Zum Inhalt springen

ADB:Ihering, Rudolf von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Jhering, Rudolf“ von Ludwig Mitteis in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 652–664, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ihering,_Rudolf_von&oldid=- (Version vom 1. Dezember 2024, 17:51 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Jessen, Carl
Nächster>>>
Ihlee, Johann Jacob
Band 50 (1905), S. 652–664 (Quelle).
Rudolf von Jhering bei Wikisource
Rudolf von Jhering in der Wikipedia
Rudolf von Jhering in Wikidata
GND-Nummer 118555367
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|50|652|664|Jhering, Rudolf|Ludwig Mitteis|ADB:Ihering, Rudolf von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118555367}}    

Jhering: Rudolf J. wurde am 22. August 1818 als Sohn des Rechtsanwalts und Secretärs der ostfriesischen Stände Georg Albrecht J. zu Aurich in Ostfriesland geboren. Die Familie, über deren Geschichte Ch. H. Gittermann in seiner Biographie des Herrn G. A. J. (Aurich 1865, auch im „Neuen Nekrolog der Deutschen“, 3. Jahrg. 1825) ziemlich eingehende Nachrichten gibt, läßt sich weit zurückverfolgen. Nach den (vom Verf. nicht nachgeprüften) Mittheilungen Gittermann’s stammt sie aus Franken, wo ihre Spuren bis ins 14. Jahrhundert nachzuweisen sind; im 15. Jahrhundert ist nennenswerth als directer Vorfahr Rudolf Jhering’s der in Sachsen geborene Konrad J., welcher vom Kaiser Friedrich III. zum Pfalzgrafen ernannt wurde, mit der Bestimmung, daß diese Würde jederzeit auf den Erstgeborenen seiner Nachkommenschaft übergehen solle. Doch muß dieses Vorrecht sehr bald (angeblich schon in der ersten Generation) wieder verloren worden sein. Die Familie läßt sich in ziemlich reicher Verzweigung auch später noch verfolgen; der hier in Frage stehende Stamm zog sich schon im 16. Jahrhundert nach Ostfriesland. Ein Urgroßvater Rudolf Jhering’s war Sebastian Eberhard J. (1700–1759); dieser, ein Urenkel von Hermann Conring, wirkte von 1735 als Kammerrath in Aurich. Ebenso lebten auch Jhering’s Großvater und Vater daselbst als Verwaltungsbeamte und haben durch energisches und gemeinnütziges Wirken ein geachtetes Andenken hinterlassen.

Nach dem frühzeitig (1825) erfolgten Tod seines Vaters bezog Rudolf J. das Gymnasium zu Aurich, welches er zu Ostern 1836 verließ, um sich den juridischen Universitätsstudien zu widmen. Nachdem er ein Jahr zu Heidelberg, dann in München, Göttingen und Berlin studirt hatte, promovirte er 1842 zu Berlin mit der Dissertation „De hereditate possidente“ und erlangte schon 1843 ebenda die Zulassung zur Privatdocentur. Von da ab verfloß sein Leben in ruhigem, wenngleich glänzendem akademischem Gang. 1845 wurde er als ordentlicher Professor nach Basel, 1846 nach Rostock, 1849 nach Kiel, 1852 nach Gießen berufen. Hier trat ein langer Stillstand in seiner akademischen Laufbahn ein; sechzehn Jahre blieb er in Gießen, wie es scheint nicht freiwillig; es liegt die Vermuthung nahe, daß die vielfach bestehende Opposition gegen die von ihm damals eingeschlagene wissenschaftliche Richtung hierbei mitgewirkt hat. In der langen Gießener Zeit hat J. eines seiner Hauptwerke geschaffen, den „Geist des Römischen Rechts“, sowie zahlreiche Abhandlungen, die seinen Namen emporhoben; in dieser Zeit geschah es auch, daß er als Candidat für das norddeutsche Parlament aufgestellt wurde, jedoch, nicht zum Schaden der Wissenschaft und seiner eigenen Entwicklung, bei der [653] Stichwahl unterlag. Das Jahr 1868 brachte unter glänzenden äußeren Ehren und Bedingungen die Berufung an die Universität Wien, welche er jedoch, nachdem er im J. 1871 abgelehnt hatte, sich nach Straßburg berufen zu lassen, im J. 1872 wieder verließ, um sich in die Stille der Göttinger Arbeitsluft zurückzuziehen; damals wurde ihm der österreichische Adelstand verliehen. Der Universität in Göttingen ist J. dann treu geblieben bis zu seinem Ableben, obwol das Jahr 1874 ihm zwei Berufungen – nach Leipzig und Heidelberg – brachte.

