarrer von Kirchfeld“, im „Meineidbauer“, in den „Kreuzelschreibern“ und im „Vierten Gebot“ erkennen wir, wie Wilhelm Scherer, Wiener und Bauersleute „von einer solchen Derbheit und Wahrheit und doch zugleich von so symbolischem Charakter, daß man ein Unübertreffliches vor sich zu haben glaubt“. Das „Lebensbild“ wird zum Sinnbild, das Zeitbild zum Weltbild. Auf die kürzeste Formel gebracht, decken sich Anzengruber’s sittliche Forderungen durchaus mit den Bauernartikeln des Bundschuh: auch er forderte Glaubensfreiheit vor allem, sodann aber Befreiung von aller Willkür und Unterdrückung, Schutz der Ohnmächtigen wider Ausbeutung durch die großen Herren in weltlichen Würden, in geistlichen Aemtern. Diese Lehre predigt A. in tragischen und humoristischen Gleichnißreden, als Dramatiker und Novellist, als Romanschreiber und Kalendermann. Unerschöpflich in Schnurren und Stichelreden, vermag er mit derselben Ueberlegenheit Töne reiner Rührung und echter Tragik anzuschlagen. In der Technik des Volksstückes verleugnete er nicht die Schule seiner Lehr- und Leidensjahre als Wanderschauspieler; zumal im „Meineidbauer“, „Stahl und Stein“ nähert er sich bisweilen dem Allzugrellen, Allzumelodramatischen. Im Aufbau seiner Stücke sieht man von seinen Erstlingen bis zu den allerletzten Arbeiten keine Entwicklung. Seine rundesten Stücke sind die Komödien „Der G’wissenswurm“, „Die Kreuzelschreiber“, „Der Doppelselbstmord“. Auch als Charakteristiker überrascht er von Anbeginn durch die Sicherheit, mit der er Hauptcharaktere und Episoden auf das schärfste individualisirt und durch eine mitunter den dramatischen Verlauf hemmende Art, seine Leute durch eigene Erzählungen sich exponiren zu lassen, ihren ganzen Lebenslauf durchsichtig macht. Wir ersehen nicht nur, wie der Steinklopferhans, der Meineidbauer, der Pfarrer von St. Jakob in der Einöd’ sind, wir hören auch, wie sie das geworden sind, als was sie uns entgegentreten. Jeder seiner Landgeistlichen, jeder seiner Großbauern und Kleinhäusler, die empfindsamen und „reschen“ Deandln, die „Freigläubigen“ und die „Freimäuligen“, weltüberlegene Dorfphilosophen, wie der Steinklopferhans und verwilderte Dorfketzer, wie der „Einsam“ und der „Wurzelsepp“, Honoratioren und Strolche, die „Wiener vom Grund“, Musterfrauen, wie Großmutter Herwig, und ihr Widerspiel, die Kuppler und Putiphars in der Sudelwirthschaft der Schalanter: sie alle stehen leibhaftig, unvergeßbar vor uns, eine unsterbliche Nachkommenschaft der Dichterphantasie Anzengruber’s. Sein Reich endet, wo die Mundart aufhört: seine hochdeutschen Gestalten vom Grafen Finsterberg im „Pfarrer von Kirchfeld“ bis auf die Tochter Stolzenthaler im „vierten Gebot“ und die Familie des Advocaten Dr. Hammer in „Heimg’funden“ werden eine gewisse Gespreiztheit nicht ganz los. – Als Erzähler bewährt A. ungefähr die gleiche Art und Kunst wie als Dramatiker. In der langen Reihe seiner „Dorfgänge“ wählt er mit derselben Kraft und Vorliebe, wie in seinen Stücken, tragische und komische [23] Originale zu Helden seiner meist dramatisch zugespitzten Geschichten. Glaubenszweifel, Kirchenkämpfe, Conflicte im Wesen und Wirken des Clerus, Opfer des Cölibates: „Sündkinder“, Dorflumpen, Dorftartuffes aller Spielarten, Schwänke, die mittelalterlich urwüchsig gemuthen, Liebeshändel und Wirthshausschlachten: