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ADB:Linde, Justinus Freiherr von

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Artikel „Linde, Justin Timotheus Balthasar Freiherr von“ von Johann Friedrich von Schulte in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 665–672, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Linde,_Justinus_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 05:43 Uhr UTC)
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Linde: Justin Timotheus Balthasar Freiherr v. L., Staatsmann und Jurist, geb. zu Brilon im Herzogthum Westfalen ams 7. August 1797, † in Bonn in der Nacht vom 8. auf 9. Juni 1870. Der Tod seines Vaters, Dr. jur. Franz Levin L., Advokat in Brilon, † im J. 1800 mit Hinterlassung einer Wittwe, die am 4. Januar 1862 als Wittwe starb, und vier Kindern, von denen das älteste sieben Jahre alt war, und viele Verluste während der Kriegszeiten ließen ihn eine an Entbehrungen reiche Jugend durchleben. Nach kurzer Vorbereitung bei einem (als Domherrn in Mainz gestorbenen) Halbbruder seiner Mutter legte er von 1812–1816 die Gymnasialstudien in Arnsberg zurück, bei deren Schlusse er am 3. August die in Soest 1816 gedruckte „Rede über den Geburtstag des Königs von Preußen“ hielt, an den das Herzogthum Westfalen von Hessen-Darmstadt übergegangen war. Er studirte die Rechtswissenschaft vom Herbst 1816 in Münster bis zur Aufhebung der Universität und juristischen Facultät (August 1818), wo er besonders an Hermes sich anschloß, dem er zeitlebens treu anhing, wie er denn mit dessen hervorragenden Schülern, Braun, Biunde, v. Droste-Hülshoff, Esser, Stupp, in der innigsten Freundschaft verharrte. Am 9. Novbr. 1818 wurde er in Göttingen immatriculirt, verließ die Universität aber nach der ausgebrochenen Studentenunruhe und wandte sich nach Bonn, wo er am 15. Mai 1819 immatriculirt, bei Mackeldey, Mittermaier, Walter und Welcker hörte, am 30. Sept. 1820 als der dritte Doctor auf Grund der „Diss. inaug. exhibens observationes quasdam de successione germanica pactitia“, 4°, mit dem Prädikat summa cum laude den juristischen Doctorgrad erwarb. Im Wintersemester 1821 habilitirte er sich als Privatdocent an der juristischen Facultät und las von da bis zu Ostern 1823 in jedem Semester Civilproceß, einmal preußisches Landrecht, im letzten Semester auch Strafrecht, dies und den Civilproceß seit Mittermaier’s Abgang allein. Zugleich war er Mitglied des Spruchcollegs und referirte vom 13. Decbr. 1821 bis zum März 1823 von den 34 entschiedenen Sachen 12. [666] Die Facultät befürwortete am 28. Januar 1821 auf sein Gesuch um Verleihung einer Repetentenstelle die Errichtung einer solchen und seine Ernennung lebhaft, der Curator hielt für nöthig seine Bewährung als Lehrer abzuwarten, beantragte aber eine vom Minister bewilligte Unterstützung. L. erzählte mir wiederholt, der Curator v. Rehfues habe ihm auf die Frage, ob er Aussicht auf eine Professur habe, mündlich geantwortet: daran sei nicht zu denken, weil man nicht mehr Katholiken in der juristischen Facultät anstellen werde. Diese Mittheilung muß erwähnt werden, weil sie im Gegensatz zu dem in der angeführten und einer 1818 zu Soest gedruckten Broschüre „Blicke auf die Erfolge neuerer Siege“ sich kundgebenden preußischen Patriotismus ein Hauptmotiv seiner niemals versiegten Antipathie gegen die preußische Regierung und seiner Ueberzeugung bildete, daß diese stets gegen die Katholiken eingenommen sei. Wahrscheinlich hat L. eine Aeußerung des Herrn v. Rehfues, der übrigens sowol dem Erzbischof Grafen v. Spiegel, wie dessen Nachfolger ein Dorn im Auge war, mißverstanden; denn bis 1823 gab es in der juristischen Facultät zu Bonn überhaupt nur zwei katholische Professoren: Mittermaier, der im März 1821 fortging, und Walter, unter den Privatdocenten allerdings drei: L., Euler, v. Droste; Jarcke wurde erst 1824 katholisch. Auch ist kein sonstiger Anhalt für jene Auffassung vorhanden. Ziemlich gleichzeitig erhielt L. einen