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ADB:Carpzov, Benedict (der Jüngere)

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Artikel „Carpzov, Benedict (II.)“ von Theodor Muther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 11–20, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Carpzov,_Benedict_(der_J%C3%BCngere)&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 17:39 Uhr UTC)
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Carpzov: Benedict C. (II.), Jurist, geb. 27. Mai 1595 zu Wittenberg, † 30. August 1666; zweiter Sohn erster Ehe von Benedict C. I., empfing nebst seinen zahlreichen Geschwistern im elterlichen Hause zu Colditz eine sorgfältige Erziehung durch Privatlehrer. Kaum hatte er das 15. Lebensjahr zurückgelegt, so wurde er mit seinem älteren Bruder Konrad zur Universität Wittenberg gesendet. Dort erweiterten und vertieften die Brüder ihre allgemeine Bildung durch das Studium philosophischer Disciplinen, bald aber wendeten sie sich ganz der Jurisprudenz zu, regen Antheil namentlich nehmend an den Disputirübungen, [12] welchen in dem Universitätsunterricht der damaligen Zeit so viel Gewicht beigelegt wurde. Fünf Jahre dauerte dieser Wittenberger Aufenthalt. Im November 1615 wendeten sich die Brüder nach Leipzig und nach Verlauf eines Jahres nach Jena. Hier wurden die ersten Schritte der damaligen akademischen Docentenlaufbahn gewagt durch Veranstalten von Disputirübungen und Privatvorlesungen. Im Mai 1618 kehrten die Jünglinge nach Wittenberg zurück, um ihre Promotion zu betreiben, welche nach Erfüllung aller Förmlichkeiten im Februar 1619 erfolgte. Von nun an trennte sich das Schicksal der Brüder. Während Konrad eine Hofrathsstelle bei dem Herzog Franz von Pommern annahm, bereitete sich Benedict zur großen akademischen Wanderschaft (peregrinatio academica) vor, welche die löbliche Sitte früherer Zeiten als Schlußglied einer vollendeten Erziehung forderte. Im Monat April 1619 brach Benedict C. auf, zog durch das südliche Deutschland und über die Alpen nach Italien. Venedig, Rom und andere berühmte Städte wurden besucht und nicht geringe Fertigkeit in der italienischen Sprache erlangt; weiter ging es über Savoyen und Piemont, wo dem berühmten Juristen Antonius Faber ein Besuch abgestattet wurde, nach Frankreich; dann nach England, endlich nach Belgien. Dort gedachte C. längere Zeit zu verweilen. Allein sein Vater rief ihn schleunig zurück, er war zu einer außerordentlichen Beisitzerstelle im Schöppenstuhl zu Leipzig designirt worden und sollte baldmöglichst in jenes altberühmte Dicasterium eintreten. Schon am 25. April 1620 erfolgte seine Verpflichtung. 1623 rückte er in eine ordentliche Assessur ein. Der Leipziger Scabinat, wurzelnd in den Erinnerungen eines alten Oberhofes, war nach der Fundation des Kurfürsten August vom Jahre 1574 vornehmlich Spruchcollegium sowol in bürgerlichen, wie in peinlichen Sachen, beschickt aus Sachsen und aus anderen Ländern; er war der vorzüglichste Träger der schon traditionell gewordenen Rechtspraxis, wie sie aus dem Conflict des einheimischen Sachsenrechts mit den fremden recipirten (römischen und canonischen) Rechten sich herausgebildet hatte. Daß Benedict C. sich eine genaue Kenntniß jener Praxis aneignete, daß er sich in den Vollbesitz der Ueberlieferungen des Schöppenstuhles setzte und die Mühe sich nicht verdrießen ließ, den in der Schöppenstube des Leipziger Rathhauses aufbewahrten „Urtelsbüchern und anderen zum Schöppenstuhle gehörigen Instrumenta und Urkunden und Schrifften“ (damals an 400 handschriftliche Volumina) ein eingehendes Studium zu widmen, dem hat er nicht zum geringen Theil seine großen Erfolge zu danken. Denn läßt sich die Zeit der Reception der fremden Rechte einer strengen Arbeitsperiode vergleichen, in welcher man sich mit Anstrengung den massigen Stoff angeeignet und für die oft sehr schwierige Verwerthung desselben im Leben die nöthige Fertigkeit und Sicherheit erworben, auch bei Ermangelung ausreichender Theorie über das Verhältniß des Fremden zum Einheimischen in reicher Casuistik eine Fülle nachzuahmenden Exempels geschaffen hatte, so war man nunmehr in das Stadium getreten, wo ein Bedürfniß nach mehr Ruhe sich geltend