das und anderes mehr verdichtete A. in Geschichten, die ihm kein anderer vor- und nachmachte. Von den beiden Romanen Anzengruber’s ist der „Sternsteinhof“ (1883/4) dem ersten, „Der Schandfleck“ (1876: umgearbeitet 1882) weitaus überlegen. Im „Sternsteinhof“ hat A. einen Frauencharakter von dämonischem Herrscherberuf mit epischen Mitteln verewigt. Im „Schandfleck“ ist die maßvolle Reindorfer Leni vielleicht die lieblichste Mädchenfigur des Dichters; leider fällt das auf dem Dorfe genial einsetzende Buch im zweiten auf städtischem Boden sich abspielenden Theil stark ab (ein Fehler, dem auch die durch Professor Bolin’s großmüthige, anonyme Widmung veranlaßte Umarbeitung nicht vollkommen abhelfen konnte). -– Ein Lyriker im eigentlichen Wortsinn ist A. nie gewesen. Seine Versuche in hochdeutschen Versen sind nur biographisch und gnomisch von Belang. In der Mundart hat er dagegen manchen Treffer in ernst- und scherzhaft vermeinten Strophenliedeln. –– In der „Wiener Skizze“ rührt A. dann und wann an gar zu bedenkliche Motive. Desto bedeutender sind seine Phantasiestücke: Gespenstergeschichten, wie der „Verschollene“; das Ende des von religiösen Scrupeln in den Tod getriebenen Lord Knuddle: „Teufelsträume“; die großartige, deterministische, aus Entwicklungslehren gebaute Vision: „Jappernaut“ und die „Märchen des Steinklopferhans“, die chiliastische Hoffnungen der Menschheit als erfüllbar ansehen, Dank dem Segen moderner technischer Erfindungen und naturwissenschaftlicher Entdeckungen –: „Gottes Gruß an die ringende Menschheit“ nannte A. diese Wunder der modernen Welterneuerung. Von ihnen erwartete der so vielfach, stets mit Unrecht als Pessimist verrufene Dichter eine Lösung der socialen Kämpfe, wie er von einer tiefgehenden Läuterung durch eigenes und fremdes Leid neue Sittigung durch eine neue Ethik verhoffte. „Der Mensch wollte sein wie ein Gott“, erzählt die Mythe, und sie sagt die Wahrheit. Gegen das Leid des Lebens bäumte sich der Mensch auf und verlangte nach Allmacht, um es auszutilgen; wie aber käme ein Theilchen zur Macht ob allem, wie meistert ein Sandkorn den Berg, ein Tropfen die Woge? Da fühlte er sich überlegen, indem er das Leid tragen lernte und nun fragte er: „kann Gott auch leiden?“ Und wäre ihm die Frage nicht bejaht worden, er hätte keinen Gott mehr geglaubt.“

Gesammelte Werke von Ludwig Anzengruber. In zehn Bänden. Stuttgart 1890. Dritte Auflage 1898. (In Band I: Biographische Einleitung und Beiträge zur Selbstbiographie VII–LXXVIII). – Letzte Dorfgänge, Kalendergeschichten und Skizzen aus dem Nachlaß von Ludwig Anzengruber. Stuttgart 1894. – Anzengruber, Der Mann, sein Werk, seine Weltanschauung. Zweite, vermehrte Auflage. Von Anton Bettelheim. Berlin 1898 (S. 269: neuere Anzengruber-Litteratur). – Vgl. überdies Rosegger, Gute Kameraden, Wien 1893. – L. Rosner, Erinnerungen an Anzengruber, Leipzig 1891. – Neue Beiträge zur Biographie von Ludwig Anzengruber, mitgetheilt von Anton Bettelheim. Biographische Blätter, II. Band, 329–384, Berlin 1896. – – Jahresberichte für neuere deutsche Litteraturgeschichte 1890–1899, s. v. Anzengruber. – Bilder von Anzengruber im Familienbesitz und im Wiener Rathhaus. Die Todtenmaske von Edmund v. Hofmann im Besitz vom Bildhauer Scherpe. Meisterhafte Caricaturen und Reliefs von Ernst Juch.