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ADB:Reincken, Johann Adam

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Artikel „Reincken, Johann Adam“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 7–11, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reincken,_Johann_Adam&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 07:42 Uhr UTC)
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Reincken: Johann Adam R., einer der bedeutendsten Organisten vor Sebastian Bach, ein Holländer von Geburt, der nach Mattheson’s Ehrenpforte am 27. April 1623 zu Deventer geboren ist. Ueber seine Jugendzeit haben wir keine Nachricht. Die Angabe, daß er ein Schüler des Amsterdamer Sweelinck [8] sei, beruht auf einem Irrthume und konnte nur so lange Glauben finden, als das Todesjahr Sweelinck’s unbekannt war. Heute wissen wir durch Auszüge aus den Kirchenbüchern, daß er im J. 1621 gestorben ist, also vor Reincken’s Geburt. Mehr Wahrscheinlichkeit hat die Angabe des Engländers Burney, der auf einer Reise nach Deutschland die holländische Stadt Groningen besuchte und dort von dem bekanten Organisten Jakob Wilhelm Lustig, einem geborenen Hamburger, erfuhr, daß R. ein Schüler Heinrich Scheidemann’s sei, derselbe, dem R. als Nachfolger im Amte bestimmt war. Lustig kann dies auch nur vom Hörensagen gewußt haben, denn da er erst 1706 geboren ist, und R. bereits 1722 starb, als Greis von fast hundert Jahren, so läßt sich kaum annehmen, daß der damals kaum 16jährige Lustig je in Verbindung mit R. getreten sei, selbst nicht in dem Verhältniß von Lehrer und Schüler, da ihn sein Vater selbst unterrichtete. Daß sich R. schon vor seiner Anstellung in Hamburg befunden haben muß, ergiebt auch die Anekdote, welche Walther in seinem Lexikon unter dem Namen Scheidemann’s erzählt, daß nämlich ein berühmter Musiker in Amsterdam, als er hörte, daß R. der Nachfolger Scheidemann’s werden wolle, gesagt haben soll, „es müsse dieser ein verwegener Mensch sein, weil er sich unterstanden, in eines so sehr berühmten Mannes Stelle zu treten, und wäre er wohl so curieux, denselben zu sehen“, worauf ihm R. das Choralvorspiel „An Wasser-Flüssen Babylon“ mit Zuschrift übersendete „hieraus könne er des verwegenen Menschen Porträt ersehen“. Fétis läßt R. zuerst nach Leipzig und dann nach Hamburg gehen, doch ist der Aufenthalt in ersterer Stadt durch nichts erwiesen. Mattheson, der R. so nahe stand und in seiner Ehrenpforte sich möglichst Mühe gibt, seine Leistungen herunterzudrücken, giebt uns über seinen Lebensgang gar keine Nachrichten, ist sogar bemüht, manche Thatsachen in ein falsches Licht zu stellen, die wir erst heute durch das Auffinden von seinen Werken und Actenstücken richtig stellen können. R. muß noch zu Lebzeiten Scheidemann’s als sein Adjunctus in dem Organistendienst an der St. Katharinenkirche in Hamburg eingetreten sein, denn in einer Eingabe Reincken’s an den Magistrat vom Jahre 1718 sagt er, daß er nun sechzig Jahre der Stadt als Organist an St. Katharinen gedient habe. Dies ergibt das Anstellungsjahr 1658. Da nun die Wittwe Scheidemann’s in einer Eingabe vom 15. August 1664 den Rath um eine Pension bittet, so kann ihr Mann nicht 1654, wie bisher angenommen wurde, sondern erst 1664 gestorben sein, denn die Wittwe wird nicht erst nach zehn Jahren um die Bewilligung einer Pension eingekommen sein und darin erwähnen, daß ihr seliger Mann der Stadt dreißig Jahre lang gedient habe. Hieraus ergiebt sich, daß R. noch zu Lebzeiten Scheidemann’s den Dienst antrat. Wie rege sich R. um das Musiktreiben in Hamburg bemühte, ersehen