Ruf nach Dorpat und Gießen (1. April), nahm letztern als außerordentlicher Professor mit 600 Gulden an und zog sofort dorthin. In seinem neuen Vaterlande, zu dem von 1803–15 sein Heimathland gehört hatte, machte er für die damalige Zeit und nach der gewöhnlichen Anschauung eine rasche und glänzende Carriere. Am 18. August 1824 wurde er ordentlicher Professor, erhielt, nach Ablehnung eines Rufes für Freiburg im Br. als Professor des deutschen Privatrechts und der römischen Rechtsgeschichte, am 29. Juli 1825 eine bedeutende Gehaltszulage, wurde am 3. Febr. 1826 zugleich Rath des Kirchen- und Schulcollegiums (mit 75 Gulden Gehaltszulage!), am 7. März 1829 der Professur enthoben und als Rath im Ministerium des Innern und der Justiz mit dem Titel Geheimer Regierungsrath nach Darmstadt gerufen. Zwei Jahre darauf machte ihm der preußische Minister v. Altenstein den Antrag, eine hervorragende Stelle im preußischen Kultusministerium als Staatsrath anzunehmen, den er ablehnte. Im J. 1832 wurde er zum Director des Oberstudienraths, 1833 zum Kanzler der Universität Gießen und zugleich zum Regierungsbevollmächtigten, 1836 auch zum Geheimen Staatsrath im Ministerium des Innern und der Justiz ernannt; wiederholt war er auch Spruchmann beim Bundesschiedsgericht. Alle jene Aemter – als Kanzler war er zugleich Mitglied der ersten Kammer der Landstände – bekleidete er bis zum December des J. 1847, wo er auf wiederholtes Ansuchen in den Ruhestand versetzt und gleichzeitig zum lebenslänglichen Mitglied der ersten Kammer ernannt wurde. Er siedelte auf das von ihm im J. 1837 erkaufte Gut Dreis bei Wittlich (preußische Rheinprovinz) über, freilich nur zu kurzer Rast, da ihn das J. 1848 von neuem auf den politischen Schauplatz rief, auf dem er bis zum 24. August 1866 eine in ihren Einzelnheiten öffentlich wenig bekannte, darum aber nicht minder bedeutende Thätigkeit entwickelte.

Vom 17. westfälischen Wahlkreise (Borken) in das Frankfurter Parlament gewählt, gehörte er diesem an bis zur Zurückberufung der preußischen Abgeordneten, dann für den sechsten westfälischen Wahlkreis Arnsberg, dem Erfurter Parlamente (20. März bis 29. April 1850). Die in Hessen eingetretene Verfassungsänderung behob die Mitgliedschaft der ersten Kammer. Am Tage des Schlusses des Erfurter Parlaments lud ihn die österreichische Regierung ein, sich in Frankfurt a/M. an der Wiedereröffnung der deutschen Bundesversammlung [667] zu betheiligen und dieserhalb mit dem Bundespräsidial-Gesandten ins Einvernehmen zu setzen. Er wurde, nachdem er, unter Vorbehalt der Ansprüche seiner Frau auf die Wittwenpension, auf sein Ruhegehalt verzichtet hatte, aus dem hessischen Staatsdienste entlassen, am 15. Juli 1850 vom Fürsten von Liechtenstein zum Gesandten beim Bundestage ernannt und auf Grund einer kaiserlichen Entschließung vom 24. Mai 1850 durch einen Erlaß des Ministerpräsidenten Fürsten Schwarzenberg vom 23. März 1853 förmlich in den kaiserlichen österreichischen Staatsdienst aufgenommen mit einem festen Jahreseinkommen vom 1. März ab, für seine Wittwe einer Pension, und unter Bewilligung einer monatlichen Zulage zugleich „vorläufig in seiner dermaligen dienstlichen Verwendung bei der kaiserlichen Bundespräsidial-Gesandtschaft in Frankfurt“ bis zum Eintritt in eine systemisirte Stelle belassen. Alle Versuche, ihn in eine „systemisirte Stelle“ nach Wien zu ziehen, wußte er scheitern zu machen, weil er nur zu gut einsah, daß die ihm angebotenen Stellungen weder seiner Neigung zusagten, noch Aussicht auf eine wirklich ersprießliche Wirksamkeit boten. Er blieb in der angegebenen Stellung, war zugleich seit 1863 Gesandter für Reuß ä. L. und Hessen-Homburg. L. war der einzige Gesandte, der dem Bundestage seit dessen Restauration im Mai 1850 bis zu dessen Auflösungssitzung am 24. August 1866, der er beiwohnte, angehörte. Seitdem lebte er auf seinem Gute Dreis; der Tod infolge eines Gehirnschlags ereilte ihn beim Besuche seines damals in Bonn wohnenden jüngsten Sohnes.

