Zum Inhalt springen

ADB:Stintzing, Roderich von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Stintzing, Johann August Roderich von“ von Ernst Landsberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 249–254, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stintzing,_Roderich_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 13:40 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Stilling, Benedict
Band 36 (1893), S. 249–254 (Quelle).
Roderich von Stintzing bei Wikisource
Roderich von Stintzing in der Wikipedia
Roderich von Stintzing in Wikidata
GND-Nummer 101275056
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|36|249|254|Stintzing, Johann August Roderich von|Ernst Landsberg|ADB:Stintzing, Roderich von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=101275056}}    

Stintzing: Johann August Roderich v. St., geboren zu Altona am 8. Februar 1825, stammt aus ursprünglich fränkischer Familie, welche sein Großvater nach Rendsburg verpflanzt hatte. Sein Vater Johann Wilhelm († 1859) war Arzt zu Altona und verehelicht mit Wilhelmina Elisabeth, Tochter des Kieler Professors der Staats- und Forstwissenschaften Aug. Niemann. – St. besuchte die Gymnasien zu Altona und zu Hamburg, sodann 1843–1848 die Universitäten Jena, Heidelberg, Kiel, Berlin; besonderen Einfluß auf ihn gewannen Vangerow in Heidelberg, v. Madai in Kiel und Stahl in Berlin. Der Schluß seiner Studienzeit, während welcher er an der burschenschaftlichen Bewegung theilgenommen hatte, fiel mit den schleswig-holsteinschen Wirren zusammen; er trat in das Studenten-Freicorps ein; trotzdem bestand er bereits 1848 sein juristisches Staatsexamen, das damals sog. Amtsexamen, beim Oberappellationsgerichte Kiel mit Auszeichnung. Er ließ sich in Plön als Advocat nieder und wurde dort nach zweijähriger Praxis daneben Notar. Dort auch, am 1. Mai 1850, schloß er die Ehe mit Franziska Karoline, der jüngeren Tochter des ehemaligen dänischen Ministerresidenten Geh. Legationsrathes Bokelmann, eine Ehe, welche als das Glück und der Segen seines ganzen Daseins durch selten harmonischen Zusammenklang der Eheleute in Verstand und Gemüth, in Lebensauffassung und Lebensführung sich während freudiger und während trauriger Tage bewährt hat. Den jung Vermählten bewog, nach eigener Angabe, 1851 die Auslieferung Schleswig-Holsteins an Dänemark dazu, die eingeschlagene praktische Laufbahn zu verlassen und nach Heidelberg zu wandern, wie sich denn seine entschiedene Augustenburgische Gesinnung noch in den sechziger Jahren in zwei zu Erlangen gehaltenen Vorträgen äußerte; gewiß aber ist dieser politische nur der äußere Anlaß gewesen, welcher einem lebhaften, längst vorhandenen Triebe zu rein wissenschaftlicher Thätigkeit zum Durchbruch verhalf, während gleichzeitig ein solcher Schritt durch Consolidirung der materiellen Verhältnisse ermöglicht wurde. In Heidelberg ward St. am 5. Januar 1852 Doctor der Rechte und bald darauf Privatdocent; bereits Ostern 1854 wurde er als ordentlicher Professor nach Basel gezogen; Herbst 1857 nahm er einen Ruf nach Erlangen an, schlug dort 1861 einen solchen nach Kiel, 1868 einen weiteren nach Gießen an Ihering’s Stelle aus, ließ sich aber Sylvester 1869 bestimmen, das Anerbieten der Universität Bonn anzunehmen, welche ihm einen Lehrstuhl des Römischen Rechts neben Böcking antrug. Außer der Vergrößerung des Wirkungskreises, welche er hierdurch gewann, mag St. gerade diese Aussicht, an der Seite des von ihm besonders hoch verehrten Böcking wirken zu können, nach Bonn gezogen haben. Kaum war er jedoch Frühling 1870 hier angelangt, als (3. Mai) Hochschule und er den Tod Böcking’s zu beklagen hatten, dessen Nachfolge damit St. zufiel, da Ad. Schmidt[WS 1] gleichzeitig Bonn verließ. In dieser Stellung ist St. von da ab verblieben; er hat das Rectorat in Bonn 1875/76 bekleidet, wie er mit derselben Würde 1856 in Basel, 1864/65 in Erlangen betraut war; den persönlichen Adel erhielt er durch den ihm [250] verliehenen bairischen St. Michael- und Civilverdienst-Orden; er war preußischer Geheimer Justizrath, und, seit 1875, Ordinarius im Spruchcolleg seiner Facultät; auch dem Bonner Gemeinderath und der Repräsentation der protestantischen Kirchengemeinde zu Bonn hat er als thätiges Mitglied angehört. Obgleich von zarter Gesundheit, welche ihn zu steter Rücksicht und besonderer Lebensweise zwang, und obschon schwer getroffen durch den Verlust des jüngsten seiner Söhne, schien St. noch auf eine lange Arbeitszeit rechnen zu dürfen, als am Nachmittage des 13. September 1883 zu Oberstdorf gelegentlich eines Spazierganges der Sturz von einem Abhange seinem Leben ein erschütternd jähes Ende bereitete.

