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ADB:Scherr, Johannes

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Artikel „Scherr, Johannes“ von Jacob Achilles Mähly in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 31 (1890), S. 125–130, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Scherr,_Johannes&oldid=- (Version vom 14. Dezember 2024, 19:41 Uhr UTC)
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Scherr: Johannes S., einer der gediegensten, vielseitigsten Kenner der Litteratur- und Kulturgeschichte und ein ebenso fruchtbarer als sprachgewandter und geistvoller Schriftsteller, dessen Leben und Wirken in gleichem Maße der Schweiz wie Deutschland angehört, ist geboren am 3. October 1817, als das zehnte Kind eines Schulmeisters zu Hohenrechberg in der Nähe der alten schwäbischen Reichsstadt Gmünd. Der Vater war ein nicht unbegabter Mann, größeren Einfluß jedoch auf Geist und Gemüth des Knaben gewann die vortreffliche Mutter; der Sohn hat ihr Zeitlebens mit innigster Pietät und Liebe heimgezahlt. Nach ihrem Wunsch hätte S. Theologie studieren sollen! Das Schicksal – vielleicht in der Gestalt des älteren Bruders Thomas – hat es anders, wahrscheinlich besser gefügt. Der genannte Bruder nämlich, Lehrer an der Blinden- und Taubstummenanstalt in Zürich, schon damals als Pädagog weit bekannt, zog den jüngeren Johannes nach sich und scheint ihn, wenn schon Johannes ihn „den Beschützer seiner Jugend“ nennt, streng gehalten zu haben. Scherr’s Jugend war, wohl zu seinem Heile, nicht auf Rosen gebettet. Unbekannt ist, wann und wie lange er zu Ehingen (an der Donau) auf der Schule war, sicher aber, daß er dort Hunger und anderes zu leiden hatte. Von 1837–40 hielt er sich als Student in Tübingen auf und beschäftigte sich dort mit philologischen und geschichtlichen Studien. Für seine Anlage und Richtung war Tübingen der geeignete Ort, die freie Forschung – man denke an Baur und dessen Schüler, einen Schwegler, Strauß, Zeller, Vischer – dort in voller Blüthe. Von Bruder Thomas, der in Winterthur eine Privatanstalt gegründet hatte, eben dorthin als Lehrer für Litteratur und Geschichte berufen, wurde Johannes auch schriftstellerisch dessen Mitarbeiter an dem Buche „Gemeinfaßliche Geschichte der religiösen und politischen Ideen“ (1840), welches Johannes später selbständig zu seiner 1855 erschienenen „Geschichte der Religionen“ umgearbeitet und vertieft hat. Im J. 1843 zog er nach Stuttgart und gründete dort mit der schönen und geistreichen Susette Kübler, die er in der Schweiz kennen gelernt hatte, einen eigenen Hausstand. Aber bald kehrte auch die Sorge ein. Auch die junge Frau sah sich, um des lieben Brotes willen, genöthigt, zur Feder zu greifen; sie schrieb für die Hausfrauenwelt; mit welchem Erfolge, ist bekannt. Später hat sie ihrem Mann durch ihre Kenntniß der modernen Sprachen treffliche Dienste geleistet, besonders als er an seinem „Bildersaale der Weltlitteratur“ und der „Allgemeinen Geschichte der Litteratur“ arbeitete. Die Ehe war eine überaus glückliche. Als Susette am 4. Februar 1873 starb, wollte dem starken Manne das Herz brechen. Damals hat er, zum ersten Mal wieder nach 24 langen Jahren, aber auch zum letzten Mal, den deutschen Boden betreten. Nicht minder glücklich war seine zweite, 1874 geschlossene Ehe, gleichfalls mit einer Schweizerin, Marie Lüthy. S. durfte von Herzen in das „hohe Lied vom Weibe“ einstimmen.

