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ADB:Sichard, Johannes

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Artikel „Sichardt, Johannes“ von Johann August Ritter von Eisenhart in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 143–146, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sichard,_Johannes&oldid=- (Version vom 17. November 2024, 09:28 Uhr UTC)
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Sichardt: Johannes S. (Sichardus), Humanist und Rechtsgelehrter, geb. zu Tauberbischofsheim um 1499, † zu Tübingen am 9. September 1552. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts waren die Baseler Buchdrucker aufs eifrigste mit Herausgabe juristischer Quellenwerke beschäftigt, zu welchem Behufe sie zahlreiche Gelehrte um sich versammelten; zu letzteren gehörte auch S., welcher sich durch seine Veröffentlichungen frühzeitig unter den Vertretern der humanistischen Richtung der Rechtswissenschaft einen bleibenden Namen erworben hat. Sichardt’s Eltern, Georg und Christine, waren unbemittelte, kleine Bürgersleute zu Tauberbischofsheim, und wurde S. mit Unterstützung seines Onkels, des Dechanten Martin Golia, auf die Schule nach Erfurt geschickt. Erst 15jährig (1514) bezog er als Hörer, dann als Privatinstructor die Hochschule zu Ingolstadt, wurde dort nach Ausweis der Freiburger Universitätsmatrikel magister artium, und bald darauf vom Magistrate München an die dortige schola poëtica berufen. Allein schon 1521 verließ er diesen Dienst und ging völlig mittellos nach Freiburg, wo er vergeblich eine Professur anstrebte, erhielt jedoch 1525 auf Empfehlung des ihm befreundeten Professors Ulrich Zasius in Basel [144] jene der Rhetorik und las dort über Cicero, Livius und andere römische Classiker. 1527 unternahm er mit einem Freibriefe des österreichischen Erzherzogs und ungarischen Königs Ferdinand eine archivalische Forschungsreise nach rheinischen Klöstern und Domstiften, von welchen er aus Straßburg, Lorsch und Fulda reiches Material heimbrachte. Schon im J. 1528 veröffentlichte er unter dem irrigen Titel „Codicis Theodosiani Libri XVI etc.“ (Basil., Henr. Petrus) das Breviarium Alaricianum (die Lex Romana Visigothorum), dem er ein paar kleinere Juristen- beziehungsweise Agrimensorenschriftchen von Metianus (Mäcianus), Frontinus und Aggenus Urbicus anreihte, dann im J. 1530 die „Leges Riboariorum Baioarumque, quas vocant a Theodorico, rege Francorum latae, item Alemannorum leges, a Lothario rege late etc. etc.“ Beide Editionen sind sichere Beweise für den weiten Blick, den geschichtlichen Sinn und die gründliche Bildung des Herausgebers. 1530 verließ S. ohne ersichtlichen Grund Basel und ging im April wieder nach Freiburg, um sich unter seinem Gönner und Meister Ulrich Zasius dem Studium der Rechtswissenschaft zu widmen. Er hörte bei diesem Pandekten, bei Derrer den Codex, bei Amelius canonisches Recht, und zwar mit solchem Eifer, daß er schon am 28. November 1531 mit seinem Hausgenossen und späteren Biographen Johann Fichard aus Frankfurt a. M. von Derrer als Doctor utriusque juris promovirt wurde, worauf er an Studirende, die er zugleich in sein Haus aufnahm, Privatunterricht ertheilte. Denn obwohl ihn Zasius als „einen Mann von großer Zukunft“ rühmte, wollte ihm erst durch seine im Sommer 1535 erfolgte Berufung nach Tübingen gelingen, eine feste Stellung zu erlangen, in der er bis zu seinem Tode (1552) eine hervorragende Thätigkeit entwickelte. S. wurde von Herzog Ulrich von Württemberg als Institutionarius mit 100 fl. gerufen, wobei Professor S. Grynäus die Verhandlungen leitete; inscribirte am 28. Juni in die Tübinger Matrikel und begann nach seiner Aufnahme in den Senat (30. desselben Monats) am 7. Juli seine Vorlesungen. Aber schon am 22. August 1535 erhielt S. mit einer Zulage von 60 fl., welche im Herbste 1537 (wahrscheinlich infolge eines aus Nürnberg ergangenen Rufes) auf 100 fl. erhöht wurde, die Professur des Codex, welche er ohne weitere Gehaltsmehrung bis zu seinem Tode inne hatte. Er las über das 2. bis 8. Buch des Codex, also über dessen privatrechtliche Theile, und war sein Hörsaal von Studirenden fast aus ganz Deutschland überfüllt, welche den durch Klarheit und Faßlichkeit hervorragenden Vorträgen mit gespannter Aufmerksamkeit folgten. Seine Vorlesungshefte wurden nicht bloß noch nach Jahrzehnten zur Weiterverbreitung abgeschrieben, sondern ungeachtet seines Verbotes nach seinem Tode dreimal auf Veranlassung bedeutender Gelehrter herausgegeben; 1565 von Joh. Michael Fickler, 1586 von Franz Modius; schließlich 1598 – also fast 50 Jahre nach Sichardt’s Tode – im Auftrages der Tübinger Juristenfacultät selbst von Samson Hertzog (Tom. I u. II). Diese dem Herzoge Joh. Friedrich von Württemberg gewidmete Ausgabe ist infolge sorgfältiger Collationirung die beste und zuverlässigste. Die Athenae Raur. erwähnen zwar S. 310 zwei weitere Ausgaben (Genev. 1594. 4° und Francof. 1616 fol.), die jedoch weder auf den Bibliotheken zu Tübingen noch in München zu finden sind.

