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ADB:Rheticus, Georg Joachim (2. Artikel)

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Artikel „Rheticus, Georg Joachim“ von Siegmund Günther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 388–390, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rheticus,_Georg_Joachim_(2._Artikel)&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 07:20 Uhr UTC)
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Rheticus: Georg Joachim R.[WS 1], Astronom, geb. am 16. Februar 1514 zu Feldkirch, † am 4. December 1566 zu Kaschau in Oberungarn. Der Name Rheticus oder Rhaeticus ist die damals übliche Latinisirung des Geburtslandes Vorarlberg (Rhätien); wie der Familienname gelautet, ist nicht sicher, doch hat Hipler’s Vermuthung viel für sich, daß er, da er sich in die Universitätsmatrikel als „G. J. de porris“ eintrug, eigentlich von Lauchen geheißen habe. Er erhielt seine erste Schulbildung zu Zürich unter dem trefflichen Myconius, den wir aus Th. Platers’s Selbstbiographie genau kennen, und der als einer der ersten auch die Anfangsgründe der Mathematik in den gelehrten Unterricht eingeführt zu haben scheint. Von Zürich ging R. als noch sehr jugendlicher Student nach Wittenberg, wo sein Landsmann Joh. Volmar Mathematik docirte, dort wurde er 1535 Magister und besuchte als solcher Tübingen und Nürnberg, an welch’ letzterem Orte er mit Schoener nähere Beziehungen anknüpfte. Mittlerweile war Volmar gestorben, und sein erst 22 Jahre zählender Schüler sah sich als Professor der Mathematik nach Wittenberg zurückberufen, doch wurde dieser Lehrstuhl nicht mehr mit Einer Person besetzt, sondern man machte auf Melanchthon’s Antrag den Beginn mit jener Zweitheilung, deren wir bereits bei Erasm. Rheinhold (s. o. S. 77) gedachten. Unser R. hatte Arithmetik und Geometrie zu lehren; am 5. Januar 1537 wurde er von dem „Praeceptor Germaniae“ feierlich in sein Amt eingeführt und trat dasselbe mit einer – übrigens nicht eben bedeutenden – Rede über das Wesen der Arithmetik an. Außerdem bereitete er damals schon den Abriß der Kirchenrechnung von Sacrobosco zu erneuter Ausgabe vor, welche nachher Reinhold besorgte.