In Stuttgart wirkten bald, neben den litterarischen, auch politische Impulse auf S. Er wurde, nachdem er in seiner Schrift: „Württemberg im Jahre 1843[1]“ der Regierung den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, zum Mitglied der Abgeordnetenkammer erwählt und hat als solches den politischen Reactionär D. F. Strauß aus der Kammer herausgedonnert. Im Winter 1849–1850 hielt er zündende Reden für Deutschlands Einheit und Größe; sein Auftreten in einer von ihm veranstalteten Volksversammlung in Reutlingen gab den directen Anlaß zu seiner Verfolgung. Mit genauer Noth entkam er über den Bodensee auf Schweizerboden. Der in contumaciam gefällte Urtheilsspruch lautete auf 15 Jahre Zuchthaus! S. siedelte sich wieder in Zürich an. Die Freiheitsnoth war zwar vorüber, aber die Finanznoth begann. Durch das Falliment zweier seiner Verleger kam er um sein sauer erschriebenes Vermögen! Familienrücksichten riefen [126] ihn nach Winterthur, und er lebte hier volle acht Jahre seinen litterarischen Arbeiten; Lasten und Kosten des Haushalts suchte er durch Aufnahme von Pensionären zu erleichtern. Im J. 1860 erhielt er den Ruf als Professor der Geschichte und Litteratur an das Polytechnikum in Zürich, und jetzt nahmen die Tage seiner ökonomischen Wohlfahrt ihren Anfang. S. war schon 1849–52 durch Vorlesungen an der Hochschule daselbst vortheilhaft bekannt geworden; jetzt stieg sein Ruhm von Jahr zu Jahr, sein Productionsdrang steigerte sich, Buch um Buch floß aus seiner Feder, und sind sie auch nicht alle gleich gediegen – der Tadel der Langeweile klebt sicherlich keinem an. Die meisten haben wiederholte Auflagen erlebt.

Scherr’s belletristische Thätigkeit ist von seiner wissenschaftlichen (so weit diese durch den Druck bekannt wurde, die mündliche, akademische hatte ihn bald zu einem der beliebtesten Docenten gemacht) nicht leicht zu scheiden, weil er es wie kein zweiter verstanden hat, seiner Darstellung die Würze des Unterhaltenden beizumischen. Vor keiner Aufgabe ist dieser universelle Geist zurückgeschreckt, und was er auch erfaßte, trägt sein Gepräge. Auch als Novellist hat er zeitweise Vorzügliches geleistet. In erster Linie ist hier zu nennen: „Rosi Zurflüh, eine Geschichte aus den Alpen“ (1860) und der zeitgeschichtliche Roman „Michel“ (1858. 2 Bde.); seine jugendlichen Dichterwerke „Laute und leise Lieder“ und „Hans im Dampf“ (ein unvollendetes komisches Epos) sind nur wenigen bekannt geworden. Den gelegentlich eingestreuten poetischen Versuchen fehlt es weder an Witz noch an Lauge, eher an Grazie und am leichten, melodischen Fluß.

Von Scherr’s Privatleben ist nicht viel zu vermelden, besonders seit dem Tode seiner ersten Frau und dem seines intimen Freundes Pompeius Bolley (des bekannten Chemikers und Rectors des Polytechnikums). Der früher so fröhliche, unterhaltende Gesellschafter zog sich in die Stille seines Studirzimmers zurück, was auch um seinetwillen zu bedauern war, da es seiner hypochondrischen Anlage Nahrung gab. Sonst war S. eine robuste Natur. In den letzten Jahren jedoch erlitt seine durch regelmäßigste Lebensweise und alljährliche Erholungskuren (vorzugzweise in Ragaz) trotz angestrengtester Geistesarbeit kräftig gebliebene Gesundheit harte Stöße. Nach einem langjährigen, schmerzhaften Ohrenleiden stellte sich urplötzlich eine Rippenfellentzündung ein und brachte unsägliche Schmerzen. Mehr und mehr ward es zur Gewißheit, daß er sich nicht mehr, oder dann nur noch zu längerem Hinsiechen erheben werde. Es wurde der Kampf einer eisernen Natur gegen den unerbittlich nahenden Tod. Der Geist blieb trotz schwindender Körperkräfte licht und stark und behielt bis zum letzten Tage sein Interesse für alles, was auf der weiten Weltbühne und im eigenen engen Hause vorging. Am Vormittag des 21. November 1886, nachdem er sich eben noch ein wenig Toilette hatte machen lassen, machte ein Herzschlag seinem Leben und Leiden ein Ende. – Bei bedeutenden Männern erregt auch das Körperliche und Vergängliche unser Interesse, und so mag hier erwähnt sein, daß S. auf einem Auge völlig blind war (infolge eines Unfalls aus frühster Jugendzeit) und das Mechanische seiner großartigen Lebensaufgabe, Lesen und Schreiben, nur mit dem einen, gesunden Auge besorgen mußte.