machte, nach Sicherstellung des Errungenen, nach Sammlung des mächtig angewachsenen aber zerstreut liegenden Materials und behufs besserer Handhabung, Ordnen desselben durch Einregistriren unter gewisse Kategorien. Wie dereinst Accursius mit seinem Sammelwerk die Arbeitsperiode der Glossatoren abgeschlossen hatte, wie gegen Ausgang des Mittelalters Jason de Mayno in seinem Bestreben, „die Ausbeute der Vorgänger und Zeitgenossen in seinen Schriften zu concentriren“, den Schlußstein der Commentatorenepoche bildet, ähnlich war es der riesigen Arbeitskraft Benedict Carpzov’s vorbehalten, die in Deutschland seit Ende des 15. und namentlich im 16. Jahrhundert zur Blüthe gelangte praktische Jurisprudenz abschließend in sich aufzunehmen und dadurch der Zukunft das Arbeitsfeld gewissermaßen neu zu planen. Benedict C. war weder ein großer [13] Exeget und Kenner des Alterthums, wie die Franzosen des 16. Jahrhunderts, noch ein zur Lösung tiefer Probleme berufener Denker, noch weniger ein durch Neuheit und Kühnheit der Ideen in Erstaunen setzender Reformator, seine Beanlagung war vielmehr eine mäßige, mehr in guten Eigenschaften des Charakters als in außerordentlichem Talent begründete. Seiner von tiefem religiösen Abhängigkeitsgefühl stammenden Gewissenhaftigkeit entsprach eiserner Fleiß und ein von klarem, aber trockenem, man möchte fast sagen hausbackenem, Verstand unterstützter Ordnungssinn. So stand er nicht über seiner Zeit, vielmehr hafteten die Schwächen derselben ihm in hohem Maße an: seine Orthodoxie schlug in Aberglaube (Hexenglaube) um; in der Jurisprudenz kann er sich selbst von falschen Autoritäten (Papst, Commentatoren) nicht ganz frei machen; im Bestreben, Gelehrsamkeit zu zeigen, häuft er einen wüsten Citatenkram, unbekümmert um das Gewicht und das Zutreffen der Allegate; mitunter benutzt er wol auch die Arbeiten Anderer zugreifender, als mit unseren heutigen Begriffen von litterarischem Anstand vereinbar ist. Aber gerade deshalb wol, weil er so recht Kind seines Jahrhunderts war und der Typus desselben in seinem Wesen ausgeprägt erscheint, machten seine Werke mächtigen Eindruck und auch der Zukunft wurden sie außer als Materialiensammlungen dadurch bedeutungsvoll, daß Carpzov’s klarer Ordnungssinn in höchst praktischer und faßlicher Weise über den reichen Stoff disponirt hatte, so daß hie und da noch einzelne Stücke der heutzutage üblichen „Systeme“ auf jene Disposition zurückzuführen sind. – Seine erste größere schriftstellerische Leistung veröffentlichte Benedict C. 1623 unter dem Titel: „Commentarius in L. Regiam Germanorum sive capitulationem Imperatoriam.“ Unter L. Regia Germanorum versteht C. die Wahlcapitulation der deutschen Kaiser; das ganze Werk läßt sich charakterisiren als Versuch einer Darstellung des Reichsstaatsrechtes. Die Anregung dazu hatte C. wol in Jena empfangen, wo damals Dominicus Arumäus die Herausgabe der „Discursus academici de iure publico“ – in welches Sammelwerk Carpzov’s Schrift als vierter Band aufgenommen ist – begonnen hatte. Jugler sagt von dieser Arbeit Benedict Carpzov’s: „sie ist wol die schlechteste unter allen übrigen des Verfassers“ und es ist ohne Weiteres zuzugestehen, daß auf sie dasjenige, was oben über die Bedeutung B. Carpzov’s ausgeführt wurde, weniger Anwendung findet. Aber man darf nicht übersehen, daß der Versuch Carpzov’s einem Gebiete galt, welches damals noch zu den beinahe unbetretenen gehörte; auch wird man nicht läugnen können, daß das Buch eine geradezu staunenswerthe Belesenheit des Autors an den Tag legt, auch klar und lebendig geschrieben ist. Daß es von historischen Irrthümern und Fehlern strotzt, wie die meisten publicistischen Arbeiten jener Zeit, ist selbstverständlich, fällt aber weniger dem Autor, wie der Kritiklosigkeit der damaligen Methode zur Last. Es blieb denn auch dieses Carpzov’sche Werk, trotzdem es bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts wiederholt aufgelegt wurde, ohne nachhaltige Einwirkung. Anders die nunmehr folgenden „Practica nova Imperialis Saxonica rerum criminalium“ (zuerst Vitemb. 