ADB:Rhau, Georg
Rhaw: Georg R. (Rhau), ein vielseitig verdienter Mann, der sich durch seine praktische Wirksamkeit einen unvergänglichen Namen erworben hat. Er war aus dem Städtchen Eisfeld an der Werra im „Fürstenthum Coburg“ gebürtig, und zwar muß er 1488 das Licht der Welt erblickt haben; denn in der neuen Auflage seiner „Erklärung der Artikel unsers christlichen Glaubens“, 1563 von den Erben herausgegeben, liest man unter seinem Portrait die Verse:
„Also war ich Georg Rhaw gestalt,
Da ich nun sechzig jar war alt,
Und nam darnach gar bald ein End,
Befahl mein Geist in Gottes hend.“
Anno M.D.XLVIII.
Diese Verse finden sich auch in lateinischer Sprache abgedruckt in den „Epitaphia Rhauorum, composita per Joan. Reuschium.“ Vitebergae 1550. Dort ist auch der Todestag Rhaw’s mit dem 6. August 1548 „aetatis suae 60“ angezeigt. In dem Matrikelbuche der Universität zu Leipzig ist er 1518 bereits als Baccalaureus der Philosophie unter dem Namen „B. Georgius Rauch de eßwelth“ eingetragen, und 1519 muß er Cantor an der Thomasschule daselbst gewesen sein, denn in der „Isagoge de compositione cantus“ von Galliculus, gedruckt 1520, schreibt Letzterer im 1. Capitel: „Non enim plerisque ignotum est, Georgium Rhav cantorem Lypsicum, hominem mihi familiaritate junctissimum, quaedam (l. quondam) in divi Thomae aede, circumstante maxima hominum turba, sacrificium duodecim vocum harmoneis conflatum, depromisisse“.
Man nimmt allgemein an, daß damit die Disputation zwischen Luther und Eck (27. Juni bis 16. Juli 1519) gemeint sei, welche durch eine solenne Musikaufführung eingeleitet wurde, fügt dem aber noch hinzu, daß die zwölfstimmige Messe von der Composition Rhau’s gewesen sei. Dies Letztere läßt sich schwer aufrecht erhalten; denn die obige Bezeichnung „conflatum“ kann man doch nicht mit „componiren“ übersetzten; auch hat sich R. nie mit größeren Compositionen beschäftigt. Einige Beispiele in theoretischen Werken abgerechnet, läßt sich weder im Druck, noch im Manuscript irgend eine Composition von ihm nachweisen, trotzdem er als späterer Notendrucker und Verleger die beste Gelegenheit hatte, seine Werke zu veröffentlichen, wie es z. B. seine Fach- und Zeitgenossen Antonio Gardano in Venedig, Tylmann Susato in Antwerpen und Andere gethan haben. Schon im J. 1520 finden wir R. als Schulmeister in Eisleben angestellt, denn sein Freund Christoph Hegendorf nennt ihn in der Zuschrift seines „Libellus de Syntaxi Latinorum“ vom J. 1520 einen „Ludimagistrum Eyslebium“. In dem Schulprogramm der Leipziger Thomasschule vom J. 1817 befindet sich eine litterarische Arbeit vom Rector Fr. Wilh. Ehrenfried Rost (Leipzig bei Wilh. Staritz in 4°), deren 60 Seiten langer [373] Umfang größtentheils Georg R. gewidmet ist; hier wird als Grund des schnellen Verlassens der angesehenen Stellung eines Cantors an der Thomasschule der Einfluß religiöser Sinnesänderung angenommen, die sich während der Anwesenheit Luther’s in Leipzig vollzogen hatte, indem er sich dermaßen für die neue Lehre begeisterte, daß es ihm nicht mehr möglich war, der alten Kirche mit voller Hingebung zu dienen. Auch spricht dafür der Umstand, daß er wenige Jahre darauf nach Wittenberg übersiedelte und Aufnahme bei seinem Bruder Johann, welcher daselbst Stadtdiaconus war, fand. Hier ertheilte er anfänglich Unterricht in der Musik und schrieb über musikalische, arithmetische, theologische und pädagogische Gegenstände, bis er im J. 1525 eine Buchdruckerei daselbst gründete, die er in segensreichem Wirken bis zu seinem Ende fortführte. In dem oben erwähnten Programm von Rost befindet sich S. 49–60 ein nach den Jahren geordnetes Verzeichniß seiner Drucke, die von 1525 bis 1546 aus seiner Officin hervorgingen; doch fehlen dabei größtentheils die Musikdrucke, die uns hier vorzüglich beschäftigen sollen und auch allein seinen Namen bis in die Neuzeit getragen haben. Ueber Rhau’s Leben selbst ist noch nachzutragen, daß er zweimal verheirathet war. Seine erste Frau, Anna, starb 30 Jahr alt am 23. März 1534. Ueber seine zweite Verheirathung ist zwar nichts Näheres bekannt, doch wird in der Leichenpredigt auf Rhau’s Tochter Margarethe, vom J. 1557, der noch lebenden Wittwe Rhau’s Erwähnung gethan. – Das Jahr 1547 war für R. ein Jahr großer Trauer, denn es starben ihm, wie aus den bereits erwähnten „Epitaphia Rhauorum“ ersichtlich ist, am 5. Februar sein Bruder Johann R., Quästor an der Schule zu Wittenberg, 56 Jahr alt, am 6. Juli sein Sohn Georg, 22 Jahre alt (im Matrikelbuch der Universität Wittenberg ist S. 157 ein Georgius Rahu wittenbergensis 1535 eingetragen, welches kein anderer als der Obige sein kann) und am 27. August sein Sohn Johann, 9 Jahre alt. Er selbst überlebte sie nur um ein Jahr und starb, wie schon erwähnt, am 6. August 1548. Die von ihm vorhandenen Porträts zeigen ein gemüthvolles biederes Gesicht mit langem Bart und vollem Haupthaar. Die Epitaphia enthalten übrigens zwei verschiedene Porträts von ihm, das eine mit Bart und das andere ohne Bart. Rost druckt S. 45 fünf Briefe Rhau’s ab, die sich handschriftlich auf der Zwickauer Rathsschulbibliothek befinden. Sie enthalten nichts Bemerkenswerthes.