Das Wesen eines Mannes wie Scherr hat, gerade weil er nicht auf der Straße des Herkömmlichen, sondern seine eigenen Wege gegangen ist, verschiedene Urtheile erfahren müssen. Auch für seine Bewunderer hält es schwer, zu entscheiden, wo eigentlich seine Hauptstärke liege, ob im Charakter, ob im Talent, ob im Wissen und Können. Aber S. ist auch vielfach angegriffen, ja verketzert worden; seine rücksichtslose, herbe Wahrheitsliebe hat ihm Feinde und Neider geschaffen, übrigens das Loos, aber auch das Zeichen überlegener Geister. Vor allem hat man an seiner Originalität gemäkelt und sie als „unecht“ kennzeichnen wollen, als Maske, [127] womit der Schriftsteller gesucht habe zu imponiren! Wir aber möchten den Künstler kennen, dem es gelänge, eine solche Maske herzustellen; unsere höchste Bewunderung soll ihm nicht fehlen! Nein, die Kunst steht diesseits einer Grenze still, was darüber ist, gehört zum Bereich des Genies. Daß S. manchmal auch da originell ist und sein will, wo es weder nöthig, noch passend ist, soll darum nicht geleugnet werden. Er hat als Schriftsteller, dem alle Farben der Darstellung, alle Mittel der Stilkunst, alle Waffen der sprachlichen Rüstkammer zu Gebote standen, wie kaum einem, zu Gegenständen gegriffen, die lediglich durch die Virtuosität der formellen Behandlung zu etwelcher Bedeutung konnten erhoben werden, aber nach solchen buntfarbigen, bald verpuffenden Leuchtkugeln, die der Geist in müßigen Augenblicken, gleichsam mit sich selber tändelnd und spielend, aufsteigen läßt, darf ein Schriftsteller wie S. nicht beurtheilt werden; sie sind, wenn man will, höchstens Arabesken oder Grotesken am Monumentalbau. Solcher Monumente aber hat S. sich selber mehr als eines errichtet, wir nennen beispielsweise bloß zwei: sein Geschichtswerk über den „deutschen Krieg“ (der Jahre 1870–1871) und seine Schillerbiographie, Werke von so tadelloser Formschönheit und innerer Gediegenheit, wie sie in deutscher Prosa noch selten geschaffen worden sind; er hat besonders im ersten Werke über den Ansturm seiner eigenen Subjectivität einen glorreichen Sieg errungen, ohne deswegen sich zu jener „kühlen“ Objectivität hindurchzuringen, durch deren Adern Eiswasser statt des Blutes rollt. Diese hat er nie anerkannt, principiell nicht, und ist seinem Princip zeitlebens treu geblieben. Im übrigen ist bei ihm mancher Wandel in den Ansichten wahrnehmbar, wie bei jedem normalen Menschen, der seine Entwicklung durchmacht: der Kern seines Wesens ist dadurch nicht geändert worden; das Schandwort Renegat und Apostat paßt auf keinen weniger als auf S., dessen Aufrichtigkeit den Grund- und Wurzelstock seiner Natur bildete. Auf die politische Constitution Scherr’s hat ohne Frage die Schweizerluft eingewirkt, und zwar günstig. Der Wandel hat sich leise vollzogen, wenn es nicht vielmehr eine Klärung gewesen ist, freilich mit dem Niederschlage von Enttäuschungen. Im „freien Lande“ hat S. auch viel Unfreies, Menschliches, Allzumenschliches gefunden. Er hat, als Neuschweizer, mit gutem Takt sich vom Getriebe der einheimischen Politik ferngehalten, wenigstens in Handel und Wandel. In seinen Schriften freilich hat er dem Drange seiner Wahrheits- und Rechtsliebe keine Fesseln