Diese Lebensgeschichte ist, wenn man will, arm an äußeren spannenden Momenten; es ist das Bild eines Gelehrtenlebens, ohne die Zutaten, welche für viele demselben erst seinen Reiz geben. Politischer Bethätigung ist J. immer fern geblieben, und nur damals, als er sich für das norddeutsche Parlament candidiren ließ, scheint die Versuchung, diese Laufbahn zu betreten, ihn überwältigt zu haben. Daß er an der Bewegung des Jahres 1848 theilgenommen hätte würde man eigentlich bei seinem lebhaften Naturell beinahe erwarten; aber es ist nichts davon bekannt geworden und es mag auch sein damaliger Aufenthaltsort (Rostock) nicht der richtige Boden für eine größere politische Bethätigung gewesen sein. Zudem scheint er trotz seines regen und nicht an die Studirstube gebannten Geistes keinen Zug zur Politik gehabt zu haben; wäre es der Fall gewesen, so würden sich in seinen Schriften die dazu vielfach Anlaß geben, politische und staatsrechtliche Bemerkungen in größerer Anzahl finden; auch würde ein Mann, der die Feder so gern zu einem actuellen Thema ergriff, schwerlich die Gelegenheit versäumt haben, sich litterarisch zu den Tagesfragen zu äußern. – Ebensowenig ist J. jemals als praktischer Jurist thätig gewesen, obwol er nach dieser Richtung sehr ausgesprochene Anlagen und Interessen an den Tag legt und als Gutachter über den Lucca-Pistoja-Actienstreit, den Berner Schießplatz und die Baseler Festungswerke, sowie auf Wunsch des Reichsjustizamtes im J. 1887 über den Schutz der Inedita fungirt hat. So bildete für ihn die Wissenschaft den einzigen Inhalt des Lebens. Allerdings hat sie denselben gerade für ihn besonders reich ausgestattet und seinem Dasein zwar nicht die äußere Bewegung, aber doch all den Glanz verliehen, den bei weniger ungewöhnlichen Geistern nur eine erfolgreiche praktische Thätigkeit zu gewähren vermag. Den äußeren Höhepunkt seines Lebens bildet dabei unzweifelhaft seine Berufung an die Wiener Universität und die dort verlebte Zeit. Den inneren Culminationspunkt seines Schaffens hatte J. allerdings schon früher, in der Gießener Periode erreicht; aber hier wie gewöhnlich mußte der weltliche Erfolg den geistigen besiegeln, um die Bedeutung des Mannes den großen Massen zur Kenntniß zu bringen, wobei es freilich klar ist, daß eben auch nur für eine im Vollbesitz selbstbegründeter Autorität stehende Persönlichkeit jene Berufung ein solcher Triumpf werden konnte wie sie es thatsächlich gewesen ist. Denn die auszeichnende Form, in welcher die österreichische Regierung diese von J. nicht ohne Bedenken angenommene Berufung durchzuführen wußte und die Erfolge, welche J. sofort bei seinem Auftreten in Wien fand, dürften im akademischen Leben selten sein. Dabei kam ihm noch die gerade auf sein impulsives und subjectivisches Wesen gestimmte Empfänglichkeit der Wiener Gesellschaft und der Umstand zu statten, daß sein Auftreten die Krönung des von Brinz, Unger [WS 1], Glaser, Siegel, Arndts u. A. neugeschaffenen Gebäudes einer austriacistischen Rechtswissenschaft zu bedeuten schien. Welche Gründe J. bestimmt haben, diesen Wirkungskreis so bald wieder zu verlassen, steht dahin und es ist müssig danach zu fragen; ja es ist zweifelhaft, ob für J. selbst außer dem von ihm selber gewöhnlich angegebenen und auch unzweifelhaft zutreffenden Grunde der Ueberbürdung mit [654] akademischen Lasten und der großstädtischen Ruhelosigkeit nicht unbewußt noch weitere Empfindungen mitgespielt haben. Denn, ob er sich nun darüber klar war oder nicht, gewiß ist es, daß der intensive Erfolg seines ersten Auftretens im Lauf der Jahre sich naturgemäß hätte abschwächen müssen. Die Reibungen des Daseins würden auch hier nicht ausgeblieben sein, und wo andere sich in ihre Stellung erst hineinwachsen, hatte er nur zu gewärtigen, daß das Ungewöhnliche seines ersten Erfolges mit der Zeit der alltäglichen Gewohnheit erliegen mußte. Zudem ist das reichbegabte Naturell der Oesterreicher, und das hat J. sicher empfunden, mehr politisch als wissenschaftlich angelegt, und gerade in Wien wird die stille Thätigkeit des Gelehrten durch den, wenn auch nicht immer fruchtbringenden so doch stets lauten Gang der politischen Mühlen leicht übertönt. So hat J. einer gewiß richtigen Empfindung Folge geleistet und seiner eigenen Entwicklung einen unschätzbaren Dienst erwiesen als er sich auf der Höhe seines Erfolges in die Göttinger Stille zurückzog. Er hat damit, indem er auch fernerhin jeden größeren akademischen Wirkungskreis verschmähte und es vorzog, sich aufsuchen zu lassen, sich die glückliche Position eines auf sich selbst gestellten Denkers bis an sein Ende gesichert.

