Zum Inhalt springen

ADB:Möbius, August Ferdinand

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Möbius, August“ von Moritz Cantor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 22 (1885), S. 38–43, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:M%C3%B6bius,_August_Ferdinand&oldid=- (Version vom 19. Dezember 2024, 14:45 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Mnioch, Johann Jakob
Nächster>>>
Möbius, Georg
Band 22 (1885), S. 38–43 (Quelle).
August Ferdinand Möbius bei Wikisource
August Ferdinand Möbius in der Wikipedia
August Ferdinand Möbius in Wikidata
GND-Nummer 119147114
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|22|38|43|Möbius, August|Moritz Cantor|ADB:Möbius, August Ferdinand}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119147114}}    

Möbius: August Ferdinand M., Mathematiker und Astronom, geb. 17. November 1790 in Schulpforta, † 26. Sept. 1868 in Leipzig. Der Vater von M. war während 25 Jahren (1768–1793) Tanzlehrer in Schulpforta, ein Beruf in welchem ihm ein unverheiratheter Bruder noch weitere 11 Jahre nachfolgte, sich dabei als Stütze der Wittwe und ihres Knaben erweisend, die er beide in sein Haus aufgenommen hatte, und die seine Erben wurden. Ganz mittellos war so freilich die Familie nicht, aber Möbius’ Erbtheil bestand doch nur aus einem Hause, für welches nicht volle 1000 Thaler gelöst wurden, von deren Zinsen und einer kleinen Pension Mutter und Sohn bei aller Bedürfnißlosigkeit nicht ohne anderweitige Beihülfe existiren konnten. So zog die Mutter, als 1804 ihr Schwager starb, nach Naumburg zu einem unverheiratheten Kaufmann Geier, dem sie das Hauswesen besorgte. M. war inzwischen herangewachsen. Eine Schwester seiner Mutter war an den Amtmann Nobbe in Pforta verheirathet. Mit dem Sohn Karl († 1881 als Professor in Leipzig) theilte M. den ersten Hausunterricht, mit ihm besuchte er seit 1803 die Fürstenschule, mit ihm verband ihn ungetrübte Freundschaft bis an sein Lebensende. In der Fürstenschule war der mathematische Unterricht, wenn auch von Joh. Gottl. Schmidt, einem anregenden Lehrer, der seinen Schülern Liebe zum Gegenstande einzuflößen wußte, ertheilt, in sehr engen Grenzen gehalten. M. ging in Privatstudien, welche ihn an selbständiges Denken und Schaffen gewöhnten, weit über das Schulpensum hinaus, wie es auch von seinen Lehrern erkannt und anerkannt wurde. Geht doch die Ueberlieferung, bei der Neuordnung des Lehrplanes der Fürstenschule 1808 sei der Rath des damaligen Primaners M. eingeholt und befolgt worden. Von der Fürstenschule begab sich M. 1809 auf die Universität nach Leipzig. Auf Zureden seines Vormundes, des Amtmanns Nobbe, hatte er als Jurist sich einschreiben lassen, aber bereits im zweiten Semester folgte er seinem Hange zur Mathematik und Astronomie. M. von [39] Prasse (s. d.) als Mathematiker, Mollweide (s. d.) als Astronom, Gilbert (Bd. IX, S. 168) als Physiker, wurden seine Lehrer und Gönner. Mollweide nahm ihn bald zum Famulus bei den Vorlesungen, außerdem erhielt er das Convict, d. h. freien Mittagstisch und Abendbrod und 1811 das Kregel-Sternbach’sche Stipendium, welches gerade damals durch die philosophische Facultät in Leipzig zu vergeben war. Es betrug 2 Jahre hindurch 30 Thlr., im 3. Jahre einige hundert Thlr. Reisegeld mit der Auflage außer Landes seine Kenntnisse zu erweitern und durch ein „Specimen“ den Nachweis zu führen, daß man in diesem Sinne das Stipendium verwandt habe. Der Antritt dieser Reise fällt in den Monat Mai 