1635). Die criminalistische Spruchpraxis des Leipziger Schöppenstuhles war eine reiche und äußerst mannigfaltige, besonders seit Kurfürst August 1574 dem Schöppenstuhl „Macht und Gewalt“ gegeben, „in peinlichen Sachen allein (d. h. mit Ausschluß anderer Dicasterien) Urtheil zu fällen und zu erkennen“. Auch aus der Vergangenheit hatte man einen festen Bestand der Uebung überliefert erhalten und zwar einer Uebung, die durch ihren Anschluß an die Quellen des Sachsenrechtes noch viele germanische Rechtsanschauungen und Einrichtungen in sich barg, einer Uebung, an deren Einbau in die in jener Zeit herrschende wissenschaftliche Doctrin der Italiener Juristen wie Hartmann und Modestinus Pistoris, Ludwig Fachs, Jakob Thoming, Daniel Moller u. A. mitgearbeitet hatten. Gewiß war es [14] ein gerechtfertigter Gedanke, den Schatz praktischer Erfahrung und einheimischer Rechtselemente, welcher in der Uebung des Schöppenstuhles sich vereinigt fand, zu benutzen und darauf „ein ausführliches System des Criminalrechts“ einschließlich des Criminalprocesses, welches damals der juristischen Litteratur in Deutschland noch fehlte, zu errichten. Zwar hatten schon Matthias Berlich († 1638), und noch mehr Peter Theodorich der einheimischen Rechtsentwicklung und besonders der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. in der Theorie des Strafrechts einige Berücksichtigung zu Theil werden lassen, ausreichend aber waren diese Bemühungen nicht: eine Theorie des deutschen Strafrechts konnte nur auf dem Wege geschaffen werden, den Benedict C. einschlug, durch consequente Herbeiziehung nicht blos deutscher Rechtsbücher und deutscher Gesetze, sondern vor allem der seit Zeit der Reception der fremden Rechte erwachsenen Praxis bei einem Gerichtshof, welcher dadurch sich auszeichnete, daß er stets in einem gewissen Zusammenhang geblieben war wie mit den Quellen so namentlich mit den im Volke fortlebenden Ueberlieferungen einheimischen Rechtes. Man kann daher mit Fug sagen, daß Benedict C. „der peinlichen Rechtsgelehrsamkeit eine ganz andere Gestalt gegeben habe“, er ist in der That der „Vater der Criminalisten“, wenn man unter „Criminalisten“ die Pfleger des nach Aufnahme der fremden Rechte erblühten „deutschen Criminalrechts“ versteht. Carpzov’s Verdienst ist also, daß er neben dem ius criminale, welches zum abstracten allgemein gültigen Weltrecht auf Grundlage der römischen und der kirchlichen Gesetzgebung sich unter den Händen der Commentatoren ausgebildet und in der Theorie bis dahin ausschließliche Berücksichtigung gefunden, wieder die nationalen Elemente auch in der wissenschaftlichen Darstellung zur Geltung brachte, welche niemals aufgehört hatten und naturgemäß niemals aufhören konnten, auf die Gestaltung des von den Gerichten wirklich angewendeten Strafrechtes bestimmend einzuwirken. Daher gewann Carpzov’s Buch nicht nur in Sachsen, sondern auch außerhalb bei den Gerichten ein fast gesetzmäßiges Ansehen, noch 1783 konnte ein bekannter Criminalist (Malblank) schreiben: „Wie viele Mühe es noch in unseren Zeiten koste, das tyrannisirende Ansehen Carpzov’s hier und da zu überwältigen, ist eine aus jedem Criminalcompendium bekannte Sache.“ Auch die Wissenschaft beruhigte sich zunächst vollständig bei C. Zwar trat noch bei Lebzeiten Carpzov’s ein heftiger Gegner des Werks auf in Just Oldecop, allein trotz seines „Scharfsinns und kühnen Eifers für Vernunft und Menschenrechte“ machten seine Angriffe keinen wesentlichen Eindruck, sie waren zum Theil wenigstens vom reinen Widerspruchsgeist dictirt und scheiterten an ihrer eigenen Maßlosigkeit. In neueren Zeiten hat C. viele Tadler gefunden. Da wird der alte Jurist in Anklage versetzt wegen seines „Mangels an Rechtsphilosophie und geläuterten historischen Kenntnissen“, da soll es ihm fehlen an „Humanität und an Kraft, sich über das Gemeine und Herkömmliche zu erheben“, „blinder und zuweilen dummer Religionseifer habe seinen Verstand dergestalt umnebelt, daß er oft am hellen Mittag im Finstern tappe“, „alle Irrthümer der italienischen Criminalisten ahme er getreulich nach, allein ihre vernünftigeren und in Bestrafung vieler Verbrechen aufgestellten weit gelinderen Grundsätze verlasse er, so oft sie ihm mit seiner persönlichen Frömmigkeit und seinen sächsischen Constitutionen sich nicht zu vereinigen scheinen.