Linde’s Wirken in Hessen darf als ein hervorragend verdienstliches erklärt werden, ganz besonders auf dem Gebiete des Schulwesens von der Elementarschule bis zur Universität. In seinen beiden Schriften: „Uebersicht des gesammten Unterrichtswesens im Großherzogth. Hessen, besonders seit dem J. 1829, amtlich dargestellt“, Gießen 1839, und „Erwiederung auf die Bemerkungen des Herrn Geh. Rath Dr. A. A. E. Schleiermacher über den Studienplan für die Großherzogl. Hessische Landesuniversität zu Gießen“, Darmstadt 1843, sodann in der Schrift von Friedr. Schmitthenner „Die Culturverfassung von Nassau, Hessen-Darmstadt und Rheinpreußen“, Gießen 1839, ist das Material zur Beurtheilung niedergelegt. Die Errichtung des Oberstudienraths war vorzugsweise sein Werk; für Hebung der Gymnasien und der Stellung der Lehrer wurde in Hessen damals mehr gethan, als in den meisten deutschen Staaten. Die Universität Gießen war sein Schooßkind; er befand sich als Kanzler, Regierungsbevollmächtigter und wirklicher geheimer Staatsrath mit der maßgebenden Stimme in der Lage, alles Erreichbare durchzusetzen. Viele Hunderte von Briefen, die mir im Original vorliegen, zeigen, daß es unmöglich ist, wohlwollender zu sein, die Denuncianten zarter, aber zugleich fester abzuweisen, rücksichtsvoller zu verfahren, da er in delikaten Sachen sogar die Abschriften selbst machte. Freilich gelang es in dem kleinen Staate nicht immer, alles durchzusetzen. Seit 1844 wurde L. oft verdächtigt, als habe er die Universität „katholisiren“ wollen. Ich werde an anderem Orte, da hier der Raum gebricht, den Beweis liefern, daß dies nicht nur gänzlich falsch ist mit Rücksicht auf die Zahl der unter ihm angestellten katholischen Professoren, sondern glänzend widerlegt wird durch Erklärungen des damaligen Erbgroßherzogs (späteren Großherzogs Ludwig III.) und einer Reihe von unparteiischen Männern, unter denen ich nur Justus v. Liebig nenne; es läßt sich der Beweis führen, daß er einzeln positiv geglaubt hat, einen Protestanten zu berufen, der Gerufene aber katholisch war. Diese Angriffe begannen überhaupt erst im J. 1844 und hatten vorzüglich zwei Veranlassungen: sein entschiedenes und namentlich litterarisches Auftreten gegen die durch Johannes Ronge angestiftete religiöse Bewegung, sodann die neue Auflage eines Katechismus für die Diöcese Mainz, gegen welche man im [668] Ministerium nichts zu erinnern gefunden, das protestantische Oberconsistorium aber wiederholte Beschwerde erhoben hatte wegen einiger Stellen, die geradezu harmlos sind im Vergleiche mit solchen, die heute in den amtlich in allen preußischen Schulen eingeführten stehen. Wie wenig Ursache man hatte, über Linde’s Ultramontanismus zu klagen, dürfte sich schon allein daraus ergeben, daß er damals wie heute die Liebe der ultramontanen Partei nicht genoß und daß, so lange er im Amte war, nicht die geringste Reibung zwischen Staat und Kirche vorkam. Ihm gelang es, als der Geh. Staatsrath v. Wrede, der Secretär des letzten Kurfürsten von Köln gewesen, von der hessischen Regierung zum Bischof von Mainz vorgeschlagen, aber von Rom nicht angenommen worden war, im J. 1829 gestorben war, eine Verständigung auf den Freiburger Domdecan Burg herbeizuführen, der am 12. Januar 1830 als Bischof installirt wurde. In einem warmem Dankschreiben vom 9. December 1831 preist Bischof und Capitel sein Verdienst. Wenn dasselbe freilich meint, man werde dessen stets gedenken, so hat es nicht daran denken können, daß das Buch des Mainzer Seminarprofessors H. Brück, „Die oberrheinische Kirchenprovinz von ihrer Gründung bis zur Gegenwart“, Mainz 1868, mit keinem Worte Linde’s