wir an der Gründung einer stehenden Oper in Hamburg. Er und die beiden Licentiaten beider Rechte, Gerhard Schott und Lütjens traten im J. 1677 oder 78 zusammen und gründeten eine deutsche Oper. Wenn man bedenkt, daß der Deutsche in dieser Zeit sich mit der Operncomposition noch wenig befaßte und nur einzelne Versuche darin bekannt waren, dagegen die italienische Oper die Alleinherrscherin auf allen Bühnen war, so muß man diese Unternehmung als eine kühne und selbstbewußte anerkennen. R., als der einzige Musiker im Bunde, hatte daher wol dafür zu sorgen, daß auch Material genügend vorhanden sei, und er fand in Johann Theile, dem späteren Dresdener Capellmeister Strungk und Joh. Wolfgang Franck diejenigen Männer, die seine Pläne auszuführen im Stande waren. Im J. 1678 wurde die erste Oper gegeben: Der erschaffene, gefallene und aufgerichtete Mensch (Adam und Eva). Text von Richter, componirt von Theile, das Ballet von Mr. de la Feuillade, die Decorationen von Kamphausen gemalt. Strungk war wahrscheinlich [9] der Capellmeister, doch muß sich auch Franck an der Direction betheiligt haben, trotzdem er praktischer Arzt war, denn man nannte ihn in Hamburg scherzweise den Capellmeister. R. selbst ist hierbei mit seiner Person und seinen Leistungen nie hervorgetreten, weder als Componist fürs Theater, noch als Dirigent. Er scheint die Sache nur in Gang gebracht zu haben und schied dann, wie Mattheson berichtet, nach sieben Jahren wieder aus. R. war zweimal verheirathet. Es ist nöthig, dies ganz besonders zu erwähnen, weil Mattheson in der Critica musica p. 255 ihm vorwirft, daß sein Lebenswandel nicht makellos war, denn er sei „ein beständiger Liebhaber des Frauenzimmers gewesen und habe den fremden Dames, so er bis an seinen Tode im Hause gehabt, ein ansehnliches vermacht“. Seine erste Verheirathung läßt sich nur muthmaßen und zwar aus dem noch vorhandenen Hochzeitsgedichte, worin es heißt: „Der itzt durch neues Freyen Frauen, sein Freyen feyern, wil erneuern.“ Da er also von Neuem freiet und sein Freien erneuert, so muß er vordem bereits verheirathet gewesen sein. Ferner muß aus erster Ehe die Frau des Organisten Andreas Kneller, Margarethe Maria, stammen, deren Tochter bei Reincken’s Tode bereits verheirathet war. Hätte also R. am 25. Februar 1685 zum ersten Male geheirathet, so konnte er 1720 nicht schon eine verheirathete Enkelin haben. Hieraus entsprangen auch nach Reincken’s Tode die Erbstreitigkeiten, die eine desto größere Ausdehnung erlangten, da sich der Magistrat von Hamburg durch das Vorhandensein von zwei verschiedenen Testamenten in seinem ihm von R. zugeschriebenen Vermächtniß geschmälert sah und einen Proceß anstrengte, der erst im J. 1756 durch Vergleich sein Ende erreichte. R. starb am 24. November 1722 und wurde auf seinen Wunsch in Lübeck begraben, wo er schon gegen 1707 eine Grabstelle käuflich erworben hatte. Trotz den in den Monatsheften für Musikgeschichte, Jahrg. 19. S. 27 mitgetheilten verwandtschaftlichen Verhältnissen zwischen der lübeckischen Familie Kneller und R., ist doch nicht recht zu ersehen, warum letzterer einen besonderen Werth darauf legte, nicht in Hamburg, sondern in Lübeck beerdigt zu sein. Nur muthmaßen läßt sich, daß seine Familienverhältnisse in Hamburg durch die zweite Heirath sich so unfriedlich gestalteten, daß er sogar nach seinem Tode nicht zwischen seinen Angehörigen liegen wollte, sonder lieber neben seiner 1710 in Lübeck verstorbenen Tochter. Sein hinterlassenes Vermögen muß sich auf etwa 20,000 Mark hamburg. belaufen haben, wie sich aus den beiden Testamenten ergibt.