1813, in jene kriegsbewegte Zeit, welche gerade zwischen Leipzig und Naumburg die Wege mit plünderungssüchtigen Nachzüglern füllte. Auch ein Fuhrmann, welchem M. seinen Koffer anvertraut hatte, fiel solchem Gesindel in die Hände, und M. verlor seine Bücher, Kleidungsstücke und etwa 50 Thlr., die er unvorsichtigerweise in den Koffer gepackt hatte. Das war eine unangenehme Einbuße für den jungen Reisenden, die er aber in seiner frischen Stimmung verhältnißmäßig rasch verschmerzte; wenigstens athmen die Briefe über die zu Fuß zurückgelegte Reise von Naumburg nach Göttingen die heiterste Laune und frohe Zuversicht auf die Zukunft, namentlich seitdem er von Gauß, der ihn nach Göttingen gezogen hatte, freundlich empfangen worden war. Er verweilte zwei Semester in Göttingen, wo er vornehmlich theoretische Astronomie trieb und sich mit Berechnungen beschäftigte, welche auf den kleinen Planeten Juno sich bezogen. Unter seinen damaligen Studiengenossen ist nur Ludwig August Seeber (s. d.) zu nennen. Zu Anfang des Jahres 1814 starb Prof. von Prasse in Leipzig. Mollweide wünschte an dessen Stelle zu treten, und erfüllte sich dieser Wunsch, so wurde die Leitung der Sternwarte frei. Das hatte Nobbe, der damals in Leipzig zum Examen sich vorbereitete, ausgeklügelt, und auf seine mittelbare Veranlassung wandte M. sich vertrauensvoll an Mollweide. So lange die Verhandlungen dauerten, war er übrigens nicht unthätig, sondern verwandte in Halle fast ein Jahr theils auf mathematische Studien unter Pfaff, der damals seine berühmte Arbeit über Differentialgleichungen vollendet hatte, theils auf Unterricht, welchen er selbst als außerordentlicher Lehrer am Pädagogium gab. Zu Ostern 1815 habilitirte sich M. an der Universität Leipzig auf Grundlage einer Schrift, welche ihn als gewandten Analytiker in der Behandlung von Kreisfunctionen zeigt. Im Sommer veröffentlichte er eine weitere Abhandlung über die Bedeckung von Fixsternen durch Planeten. Am 26. Januar 1816 erhielt er die Ernennung zum Observator an der Sternwarte und zum außerordentlichen Professor der Astronomie unter der Verpflichtung, vorher noch anderweitige Sternwarten kennen zu lernen, wozu ein Reisestipendium von 150 Thlr. beigefügt war. Der Seeberg bei Gotha, Tübingen, München, Wien, Ofen[WS 1] sahen M. zu kürzerem oder längerem Aufenthalte. Ueberall wurde der gut empfohlene junge Astronom in wärmster Weise aufgenommen, und von seiner Reise aufs Höchste befriedigt, langte er im October 1816 wieder in Leipzig an, wo er das Vergnügen hatte, mit dem eben dort angestellten Jugendfreunde Nobbe zusammenzutreffen und einen anderen Plan verwirklicht zu sehen, seine Hoffnung seit dem Beginne seiner Studien: die Mutter zog nach Leipzig zu dem Sohne und führte sein Hauswesen. Ueppig ging es gerade nicht darin zu. Gehalt, Vorlesungshonorare, litterarische Erträgnisse und Zinsen des kleinen Vermögens, soweit es nicht aufgezehrt war, beliefen sich nur auf wenige hundert Thaler, aber es genügte doch den bescheidenen Ansprüchen und erlaubte ihm eine im Mai 1816 an ihn ergehende Anfrage, ob er einer Berufung nach Greifswalde folgen wolle, abschlägig zu beantworten. Grund dieser Ablehnung war wohl in erster Linie eine natürliche Dankbarkeit gegen die heimathliche Regierung, welche ihn so [40] rasch befördert hatte, doch dürfte auch sein sächsischer Localpatriotismus mit in die Wagschale gefallen sein. M. war sein Leben lang, ähnlich wie Gauß, eine durch und durch conservative Natur, dem Bestehenden auch darin