anlegen lassen, und geißelt die Tagesgötzen, in welchem Lager er sie immer findet; die Verknöcherung des staatlichen und des kirchlichen Lebens war ihm ebenso zuwider als der tolle Veitstanz des extremen Radicalismus; den Volksschmeichlern, schwarzen wie rothen, aber auch dem Volke, dem leichtgläubigen, wankelmüthigen, undankbaren und gleichwohl betrogenen, hat er bittere Wahrheiten gesagt. Er mag nicht immer das Richtige getroffen haben, denn er war, wenn auch ein großer Geschichtskenner und tüchtiger Geschichtsforscher, doch kein eigentlicher Politiker, dazu fehlte ihm die „hohe Schule“ des erbarmungslosen Verstandes, der alles, was Herz und Gefühl heißt, bei Seite wirft. S. war Gefühlsmensch durch und durch, seine Ueberzeugung und sein Orakel war das Gemüth. Darum litt er auch an Heimweh. Merkwürdig, ja unglaublich, daß man ihm’s im freien Lande übel vermerkte, wenn er etwa für seine deutschen Landsleute sich ins Zeug legte, und sein Wort erhob gegen den Mißbrauch der „Freiheit“, d. h. gegen die Roheit, die sich der mißleitete Pöbel gegen die Genannten erlaubte. Er hat doch wahrhaftig den deutschen „Michel“ mit seiner Schlafmütze und die „teutsche“ Reckenhaftigkeit, wo sie bärenmäßig einhertrabte oder sich hochmüthig spreizte, auch nicht geschont! Denn Scherr’s Meisterschaft liegt gerade in der Satire, im Kampf gegen die Gebrechen des Jahrhunderts, vorab gegen das Phrasenthum und die Lüge. Sein Leben lang ist er als ehrlicher, [128] aber auch schneidiger Ritter darauf ausgegangen, die Drachenbrut der Phrase zu bekämpfen; und wo er sie nicht auf oder an der Heerstraße fand, ist er ihr in entlegenere Gehege nachgezogen. Dieser Ausritt ist nach und nach zur süßen Gewohnheit bei ihm geworden, aber immer zwingt er uns, ihm zu folgen und seine Turnirkunst zu bewundern, mit der er alle seine Gegner auf den Sand setzt, den einen mit feiner Klinge, den andern mit grobem Kolben, aber immerhin – auf den Sand. Facit indignatio versum! Der Ingrimm führt aber die Feder, auch ohne daß Verse fließen, und der Ingrimm weicht auch dem Humor. Aus einer immensen, „uferlosen“ Belesenheit strömen dem Verfasser seine Beispiele und Belege zu. Weil er sich oft wiederholt – aber wiederholt sich denn nicht auch Phrase und Lüge täglich und ständig, bei Großen und Kleinen, in Wort und Schrift? – hat man ihm „Selbstcopie“ vorgeworfen. Nun ist Scherr’s Sprachschatz so tief und unergründlich, daß er jeden Augenblick aus dem Vollen schöpfen kann; hat er aber einmal das richtige und wuchtige Wort gefunden oder geschaffen – warum soll er den Donnerkeil unbenutzt liegen lassen und bloß Pfeile schmieden? Er gibt stets sein Kräftigstes und Bestes, und der Leser weiß: „Ich habe in den Büchern den Mann, wie er leibt und lebt und denkt, den Kern zusammt der Schale, er geht geradeaus, kennt nicht die Scheuklappe der Rücksicht und Prüderie, spielt nicht Versteckens mit der Sprache und schreckt nicht zurück vor dem wahren Ausdruck, sollte dieser auch derb, ja grob sein.“ – Man würde Scherr’s Manen verletzen, wollte man nicht zugestehen: Der Mann konnte großartig grob sein – aber der Kolben war von Ebenholz, kein gemeiner Dreschflegel, und die Grobheit ist ehrlich, ohne eine Ader von Perfidie.