In Göttingen waren ihm noch zwanzig Jahre ernster und friedlicher Arbeit beschieden. Er lebte hier in einem vertrauten Kreis von Freunden und bildete, obwol er sich allen akademischen Würden entzog und sogar von der Verpflichtung dazu officiell entheben ließ, doch einen Mittelpunkt der Universität. An der Seite seiner zweiten Frau, im Kreise seiner heranwachsenden Kinder erster Ehe verbrachte er in unablässigem Schaffen die späten Mannesjahre. Das herannahende Alter fand ihn ungebeugt. Reiche Ehre und Anerkennung und die dankbare Anhänglichkeit hervorragender Genossen und zahlloser Schüler verschönten seinen Lebensabend. Am 8. August 1892 beging er unter großer Betheiligung der deutschen Juristenwelt sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum. Dieses war sein letztes Fest. Schon damals machten sich die Spuren einer schweren organischen Erkrankung bemerkbar; das Leiden verschlimmerte sich rasch. Am 20. September verschied er in seinem Hause zu Göttingen.

Jhering’s Stellung in der Geschichte der Rechtswissenschaft in einem auf die Dauer veranlagten Werk zu charakterisiren, ist eine dankbare Aufgabe; nachdem der große Strom, der zum größten Theil recht leichtflüssigen Elogien, die bei seinem Tod geschrieben worden sind, rasch abgeflossen ist, droht heute bei der Umwerthung aller juristischen Werthe, welche einerseits die Codification des deutschen Civilrechts, andererseits die ungeheure Entwicklung des öffentlichen Rechts und die im Zuge befindlichen Umwälzungen in der Strafrechtswissenschaft mit sich bringen, den Juristen des vorigen Jahrhunderts eine rasche Veraltung ihrer Schöpfungen, damit aber auch vielfach die Gefahr der Unterschätzung des Antheils, den sie fortdauernd an der heutigen Entwicklung besitzen. Zumal eine in beschleunigtem Tempo lebende und aus den alten engen Verhältnissen immer lebhafter hinausdrängende Zeit wie die heutige den an sich gewiß sehr berechtigten Zug hat, lieber in die Zukunft zu blicken als in die Vergangenheit und auch die Zeiten nicht mehr sind, wo bei dem völligen Mangel jedes politischen Lebens das Erscheinen eines Buchs als ein Ereigniß im Leben der Nation angesehen werden konnte, ist für den Heroencultus im Gebiet der Wissenschaften gegenwärtig wenig Stimmung vorhanden. Darunter haben von den Juristen des vorigen Jahrhunderts Verschiedene in verschiedenem Maß zu leiden; die Häupter der historischen Schule, Savigny und Puchta, fast gar nicht, theils deshalb, weil sie wahre Classiker sind, theils auch darum, weil ihre Stellung schon längst vor dem Beginn jener Umwandlungen eine unerschütterlich gefestigte war. Auch die reinen [655] Historiker unter den Juristen wie z. B. Bruns werden wenig berührt, weil die Rechtsgeschichte eine in sich abgeschlossene und von den juristischen Zeitströmungen unabhängige Wissenschaft bildet. Jene dagegen, deren Schwergewicht auf dem rein juristischen oder dem doppelt wandelbaren rechtsphilosophischen Plane liegt sind heut unverkennbar einem gewissen Undank ausgesetzt und ob die Zukunft von selbst zur richtigen Revindication ihrer Verdienste gelangen würde, ist zweifelhaft. Auch Jhering’s Andenken ist dieser Möglichkeit zwar theilweise, aber keineswegs ganz entrückt, und es ist darum ein Gebot der Gerechtigkeit, es vor derselben zu schützen. Allerdings ist dabei von kritikloser Bewunderung durchaus abzusehen. Aber das Bleibende und vielleicht in späteren Zeiten zu neuer Keimkraft erwachende in vielen seiner Werke, darf nie vergessen werden.