Zunächst sollte jedoch R. in Wittenberg nicht lange verweilen. Er wußte, daß im fernen Preußen ein weiser Mann in stiller Einsamkeit an einem Werke arbeite, durch welches die gesammten Anschauungen vom Weltgebäude eine grundstürzende Reform erfahren sollten; diesen Mann persönlich kennen zu lernen, von ihm selbst in die Geheimnisse der neuen Weltordnung eingeführt zu werden, erschien ihm allzu lockend, und so bewog ihn denn, wie er selbst sich ausdrückt, die „fama de Coppernici admirandis hypothesibus percrebrescens“, im Frühjahr 1539 die Reise nach Frauenburg anzutreten, anscheinend mit Einwilligung der ihm seine Stelle offen haltenden Facultät. Auf dieser Reise berührte er Posen und schrieb von da einen Brief an Freund Schoener in Nürnberg mit dem nachmals so glänzend eingelösten Versprechen, bald ausführlicheres über Coppernicus und seine Lehre mittheilen zu wollen. Coppernicus nahm den jungen Adepten liebenswürdig auf, und so vollkommen sah derselbe sein Verlangen erfüllt, daß sein zuerst nur auf Wochen bemessener Aufenthalt sich auf mehr denn zwei Jahre ausdehnte; er wohnte in Frauenburg, begleitete den greisen Lehrer auf dessen Reise und ward so der begeisterte Verkünder der heliocentrischen Kosmologie. Es ist auffallend, daß man in dem damals von dem fanatischen Dantiscus regierten Ermland dem intimen Verkehr eines Domherrn mit einem jungen Lutheraner keine Hindernisse in den Weg legte, allein aus Rheticus’ späteren Aeußerungen läßt sich in der That nicht der Schluß ziehen, daß dergleichen versucht worden sei. Zehn Wochen eifrigen Studiums reichten für R. hin, um die versprochene: „Narratio prima de libris revolutionum“ vom Stapel lassen zu können, die nun freilich kein einfaches Sendschreiben mehr darstellte, sondern als Buch Ende 1539 zu Danzig gedruckt wurde und der Gelehrtenwelt die erste authentische Kunde vom coppernicanischen System vermittelte. Coppernicus’ Freund, der Kulmer Bischof Giese, schickte das Werkchen an den Herzog Albrecht in Königsberg, der dem jungen Gelehrten eine „fürstliche Vererung“ reichen ließ und ihn auch in seine Hauptstadt eingeladen zu haben scheint. Jedenfalls [389] war der Herzog unserm R. andauernd wohlgesinnt, denn noch unterm 1. September 1541 erging aus seiner Kanzlei ein Schreiben an den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich, derselbe möge seinem Professor noch längeren Urlaub ohne Gehaltsverkürzung bewilligen. R. wandte seine Zeit, während er an den Ufern der Ostsee lebte, auch noch auf andere Art nützlich an; topographische Studien Coppernicus’ zu Grunde legend, vermaß er die preußischen Lande nach einer in einer besonderen Abhandlung auseinandergesetzten Methode und dedicirte dem Herzoge nicht nur diese „Chorographia“ sondern auch eine „Tabula chorographica auf Preußen und etliche umbliegende lender“ sammt einem Instrumente (Astrolabium) zur Bestimmung der Tageslängen nach der Polhöhe. Was nun den Inhalt der „Prima narratio“ anlangt, welcher die in Aussicht genommenen „altera“ um deswillen nicht nachfolgte, weil an deren Stelle das Hauptwerk selbst treten konnte, so beginnt dieselbe mit einer Zueignungsepistel an Schoener, worin Coppernicus neben Ptolemäus und Regiomontan oder eigentlich noch über letzteren gestellt wird; dann folgt eine kurze Lebensbeschreibung des Meisters, und nunmehr werden die wichtigsten Momente des Systems in guter Charakteristik vorgeführt. Angehängt ist das „Encomium Borussiae“; R. hatte bei seinen Reisen und Vermessungsarbeiten mit Land und Leuten genaue Bekanntschaft gemacht und verwerthete diese im genannten Anhange, dessen Wesen der berufenste Kenner, L. Prowe, mit folgenden Worten kennzeichnet: „Es war das eine im Geiste des Humanistengeschlechtes von R. entworfene Schilderung seines gegenwärtigen Schutzlandes, dessen Schönheiten er mit etwas stark aufgetragenen Farben malt.“

Gegen Ende 1541 hatte Coppernicus endlich das Originalmanuscript der „Revolutiones“ zum Abschlusse gebracht, und R. eilte damit zum Druck. Als Druckort erschien Nürnberg am geeignetsten, dort konnte Joh. Petrejus seine berühmte Officin zur Verfügung stellen, dort konnten Schoener und Osiander – welch’ letzterer freilich das in ihn gesetzte Vertrauen schnöde täuschen sollte – den Druck überwachen. R. reiste deshalb selbst nach Nürnberg, traf die erforderlichen Einleitungen und corrigirte auch selbst die ersten Bogen, die sich durch Druckfehlermangel sehr vortheilhaft vor den übrigen auszeichnen. Während dieser Zeit ließ er bei Petrejus folgende Schriften erscheinen: „Orationes duae, prima de astronomia et geographia, altera de physica, habita Vitebergae a Joachimo Rhetico, Professore mathematum“. Den damals gehegten Plan, die von Regiomontan im griechischen Urtexte nach Nürnberg gebrachten und noch heute zu den Kimelien der dortigen Stadtbibliothek gezählten xωυιxά des Apollonius herauszugeben, hat R. leider nicht ausgeführt.