S. ist stets auf den Kern der Dinge ausgegangen, die Schale hat er preisgegeben, außer in der Kunst, wo sie dem Inhalt ebenbürtig ist, und in seiner Kunst, der Kunst der Sprache, hat er diese Werthschätzung in That umgesetzt und glänzend illustrirt durch sein eigenes Beispiel. Seinen Kern umgeben manche Absonderlichkeiten, Vorurtheile, Schrullen und Widersprüche – aber sie sind eben doch nur Schale; das meiste stammt aus den wechselnden Stimmungen, und diese wieder haben ihren Sitz im Gemüth. Es ist kleinlich, seinen Schrullen nachzuspüren; er ist ja auch nicht frei von wirklichen Fehlern: er ist oft zu bitter, sieht oft zu schwarz, schreibt zu ungenirt und bringt den „waldursprünglichen“ Faun auch wo es nicht gerade nöthig, gern auf die Scene. Daß er aber besagten ruppigen und struppigen Gesellen mit Vorliebe auf dem Katheder präsentirt habe, hat sich als ein Gerede böser Zungen herausgestellt. S. war kein Pedant, der die Tragweite jedes Wortes ängstlich abmaß; er versperrte einem Saft- und Kraftwort, wenn es ihm auf die Zunge kam, den Weg nach außen nicht, aber vor Excessen hat ihn sein pädagogischer Tact bewahrt. Besonders tief hat indeß – und auch solchen, die nicht gerade auf den Pfaden der landläufigen Frömmigkeit wandeln – Scherr’s Rücksichtslosigkeit gegen die Heiligen und gegen das Heilige (z. B. das Christenthum) ins Herz geschnitten. Aber gerade hier ist sein Urtheil, je nach der Stimmung, schwankend, und trotz alledem ist S. ein begeisterter Idealist, der sich immer und immer wieder zum Kämpen der Religion aufwirft und die Materialisten, wo er ihnen begegnet, mit Keulenschlägen niederschmettert.

S. hat während seiner akademischen Wirksamkeit tausende von Zuhörern angezogen, und wenn diese ab und zu etwas „Gesalzenes“ oder „Pikantes“ zu schmecken bekamen, so erhielten sie jedenfalls auch andere Nahrung. Den Akademiker S. nach jenen Zuthaten zu beurteilen, ist eben so ungerecht, als seine sprachlichen Leistungen nach dem oft wunderlichen (wenn auch niemals schalen) Schnickschnack zu bemessen, den er dem Stil beimischt. Wer ihm Ungeschmack und [129] Manier im allgemeinen vorwirft, sagt nicht die Wahrheit. Mehr als eine seiner Schriften leidet freilich an diesem Fehler. Der Mann hat deren zu viele geschrieben, auch, „der Noth gehorchend“, schreiben müssen; aber an den monumenta aere perenniora vermögen wir nichts von Ungeschmack zu entdecken, und wir denken sogar, einem Sprachgewaltigen, wie ihm, ist etwa auch einmal ein Griff erlaubt, von dem der Schwache und Zage abstehen muß. S. hat die deutsche Sprache mit einer großen Zahl neu geschaffener Worte und Wortbildungen bereichert; nicht alle halten Stich, manche werden aber Eigenthum der Sprache bleiben. Nicht nur die Kraft, sondern auch den Trieb zu Neuschöpfungen hat S. besessen, und sie haben beide vorgehalten, so lange er schrieb, d. h. so lange er lebte. Seine Sprache ist überall warm, vom Hauch eines wohlthuenden Ethos durchweht, der Ausdruck eines fühlenden Subjectes; der rein menschliche Standpunkt, den er einnimmt, gewährt im Verein mit den sprachlichen Vorzügen seinen Geschichtsbildern einen bestrickenden Zauber und unvergänglichen Reiz. Keiner der Modernen kann sich hierin mit ihm messen. Wohl ist es wahr: Der Pessimismus schaut uns aus seiner Darstellung unverwandt und unverhüllt ins Angesicht, aber gerade er gibt ihr Farbe und Bewegung; denn es ist nicht der feige und nervenschwache Pessimismus, der sich in Wehmuth auflöst und im Zagen verstummt, sondern der männliche, thätige, der die Donnerstimme erhebt gegen die Verworfenheit, der auflodert im Ingrimm, in wildem Schmerz über die unerreichten Ideale aufschreit und auch in der Verzweiflung die Waffen des Wortes nicht senkt. Einem Verstande, der über den Weltlauf nachdenkt, und dem nicht ganz besondere Troststimmen ins Herz raunen, müssen jene Töne sympathischer klingen als das süße Geflöte jener Glücklichmacher, welche der seufzenden Creatur immer nur die eine Melodie vorspielen, wie schön und herrlich die Welt sei. Ein Philosoph war S. zwar nicht (obschon er sich in seinem Wissensdrange auch mit den Lehrsätzen der Weltweisen vertraut gemacht hatte), aber ein scharfer und kühner, vor allem ein gesunder Denker, ein Weltweiser in der Hausjacke, der auf die Speculation im Galakleide keine allzugroßen Stücke hielt.