Als R. noch Baccalaureus in Leipzig war, schrieb er eine kleine musiktheoretische Abhandlung, welcher zwei Jahre später eine andere folgte; sie erwarben sich durch ihre Kürze und Einfachheit eine so allgemeine Anerkennung, daß sie beide unzählige Auflagen erlebten. Die erste ist betitelt: „Enchiridion musices ex variis musicorum libris depromptum rudibus hujus artis Tyronib. saneque frugiferum.“ Am Ende: Lipsiae ex aedibus Valentini Schumann Anno 1518. In 12°. In der Ausgabe von 1520 ist die Isagoge von Galliculus angehängt. Die von 1531, die in eigenem Verlage erschien, ist zum Theil umgearbeitet. Weitere Auflagen lassen sich bis zum Jahre 1553 verfolgen (s. Monatshefte für Musikgeschichte X, 124). Das zweite kleine theoretische Werk, betitelt: „Enchiridion musicae mensurabilis: μουσικὴν ἐρως διδάσκει“, erschien im J. 1520 ebenfalls bei Schumann in Leipzig, später bei R. in Wittenberg und erlebte bis 1546 ebenso zahlreiche Auflagen. Der starke Verbrauch an solchen theoretischen Werken darf uns nicht in Verwunderung setzen; denn in den damaligen lateinischen Schulen, Klosterschulen und Cantoraten wurde die Musik als Wissenschaft gelehrt, und dienten daher solche Abhandlungen den Schülern als Leitfaden. Werthvoller als diese Schulbücher sind die von Rhau selbständig veranstalteten und herausgegebenen Musiksammelwerke, die er nicht nur der Kunst halber veröffentlichte, sondern auch um dem evangelischen Gottesdienste [374] auf Grundlage der lutherischen Lehre eine reiche und gediegene Auswahl angemessener Kunstgesänge zu verschaffen. Diese Sammelwerke, von denen wir vom Jahre 1538 bis 1545 zehn große Sammlungen besitzen (s. die Bibliographie der Musiksammelwerke des 16. und 17. Jahrhunderts vom Unterzeichneten) erhalten noch einen ganz besonderen Werth durch die Aufnahme von Compositionen unserer größten deutschen Meister aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, von denen wir außer in den Rhau’schen Sammelwerken nur sehr wenig besitzen. So enthalten die 1542 erschienenen Sacrorum Hymnorum ll. 22 Compositionen von Heinrich Finck und 39 von Thomas Stoltzer. Besonders um die Erhaltung der Compositionen des Letzteren hat er sich ein vornehmliches Verdienst erworben; denn während in anderen Sammelwerken dieser Zeit nur 25 Compositionen von ihm sich finden, hat R. im Ganzen 63 veröffentlicht, die uns erst die Möglichkeit gewähren, Stoltzer nach allen Seiten hin kennen und schätzen zu lernen. Doch noch mancher andere Componist ist durch ihn der Nachwelt erhalten, so Balthasar Resinarius, die Gesänge Galliculus’, Simon Cellarius’, mancher Gesang von Sixt Dietrich u. A. Besonders werthvoll aber ist das Sammelwerk „Newe Deudsche Geistliche Gesenge 123. Mit 4 und 5 Stimmen für die gemeinen Schulen“, werthvoll sowol wegen der Kirchenmelodieen, die es enthält, als der kunstvollen Bearbeitung der damals bedeutendsten Meister, wie Arnold von Bruck, Ludwig Senfl, Stephan Mahu u. A. v. Winterfeld widmet diesem Werke einen breiten Raum in seinem evangelischen Kirchengesange I, 187 f. Auch für das deutsche Volkslied war er durch die Veröffentlichung seiner Bicinia von 1545 thätig, und manches alte Lied ist uns hier noch aufbewahrt. In wie hoher Achtung R. im ganzen deutschen Lande stand, ist recht aus der Vorrede Martin Agricola’s zu seiner 1545 erschienen „Musica instrumentalis deudsch“ ersichtlich (abgedruckt in Monatshefte für Musikgesch. XX, 120), wo Agricola am Ende sagt: „Welche Musicam instrumentalem ich euch als meinem günstigen lieben Herrn und sonderlichen guten Freunde und Förderer allhier zuschicke, als einem der nicht ein geringer Mithelfer ist in dem, daß die edele Frau Musica mit aller Zugehörung ganz klar verständlich und fein geschmückt hervor an den Tag kommt … und euch aufs freundlichst bitten … mich, wo es von Nöthen sein würde, vor den Verächtern … gleichsam ein trefflicher Starker mit solcher Kunst Gewappneter beschützen und verteidigen helfen.“