zugethan, daß er den werdenden Großstaat Preußen nicht als Theil des allgemeinen deutschen Vaterlandes, sondern als Ausland betrachtete. Zu derselben Zeit, in welcher Encke (Bd. VI, S. 99) dem Aufrufe an mein Volk freiwillig Folge geleistet hatte, schrieb M. seiner Mutter halb humoristisch halb im Ernst: „Ich halte es geradezu für unmöglich, daß man mich, einen habilitirten Magister der Leipziger Universität zum Rekruten sollte machen können. Es ist der abscheulichste Gedanke, den ich kenne, und wer es wagen, sich unterstehen, erkühnen, erdreisten, erfrechen sollte, der soll vor Erdolchung nicht sicher sein. Ich gehöre ja nicht zu den Preußen, ich bin in sächsischen Diensten.“ Sachse war er, Sachse blieb er. Auch eine Berufung nach Dorpat, die Weihnachten 1819 an ihn erging, und ihm verhälnißmäßig glänzende Bedingungen in Aussicht stellte (1450 Silberrubel Gehalt, während in Leipzig seine festen Einnahmen sich noch nicht auf 500 Thlr. beliefen), lehnte er einfach ab, ohne auch nur den Versuch zu machen, dadurch seine heimathlichen Einkünfte zu steigern. Erst 25 Jahre später benutzte er in diesem Sinne eine Berufung nach Jena, wo er der Nachfolger von Jac. Friedr. Fries werden sollte. Jetzt wurde er zu Ostern 1844 in Leipzig zum ordentlichen Professor mit kleiner Gehaltsaufbesserung ernannt, während 1825 bei Mollweide’s Tod die Facultät M. umging und den damaligen Privatdocenten Drobisch zur mathematischen Professur, zuerst als Extraordinarius, 1827 als Ordinarius vorschlug. Zwei Umstände trugen die Schuld an dieser so langsamen Beförderung von M., die nach seiner frühzeitigen Anstellung als außerordentlicher Professor doppelt überraschen könnte, seine von Schüchternheit begleitete Anspruchslosigkeit an das Leben, welche ihn verhinderte als Bittsteller um Verbesserung seiner Lage so häufig und so dringend aufzutreten, als es von Anderen wohl verlangt wurde, und die hohen Ansprüche an wissenschaftliche Leistungen, welche ihn verhinderten, frühzeitig als Schriftsteller sich bekannt zu machen. Auf diese seine litterarische Thätigkeit kommen wir später zurück, jetzt haben wir es noch mit Möbius’ Privatleben zu thun. Im Spätjahr 1816 war die Mutter zu ihm nach Leipzig gezogen. Sie führte sein Hauswesen, drängte aber zu einer Verheirathung. M. hatte als Student da und dort an jungen Mädchen Gefallen gefunden. In seinen Briefen an die Mutter ist bald von einem Mienchen, welches den künftigen großen Mann ihm weissagt, bald von einer hübschen Schneiderstochter, bei deren Vater er sich einmiethet, bald von einer Ungetreuen, von der er schlafend und wachend träumt, die Rede. Auch der junge Professor faßte bald eine Neigung zu einem munteren, aber vielleicht etwas vergnügungssüchtigen Mädchen, mit welchem er sich im Sommer 1818 verlobte. Die Ehe wäre wohl kaum eine glückliche geworden, wie die sorgsame Mutter erkannte, und ein zu Anfang leichtes Mißverständniß führte im Winter 1819 zur Auflösung des Verhältnisses. Nun lernte M. im Hause seines bereits verheiratheten Freundes Karl Nobbe, Dorothea Christiane Johanna Rothe kennen, Tochter eines Wundarztes in Gera, Schwester eines Leipziger Kaufmannes, die am 26. Juli 1790 geboren, vier Monate älter als M. war, auch gleich ihm trübe Herzenserfahrungen durch eine rückgängig gewordene Verlobung gemacht hatte. Die beiden Naturen paßten aufs Vortrefflichste zu einander, und im Einverständnisse mit Möbius’ Mutter wurde die Vermählung auf den 6. April 1820 festgesetzt und an diesem Tage in aller Stille