Die wenigen dogmatischen Arbeiten Stintzing’s, welche alle dem Gebiete des Römischen Rechts angehören, zeichnen sich dadurch aus, daß sie jedesmal für eine scharf gestellte Frage von nicht geringem Interesse in energisch kurzer Behandlung eine ebenso scharfe neue Antwort geben; sie beziehen sich auf das Wesen von bona fides und titulus in der Usucapionslehre (Habilitationsschrift, Heidelberg 1852), auf die Präsumption der ehelichen Vaterschaft (Dogm. Jahrbücher 1868) und auf die Gefahrtragung beim Genus-Kauf (ebenda 1871). Ihnen zu gesellen ist die Untersuchung von 1853 über das Verhältniß der legis actio sacramento zu dem Verfahren durch sponsio praejudicialis, die einzige Schrift des Verfassers über den von ihm als Kunstwerk so hoch bewunderten und eifrig studirten Römischen Civilproceß. Denn geringer Umfang der Production spricht bei St. nicht für geringe Beschäftigung mit den Stoffen; nur war er der Hypertrophie der romanisirenden Jurisprudenz gegenüber litterarisch doppelt zurückhaltend, fast ängstlich bedacht, nur da hervorzutreten, wo er wesentlich einzuschneiden rechnen konnte: was ihm, namentlich mit den älteren seiner genannten Schriften, zweifellos gelungen ist. Jedoch soll keineswegs geleugnet werden, daß es denn doch das allmähliche Zurücktreten des dogmatischen Interesses selbst gewesen ist, welches in letzter Reihe dem dogmatischen Verstummen zu Grunde liegt; dieses Interesse schwand St. nicht bloß Mangels der körperlichen Arbeitskraft, welche ihm nothwendig gewesen wäre, um neben seiner Hauptthätigkeit dem breiten Strome der neuesten Litteratur ganz zu folgen; sondern auch, und weit mehr, aus tieferen Gründen.

Denn eine so streng conservative, in Religion, Ethik und Politik positiv gerichtete Persönlichkeit er auch war, – dem juristischen Dogma stand er mit einem eigenen Skepticismus gegenüber. Ihm waren die verschiedenen Meinungen im wesentlichen nur Ergebnisse der zur Zeit gerade herrschenden wissenschaftlichen Richtung, einander ablösend im Wechselgange der „Wendungen und Wandlungen der deutschen Rechtswissenschaft“ (Rede, 1879, Bonn) und gleich kurzsichtig die einen wie die anderen in dem jedesmal wieder erhobenen Anspruch, die endgültige Lösung zu bieten; in der Unmöglichkeit einer solchen, in dem so gegebenen Bedürfniß stets neuer Nachprüfung und Umprägung erblickte er den wissenschaftlichen Charakter der Jurisprudenz. Das Wesentliche, woraufhin sein an der Betrachtung der dogmengeschichtlichen Vergangenheit geschärftes Auge die Gegenwart prüfte, war ihm demnach nicht die einzelne Leistung, sondern ihre symptomatische Bedeutung für einen gefunden, ununterbrochenen Entwicklungsgang. Falls er sprunghaftes, unhistorisches, etwa gar ausschließlich ’geistreiches‘ Vorgehen bemerkte, so konnten alle sonstigen Vorzüge die unerbittliche Schärfe seines verurtheilenden Erkenntnisses nicht mildern; wo er dagegen wahren geschichtlichen Geist, sorgsame Arbeit und besonnene Methode fand, da hielt er ebenso wenig mit der Anerkennung zurück, wie dort mit dem Tadel. Höchstes Mißtrauen brachte er, der echte Sproß der alten historischen Schule, den neueren philosophirenden Bestrebungen innerhalb der positiven Rechtswissenschaft entgegen.