Von dieser Reise ist R. nicht mehr zu Coppernicus zurückgekehrt, dessen Bibliothek er vor seinem Abgange noch durch mehrere werthvolle Bücherschenkungen bereichert hatte; man weiß, daß der große Mann in der Stunde verschied, da man ihm das erste fertige Exemplar seines Werkes aufs Krankenbett legte. R. selbst kehrte nach Wittenberg zurück und nahm seine Vorlesungen wieder auf, doch ist er anscheinend nicht mehr recht warm daselbst geworden, vielleicht deshalb, weil der engherzig geocentrische Gesichtskreis der dortigen Theologen eine Störung seiner Zirkel nicht vertragen konnte. So wurde R. 1542 Professor der Mathematik in Leipzig und wandte sich der zweiten Hauptaufgabe seines Lebens zu. Das Fundament der verbesserten Astronomie war gelegt; nun galt es, die mathematischen Hülfsmittel für den weiteren Ausbau des Gebäudes zu beschaffen, und hierzu war vor allem die Ausbildung des trigonometrischen Kalküls und der trigonometrischen Tafeln nothwendig. R. edirte seines Lehrers gehaltvolle Schrift: „De lateribus et angulis triangulorum libellus“ – und begann mit Feuereifer die Berechnung eines Kanons, welcher Sinus – dieses Kunstwort verwarf [390] übrigens R. als „barbarisch“ –, Tangens und Sekans von 10 zu 10 Bogensecunden für den Sinus totus 100 000 000 enthalten sollte. Kaiser Maximilian II. und einige ungarische Patrone der Wissenschaft versahen R. hinreichend mit Mitteln, um stets ein paar Rechner unterhalten zu können, und so rückte denn das Riesenwerk wirklich nach und nach seiner Vollendung entgegen. Die Rechnung war äußerst schwierig, da jene algebraischen Vortheile, durch welche Bürgi bald nachher erhebliche Vereinfachungen herbeiführte, damals noch nicht zu Gebote standen.

Auch in Leipzig war R. nicht seßhaft, er verlebte vielmehr die letzten zwanzig Jahre seines Lebens, wie so mancher Gelehrte jener Tage, großentheils auf Reisen, hauptsächlich mit der Absicht, seinem Unternehmen neue Gönner zu erwerben, alte zu erhalten. Um 1575 geschah es, daß zu ihm, der sich damals in den Karpathen aufhielt, ein junger Mann, Namens Otho, kam, der lediglich durch den Wunsch getrieben wurde, bei dem berühmten R. lernen zu können; gerührt empfing ihn derselbe mit den Worten, daß sich da seine Jugendgeschichte von neuem wiederholen solle. Otho blieb zunächst bei R. und machte in seinem Auftrage kleine litterarische Reisen. Während einer solchen erhielt R. eine Einladung von dem Baron Rauber in Kaschau und er folgte derselben auch, obschon er sich eben erst durch Schlafen in einem frisch getünchten Zimmer ein Unwohlsein zugezogen hatte. Dort in Kaschau ging sein „Katarrhus“ rasch in eine tödtliche Lungenentzündung über, und er starb, nachdem er sein Werk in Otho’s Hände gelegt hatte. Als dieser von Krakau zurückkam, wurden ihm denn auch auf Anordnung des Kaisers alle Manuscripte anvertraut, und Otho gab das „Opus Palatinum de triangulis“ 1596 zu Neustadt a. H. heraus. Mit dem sonstigen Nachlaß scheint dagegen nicht sehr glimpflich umgegangen worden zu sein. Denn nach des Polen Casicius Zeugniß sollen sich darunter ein Buch „De nova philosophica natura rerum, ex sola naturae contemplatione“ und sieben Bücher von der Chemie befunden haben, was alles spurlos verschwunden ist. Doch beweisen diese Titel noch mehr, daß R. ein Mann von ausgebreitetster Gelehrsamkeit war, von dem es umsomehr auffallen muß, daß er bis an sein Ende ein überzeugter Anhänger der Astrologie geblieben ist.

Prowe, Nicolaus Coppernicus, 1. Bd., Berlin 1883, 1. Th. S. 284. 2. Th. S. 301, 389 ff., 406, 426 ff., 513 ff. – R. Wolf, Geschichte der Astronomie, München 1877, S. 209 ff., 236 ff., 242 ff., 296, 343 ff. – Kästner, Geschichte der Mathematik, 1. Bd., Göttingen 1796, S. 561 ff., 590 ff.; 2. Bd., Göttingen 1797, S. 368. – Beyträge zur Geschichte der Cultur, der Wissenschaften, Künste und Gewerbe in Sachsen, Dresden 1813. – Die Chorographie des Joachim Rheticus, aus dem Autographon des Verf. mit einer Einleitung herausgegeben von Hipler, Zeitschr. f. Math. u. Phys., 21. Bd., hist.-litter. Abtheilung, S. 125 ff.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Über diese Person existiert in Band 14 ein weiterer Artikel.