vollzogen. Die Mutter selbst konnte an dem Freudenfeste nicht theilnehmen. Sie war ganz unerwartet am 4. März 1820 erst 64 Jahre alt gestorben. Das Familienleben des neuverheiratheten Paares war ein stillzufriedenes, beglückt [41] durch drei zur Freude der Eltern sich entwickelnde Kinder, belebt durch einen Kreis geistig hervorragender Freunde, aber auch getrübt durch mannigfaches körperliches Leiden insbesondere der Frau, welche seit 1821 an den Augen litt, 1825 ganz erblindete, dabei aber doch vermochte der heitere Mittelpunkt ihres Hauswesens zu bleiben, bis sie am 9. Septbr. 1859 den Ihrigen durch den Tod entrissen wurde. M. selbst war bei kleiner etwas hagerer Gestalt abgesehen von einem Augenübel, das in den letzten Jahrzehnten seines Lebens auch seine Sehkraft beeinträchtigte, eine gesunde Natur. Zahnschmerzen waren fast allein die von ihm zu ertragenden kleinen Unpäßlichkeiten des Lebens, diese aber in einem Grade, der ihn zu dem scherzhaften Wunsche veranlaßte, man solle ihm dereinst die Grabschrift setzen: „Dem thut kein Zahn mehr weh.“ Er war ein Freund des Gehens, sei es in Gesellschaft, sei es auch allein. Um bei seinen Spaziergängen sicher zu sein, Nichts vergessen zu haben, was er unterwegs brauchen könne, versäumte er nie von einer mnemonischen Regel Gebrauch zu machen, an die „3 S und Gut“ zu denken: Schlüssel, Schirm, Sacktuch, Geld, Uhr, Taschenbuch vorstellend.

Was die Bedeutung Moebius’ als Gelehrter betrifft, so liegt sie vornehmlich auf dem Gebiete der Mechanik und der Geometrie, welche er in einer ihm eigenthümlichen Weise in Verbindung zu setzen wußte. Der Gedanke war so neu, daß als 1827 „der barycentrische Calcül, ein neues Hülfsmittel zur analytischen Behandlung der Geometrie“, erschien, die Aufmerksamkeit der Gelehrtenwelt früher als in Deutschland selbst in Frankreich rege wurde, wo die Arbeiten eines Dupin[WS 2], eines Gergonne[WS 3], eines Poncelet[WS 4] und Anderer zwar auf ganz anderem Wege doch in mancher Beziehung zu ähnlichen Ergebnissen geführt hatten, wie M. sie jetzt bekannt machte. Den Grundgedanken spricht M. in der Vorrede dahin aus, die Bemerkung daß irgend 3 Punkten einer Ebene immer solche Gewichte beigelegt werden können, daß ein gegebener 4. Punkt der Ebene als deren Schwerpunkt erschiene, und daß die 3 Gewichte alsdann in eindeutig bestimmten Verhältnissen zu der gegenseitigen Lage der 4 Punkte stehen, habe ihn dazu geführt, von Anfang an ein Fundamentaldreieck mit 3 gegebenen Eckpunkten in der Ebene anzunehmen. Jeder Punkt der Ebene war nun als Schwerpunkt dieser Eck- oder Fundamentalpunkte gegeben, wenn demselben bestimmte Gewichte oder Coefficienten beigelegt wurden. Die Verhältnisse zwischen diesen Coefficienten endlich waren neue und zwar barycentrische Coordinaten des Punktes in der Ebene. Damit hatte M. den Anstoß zur trimetrischen Coordinatengeometrie gegeben. Im Raume mußten in entsprechender Weise 4 Fundamentalpunkte, die Ecken einer Fundamentalpyramide, angenommen werden, denen Coefficienten gegeben wurden, genügend der Bedingung einen vorgeschriebenen Punkt zum Schwerpunkte der Fundamentalpunkte zu machen. Wechsel des bestimmten Punktes hängt selbstverständlich mit Veränderung der Coefficienten zusammen, die in dieser Beziehung Functionen einer oder zweier Veränderlichen sein können. Im ersteren Falle ist der geometrische Ort des bestimmten Punktes eine Curve, im zweiten eine Oberfläche. Zwischen diesen barycentrischen Ausdrücken und den Gleichungen der gewöhnlichen