Alles in allem war S. eine Persönlichkeit originellster Art, ein Meister des akademischen Vortrages, ein litterarischer Lehrer weitester Kreise, ein vorragender Kämpfer für Freiheit, Vaterland, Bildung, und ein Sprachbildner und Sprachgewaltiger, wie kaum ein zweiter unter den Sprach- und Zeitgenossen.

Werke: A. Geschichtliche: „Geschichte deutscher Cultur und Sitte“ (1853. 7. Aufl. 1879); „Geschichte der Religionen“ (1855–57); „Geschichte d. deutsch. Frauenwelt“ (4. Aufl. 1879); „Blücher, seine Zeit und sein Leben“ (1862); „Studien“ (1865 bis 1866); „Aus der Sündfluthzeit“ (1867); „Von 48–51, eine Komödie der Weltgeschichte“ (1868–1870); 2. Aufl. unter dem Titel: „Achtzehnhundertachtundvierzig, ein weltgeschichtliches Drama“ (1875); „Das Trauerspiel in Mexiko“ (1868); „Germania. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens“ (3. Aufl. 1880); „1870 bis 1871, vier Bücher deutscher Geschichte“ (1879); „Die Gekreuzigte, oder das Passionsspiel von Wildisbuch“ (2. Aufl. 1874); „Neues Historienbuch“ (1884); „Die Nihilisten“ (1885); „Gestalten und Geschichten“ (1886); „Altes und Neues“, vereinigt in den 6 Bänden der „menschlichen Tragikomödie“ (1882 bis 1883). – B. Litterarische: „Bildersaal der Weltlitteratur“ (letzte Bearbeitung 1885 in 3 Bdn.); „Geschichte der englischen Litteratur“ (1854); „Dichterkönige“ (1855); „Allgem. Geschichte der Litteratur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (6. Aufl. 1880); „Schiller und seine Zeit“ (1859); „Geschichte der deutschen Litteratur“ (1874); „Göthe’s Jugend“ (der Frauenwelt geschildert (1874). – C. Belletristik: „Der Prophet von Florenz“ (1845); „Die Waise von Wien“ (1847); „Die Pilger der Wildniß“ (1853); „Nemesis“ (1854); [130] „Die Tochter der Luft“ (1855); „Schiller“ (1856); „Michel, Geschichte eines Deutschen unserer Zeit“ (1858); „Rosi Zurflüh“ (1860); „Die Beichte einer Frau“ (1876); „Novellenbuch“ (1873); „Historische Novellen“ (1873); „Porkeles und Porkelessa“ (1882). – D. Gemischten Charakters (Satire, Zeitbilder, Biographisches u. s. w.): „Mixed Pickles“ (1864); „Misch-Masch“ (1867); „Farrago“ (1870); „Dämonen“ (1871); „Hammerschläge und Historien“ (1872); „Hammerschläge“, neue Folge (1878); „Größenwahn, vier Capitel aus der Geschichte der menschlichen Narrheit“ (1876); „Sommertagebuch des weiland Doctor gastrosophiae Jeremias Sauerampfer“ (1873); „Blätter im Winde“ (1875); „Vom Zürichberg. Skizzenbuch“ (1881); „Heidekraut“ (1884). Posthum ist herausgekommen: „Letzte Gänge“ (1887).

Vgl. Bornmüller, Schriftstellerlexikon s. v. Scherr (1882) und Scherr’s Nekrolog (in „Letzte Gänge“, S. 217–264) von J. Mähly.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 125. Z. 11 v. u. setze: 1844. [Bd. 45, S. 671]