Mit dem Lehrerberufe verband S., der eine vorwiegend praktische Natur war, und die Lehrsätze auf das praktische Leben anzuwenden pflegte, eine sehr umfassende Consulententhätigkeit. Wie sehr damals die Arbeitskraft der juristischen Professoren (zum Nachtheile ihrer Vorträge) durch jene Thätigkeit in Anspruch genommen wurde, zeigt der Proceß der württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph mit dem römischen Könige Ferdinand, in welchem über eine einzige Frage und nur von einer Partei mindestens neun verschiedene Gutachten erholt wurden. Die Responsa, [145] welche S. theils für sich allein, theils im Namen der Universität abgab, sind nach des Verfassers Tode größtentheils im Druck erschienen, herausgegeben von J. G. Godelmann, Frankfurt a. M. 1599. Es sind im ganzen 53 Gutachten, welche eine große Vielseitigkeit bekunden, da sie criminal-, lehen-, ehe-, und testamentsrechtliche Fragen erörtern. Unter diesen Anforderungen des praktischen Lebens mußte Sichardt’s wissenschaftliche Entwicklung ins Stocken gerathen, insbesondere nach seiner Ernennung zum besoldeten herzoglichen Rathe (1544), in welcher Eigenschaft ihm umfangreiche und wichtige Arbeiten oblagen. S. hatte nun neben Gutachten unmittelbar Streit- und Staatsschriften zu fertigen (so jene, welche Herzog Christoph auf dem Reichstage zu Augsburg dem Kaiser persönlich überreichte), Vergleichsverhandlungen zu pflegen, bei Revision der ersten württembergischen Eheordnung, bei Entwerfung des ersten Landrechtes, bei den Vorarbeiten zur Mömpelgart’schen Gerichtsordnung mitzuwirken; 1543 war er bei der Visitation des Reichskammergerichtes zu Speyer, im Mai 1551 auf dem Augsburger Reichstage. Ueberall aber zeigte er den gewandten Geschäftsmann, den scharfsinnigen Juristen, den pflichttreuen Beamten, wodurch er sich auch das volle Vertrauen seines Herzogs erwarb. Dagegen wird sein Einfluß auf Abfassung des Württembergischen Landrechtes von 1555 häufig überschätzt. Allerdings wurde er im Februar 1552 zum Mitglied der Vorberathungscommission ernannt, und auf seinen Vorschlag in deren Bericht vom gleichen Datum vorzugsweise das Freiburger Stadtrecht berücksichtigt, aber erst längere Zeit nach seinem Tode (9. Sept. 1552) das Gutachten der Juristenfacultät erstattet. Daß ein Mann von der hervorragenden Stellung, dem praktischen Blicke und der unbedingten Zuverlässigkeit unseres Gelehrten an der Verwaltung der Hochschule lebhaften Antheil nahm und ebenso bedeutenden als nachhaltigen Einfluß übte, ist sehr naheliegend. Er bekleidete viermal (1535/36, 1542/43, 1545/46, 1549) das Rectorat, war mindestens siebenmal Decan, saß in verschiedenen Superattendenzen und Commissionen, betheiligte sich bei den Deputationen an den Herzog, bei Berathungen über neue Statuten, bei Protestationen gegen schädigende Steueranlagen, kurz so ziemlich überall, wo es sich um wichtige oder schwierige Fragen handelte. Indeß ist seit dem Jahre 1543 (dem Zeitpunkte, in dem er mit den Geschäften des Herzogs betraut wurde), eine erheblich verminderte Betheiligung an den Universitätsgeschäften wahrnehmbar. In der kirchlichen Bewegung stand S. auf Seite der Wittenberger Reformatoren, mit welchen er in den zwanziger Jahren einen Briefwechsel unterhielt, haßte aber jede Ueberstürzung, hielt als Jurist am canonischen Rechte fest, zeigte sich tolerant gegen Angehörige der alten Kirche wie gegen Anhänger Calvin’s und Zwingli’s und blieb dem Versuche zugethan, die Einigungspunkte mit der alten Kirche zur Geltung zu bringen.