“ Diese Kritiker vom Standpunkt modernen Zeitbewußtseins messen nicht mit billigem Maßstab. „C. war durchaus gebunden im Geiste und in der Richtung seiner Zeit“, sagt C. G. v. Wächter, darin lag seine Schwäche, gewiß aber auch eine Mitursache seiner Erfolge. Wir fühlen uns nicht berufen zu Apologeten Carpzov’s: trotz aller wirklichen und vermeintlichen Fehler seines Werkes aber bleibt eines stehen: die Thatsache, daß er die wissenschaftliche Grundlage des positiven deutschen Strafrechtes geschaffen hat und daß in dieser [15] Beziehung alle Späteren auf seinen Schultern stehen. Seinem großen criminalistischen Werk ließ C. 1638 eine kurze Anleitung zum Criminalprocesse in deutscher Sprache unter dem Titel: „Peinlicher Sächsischer Inquisitions und Achts-Proceß“ folgen. Dieses Werk bereitete dem Autor, welcher sich auf dem Titel der ersten zu Frankfurt a. M. erschienenen Auflage nicht genannt hatte, einige Ungelegenheiten. Er hatte in demselben, auf die bereits erwähnte Bestimmung in der Fundation des Leipziger Schöppenstuhles von Kurfürst August gestützt, behauptet: außer den beiden Schöppenstühlen zu Leipzig und Wittenberg sei „kein Collegium oder Juristenfacultät im Churfürstenthumb Sachsen in criminalibus zu erkennen und Urthel zu sprechen berechtiget“. Dadurch fühlte sich die Leipziger Juristenfacultät, welche zu Gunsten ihrer Behauptung, die fragliche Augusteische Bestimmung beziehe sich nur auf die von landesherrlichen Gerichten, nicht auch auf die von adelichen und städtischen Criminalgerichten einzuholenden Urtel, vor kurzem eine günstige kurfürstliche Entscheidung erwirkt hatte, in ihrem Rechte beeinträchtigt. Auf die desfallsige Beschwerde der Juristenfacultät ordnete nun Kurfürst Johann Georg I. zu Sachsen Confiscation und Vernichtung der anstößigen Stellen des Carpzov’schen Buches an, ein Befehl, der vom Rath zu Leipzig so exact ausgeführt wurde, daß jetzt Exemplare der ersten Edition in ursprünglicher Gestalt zu den großen Seltenheiten gehören. In den gereinigten und in Exemplaren späterer Ausgaben steht an Stelle des anstößigen Passus der Abdruck zweier kurfürstlichen Rescripte an die Juristenfacultät und bezw. die Scabinen zu Leipzig, welche die Streitfrage im Sinne der ersteren entscheiden. Im nämlichen Jahre, in welchem dieser ärgerliche Handel spielte, erschien auch ein neues größeres Werk Carpzov’s, welches einen ähnlichen Plan, wie den der „Practica rerum criminalium“, auch für andere Rechtsgebiete, insonderheit Privatrecht, Lehnrecht, Civilproceßrecht durchführte. Der in den Urtelsbüchern des Schöppenstuhles verborgene Schatz sollte weiter erschlossen und die theoretische Begründung der durch die Schöffenentscheidungen constatirten Praxis versucht werden. Dabei galt es, „die Materialien des fremden Rechts mit dem einheimischen zu einem Ganzen“ zu verweben, was C. mit großer Geschicklichkeit durchführte (Haubold). Das Werk erschien in Form eines Commentars zu der berühmten Constitutionengesetzgebung des Kurfürsten August vom Jahre 1572 und führte den Titel „Jurisprudentia forensis Romano-Saxonica secundum ordinem Constitutionum D. Augusti Electoris Saxon. exhibens Definitiones succinctas iudiciales rerum et quaestionum in foro praesertim Saxonico occurrentium etc.“. Der Nebentitel: „Opus definitionum forensium oder iudicialium“ ist dem Titel des berühmten Buchs von Antonius Faber: „Codex definitionum forensium Fabrianus“ nachgebildet. Auch sonst diente der „Codex Fabrianus“ vielfach zum Vorbild. Das Ansehen, welches Carpzov’s „Opus definitionum“ sich errang, war kaum geringer, als dasjenige, welches die „Practica rerum criminalium“ genoß: auch außerhalb Sachsens folgten die Praktiker Carpzov’s Aussprüchen, wie einem Orakel. Nicht wenig mochte dazu beitragen, daß schon die kursächsischen Constitutionen von 1572 sich allgemeiner Anerkennung als Muster trefflicher Gesetzgebung erfreuten und auf die Gesetzgebung anderer Länder vielfach eingewirkt hatten. Zwar fehlte es nicht an theoretischem Widerspruch. Der Frankfurter Professor Johann Brunnemann griff in seinen Schriften bei aller Gelegenheit C. an: man zählt mehr als 300 Stellen zusammen, in welchen Brunnemann eine Widerlegung Carpzov’s versuchte. Diese Gegnerschaft wurde gewissermaßen erblich, indem