Reincken’s Compositionen waren noch vor wenig Jahren kaum dem Namen nach bekannt und erst die jüngste Zeit hat durch eifrige Nachforschungen in öffentlichen und besonders Privatbibliotheken nicht nur mehrere Drucke und Manuscripte entdeckt, sondern sie sind auch durch einen Neudruck allgemein zugänglich gemacht. Das Hauptwerk, welches bis jetzt bekannt geworden, ist der „Hortus musicus recentibus aliquot flosculis: Sonaten, Allemanden, Couranten etc. cum 2 Violin, Viola et Basso continuo.“ Wie feindselig sich auch hier wieder Mattheson dem Autor gegenüberstellt (wahrscheinlich aus dem Grunde, weil R. verschmähte, demselben zu schmeicheln), ersieht man aus dem Schlußsatze des Titels, der nach Nennung des Componisten lautet: „Organi Hamburgensis ad D. Cathar. Celebratissimi Directore.“ Mattheson bringt nun in seiner Ehrenpforte p. 272 die Worte celebratissimi und Directore in Verbindung und stellt sie so dar, als wenn sich der Verfasser selbst das celebratissimus zulegte und ihn einer lächerlichen Anmaßung preis gibt, während sich doch das Wort auf die berühmte Orgel der Kirche St. Katharina bezieht. Da Mattheson bis vor Kurzem die einzige Quelle war, woraus man schöpfen konnte, so wurde dieser Ausspruch Mattheson’s gläubig hingenommen und R. stets als ein hochfahrender, eitler und anmaßender Charakter dargestellt. Noch Ritter in seiner 1884 erschienenen Geschichte des Orgelspiels [10] läßt sich S. 176 von Mattheson beeinflussen und seine Beurtheilung der wenigen ihm vorliegenden Compositionen Reincken’s leidet unter diesem Vorurtheil. Von diesem oben erwähnten Werke, welches nur noch in einem einzigen Exemplare bekannt ist und sich im Privatbesitze des Herrn Prof. R. Wagener in Marburg befindet, veranstaltete die Vereinigung für nordniederländische Musikgeschichte in Amsterdam im J. 1886 eine neue Ausgabe unter der Redaction des Herrn J. C. M. van Riemsdijk (Amsterdam und Leipzig bei Breitkopf & Härtel in klein Fol.). Dieser Ausgabe ist ein vortrefflich hergestelltes Porträt Reincken’s beigegeben, welches uns so offen und ehrlich ansieht, dabei einen kräftigen und geradezu schönen Mann zeigt, daß schon der Gesichtsausdruck verräth, daß es nicht ein kleinlicher und niederer Charakter gewesen sein kann, wie sich Mattheson bemüht, ihn darzustellen. Das Werk, vielleicht um 1688 auf eigenen Kosten des Verfassers erschienen, enthält sechs sogenannte Sonaten, die man später zu Bach’s Zeiten mit Suiten bezeichnete. Jede derselben besteht aus fünf selbstständigen Sätzen, die außer dem ersten Satze in dem Charakter und dem Rhythmus alter Tänze geschrieben sind, wie Allemande, Courante, Gigue, Sarabande u. a. Die Sätze unter einander haben gar keine innere oder äußere Verbindung, und die Tonart ist das einzige Band, was sie umschließt, und gerade dieses Band ist Schuld, daß uns die fünf Sätze, hintereinander gehört, ermüden, denn man kommt, geringe Ausweichungen in die Dominante abgerechnet, nicht aus dem Toncharakter der Tonart heraus. Der Componist sucht zwar eine Abwechselung durch schnelle und langsame Tactarten, durch getragene und schnelle Bewegung, durch Verwendung von Soli und Tutti zu erzeugen, doch kann dies den Hörer nicht entschädigen für das lange Verweilen in ein und derselben Tonart. Die Sätze sind für 2 Violinen, Viola da Gamba und bezifferten Baß geschrieben. Letzterer wurde auf dem Klavier ausgeführt und ihm fiel die Ausführung der Mittelstimmen zu, denn die Gambe geht meist mit dem Baß und die Violinen bewegen sich ihrem Charakter gemäß mehr in den höheren Tonlagen. Die Erfindung und Bearbeitung der Themen, die fast durchweg fugenartig behandelt sind, besonders in dem ersten Sonatensatze, erinnern lebhaft an Sebastian Bach; man kann sogar Stellen nachweisen, wie die auf Seite 9 und 11 der neuen Ausgabe, die geradezu im Bach