In den letzten Lebensjahren trat bei unserem Gelehrten Nachlaß der Kräfte ein; am 27. October 1550 schrieb er dem Herzog Christoph, daß ihm seine Gesundheitsumstände größere Arbeiten nicht mehr gestatteten. Dessenungeachtet bis ans Ende rastlos thätig, starb er am 9. September 1552 an den Folgen des Siechthums. Die amtliche Leichenrede hielt Mathias Garbitius Illyricus, Professor der griechischen Sprache am 16. October desselben Jahres. Unter den glänzenden Eigenschaften des Dahingeschiedenen rühmt sie besonders dessen fromm-christlichen Sinn, gepaart mit einer milden, toleranten Anschauung. (Oratio funebris de vita et obitu cl. v. D. Joannis Sichardi D. J. U. consultiss. in celeberrima Academia Tüb. habita Mathia Garbitio Illyrico. Anno MDLII Cal. Octob. XVI.) S. hinterließ eine kinderlose Wittwe Eva, geborene Hesler, Kaufmannstochter aus Freiburg, welche er um’s Jahr 1522 dortselbst heimlich und ohne Vorwissen der Eltern geheirathet hatte. Wenige Jahre nach dessen Tode schritt die Wittwe zu einer zweiten Ehe mit Dr. Justus Lorbeer, nachherigem Rathe [146] des Bischofs von Bamberg. Ueber sein nicht unerhebliches Vermögen, zu dem auch ein Wohnhaus in Tübingen gehörte, hatte S. laut Testament vom 25. August 1552 verfügt, und in diesem seiner Geburtsstadt Tauberbischofsheim wie auch Tübingen je 1000 fl. zu mildthätigen Zwecken vermacht. Daß S. am Beginne seiner Laufbahn eine schriftstellerische Thätigkeit entfaltete, ist bereits erwähnt, in späteren Jahren mangelte ihm hierzu bei seinen vielen und vielfachen Arbeiten die erforderliche Zeit. Er widmete das sogenannte Breviarium Alaric. (eine in den germanischen Reichen entstandene gesetzgeberische Zusammenstellung aus meist vorjustinianischen Rechtsquellen) dem Könige Ferdinand von Ungarn unter genauer Angabe der von ihm benutzten Handschriften. Aus dem Titel und der langathmigen Dedicationsepistel erhellt, daß er das breviarium irriger Weise für den Codex Theodosianus mit dazu gehörigen Anhängen hielt, welcher zum erstenmale von Tilius (Paris 1550) veröffentlicht wurde. Wie schwer die Zeitgenossen den Verlust des großen Gelehrten empfanden, geht unter anderem aus einem Schreiben des Herzogs Christoph hervor, worin er nach Sichardt’s Tode Amerbach in Basel mittheilt, daß er einen gelehrten, extres berühmten Mann brauche, der der Sprachen, sonderlich der griechischen mächtig, als Lehrer wie Praktiker geübt und zu einem „primären Cathedranten geeignet sei“. In der That waren auch weder der Franzose Carolus Molinäus noch der Italiener Mathäus Gribaldus, welche nach verhältnißmäßig kurzer Wirksamkeit (December 1553 bis Juli 1557) Tübingen wieder verließen, im Stande, als Sichardt’s Nachfolger die schwer gefühlte Lücke auszufüllen.

Die Hauptquelle für S. ist neben der erwähnten Oratio funebris des Garbitius die Lebensbeschreibung von dessen Hausgenossen und Mitschüler Joh. Fichard „Vita Clarissimi Viri Joannis Sichardi Jureconsulti Germani per Joannem Fichardum Francofurtensem J. C. Patriaeque Advocatum et Syndicum descripta“, welche den drei Ausgaben der Codexvorlesungen beigegeben ist. – In neuerer Zeit hat Professor Dr. Mandry in Tübingen eine Denkrede auf S. gehalten, welche mit umfassenden Quellenangaben in den Württembergischen Jahrbüchern für Statistik und Landeskunde Jahrg. 1872 II, 18 ff. (Stuttgart 1874, 4°) abgedruckt ist, und alle früheren Arbeiten über S. entbehrlich macht. – Vgl. auch Stintzing, Gesch. d. deutsch. Rechtswissensch. I, 212 ff.