Erwähnung thut. Linde’s Werk war es, daß mit Zustimmung des Bischofs Burg durch landesherrliche Urkunde vom 22. Juni 1830 in Gießen eine katholisch-theologische Facultät errichtet wurde, damit die künftigen Geistlichen keine einseitig klerikale Erziehung genössen. Diese Facultät hat durch seine Bemühung Mitglieder gehabt, die zu den besten deutschen Theologen gehören: Staudenmaier, Kuhn, Lüft, Löhnis, Fluck, Scharpff, Locheren u. a. (vgl. A. Lutterbeck, Gesch. der katholisch-theologischen Facultät zu Gießen, Gießen 1860). Zu ihrer Hebung schloß L. als hessischer Bevollmächtigter 1838 mit der nassauischen Regierung einen Vertrag, wonach die nassauischen Theologen in Gießen mit gleichen Rechten studirten, zu denen auch die Freiheit vom Honorar, gegen welche Riffel eine Vorstellung veranlaßte, gehörte. Dieser Riffel operirte von vornherein gegen die Facultät. Seine 19. Novbr. 1842 erfolgte Versetzung in den Ruhestand wird (z. B. von Bruck a. a. O. S. 132) als Folge des Erscheinens des ersten Bandes seiner „Kirchengeschichte der neuesten Zeit vom Anfange der großen Glaubensspaltung des 16. Jahrhunderts“ (Mainz 1841) von ultramontaner Seite dargestellt, obwol Lutterbeck a. a. O. S. 65 aktenmäßig den Sachverhalt erzählt, nur aus Rücksichten und weil er nicht alle Akten kannte, einzelnes übergeht. Riffel war durch sein Benehmen gegen Collegen, namentlich Hartnagel, unmöglich geworden. Um ihn nicht im Disciplinarwege entfernen zu müssen, ließ L. das Persönliche fallen und wurde im Staatsrathe lediglich betont, daß sein Verbleiben mit dem confessionellen Frieden unverträglich sei; derselbe wurde nach der Dienstpragmatik mit vollem Gehalt pensionirt. Die Regierung erklärte durch den Mund ihres Commissärs v. Rieffel, am 16. Mai 1851 in der zweiten Kammer (Augsburger Allgem. Ztg. vom 23. Mai 1851), Riffel sei entfernt worden, weil er sich schwere Ausfälle auf den Ahnherrn des fürstlichen Hauses, Philipp den Großmüthigen, erlaubt hätte. Dieser Ausweg, zu welchem L. gegriffen, um einen Priester zu schonen, war ein Fehler, der sich rächte. Anstatt dankbar zu sein, blies Riffel und sein Anhang, namentlich der spätere Domdecan Lening aus Mainz, Sturm in den ultramontanen Blättern und setzte Petitionen des Clerus an den Bischof ins Werk, welche die Herstellung der theologischen Lehranstalt am Mainzer Seminar, d. h. die Brachlegung der theologischen Facultät forderten (Brück, S. 285 ff.). Die mir vorliegende Correspondenz des Bischofs Kaiser mit L. beweist, daß jener Riffel’s Entfernung billigte, von Riffel’s Schuld so überzeugt war, daß er keinen Anstand nahm, ihn als „Scheusal“ zu bezeichnen. Der Erfolg der Affaire für L. war, daß man ihm Riffel’s „Märtyrerthum“ [669] aufs Kerbholz schrieb; zugleich hatte er, um den katholischen Priester nicht zu compromittiren, dem confessionellen Frieden eine Concession gemacht, welche zu der Katechismusforderung führte. L. verlangte am 27. Decbr. 1844 seine Entlassung, namentlich wegen Aeußerungen des Erbgroßherzogs. Dieser selbst erklärte ihm am 2. Januar 1845, daß er ihn nie entlassen, vielmehr, wenn er zur Regierung gelange, an die Spitze eines eigenen Justizministeriums stellen werde. Da kam ein neuer Anlaß in der Ronge’schen Bewegung, welche von hochstehenden Katholiken in Darmstadt, die freilich ostensibel zurückhielten, und noch mehr von Protestanten begünstigt wurde. Da man L. für befangen hielt, wurde ihm das Referat in dieser Sache entzogen und dem Referenten für die evangelischen Kirchensachen zugewiesen. Das hielt L. mit Recht als unverträglich mit seiner Stellung und bat Ende 1845 um seine Entlassung und beharrte dabei trotz der