analytischen Geometrie der Parallelcoordinaten ist ein Uebergang möglich, welchen M. kennen lehrte, damit den ersten Abschnitt seines Buches beschließend. Der zweite Abschnitt ist der Verwandtschaft der Figuren gewidmet, einem von Euler erfundenen, von M. bedeutend erweiterten Begriffe. Eine der von M. hinzugefügten Erweiterungen bezieht sich auf die Collineation, wie er mit einem von seinem Freunde Professor Weiske angerathenen sehr bezeichnenden Namen die Art von Verwandtschaft zweier Räume ausspricht, bei welcher jedem Punkte des einen Raumes ein Punkt in dem anderen Raume dergestalt entspricht, daß die Lage der Punkte eines Raumes in [42] gerader Linie auch die Geradlinigkeit der Verbindung der entsprechenden Punkte im anderen Raume bedingt. Bei der Untersuchung dieser Verwandtschaft bediente sich M. des Doppelverhältnisses, welches hier zuerst auftrat und von ihm den Namen erhielt. Es liegt nahe von solchen Verwandtschaften zu anderen zu gelangen, in denen einem Punkte eine Gerade und umgekehrt entspricht. Solche Zusammengehörigkeiten lassen sich in vielen Eigenschaften der Kegelschnitte erkennen, und ihnen ist der dritte Abschnitt des barycentrischen Calcüls gewidmet. In dem ganzen Werke ist überdies das, wie M. wieder in der Vorrede sich ausdrückt, schon von Mehreren gebrauchte Verfahren, nach welchem der positive oder negative Werth einer Linie durch die verschiedene Nebeneinanderstellung der die Endpunkte bezeichnenden Buchstaben ausgedrückt wird, durchgehends in Anwendung. M. hat auch diese in Deutschland wohl zuerst durch Kästner benutzte Bezeichnungsweise auf Figureninhalte erweitert. Das zweite bedeutende Werk Möbius’ war sein „Lehrbuch der Statik“, 1837, der Ausbau eines in einer Abhandlung von 1831 (Crelle’s Journal, Bd. VII) entworfenen Risses. Die Poinsot’sche[WS 5] Theorie der Kräftepaare ist ganz an die Spitze gestellt, und nach ihr folgt erst die Lehre von der Zusammensetzung solcher Kräfte, welche nicht Paare bilden. Endlich erschienen 1843 „Die Elemente der Mechanik des Himmels auf neuem Wege ohne Hülfe höherer Rechnungsarten dargestellt“, ein Werk, in welchem nach dem fachkundigen Urtheile des verstorbenen Mitarbeiters an dieser Encyklopädie Prof. Karl Bruhns, nicht blos für Laien das im Titel Versprochene vollauf geleistet wird, sondern auch für den Astronomen von Fach Vieles zu lernen ist, insbesondere die Bestimmung der durch störende Kräfte bewirkten Ungleichheiten in den Planetenbewegungen mittels Epicykeln. Neben und zwischen diesen Büchern veröffentlichte M. auch noch eine ganze Reihe von meist umfangreichen Abhandlungen, vornehmlich in Crelle’s Journal für reine und angewandte Mathematik, aber auch in den Veröffentlichungen der königl. sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, welcher er seit ihrer Gründung angehörte und Weniges in astronomischen Zeitschriften, ein äußeres Zeichen dafür, daß M. nur der äußeren Berufsstellung nach Astronom, vorwiegend Mathematiker war. Der Inhalt der mathematischen Abhandlungen in Crelle’s Journal ist dem der drei größeren Werke nahe verwandt. Geometrische Sätze, barycentrisch und auch in landläufiger Weise begründet, Mechanisches, auf astronomischem Gebiete eine Ableitung des Newton’schen Attractionsgesetzes als Folge der Kepler’schen Gesetze (Crelle’s Journal Bd. XXXI) wurden der Reihe nach dem Drucke übergeben. Etwas abweichenden Charakters sind Aufsätze über dioptrische Dinge, gestützt auf die Lehre von den Kettenbrüchen (Crelle’s Journ. Bd. V und