[251] Diese Geistesrichtung war in St. ausgebildet durch seine umfassende litterargeschichtliche Thätigkeit, diejenige, mit welcher er sich bleibenden Ruhm erworben und um die Wissenschaft in hervorragendem Maaße verdient gemacht hat. Zu ihr schossen seine verschiedenen Anlagen central zusammen. Ausgerüstet mit einer an die Liebhaberei, ja an die Feinschmeckerei grenzenden Freude an allem bibliographischen und biographischen Detail – eben von dieser Seite hatte ihn Böcking so sympathisch berührt –, von dem Vergnügen über ein vornehm gebundenes seltenes altes Buch ab bis zum Behagen beim Aufstöbern irgend welchen Datums durch vielverschlungene Gänge und staubige Winkel der Litteratur hindurch; besaß er eine Gabe liebevoller Vertiefung in die Persönlichkeit, innerlicher Erfassung ihres Wesens und ihres wissenschaftlichen Strebens, lebendiger Versetzung in ihre Verhältnisse und in ihren Geist, welche jede seiner Biographien zu einem plastisch abgerundeten Kunstwerk gestaltet. Darüber hinaus aber hatte er den weiten historischen Blick, welcher den Zusammenhang mit der allgemeinen politischen und Culturgeschichte erfaßt, über dem Einzelnen die großen Linien und Gruppen nicht aus dem Auge verliert, im Einzelnen das Glied des Ganzen erkennt und ausprägt. Hinzu kommt sein durchsichtig klarer, anschaulicher und doch vornehmer Stil, damit er als Meister der Kunst noch mehr als der Wissenschaft der Geschichtschreibung erscheine. – Das große Werk, in welchem alle diese Vorzüge zur vollen Verwerthung kamen, und welchem seine Bonner Zeit fast ausschließlich gewidmet war, die im Auftrage der historischen Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften zu München unternommene „Geschichte der Rechtswissenschaft in Deutschland“ ist Torso geblieben. Zu des Verfassers Lebzeiten, 1880, ist von ihr bloß erschienen der erste Band, welcher bis zur Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts reicht; aus des Verfassers Nachlaß habe ich, 1884, den zweiten Band herausgegeben, welcher das folgende halbe Jahrhundert behandelt. Will man den Werth der Leistung beurtheilen, so darf man vor allem nicht vergessen, daß es bis dahin kein Werk gegeben hat, welches auch nur entfernt, in den Grundzügen oder für einzelne Theile, eine wahre, heutige Ansprüche befriedigende Geschichte unserer Wissenschaft, sei es im allgemeinen, sei es in Deutschland, böte; Stoffsammlungen genug, aber keine Verarbeitung; so hat St. ohne Vorgänger gearbeitet und im ersten Anlaufe das Ziel erreicht. Des weiteren wird man dann aber scharf zwischen dem ersten und dem zweiten Bande scheiden müssen; der zweite zeigt in seinen Lücken, in dem häufigen Mangel der Verbindung zwischen den einzelnen Biographieen, endlich in der durch den Ausschluß des Naturrechts entstandenen Einseitigkeit allzudeutlich, daß er nur eine Sammlung der einzelnen, von dem Verfasser bis zu seinem plötzlichen Ende fertig gestellten Stücke ist; als voll ausgereiftes und allseitig abgeschlossenes Werk darf nur der erste Band betrachtet werden. Grundmotiv desselben ist die Geschichte der wissenschaftlichen Reception des Römischen Rechtes in Deutschland; die Variirung ergibt sich aus den verschiedenen Gestaltungen, welche dieser Proceß annimmt, je nachdem er sich mehr im Anschluß an die italienisch-scholastische Praxis, oder an die französisch-humanistische Theorie oder schließlich in beginnender Selbständigkeit der deutschen Juristen vollzieht. Die Berücksichtigung aller hierbei sich ausbildenden Verschiedenheit im einzelnen, während sich gleichzeitig, anscheinend mühelos und selbstverständlich, größere Gruppen abschließen, bildet den besonderen Reiz des Buches. Mit Recht ist St. die Geschichte der Rechtswissenschaft in Deutschland bis 1650 im wesentlichen nur die Geschichte des Privatrechts und der ausländischen Einwirkungen auf dasselbe. Dagegen von da ab haben wir eine unabhängige deutsche Rechtswissenschaft, welche gleichberechtigt neben das private das öffentliche Recht stellt; diese beiden wesentlichen [252] Punkte festgelegt, den Ursprung dieser Veränderung und ihre Bedeutung nachgewiesen zu haben ist das Hauptverdienst des zweiten Bandes; allein schon deshalb war die Veröffentlichung geboten, von dem Werthe der Einzelbiographieen, z. B. eines Conring, eines Carpzov nicht zu reden. – Das Gesetz dieser Stelle gebietet Beschränkung auf diese ganz allgemeine Würdigung des Stintzing’schen Meisterwerkes, dessen Vollendung in demselben Stile eine für jeden anderen unlösbare Aufgabe wäre; daß neue Erscheinungen seit dem 18. Jahrhundert neue Aufgaben stellen und veränderte Behandlung verlangen, darf ich deshalb wol eine glückliche Fügung heißen.