eifrigsten Bemühung des Staatsministers Freiherrn Bos du Thil. L. hat es recht bitter erfahren, wie schwer es ist, es dem Staate und den Ultramontanen recht zu machen. Während seiner Amtsführung kam trotz der Verordnung vom 30. Januar 1830 niemals eine Reibung vor, jeder Anstand wurde friedlich durch Correspondenz beigelegt; ihm war die Wahl des wahrhaft friedliebenden Bischofs Leopold Kaiser, der Bau der katholischen Kirche in Gießen und die Befriedigung einer ganzen Reihe von katholisch-kirchlichen Bedürfnissen zu danken. Die seit 1844 gemachten Erlebnisse bewirkten bei ihm, der persönlich stets ein gläubiger und auch praktisch kirchlicher Katholik war, in Verbindung mit den politischen Ereignissen seit 1848 eine ultramontane Schwenkung. Er war durch und durch conservativ, eigentlich Gegner jeder Art constitutionellen Regimes und hielt die größte Fülle landesherrlicher Macht für das einzig richtige. Zu gewissenhaft, um gegen die Verfassung seines Landes zu handeln, unterstützte er nach seiner Ueberzeugung Maßregeln, welche auf die Behauptung der landesherrlichen Macht zielten, z. B. die wiederholten Kammerauflösungen. Diese ganze Richtung, der in Frankfurt 1848 eingetretene ausschließliche Verkehr mit Männern der ultramontanen Richtung und Geistlichen oder mit Protestanten, wie Joh. Friedrich Böhmer u. a., sein angebornes Halten zu Oesterreich und später seine amtliche Stellung, erklären sein Auftreten seit 1848. Er hat auf die Berufung der Bischofsconferenz in Würzburg (19. October bis 16. November 1848) einen viel größeren Einfluß gehabt, als dies zum ersten Male von Baudri („Der Erzbischof von Köln Johannes Cardinal v. Geißel“, Köln 1881, S. 109) angegeben wird, hatte wesentlichen Antheil an der Gründung der „Deutschen Volkshalle“, der ersten größeren katholischen Zeitung, bewirkte, daß große Summen von Oesterreich und besonders dem Fürsten von Thurn und Taxis für katholische Blätter verwendet wurden, unterstützte die Denkschriften des Episkopats der oberrheinischen Kirchenprovinz, verhinderte wol auch Schritte der hessischen Regierung gegen die am 1. Mai 1851 vom Bischof v. Ketteler eröffnete theologische Lehranstalt – der Referent im Ministerium v. Rieffel war einige Tage vorher bei ihm in Frankfurt gewesen – denn es blieb bei der am 16. Mai 1851 in der zweiten Kammer gegebenen Erklärung der Regierung, daß sie dem Bischof zu erkennen gegeben habe, wie sie nicht gestatten könne, daß sich in Mainz eine Doppelgängerin aufrichte, worauf dieser erwiederte: er bewege sich in seinem Rechte. Aber trotz alledem war er in den Augen Roms nicht correct, hat nie irgendwelche Auszeichnung von dort, ja nicht einmal den Besuch des päpstlichen Nuntius, spätern Cardinals Viale Prelà erhalten, der sich 1848 verschiedene Tage in Frankfurt aufhielt und eine Reihe von Personen besuchte, die im Vergleiche zu ihm unbedeutend waren. Mir selbst sagte Viale Prelà 1854 in Wien, er traue L. nicht. Und doch war L. mit Geißel, Diepenbrok, Förster von Breslau, B. Müller von Münster, B. Arnoldi von Trier etc., mit [670] v. Radowitz, Aulike, dem Gesandten v. Savigny, Windthorst, den maßgebenden österreichischen Personen viele Jahre lang in stetem Verkehr gewesen und mit einzelnen eng befreundet. Aber für Rom paßte er nicht, denn er hat nie den Rechtsstandpunkt und die Rechte des Staats verleugnet, um dem Clerus zu Willen zu sein, und sich an die bestehenden von Rom verworfenen Gesetze gehalten. Was L. für die Kirche that, geschah aus fester Ueberzeugung. Solche Leute braucht Rom nicht zu hätscheln, das thut man am besten bei solchen, welche die Religion als politisches Motiv benutzen.