Man kann aber an eine Würdigung seiner einzelnen Arbeiten nicht herantreten ohne die Persönlichkeit des Mannes an die Spitze zu stellen. Mehr als bei irgend einem der führenden Juristen des vorigen Jahrhunderts ist es bei J. die Gesammtpersönlichkeit, welche seine Bedeutung ausmacht. Vor allem liegt seine gewaltige Bedeutung in dem Leben, das er der Jurisprudenz seiner Tage eingehaucht hat; daß er durch den reißenden Zug seiner Ideen die Jurisprudenz mit einem einheitlichen, lebendigen Lufthauch erfüllte und wenigstens die Romanistik vor der ihr stellenweise sehr gefahrdrohenden Scholastik bewahrt hat, bleibt eine Thatsache, welche vor allem diejenigen zu schätzen wissen, die damals jung gewesen sind. Es hat unzweifelhaft zu jener Zeit zahlreiche Juristen gegeben, die ihm an rein wissenschaftlicher Bedeutung annähernd gleichkamen, daneben aber auch recht viel alexandrinisch Veranlagte. Diese Richtung unschädlich zu machen, ist Niemand besser gelungen als J. Die Belebung der Wissenschaft ist nicht bloß Sache der Erkenntniß sondern auch der Subjectivität. Daß die Rechtswissenschaft auch an äußerem Ansehen und Popularität mit den aufblühenden Naturwissenschaften gleichen Schritt halten konnte, daran hat J. von allen seinen Zeitgenossen wahrscheinlich den größten Antheil, und er hat ihn infolge des fast revolutionären Charakters seines wissenschaftlichen Auftretens. Durch alle seine Schriften zieht sich der Schwung eines rücksichtslosen, hohen Gesichtspunkten nachstrebenden Geistes hindurch. Zwar der specifisch-juristische Gesichtskreis selbst ist im Grunde bei J. kein allzuweiter; Schule und Rüstzeug ist ihm überall das Römische Recht und von modernen Gesetzbüchern weiß er wenig, von ausländischen so gut wie nichts, die juristische Praxis hat er kaum gesehen. Auch in der Römischen Geschichte ist seine Auffassung gebildet an Niebuhr, Rubino und Göttling und der ungeheuren Vertiefung und Erweiterung, die Mommsen’s Auftreten hier mit sich brachte, ist er, wiewol er für das Alles die lebhafteste und gewiß aufrichtige Anerkennung besaß, ersichtlich nicht activ gefolgt. Manche seiner Schriften, wie „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ zeigen uns den richtigen Gesichtskreis des romanistischen Professors der 1850er Jahre – selbst in dem geistvollen Spott für unseren heutigen Geschmack ein zu lebendiges Interesse für Dinge, die schon damals etwas zum altväterischen Hausrath gehörten. Aber dieser Mangel seiner rein juristischen Interessenkreise – die philosophischen sind eine Sache für sich – sind bei J. mehr als wettgemacht durch die intensive Kraft, mit der er das Einzelne durchdringt und belebt und durch die Freiheit, mit der bei ihm der Gedanke mit einem beschränkten Stoff die höchsten Erzeugnisse wenn nicht herzustellen so doch anzudeuten vermag.