wieder vorkommen, als wenn sie abgeschrieben wären. Der Charakter, die Freiheit der Bewegungen und die kraftvollen Rhythmen erinnern wieder an die Händel’sche Art, und Schritt für Schritt erkennt man den unmittelbaren Vorläufer der beiden Heroen in der Tonkunst. Wenn Herr Riemsdijk in seiner Biographie Reincken’s in der Tijdschrift der Vereeniging voor Noord-Nederlands Muzickgeschiedenis. Deel II. p. 61 ff. sagt, Sebastian Bach habe von R., obgleich er ihn zweimal in Hamburg aufgesucht habe, nichts in sich aufgenommen, so ist dies ein großer Irrthum, der wol nur aus Unkenntniß der Bach’schen Werke entspringen kann. Während der erste und letzte Satz jeder Suite, wie man sie nennen muß, denn die Bezeichnung Sonate bezieht sich nur auf den ersten Satz, fugenartig auf ein Thema gebaut sind, weisen die übrigen Sätze die zweitheilige Form auf, mit den Wiederholungszeichen in der Mitte und am Ende. Der erste Theil jedes Satzes der letzteren Art schließt stets auf der Dominante, und ist die Erfindung eine ungebundene und der Satz spinnt sich in leichten Imitationen ab. Man erwarte aber nicht ein periodisch aufgebautes Kunstwerk, gegliedert in Vorder- und Nachsatz, verbunden mit einer Steigerung und Senkung, wie man ihn etwa um 1750 findet, soweit war die damalige Zeit noch nicht. Ihr Suchen nach dem musikalischen Ausdruck erinnert noch vielfach an das 16. Jahrhundert, nur waren die Stimmen lebhafter geworden. Kein charakteristisches Motiv fesselt uns, noch weniger findet man eine melodische Entwicklung [11] aus einem Motiv heraus. Es ist ein leichtes contrapunktisches Gewebe in angenehmer Bewegung und melodischen Schritten, nur unterbrochen durch die beiden Schlüsse am ersten und zweiten Theil. Nur hin und wieder leuchtet es auf, wie Ahnungen aus künftiger Zeit. So z. B. die Sarabanda 4ta, pag. 16 der neuen Partitur. Sie ist so natürlich erfunden, baut sich aus dem Hauptmotiv so periodisch auf, wie ein Menuett aus dem 18. Jahrhundert. Doch solche Sätze sind selten, sie folgen wie instinctiv dem Genie des Autors, der sich selbst nicht Rechenschaft zu geben weiß, wie er dazu gekommen ist. – Außer dem Hortus musicus liegt noch im Neudruck eine Partite vor, von demselben Vereine in Amsterdam 1887 herausgegeben. Es sind Variationen über eine „Aria“: Schweiget mir von Weiber nehmen, genannt „La Meyerin“. Die Liedcomponisten fanden den richtigen Weg zum periodischen Aufbau einer Melodie so leicht, und schon Lieder aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, ja sogar schon aus dem Ende des 15. Jahrhunderts zeigen dieselbe Form, wie sie heute noch das Volkslied besitzt und dessen Form schließlich zur Grundform jeder Composition geworden ist. Die Variationen von R., 18 an der Zahl, zeichnen sich nicht durch interessante Umformung der Melodie aus, und wenn er auch bemüht ist, durch wechselnde Motive und verschiedene Tactarten das Interesse wach zu erhalten, so ist doch der Eindruck ein matter. Nur die 16. Variation ist hübsch erfunden und gibt die Melodie in einer neuen und ansprechend melodischen Weise wieder. Ferner werden von Ritter und Riemsdijk in den oben erwähnten Werken eine Toccata und zwei Choralbearbeitungen erwähnt, die ich leider nicht kenne. Ritter kann sich für keine der drei Arbeiten erwärmen, während Riemsdijk die Choralbearbeitung über das Lied „Was kann uns kommen an für Noth“ als eine interessante und gut erfundene bezeichnet, wovon er auch ein Bruchstück (S. 77) mittheilt. Auch von der Toccata theilt er das Hauptmotiv mit, welches jene charakteristische Lebendigkeit besitzt, die uns bei Bach so oft electrisirt. So haben wir in R. neben Buxtehude ein zweites Mittelglied gefunden, welches dem großen Bach die Wege vorbereitet und geebnet hat. Nur so war es möglich, daß sich Letzterer zu der staunenswerthen Höhe erheben konnte.