Die hier gepriesenen Vorzüge kehren sämmtlich wieder in den zahlreichen juristischen Biographien, welche wir aus Stintzing’s Feder sonst besitzen; namentlich zeigt sich die Meisterschaft darin, daß regelmäßig die Schicksale und Leistungen des einzelnen Mannes im Lichte weiterer Zusammenhänge erscheinen. Die breitest angelegte solcher Lebensschilderungen ist die des Zasius, die erste Arbeit, mit welcher St. überhaupt an dieses sein Fach herantrat; er erhielt zu ihr die Anregung in Basel; sie erschien dort 1857 unter dem Titel: „Ulrich Zasius, ein Beitrag zur Geschichte der Rechtswissenschaft im Zeitalter der Reformation“ und gibt ein allseitiges, gründliches, auf sorgsamsten und umfassenden Specialstudien beruhendes Bild des Juristen und Menschen, seiner Beziehungen zu näheren und weiteren Kreisen, seiner Stellung zu den Bewegungen der Zeit, und der Wirkung dieser Bewegungen auf ihn. Wesentlich kürzer, aber kaum minder bedeutend ist die 1869 über den Aufenthalt des Hugo Donellus in Altorf veröffentlichte Studie, welche dem Wesen und Werth des großen Systematikers wol zum ersten male vollständig gerecht wird, ebenso wie Stintzing’s Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern, 1862, anerkanntermaßen zu dem besten gehört, was über den großen Historiker, Friedrich Karl v. Savigny, geschrieben worden ist. Den größten Schatz an kürzeren Biographien von ihm bergen jedoch diese Bände. St. ist an dem Unternehmen der A. D. B. von vornherein betheiligt gewesen, hat bei der Aufstellung der Liste zu besprechender Juristen wesentlich mitgewirkt, geeignete Bearbeiter für die einzelnen Artikel ermittelt und gewonnen, namentlich aber selbst zahlreiche Aufsätze angefertigt. Es sind deren in den 16 ersten Bänden im ganzen 53, von welchen etwa die über Böcking, Gentilis, Heineccius hervorgehoben sein mögen. Stintzing’s frühes Hinscheiden ist auch für die A. D. B. ein schwerer, ja unersetzlicher Verlust gewesen.

Für denjenigen, der, wie St., den individualisirenden kleinen Ereignissen stiller Gelehrten-Existenzen mit Eifer und Spürsinn nachzugehen liebt, liegt es nahe, Briefschaften ihren Inhalt an unmittelbar aus dem Leben geschöpften Notizen abzugewinnen. Solchen Bemühungen verdanken wir seine Ausgabe der Briefe des Joh. Ulrich Zasius (Basel 1857) und des Georg Tanner (Bonn 1879), welch letztere er als einen „Beitrag zur Geschichte der Novellen-Editionen“ bezeichnet. Der Geschichte der Ausgaben des Corpus jur. civ. und seiner Bestandtheile legte er überhaupt große Bedeutung bei und hat ihr deshalb in der „Geschichte der Rechtswissenschaft in Deutschland“ einen verhältnißmäßig starken Raum gewährt.

Wie er es verstand, zahlreiche Daten über einen besonderen Punkt aus der Masse der Litteratur zu gewinnen, diese Daten zu einer fortlaufenden Kette zu verbinden und die so festgestellte Sonderentwicklung mit allen Ereignissen des großen Ganges der Rechtsgeschichte derartig zu verweben, daß beide einander gegenseitig beleuchten: das hat St. in knappstem Rahmen und in reinster Form in der Bonner Rectoratsrede von 1875 an den Tag gelegt, welche das Sprichwort „Juristen, böse Christen“ erörtert. Das Wort mochte für seine strenge [253] Religiosität etwas besonders Verletzendes haben; charakteristisch für ihn aber ist, wie er dem banalen Spott jenes Wortes nicht pathetischen Widerspruch entgegensetzt, sondern es durch historische Vertiefung, durch Nachweis des ihm zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Parteien beigelegten verschiedenen Sinnes von selbst überwindet.

