ADB:Neithardt, Heinrich August

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Artikel „Neithardt, Heinrich August“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 414–415, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neithardt,_Heinrich_August&oldid=- (Version vom 29. März 2024, 02:11 Uhr UTC)
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Neithardt: Heinrich August N., der Gründer des Berliner Domchores; obgleich man formell den König Friedrich Wilhelm IV., Felix Mendelssohn-Bartholdy und den Major Einbeck als die Gründer nennen müßte, so ist doch N. von Anfang derjenige gewesen, der mit den ihm übergebenen Kräften, die er sich aus der heranwachsenden Jugend dann selbst vorbildete, die Leistungen zu erzielen wußte, die dem Chore einen Weltruf verschafften. Am 10. August 1793 zu Schleiz in niederem Stande geboren, erlernte N. die Musik bei einem Stadtmusikus in handwerksmäßiger Weise. Seinem höheren Streben genügte aber diese rein praktische Ausbildung nicht und als er zunftmäßig ausgelernt hatte, nahm er aus eigenem Drange bei dem bekannten Hoforganisten Ebhardt in Pianoforte, Orgel und Compositionslehre Unterricht. Die Freiheitskriege gaben diesem stillen Studium einen anderen Weg und er zog hinaus für sein Vaterland zu kämpfen. Im Nachtquartier und Bivouac componirte er Märsche und andere kleine Stücke für Jägermusik, bei der er stand, und sie erregten so freudiges Interesse, daß man ihn nach dem Kriege bewog, als Stabsoboist einzutreten. Ohne Mittel in der Hand sah er wohl ein, daß im ausgesogenen lieben Vaterlande für einen bescheidenen Musiker keine Schätze zu erwerben waren und so diente er bis zum Jahre 1822 als Stabshautboist im Garde-Schützenbataillon, componirte und arrangirte Märsche, Tänze, Ouvertüren u. a. und zeichnete sich in jeder Hinsicht in einer Weise aus, daß man ihn zum Kaiser Franz-Grenadierregiment versetzte, wo er zugleich Gelegenheit fand, sich an der Reorganisation der Militärmusik lebhaft zu betheiligen. Sein Name drang aber ganz besonders durch den glücklichen Treffer in weitere Kreise, den er mit dem Liede „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben“ that. Das Lied drang rasch ins Volk und erklang in allen Gauen des Vaterlandes. Theodor Rode gibt nach Neithardt’s eigenen Angaben das Jahr 1826 an, während von Ledebur (Berliner Tonkünstlerlexikon p. 390) das Jahr 1830 als Entstehungszeit des Liedes verzeichnet. Eine so große Wirkung übte das Lied damals aus (das Gedicht ist von dem Gymnasialdirector Prof. Thiersen), daß ihm seine Vaterstadt Schleiz (1838) das Ehrenbürgerrecht verlieh. 1839 erhielt er den Titel königl. Musikdirektor. 1840 nahm er den Abschied und 1843 ernannte ihn König Friedrich Wilhelm IV. zum Unterdirigenten, respective Gesanglehrer des zu gründenden Domchores, das heißt, N. wurde die praktische Ausführung des Planes übergeben und die anderen Herren revidirten und ließen ihre Weisheit in Worten leuchten. Bis dahin wurden die liturgischen Chöre (siehe oben S. 298 den Artikel Naue) von Domschülern und Seminaristen ausgeführt und bei Hofe von dem sogenannten „kleinen Capellchor“, der unter Grell’s Leitung stand. Diese beiden Chöre wurden nun vereint und Neithardt’s Aufgabe und Bestreben ging vor allem dahin, sich aus den Schulen die besten Kräfte auszusuchen und zu bilden. Da mit den nöthigen Geldmitteln nicht gespart wurde, so hatte er bald eine Auswahl, wie sie eben nur eine große Stadt bieten kann, sowohl an Knaben- als Männerstimmen. N. hatte ein bewundernswerth [415] feines Ohr und die gehörige soldatische Energie, die wilde Jugend im Zaum zu halten. Wer je einer Probe des Domchores beigewohnt hat und beobachtete, wie er, am Notenpult sitzend, die aufgeschlagene Partitur vor sich, mit seinen kleinen scharfstechenden Augen den Chor leitete, die musikalischen Bösewichter anblickte, auch, wenn alles nichts half, aufstand und dem betreffenden Jungen die falsche Note mit einer praktischen Handbewegung herausschlug, dem wurde klar, wem man die wonnigen Harmonieen, leise hinschwebend, crescendo anwachsend bis zum Jubel der Stimmen zu verdanken hatte. Wer den Domchor in den fünfziger Jahren nicht gehört hat, der weiß überhaupt nicht, welche mächtige Wirkung im reinen Chorgesange verborgen liegt. Im J. 1845 ernannte der König N. zum alleinigen Dirigenten des Chores. – Ein N. ersteht nicht alle Tage! der Eine hat zwar das feine Gehör, doch keine Directionsgabe, die bei einer Schaar von 40 Knaben im Alter von 7–12, 13 Jahren noch in anderer Weise gehandhabt werden will, als bei einem Damenchor, der Andere ist wol ein vorzüglicher Dirigent, doch ihm fehlt die Gabe große Chormassen zum verständnißvollen periodisch gegliederten Vortrage anzuleiten, und so ist der heutige Domchor nur noch eine schöne Erinnerung an die einstige Glanzzeit. N. griff mit sicherer Hand, wol auch unterstützt durch v. Bunsen und v. Winterfeld in die Schätze der altclassischen Gesangsperiode des 16. Jahrhunderts und hat dann selbst durch die Verlagshandlung von Bote und Bock in Berlin einen kleinen Theil derselben herausgegeben, betitelt: „Musica sacra“, Band VI und VII. Der 5. Band rührt zwar auch von ihm her, doch wurde der Inhalt wol mehr durch die Verlagshandlung beeinflußt, während der 6. und 7. Band so recht die Schätze der alten Musik eröffnen. N. hat viel Männerquartette geschrieben und herausgegeben, ebenso Lieder für eine Singstimme mit Clavierbegleitung; zahlreich sind seine Compositionen für Blasinstrumente, doch lag hierin nicht das eigentliche Feld seiner Thätigkeit. Mit wenigen Ausnahmen gehören seine Werke der niederen Classe der Musik an und haben einst Gartenconcerten und Handwerkervereinen gedient. Auch von Sammlungen sind noch zu erwähnen ein Choralbuch zum Kirchengebrauch für das königl. preußische Kriegsheer und der „Liederfreund“, 222 geistliche und weltliche Lieder enthaltend. Bis ins höhere Alter rüstig und seine Pflichten mit gleicher Kraft bis zum Abschluß seines Lebens erfüllend, entschlief N. am 18. April 1861. Der Domchor hat durch eine Sammlung unter seinen Mitgliedern ihm einen prächtigen Denkstein auf dem Berliner Kirchhof der Domgemeinde gesetzt.