VI), eine combinatorisch gehaltene Untersuchung über Reihenumkehrung (Crelle’s Journal Bd. IX) und eine höchst eigenartige zahlentheoretisch-geometrische Betrachtung (Crelle’s Journal Bd. XXII) über Factorentafeln. Es handelt sich um eine Anordnung, nach welcher unter jeder Zahl ihre sämmtlichen Factoren erscheinen, je ein quadratisches Feld füllend; diese Felder werden nach bestimmten Gesetzen durch einen Buchstaben mit Index bezeichnet, zugleich Repräsentanten eines geometrischen Punktes, dessen Coordinaten der Hauptbuchstabe und der Index sind; endlich werden solche Punkte grad- oder krummlinig verbunden. Eine Notiz im XII. Bande des mehrgenannten Journals erwähnen wir nur als geschichtliche Merkwürdigkeit, daß im J. 1834 Mathematiker von dem Range eines M. irrigen Anschauungen über unbestimmte analytische Formen huldigen konnten. Unter den Veröffentlichungen, welche durch die sächs. Gesellschaft der Wissensch. vermittelt wurden, ragen an Umfang die Abhandlungen von 1846 über analytische Sphärik, von 1852 über Linien dritter Ordnung, von 1853 über die Kreisverwandtschaft hervor, wie er jene Beziehung [43] zweier Räume nannte, bei welcher je 4 einer Kreislinie angehörenden Punkten des einen Raumes 4 gleichfalls auf einer Kreislinie befindliche Punkte des anderen Raumes entsprechen. Kürzer gefaßt, aber dem Inhalte nach keineswegs unbedeutender sind die Aufsätze in den sogen. Berichten der königl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften 1846–65. In der Unmöglichkeit sie sämmtlich aufzuzählen, nennen wir nur den Aufsatz über eine Methode, um von Relationen, welche der Longimetrie angehören, zu entsprechenden Sätzen der Planimetrie zu gelangen (1852), welchen M. zugleich auch in Crelle’s Journal Bd. LII abdrucken ließ, und in welchem er vorzugsweise mit sogenannten imaginären Raumgebilden, beziehungsweise mit sogenannten Grenzfällen sich beschäftigt hat. In allen diesen geometrischen Veröffentlichungen größeren wie kleineren Umfanges hat M. sich stets als Geist ersten Ranges bewährt, erfindungsreich und fruchtbar, Urheber nicht blos einzelner Sätze sondern ganzer Theorien, an deren Ausbildung die tüchtigsten Geometer unter seinen Zeitgenossen und Nachkommen bald nach dieser, bald nach jener Methode arbeiteten. Seine eigene barycentrische Methode hat, auffallend genug, bei keinem Nachfolger sich einzubürgern vermocht; es sei denn, man wolle den Grundgedanken des barycentrischen Calcüls in jenen neuesten Arbeiten durchschimmern sehen, welche die Functionenlehre darauf gründen, den einzelnen Punkten einer Oberfläche eine eigenthümliche Belegung zu geben. Die Statik zählt zu den Ausgangspunkten der insbesondere durch Culmann in Aufnahme gebrachten graphischen Statik, konnte aber doch dem Schicksale nicht entgehen, in fast vollständiger Auflage eingestampft zu werden. So wenig wurde M. 10 Jahre nach Erscheinen des barycenttischen Calcüls gewürdigt! Neuerdings veranstaltet die sächsische Gesellschaft der Wissenschaften eine Gesammtausgabe von Möbius’ Werken.

K. Bruhns, Die Astronomen der Sternwarte auf der Pleißenburg in Leipzig, 1868.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Ofen: Buda, der westlich der Donau gelegene Teil von Budapest
  2. Charles Dupin (1784–1873), französischer Mathematiker
  3. Joseph Gergonne (1771–1859), französischer Mathematiker
  4. Jean-Victor Poncelet (1788–1867), französischer Mathematiker
  5. Louis Poinsot (1777–1859), französischer Mathematiker und Ingenieur des Straßenbauwesens