Eine Sonderstellung unter Stintzing’s großen Werken, zwischen Zasius und dem ersten Bande der Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, beansprucht seine 1867 veröffentlichte „Geschichte der populären Litteratur des römisch-canonischen Rechts in Deutschland“; obwol ihr mit den beiden anderen Schriften die Orientirung des Interesses auf das große Problem der Reception gemeinsam ist. Das biographische Element fällt hier ganz fort; ein rein rechtshistorischer Gedanke liegt zu Grunde: der Gedanke, daß die Reception der ausländischen Rechte in Deutschland undenkbar wäre, falls nicht Gelehrte und Halbgelehrte eine weitesten Kreisen zugängliche populäre Litteratur derselben geschaffen und so eine gewisse Kenntniß des fremden Rechtsstoffes, wennschon eine vielfach sehr rohe, im Volke verbreitet hätten. Diese Litteratur, welche ja thatsächlich kaum wissenschaftlichen Werth in sich selbst besitzt, war bis dahin ganz unbeachtet geblieben; um sie zu sammeln und um ihre Ausdehnung nachzuweisen, bedurfte es einer unendlich minutiösen bibliographischen Forschung; jedoch sichert dem Buche seinen wesentlichen Werth, über die Frage nach Richtigkeit und Vollständigkeit der so gewonnenen Ergebnisse hinaus, jener Grundgedanke. – Im Laufe dieser Arbeit stieß St. u. a. auf Petri Exceptiones und ließ sich durch sie zu einer für die Wissenschaft fruchtbar gewordenen Abschweifung bestimmen, von der bloß deutschen Rechtsgeschichte hinweg auf die allgemeine europäische Frage nach der juristischen Bildung und Litteratur während der dunkeln Jahrhunderte des früheren Mittelalters; eine Frage, welche trotz ihrer augenfälligen Bedeutung seit den ersten Bänden von Savigny’s Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter liegen geblieben war. Mit seinem historischen Scharfblick erkannte St. hier nicht nur eine schwierige aber lohnende Aufgabe, sondern auch schon im wesentlichen die Methoden und Mittel, deren man sich zu ihrer Lösung zu bedienen hat; und seiner ganzen Geistesrichtung entspricht es, wenn er dabei diese Lösung nach der Seite ununterbrochenen Zusammenhanges zwischen Antike und Glossatorenzeit hin suchte. Seinen Bemühungen um diesen Punkt war schon ein 1866 in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte erschienener Aufsatz über „Formeln des Justinianischen Processes“ entsprungen, an dessen Anschauungen er festgehalten hat, trotz des ihnen von Mommsen und Jaffé entgegengesetzten Widerspruches. Es muß heute freilich als zweifelhaft betrachtet werden, ob irgend eines der Ergebnisse noch ganz aufrecht steht, welche St. auf diesem Felde gewonnen zu haben meinte; aber der Ruhm bleibt ihm, durch seine Anregung einen Zweig specieller Studien fast neugeschaffen zu haben, welcher sich jetzt auch über Italien und Frankreich ausdehnt.

Derselbe Sinn für die Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen, dieselbe Neigung mehr Andere zu beurtheilen als selbst zu dogmatisiren, führen, auf die Vergangenheit angewendet, zur Litterärgeschichte, auf die Werke der Gegenwart angewendet, zur Tageskritik. So ist es wol zu erklären, daß St. sich dieser mehr gewidmet hat, als sonst Gelehrte seines Ranges zu thun lieben. Namentlich war er an der Gründung der „Heidelberger Zeitschrift“ (1853) betheiligt, in deren Redaction er 1865 eintrat und welcher er zahlreiche Recensionen geliefert hat, so schon für den ersten Band eine verständnißvoll anerkennende über Ihering’s Geist des Römischen Rechts. Unter späteren ähnlichen Arbeiten ist die Besprechung von Seuffert[WS 2], Zur Geschichte der obligatorischen Verträge, in der „Krit. Vierteljahrschrift“, Bd. 23, S. 419 flg., hervorzuheben, der werthvollen [254] Fingerzeige wegen, welche sie aus überlegenem Wissen zur Sache selbst gibt. Aber auch sonst pflegten Stintzing’s selbst kürzere Anzeigen weit über das gewöhnliche Maaß hinaus wahrhaft wissenschaftliche Leistungen zu sein, wie er denn stets und bis in die geringfügigsten Einzelheiten hinab an sich selbst die strengsten Ansprüche gestellt und mit peinlichster Selbstkritik aufrecht erhalten hat.