Im Einzelnen muß man bei Jhering’s Arbeiten die philosophischen von den juristischen unterscheiden. Nur diese beiden Kategorien sind vorhanden; historische Arbeiten im strengen Sinn giebt es nicht. Denn die allerdings [656] zahlreichen historischen Betrachtungen, die sich im „Geist“ befinden, haben auf dieses Prädicat nur in beschränktem Umfang Anspruch. Sie sind nicht um der Geschichte, sondern um der Idee willen geschrieben; diese ist das Leitmotiv, welches mit historischen Excursen nur ausgeführt und auf solche nur gestützt wird. An der Idee darf es nun natürlich auch in einer historischen Darstellung nicht fehlen, wenn anders sie auf den Namen einer Darstellung Anspruch erheben und nicht als reine Materialiensammlung gelten will; aber die Idee quillt hier aus den Thatsachen hervor, während sie bei J. stets das Princip geblieben ist. Daß dabei auch die Objectivität der geschichtlichen Forschung im Einzelnen leicht leidet, ist klar: Jhering’s historische Excurse sind sämmtlich mit großer Voreingenommenheit geschrieben und eine wahrhaft objective Würdigung der Thatsachen wird man vergeblich suchen, abgesehen davon, daß mitunter störende Versehen unterlaufen – so wird z. B. im Besitzwillen ein Rescript von Caracalla vom Jahre 214 beständig dem Antoninus Pius zugeschrieben – daß oft mit recht unvollständigem Material gearbeitet wird und vielfach auch mit einer weitgehenden Unkenntniß der Litteratur – so konnte J. in der Vorrede zur vierten Auflage des dritten Bands von Geist eine achtundzwanzig Seiten stark Ausführung darüber geben, daß die praedes und vades keinen Hauptschuldner voraussetzen und das als wichtigste originelle Entdeckung bezeichnen (p. XII), ohne zu wissen, daß Mommsen sechsunddreißig Jahre früher in den Stadtrechten, nur mit weniger Worten, dasselbe gesagt hatte. – Exacte Historiker waren über diese Arbeitsweise denn oft auch ganz entrüstet; die ersten Bände des „Geist“ sind von der historischen Schule mit nicht verhohlener Ablehnung empfangen worden. Wie J. dem Verfasser dieser Zeilen einmal selbst mitgetheilt hat, hat einer seiner Freunde, ein angesehener, damals noch junger Gelehrter, sich bei J. entschuldigt, daß er den ersten Band des Geist nicht besser hätte recensiren dürfen; er wäre persönlich sehr dafür eingenommen, getraue sich aber mit Rücksicht auf seine akademische Laufbahn nicht dies zu sagen. Noch nach vielen Jahren ist die verdrossene Art ganz unverkennbar mit der z. B. Pernice, freilich im Punkt der historischen Exactheit wie der Schwungkraft gerade der richtige Antipode von J., dessen Untersuchungen über das Schuldmoment citirt. In dieser Ablehnung durch die Historiker liegt nicht bloße Pedanterie sondern vor allem der gesunde Zug zum historisch Objectiven und das ehrbare Bewußtsein, daß in diesen Dingen die banalste wahre Thatsache immer unendlich mehr werth ist als die schimmerndste aber falsche „historische Idee“. Man kann dabei J. auch nicht die Entschuldigung zu theil werden lassen, daß er auf historische Untersuchung und auf den Namen eines Historikers keinen Anspruch gemacht hat; die geringschätzige Art, wie er sich öfters z. B. über Rudorff geäußert hat, zeigt deutlich, daß er seine Arbeitsweise auch für eine historisch berechtigte hielt, ganz abgesehen von der „Entwicklungsgeschichte der Indoeuropäer“, auf welche ich noch zu sprechen komme.