Linde’s politisches Wirken war nicht vom deutsch-nationalen Gesichtspunkte geleitet. Er kannte bis 1847 nur sein Hessen und theilte den damals allgemein partikularistischen Standpunkt bis zu dem Grade, daß er dem berüchtigten Sperren des Biebricher Hafens mit Steinen zustimmte und dessen Ausführung durch eine in Mainz seit mehreren Tagen liegende Flotte von 80 mit 200 Arbeitern bemannten Schiffen in der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 1841 einleitete, da er am Abend des 28. Februar in Mainz die nöthigen Befehle ertheilte (die Augsburger Allgem. Ztg. vom 6.–17. März und in verschiedenen folgenden Nummern enthält die Berichte und Erklärungen). Daß die hessische Regierung officiell keine Brachlegung des Hafens beabsichtigt zu haben erklärte, war natürlich, daß es aber die Absicht des Ministeriums war, mit einem Schlage das Ziel zu erreichen: Mainz vor der Concurrenz zu bewahren, weiß ich aus Linde’s Munde. In Mainz jubelte man, Bischof Kaiser schreibt am 6. März an L.: „Seit dem Wasserszapf sagen die Mainzer nicht mehr von unserm Großherzog kurzweg der Herzog, sondern stark und fest der Großherzog“. Eine schöne Zeit! zu der es stimmte, daß damals in der Augsburger Zeitung die Reihenfolge: Südamerika, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien, Schweiz und dann Deutschland, Preußen, Dänemark, Schweden, Rußland, Oesterreich etc. lautete, trotz des deutschen Bundes. – Für die deutsche Bewegung hatte L. kein Herz und Verständniß. Er sagte mir am Tage der Wahlen zum Frankfurter Parlament (7. April 1848), daß nichts dabei herauskomme. Er hielt fest am Bundestage und hat auf das Benehmen des Erzherzogs Johann, der am 5. wie am 12. Juli 1848 die Zustimmung des Bundestags erwähnte, einen sicherlich am wenigsten von Herrn v. Schmerling geahnten Einfluß gehabt. Der Reichsverweser fragte ihn recht oft, je ostensibler derselbe sich fernhielt, L. rieth zur Ablehnung des preußischen Vorschlags, die bei ihm accreditirten Gesandten quasi als ein Collegium zuzulassen (30. August 1848) und hat wesentlich beigetragen, daß derselbe in die Hände der von Oesterreich und Preußen zur Ausführung des am 30. September 1849 geschlossenen Interim eingesetzten Commission seine Gewalt in einer Form niederlegte, welche juristisch deren Rückübertragung bedeutete. L. hat recht eigentlich in der im Mai 1850 von Oesterreich einberufenen Bundesversammlung die entscheidende Thätigkeit geübt, mochte das auch nach außen nicht hervortreten, er war es, der für die österreichischen Präsidialgesandten Graf Friedrich Thun, v. Prokesch-Osten, Graf Rechberg, v. Kübeck, welche durchgehends für diese Stellung nicht die nöthige juristische Befähigung besaßen, dachte und arbeitete. Leider stimmte er auch zu dem Verkaufe der deutschen Flotte (1852), der Regelung der schleswig-holsteinischen Sache, der Restitution des Kurfürsten (November 1850), den Bundesbeschlüssen über die Verfassungsrevisionen (23. August 1851), die Preßfreiheit (6. Juli 1854), das Vereinswesen (13. Juli 1854). Hervorragend war seine Theilnahme an der Feststellung der Vorlage, welche als „Reformnote des deutschen Bundes“ auf dem Frankfurter Fürstentage (17. August bis 1. Septbr. 