sie Brunnemann’s Schwiegersohn Samuel Stryck fortsetzte. Der Jenenser Lyncker dagegen war mehr auf Carpzov’s Seite. Zu erzählen, wie hieraus widerliche bis gegen Ende des Jahrhunderts andauernde Zänkereien zwischen jüngeren in den Schulen der Genannten erzogenen Gelehrten entstanden, in [16] welche schließlich die Meister, ja die Namen der Universitäten Halle und Jena hineingezogen wurden, ist hier nicht am Platz. Die Brunnemann’sche Opposition schadete der unbedingten Autorität Carpzov’s wenig. Sein „Opus definitionum“ beherrschte Schulen und Gerichte, bis es durch Johann Heinrich v. Berger’s „Oeconomia iuris“ (zuerst 1712) verdrängt wurde. Und selbst nachher behielt der Name C. bezüglich einzelner Lehren, Ansichten und Meinungen einen gewissen Zauber der Autorität, welcher – merkwürdig zu sagen – hie und da bis in unsere Tage hineinreicht. 1642 ließ C. einen Band „Responsa iuris“ (in späteren Ausgaben „Responsa iuris electoralia“) drucken, welche theils im Schöppenstuhle theils im kursächsischen Appellationsgericht abgegeben waren. Das Werk ist wohlgeordnet und mit eigenen Zuthaten versehen, trägt aber doch einen weniger selbständigen Charakter wie die früheren. Daß nunmehr auch die Praxis des seit 1605 bestehenden obersten Tribunals in Kursachsen, des Appellationsgerichts zu Dresden, Berücksichtigung fand, hat seinen Grund wol darin, daß B. C., nachdem er bereits 1636 auch zum Assessor beim Leipziger Oberhofgericht (curia provincialis suprema) ernannt war, 1639 eine Bestallung als Rath im Appellationsgericht erhalten hatte. Indessen nahmen diese Aemter C. nur zeitweise in Anspruch, seine Hauptstellung war immer noch die eines Leipziger Schöppen, der nach der Fundation „alle Morgen Winters um sieben und Sommers um sechs Uhr“ mit seinen Collegen in der Schöppenstube „zu Hauffe“ kommen, daselbst „der Arbeit bis um 10 Uhr abharren“ und Nachmittags wieder von 1–5 Uhr seinem „Amte ob sein“ sollte. Seit 1627 war B. C. glücklich verheirathet mit Regina, einer Tochter Heinrichs v. Claußbruch, Erbherren in Meuselwitz und Thierbach. Diese Ehe war mit fünf Kindern gesegnet: drei Knaben und zwei Mädchen, die jedoch alle in zartem Alter verstarben. 1637 entriß der Tod dem schwergebeugten Mann auch die Gattin. Eines zweite Ehe schloß er 1640 (November) mit Katharina, Tochter des Professors der Theologie und Predigers an der Thomaskirche Burkard. Die im nämlichen Jahre an den Hof zu Weimar erhaltene Berufung als Rath schlug er aus. 1644 aber ließ er sich bewegen, die Bedienstung eines kursächsischen Hofraths (unter Beibehaltung der Stelle im Appellationsgericht) anzunehmen und demzufolge im November jenes Jahres nach Dresden seinen Haushalt zu verpflanzen. Allein schon nach vier Monaten zog er auf der nämlichen Straße, auf welcher er gekommen war, zurück. In Leipzig war der Ordinarius der Juristenfacultät Sigismund Finkelthaus gestorben und im Geheimrathsconcil C. zu seinem Nachfolger ausersehen worden. Die Ernennung des Ordinarius und ständigen Decanes der Juristenfacultät zu Leipzig erfolgte jener Zeit, da der Ordinarius ohne Weiteres zugleich kurfürstlicher Rath war, ohne vorgängige Facultätspräsentation durch den Landesherrn. So wurde denn C. vom Kurfürsten Johann Georg zum ordinarius Lipsiensis und zu der mit dem Ordinariat verbundenen Professur der Decretalen sowie zu den anderen Aemtern, die Finkelthaus inne gehabt, berufen. C. ergriff mit Freude die günstige Gelegenheit, dem Hofleben, welches er nicht liebte, Valet zu sagen; nur die ihm mitangetragene Direction des kirchlichen Consistorii lehnte er ab, dagegen übernahm er neben den anderen Stellen auch die mit den Directorialgeschäften verbundene erste Assessur im Hofgericht, wie er denn auch das von ihm schon seit 1633 eingenommene Seniorat im Schöppenstuhl sich durch besondere Gnade des Kurfürsten zu erhalten wußte. Am 24. April 1645 trat C. in die Juristenfacultät ein, im Monat Mai begann er seine Vorlesungen. Acht Jahre lang verwaltete C. seine ehrenvollen, aber schwierigen und mühevollen Aemter. Er schrieb und vertheidigte während dem eine ganze Reihe von Dissertationen, welche theils abgesondert theils unter dem Titel „Volumen disputationum historico-politico-iuridicarum“ zusammen gedruckt (1651) [17] erschienen. Aber auch seine Verpflichtung zu Vorlesungen über das canonische Recht gab ihm Anlaß, noch ein weiteres wissenschaftliches Gebiet zu betreten und mit der ihm eigenen Energie und auf das praktisch Verwerthbare gerichteten Tendenz umgestaltend zu bearbeiten. Exegetische Vorlesungen über das Corpus iuris canonici hatte man nach der Kirchenreformation auch auf protestantischen Universitäten wol beibehalten, mehr weil man gewohnt war, in ihnen den Proceß zu behandeln, als weil man für nöthig gehalten hatte, dem Rechte der Kirche einen besonderen Lehrvortrag zu wahren. Eine Theorie des protestantischen Kirchenrechts gab es damals nicht, das Material lag zerstreut in den einzelnen bezüglichen Reichsgesetzen, localen und territorialen Kirchenordnungen, theologischen und juristischen Schriften über einzelne einschlagende Gegenstände und Specialfragen. Das alles ging oft weit auseinander und war schwer zu vereinigen. Wol aber hatte unter dem Drange des Bedürfnisses des Lebens sich bei den kirchlichen Behörden, insonderheit den Consistorien, eine feste und ziemlich übereinstimmende Praxis gebildet, als deren Vorort, wenigstens bei den Lutheranern, Kursachsen galt. C. kündigte nun schon bei Antritt seines Lehramtes in einem besonderen Programm an, er behalte sich die Behandlung des Processes für eine abgesonderte Darstellung vor und werde vom ius canonicum, insoweit es in protestantischen Ländern recipirt, nur die eigentlich kirchlichen d. h. vor den Consistorien ressortirenden Materien nach der Methode seiner „Definitiones forenses“ in der Weise vortragen, daß er die Entscheidungen der einzelnen Quästionen aus den Quellen (Corp. iur. canon. und civilis, Kirchenordnungen etc.) beweise und durch Mittheilungen aus der Praxis des Oberconsistorium zu Dresden gewissermaßen confirmire. So gedenke er eine Jurisprudentia consistorialis seu ecclesiastica zu überliefern, die sowol Juristen als Theologen sehr nützlich sein werde.

Aus diesen Vorlesungen entstand ein Buch, welches unter den Titeln „Opus definitionum ecclesiasticarum seu consistorialium“ und „Jurisprudentia ecclesiastica seu consistorialis“, zuerst 1649 gedruckt wurde. Die in demselben enthaltenen Mittheilungen aus der Praxis des Dresdener Oberconsistorium stammen großentheils aus einer Privatsammlung, die der Wittenberger Professor Cornelius Croll, als er noch als Secretär bei jenem Collegium diente, sich angelegt hatte, und welche von den Erben Croll’s C. zur Verfügung gestellt war. Mit Recht bezeichnet es O. Mejer als „epochemachend, daß B. C. die protestantisch-kirchenrechtliche Jurisprudenz seiner Zeit zwar in Anschluß an das canonische Recht, aber unter dem Gesichtspunkt des praktischen Bedürfnisses einer Landeskirche in ausführlicher Darstellung einheitlich zusammenfaßte“. Auch an diesem Werke Carpzov’s hatten spätere Zeiten viel zu bemängeln, insonderheit wird gerügt, daß in demselben Vieles noch gar zu sehr nach dem „papistischen Sauerteige“ schmecke, wie denn auch das in demselben adoptirte sogen. Episkopalsystem vieler Anfechtung unterlag. Nichtsdestoweniger wurde das Werk Jahrhunderte lang „beinahe wie ein symbolisches Buch“ angesehen und vielfach ausgeschrieben. – Während der Zeit seines Leipziger Ordinariats ließ C. auch zwei Centurien „Decisiones“ aus der Praxis des Appellationsgerichtes, des Oberhofgerichtes, der Leipziger Juristenfacultät und des Schöffenstuhls drucken (1646 und 1652), denen nachmals (1654) eine dritte Centurie folgte. C. soll sich zur Bearbeitung dieser Sammlung der Hülfe von Studenten und Praktikern bedient haben. Es wird getadelt, daß in den vom Herausgeber beigefügten Zweifels- und Entscheidungsgründen die Rechtsquellen nicht selten vernachlässigt, dagegen im Allegiren von Schriftstellern zu viel geschehen sei. Indessen erlangte auch das Decisionenwerk auf die Praxis der Gerichte unbedingten Einfluß; ob, wie behauptet wird, in Folge einer Approbation durch den Kurfürsten, mag dahingestellt bleiben. – [18] Im Drange der mannigfaltigen akademischen und nichtakademischen Geschäfte und Arbeiten, die C. in seinen verschiedenen Aemtern und bei seinen umfangreichen litterarischen Unternehmungen zu bewältigen hatte, fühlte