Dieser hohe Ernst, die Achtung gebietende Festigkeit der Grundsätze, die eiserne Strenge ihrer Durchführung durchzogen Stintzing’s ganzes Leben; sie verliehen seiner Haltung eine Würde, seinen Worten einen Nachdruck, seiner ganzen Persönlichkeit eine Hoheit, welche mehr noch als der Schliff seines logisch scharfen und klaren Vortrages auf die große Schar seiner Hörer unmittelbar ergreifend wirkten. Nicht durch die Künste der Popularität, im Gegentheil durch sein vornehm strenges Wesen, welches als das Resultat zäher Lebensarbeit und idealen Strebens dem jungen Manne entgegentrat, fesselte St. Um so bezaubernder war er dann, wenn in engerem Kreise, ihm näher Getretenen gegenüber edle Menschlichkeit und freundliches Wohlwollen zum milden, versöhnlich beruhigenden Ausdruck gelangten. So hat St. eine Zahl von persönlichen Schülern herangezogen, zu welchen ich stolz bin, mich rechnen zu dürfen. Niemand kann mehr als ich bezeugen, wie jener es verstand, sachlich und methodisch zu fördern, bald anzuregen, bald zu hemmen, je nachdem es noth that, immer aus dem vollen Verständnisse für wissenschaftliche Fähigkeit und Charakter desjenigen, welcher eben vor ihm stand. Auch nachdem die Tage des eigentlichen Studiums vorbei waren, ist mir St. stets der sichere Förderer gewesen, dem ich einen wesentlichen Theil meiner juristischen Bildung und Schulung verdanke; und dasselbe werden zahlreiche meiner Commilitonen, welche heute nicht unbedeutende Stellungen, sei es in der Theorie, sei es in der Praxis, einnehmen, von sich bestätigen. Aber auch bei vielen seiner Schüler, welche ein solches wissenschaftliches Verhältniß zu ihm nicht gewonnen hatten, ist doch die Anhänglichkeit an St., selbst im späteren Leben, eine ungewöhnlich lebhafte geblieben, eine so lebhafte, daß es nach seinem Tode gelungen ist, seinem Andenken lediglich aus Ehrengaben der Schüler eine Marmorbüste zu stiften, welche jetzt die Bonner Universitätsbibliothek ziert. Stintzing’s für die kleine, nervös-zierliche Gestalt etwas mächtiges Haupt, mit der starken Nase und Stirne, den buschigen Brauen und den schmalen feinen Lippen, um welche unter dem Bart ein leichtes Lächeln spielt, hat die Kunst des Bildhauers, Professor Küppers in Bonn, vortrefflich wiedergegeben. Bei der Einweihung, am 11. Februar 1885, gelangte Stintzing’s Wesen und Wirken von zwei Seiten zu beredter und warmer Würdigung: von seiten der Schüler durch denjenigen unter ihnen, dessen rastlose Bemühungen die Feier dieses Tages ermöglicht hatten, den jetzigen Rechtsanwalt Alfons Scheiff zu Köln; von seiten der Facultät durch ihr ältestes Mitglied, Hugo Haelschner, dessen Verlust sich seither dem seinigen gesellt hat. An der Spitze der Liste der Zeichner zu jener Büste aber steht, wie die anderen ein Schüler des zu Ehrenden, unser heutiger Kaiser.

Autobiographie in v. Schulte, Die Gesch. d. Quellen u. Litteratur d. Kanonischen Rechts, Bd. 3, Th. 2, S. 245 fg. – Nekrologe in der Kritisch. Vierteljahrschr., Bd. 26 (1884), S. 161–178, mit vollständiger Angabe aller litterarischen Arbeiten Stintzing’s S. 178–180, von Adolf Wach; und in der Allgemeinen Zeitung, Beilage zu Sonntag, dem 14. October 1883, Nr. 286, S. 4209 u. 4210. – Erinnerung an die stattgehabte feierliche Enthüllung der Stintzing-Büste zu Bonn, 1885.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Carl Adolf Schmidt (auch Karl Adolf Schmidt, Karl Adolph Schmidt und Adolph Schmidt) (1815–1903); deutscher Rechtswissenschaftler
  2. Lothar von Seuffert (1843–1920); deutscher Rechtsgelehrter