1863) berathen wurde. Nach der Scheiterung des Projects bemächtigte sich seiner zuerst die Befürchtung, daß der Einfluß Oesterreichs in [671] Deutschland zu Ende gehe. Dies zu verhindern, bezweckte als letzter Versuch der österreichische Antrag vom 11. Juli 1866: das Bundesheer mobil zu machen, die Stimme der 16. Curie, von L. geführt, entschied dessen Annahme und damit den Krieg. Mit der Auflösung des Bundestags waren alle seine Ideale und Ziele vernichtet, er sah ein und hat das unumwunden bekannt, daß er sich in seiner ganzen politischen Auffassung getäuscht habe, er war gebrochen, hatte selbst die Kraft verloren, in wissenschaftlichen Arbeiten sich zu erholen, die Jahre und zu viele Arbeiten hatten seine Kraft gelähmt, weshalb er nicht einmal einen Versuch machte, seine reichen Erfahrungen niederzuschreiben; schmerzliche Ereignisse in seiner Familie trugen dazu bei, seine letzte Lebenszeit gleich wenig heiter zu machen, wie es sein Leben, seit er die Professur verlassen, nach öfterer Erklärung gewesen war.

So bedeutend der Antheil Linde’s an den Ereignissen in Hessen und seit 1850–66 in Deutschland gewesen ist, sein Arbeiten für die, welche den Namen hergaben, hat sein Wirken nur den Eingeweihten bekannt werden lassen. Allzugroßen Dank hat er auch nicht geerntet von denen, für die er arbeitete, ein Geschick, das sich eben aus dem Fehlschlagen der Ziele erklärt. Seine schriftstellerische Thätigkeit hat eine dreifache Richtung. In der ersten Zeit war es vorzüglich der Civilproceß, für den er ausgezeichnete Leistungen aufzuweisen hat. Seine eminente juristische Begabung, Klarheit und Schärfe wird Niemand bestreiten. Wäre er dem Katheder erhalten, so würde er sicherlich zu den hervorragendsten Juristen Deutschlands gehören. Seine mancherlei Aemter machten es unmöglich, daß er mit den Fortschritten der Wissenschaft auf die Dauer gleichen Schritt hielt. Er warf sich daher allmählig auf publicistische Materien, welche seine Amtsführung bot, ganz besonders auf kirchliche Fragen. Die Schriften dieser Art, sämmtlich Gelegenheitsarbeiten, gehören zu den besten Arbeiten über die betreffenden Themata, bieten reiches Material, leiden aber an zu großer Breite, an schwerfälliger formalistischer Deduction und stellenweise der nöthigen Objectivität. Eine dritte Richtung war der Versuch, das deutsche Bundesrecht wissenschaftlich auszubauen. Es liegt in dem Stoffe dieser Schriften, daß sie so ziemlich vergessen sind. Dies Schicksal theilen natürlich alle seine zahllosen Ausarbeitungen für die Acten, Gutachten u. dgl.