er sich glücklich. Auch seine häuslichen Verhältnisse hatten auf das angenehmste sich gestaltet. Zwar blieb seine zweite Ehe kinderlos, doch wird dieselbe als eine durchaus beglückende geschildert. Da starb im Jahre 1651 die geliebte Gattin. Fortan blieb C. Wittwer, eine Schwester führte ihm das Hauswesen; als auch diese verstarb, traten an ihre Stelle entferntere Angehörige. In wehmüthiger Sehnsucht gedachte später C. der glücklichen akademischen Zeiten in Leipzig: er pflegte reisenden Studenten und Gelehrten, die ihn besuchten und nach Sitte der Zeit ihr Stammbuch vorlegten, in dasselbe zu schreiben: „Extra Academiam (oder Lipsiam) vivere est miserrime vivere.“

Kurfürst Johann Georg I. wünschte den berühmten Juristen wieder in seine unmittelbare Umgebung zu ziehen und so wurde derselbe „nolens volens“ (wie er selbst schreibt) zum Mitglied des kurfürstlichen Geheimraths-Collegium ernannt. In Folge dessen entsagte C. sämmtlichen bisher bekleideten Aemtern und Stellen, ausgenommen der Assessur im Appellationsgericht, und zog nochmals nach Dresden über. Im Juni 1653 nahm er seinen Sitz unter den kurfürstlichen Geheimräthen ein. Vielleicht steht mit dieser Veränderung im Zusammenhang das Erscheinen (1653) einer pseudonymen politischen Schrift, die ihrer Zeit viel Aufsehen erregte und C. von den Meisten zugeschrieben wird. Es ist dies, wie die ebenfalls gedruckte deutsche Uebersetzung den Titel wiedergibt: „eine Rettung des Osnabrüggischen Friedens wider Innocentii X. Nullitätserklärung“). („Vindiciae pacificationis Osnabrügensis … a declaratione nullitatis … attentata ab Innocentio X.“)

Der Autor verbirgt sich unter dem Namen Ludovicus de Montesperato, auch ist ein falscher Erscheinungsort (London) angegeben. Obwol gegen die Autorität des Papstes gerichtet, gesteht doch die Schrift seltsamer Weise zu: „potestatem ecclesiasticam sublimiorem esse politica“, was ihr viele Anfeindungen zuzog. Die Vermuthung, daß C. der Verfasser sei, bleibt indessen unerwiesen, wenn auch dessen Bruderssohn, Aug. Bened. C., jene Autorschaft zugegeben hat. Einen 1654 erschienenen größeren Tractat „De oneribus vasalli feudalibus etc.“ hatte C. noch in Leipzig begonnen und anfänglich bestimmt, auf dem Katheder vertheidigt zu werden. Die Lehre der Neueren von den Lehnsschulden soll im Wesentlichen auf der hier zuerst vorgetragenen Theorie beruhen. Noch ein anderes berühmtes Werk Carpzov’s wurde in Dresden vollendet: der „Processus iuris in foro Saxonico“ (zuerst 1657). Wie C. bei Antritt der Professur des canonischen Rechts in Leipzig die Behandlung des Processes von den Vorträgen über Kirchenrecht ausgeschlossen und ad separatum verwiesen hatte, wurde bereits erwähnt. Damals schon war von ihm die Ausarbeitung eines praktischen Lehrbuches des bei den sächsischen Gerichten wirklich zur Anwendung kommenden Proceßrechtes zugesagt worden. Der aus einheimischen und fremden Elementen eigenthümlich zusammengewachsene „Sächsische Proceß“ hatte bereits eine verhältnißmäßig reiche und in der That bedeutende Litteratur aufzuweisen und mit Hülfe dieser sowie der für ihre Zeit mustergültigen kursächsischen Particulargesetzgebung seine den als Reichsproceß angenommenen romanisch-canonischen Proceß umgestaltende Mission begonnen. Da bedurfte es blos des umfangreichen und eingehenden Werks einer Autorität, wie sie C. erlangt hatte, um der „saxonisirenden Richtung“ in der gemeinrechtlichen Proceßtheorie zum Siege zu verhelfen. Darzustellen, wie diese zu einer „gemeinen Meinung“ sich ausbildete, „welche zu einem so großen Theil auf dem Einfluß der sächsischen Juristen und insonderheit Carpzov’s beruhte, daß die dem sächsischen Proceß verbleibenden [19] Eigenthümlichkeiten auf Rechnung seiner particulären Natur geschrieben werden konnten“ (Wetzell), ist hier nicht am Orte. Erst seit J. F. Ludovici’s Einleitung zum Civilproceß (zuerst 1705) schied man wieder schärfer zwischen gemeinem und sächsischem Proceß, aber Carpzov’s „Proc. iuris“ verlor dadurch nicht seine Herrschaft, auch gemeinrechtliche Richter unterwarfen sich ihr namentlich bei Entscheidung von Einzelfragen, und in der gemeinen Proceßtheorie läßt sich noch heutzutage in vielen Materien die Präponderanz