Als Mensch war L. ein seltener Mann. Sich selbst gegenüber hatte er einen eisernen Willen, ich glaube nicht, daß er seit seiner Jugend auch nur ein einziges Mal in Speise oder Trank das richtige Maß überschritten hat; er arbeitete vom frühen Morgen, im Sommer nie nach 5 Uhr anfangend, gönnte dem Essen kurze Zeit, längere der Bewegung im Freien, der Familie den Abend. Er war aufrichtig seiner Religion zugethan und ging fast täglich in den Gottesdienst. An seiner Frau und seinen Kindern und Verwandten hing er mit grenzenloser Liebe. Sein größter Schatz war ein unendlich heiteres Gemüth. Sprudelnder Witz, unverwüstlicher Humor, seltenes Talent zur Erzählung und zum Necken machten ihn zum angenehmsten Gesellschafter, der alle entzückte, seine Schalkheit verletzte nie. Er beherrschte durch seinen Geist ziemlich alle, mit denen er verkehrte, besaß aber die seltene Kunst, dies nie zum Bewußtsein kommen zu lassen, und namentlich hochstehende Personen die von ihm eingegebenen Ideen und Gedanken als eigene ergreifen zu lassen. Gleichwol führte er niemals ein geselliges Leben; der Grund lag nicht in seiner Neigung, sondern in seinen Verhältnissen. –

Schriften (außer den angeführten): „Abhandlungen aus dem deutschen gemeinen Civilproceß“, 2 Bde., Bonn 1823, 29; „Lehrbuch des deutschen gemeinen Civilprocesses“, Bonn 1825, 7. Aufl. 1850; „Handbuch des deutschen gemeinen bürgerlichen Processes etc.“, 2 Bde., Gießen 1831, 40 (Bd. IV u. V [672] eines beabsichtigten größeren Werkes); „Zeitschrift für Civilrecht und Proceß, von L. gegründet und herausgegeben in Verbindung mit Marezoll und v. Wening-Ingenheim, (an des letzteren Stelle seit dem 5. Bande) v. Schröter, zuletzt dem Unterzeichneten, Gießen 1828–65, Bd. I–XX und Neue Folge I–XXII; darin eine Reihe von Abhandlungen von ihm. Verschiedene Aufsätze etc. in: „Archiv für die civilistische Praxis“, von Zu-Rhein „Jahrbücher“, „Neues Archiv des Criminalrechts“ von Kleinschrod u. a., Schunk „Erlanger Jahrbücher“, Zeitschrift „Teutonia“, einer Reihe politischer Blätter. – „Betrachtung der neuesten Ereignisse aus dem Standpunkte des Rechts und der Politik“, Mainz 1845; „Staatskirche, Gewissensfreiheit und religiöse Vereine“, daselbst 1845; „Berichtigung confessioneller Mißverständnisse“, 1. Heft „Auffassung des christlichen Seligkeitsdogmas nach katholischem und protestantischem Bekenntnisse“. 2. Heft „Die Berechtigung der christlichen Kirche zum Fortschritte“. 3. Heft „Urkundliche Berichtigung von Thatsachen etc.“, alle drei Mainz 1846; „Ueber Abschließung und Auflösung der Ehe im Allgemeinen und insbesondere über gemischte Ehen“, Gießen 1846; „Ueber religiöse Kindererziehung in gemischten Ehen und über Ehen zwischen Juden und Christen“, daselbst 1847; „Gleichberechtigung der Augsburg. Confession mit der katholischen Religion in Deutschland nach den Grundsätzen des Reichs, des Rheinbundes und deutschen Bundes. Geschichtlich und rechtlich“, Mainz 1853; „Betrachtungen über die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der Kirchengewalt, und Schutzpflicht des deutschen Bundes und der Theilnehmer an dem westfälischen Frieden sammt und sonders, in Deutschland“, Gießen 1855 (auch Archiv für d. öff. Recht des D. B., II. H. I). Die vorletzte bekämpft den Bundestagsbeschluß vom 9. Juni 1853 hinsichtlich des Art. 16 B. A. über die Beschwerde des Herrn von der Kettenburg in Mecklenburg; die letzte ist gegen das Vorgehen von Baden, bestreitet die Competenz der Gerichte in Streitigkeiten zwischen den Staatsbehörden und der römisch-katholischen Hierarchie, und hält den Bund eventuell die Garanten des westfälischen Friedens zur gütlichen Vermittelung für competent! – „Archiv für das öffentliche Recht des deutschen Bundes“, Gießen 1855–61, 4 Bde., worin namentlich von ihm selbst Abhandlungen über Fragen des innern Bundesrechts, das Postrecht u. dgl.

Meine Quellen waren die Correspondenzen, Acten etc., sodann genaue persönliche Kenntniß, da Linde der Bruder meiner Mutter war. Die gedruckten biographischen Skizzen außer in meiner Geschichte der Quellen und Litter. des canon. Rechts, III, 1, S. 360 ff. sind werthlos, jedenfalls ungenügend.