Carpzovischer Ansichten nachweisen. Das Proceßwerk Carpzov’s theilt die Vorzüge und Mängel der übrigen Schriften des Verfassers, indessen muß hervorgehoben werden, daß noch gegenwärtig der Leser durch die große Klarheit und Anschaulichkeit der wohlgeordneten Darstellung und die Sicherheit, mit welcher der Verfasser den Schatz seiner praktischen Erfahrung verwerthet, angenehm berührt wird. Der Proceß ist das letzte große Werk Carpzov’s. Das Alter nahte und mit ihm wuchs der Ueberdruß am geräuschvollen Hofleben, die Sehnsucht nach dem stiller Muße so günstigen Leipzig. C. nahm daher 1661 seinen Abschied, welcher ihm von Johann Georg II. unter Belassung des Titels eines kurfürstlichen Geheimrathes und der Assessur im Appellationsgericht gewährt wurde. Und wieder erblicken wir C. im August jenes Jahres auf der Straße nach Leipzig seinen Rückzug bewerkstelligen. Er hatte sich vom Kurfürsten eine eben erledigte Beisitzerstelle im Schöppenstuhl erbeten und dieselbe verliehen erhalten. In dem Collegium, in welchem er angefangen hatte, nahm er wiederum einen Platz ein und zwar, wie erzählt wird, den untersten. Allein es soll sich seltsam gefügt haben, daß er innerhalb weniger Jahre durch den Tod der ihm vorgehenden Schöppen nochmals zum Seniorat aufrückte, welches er schon vor etwa 30 Jahren zum ersten Mal erlangt hatte. So ging denn B. C. wieder in altgewohnter Weise täglich zur Schöppenstube. Sein seit frühester Jugend durch keinen Krankheitszufall unterbrochenes Wohlbefinden wurde jetzt bisweilen durch Steinschmerzen und Gliederreißen (articularis morbus) getrübt. Am 25. August 1666 befiel ihn ein Unwohlsein, welches er zunächst so wenig achtete, daß er noch am folgenden Tag im Scabinat erschien; aber er wurde bettlägerig und entschlief am 30. August jenes Jahres Morgens nach 1 Uhr bei vollem Bewußtsein und ohne Todeskampf. Die große persönliche Frömmigkeit Carpzov’s ist beinahe sprüchwörtlich geworden. Fast nie versäumte er die Predigt, monatlich ging er zum Abendmahl, die Bibel hat er 53 Mal vom Anfang bis zu Ende durchgelesen und ihr außerdem noch eingehenderes Studium unter Zuhandnahme gelehrter Hülfsmittel gewidmet. Dabei war er ein abgesagter Feind aller Scheinheiligkeit, voll wahrhafter Demuth, dienstbeflissen, wohlthätig, hülfsbereit, standhaft, gerecht, mäßig und stets die Würde wahrend. Selbst seine Gegner geben „manche persönliche gute Eigenschaften“ des Mannes zu. Allein das Bild Carpzov’s erschien späteren Zeiten getrübt dadurch, daß man ihn persönlich verantwortlich machte für die Verirrungen und Härten einer dunklen und rauhen Periode. Man darf nicht vergessen, daß es die Zeit des dreißigjährigen Kriegs und der nachherigen Verwilderung war, in welche seine Blüthe fällt. Sentimentale Humanität war damals nicht am Platze und in der That scheute C. vor Anwendung der Todesstrafe nicht zurück. Gemeiniglich stellt man ihn daher als einen blutdürstigen Inquisitionsrichter dar. Man liest: „C. hat 20000 Todesurtheile gefällt, zumeist in Hexenprocessen“ und schaudert. Voll sittlicher Entrüstung und im Verdammungseifer verfällt man gar nicht darauf, die Wahrheit jener Angabe zu prüfen. Und doch erhellt auf den ersten Blick, daß, wäre die Behauptung wahr, C. von den Windeln an an jedem Tag seines 71jährigen Lebens mehr als ein Todesurtheil gefällt haben müßte. In der That sagt der Urheber der Mythe, Ph. Andr. Oldenburger (Thesaur. rer. publicar. T. IV. [1675] p. 816), nur, daß C. gegen 20000 Todesurtheile [20] „veranlaßt“ habe, was, wenigstens in der Quelle Oldenburger’s, sicherlich so zu verstehen ist, daß die (als Folge der damals herrschenden Abschreckungstheorie erklärliche) Härte der von C. in seiner „Practica rer. criminalium“ vertheidigten Strafsätze (z. B. beim einfachen Diebstahl über 5 Ducaten Tod), die Ursache von mehr denn 20000 Todesurtheilen gewesen sei. Die Hexenprocesse aber auf Carpzov’s persönliche Rechnung zu schreiben, bleibt deshalb ungerecht, weil er in dieser Beziehung in seinen Schriften nur dem Ausdruck gegeben hat, was in Folge des allgemeinen Hexenglaubens von der Gemeinüberzeugung jener Zeit für nützlich und nothwendig gehalten wurde.

Witten, Memor. Jurisconsultorum pp. 458 ss. Jugler, Beiträge I. S. 280 ff.