Man kann die historischen Excurse Jhering’s also nur vom philosophischen Standpunkt aus betrachten; er ist eben ein Schüler und letzter Ausläufer der historisch-philosophischen Richtung, wie sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts weitverbreitet war und ihren unzweifelhaft bedeutendsten Vertreter in Hegel gefunden hatte. Allerdings gilt aber der Einfluß der älteren auch nur für Jhering’s Anfänge: der erste und die erste Hälfte des zweiten Bands von Geist: diese sind geschichtsphilosophische im alten Sinne und man muß wohl sagen, daß ihnen dies nicht zur Zierde gereicht. Wer heute diesen Theil des Werkes liest, ist weniger über die ihr vielfach zu Theil gewordene Ablehnung als darüber erstaunt, daß sie noch soviel Anerkennung gefunden hat; [657] nicht bloß die Methode, auch die Gedanken sind keineswegs durchaus originell, was über die älteste Organisation, gens, Königthum, Pontifex u. dgl. gesagt ist, ist lediglich bekanntes, schon vor fünfzig Jahren bekannt gewesenes und nur die über die damaligen Stilisten weit hinausreichende Art der Darstellung, der Reichthum der Ausgestaltung im Einzelnen und der jedenfalls großzügig angelegte Plan das ganze System des römischen Rechts in dieser Weise zu reconstruiren, vermögen den Erfolg zu erklären, den schon dieser Theil des Werkes bei Vielen gehabt hat. Uebrigens steht dabei der erste Theil des zweiten Bandes immerhin schon beträchtlich höher als der Anfang des Werkes.

Auf seine eigentliche Höhe hat sich der Geist erst erhoben als mit des zweiten Bandes zweitem Theil – erschienen 1858 – J. zur Darstellung der Rechtstechnik überging. Hier verläßt er die im Grunde doch ausgetretenen Bahnen der älteren allgemeinen Geschichtsphilosophie und schafft sich seinen specifischen Ideenkreis. Dieser charakterisirt sich gegenüber dem Vorhergehenden einerseits durch das stärkere Hervortreten des specifisch Juristischen, andererseits – in philosophischer Hinsicht – durch die deutliche Ueberleitung in die teleologische Auffassung, weshalb denn die späteren Theile des Geistes ganz von selbst in den Zweck im Recht übergegangen sind. Der teleologische Gedanke geht hier dahin, daß J. in der Rechtsentwicklung nicht die unbewußte Schöpfung eines nicht greifbaren in der unbestimmten Vielheit des Volkes lebenden Kraftsubstanz, sondern lediglich die bewußte und zweckmäßige Mit- und Nacheinanderarbeit Einzelner, allerdings ungezählter Einzelner annehmen will. In diesem Gedanken, der unzweifelhaft richtig und dessen Anwendung auf die römische Rechtsgeschichte ihm zuerst eigenthümlich ist, hat J. einen großen Fortschritt für die Romanistik herbeigeführt, der indirect auch durch Aufstellung des richtigen Musters für die Schwesterwissenschaften von Werth geworden ist. Allerdings ist der eigentliche Werth dabei in der juristischen Durchführung gelegen; der teleologische Gedanke war natürlich uralt. Die Durchführung aber bedeutet für J. die Untersuchung der juristischen Technik der Römer und die Theorie der Technik, welche er hierbei aufgestellt hat, ist ebenso glanzvoll als ergiebig. Insbesondere die Theorie der Wort- und Symbolformen, welche die Rechtsgeschäfte und Processe annehmen, bedeutet die Einführung einer neuen und sehr fruchtbaren Methode. Man wird natürlich nicht verkennen, daß auch bei älteren Schriftstellern gelegentliche Untersuchungen über den Inhalt und Ursprung der Formeln und Symbole vorkamen, aber für das Römische Recht doch weniger als für das deutsche und jedenfalls in mehr philologischer als juristischer Weise: die eigenthümlich-juristische Deutung der Formen und ihres Details, insbesondere die Beobachtung dieses Details und die Erkenntniß des ursprünglichen Lebens, das in vielen rudimentären, sinn- und zwecklos gewordenen und darum wenig beachteten Formen geherrscht hat, ist ein ganz eigenthümliches Verdienst jener Schrift. Auch die Theorie vom Scheingeschäft, von der juristischen Analyse und vieles Andere sind nicht zu vergessen; das sind Dinge, die auf die spätere Zeit tiefen Einfluß geübt und sie sind es unzweifelhaft auch, welche Jhering’s Namen eigentlich begründet haben. Das heut langsam in Vergessenheit gerathen lassen zu wollen, wozu Einzelne neigen, und oft gerade diejenigen, welche J. bei seinen Lebzeiten am geschmacklosesten ihr Huldigungen darbrachten, ist wenig löblich und heißt die Entwicklungsgeschichte der romanistischen Wissenschaft entstellen.

Offenbar schon bei der Abfassung der späteren Bände des Geistes hatte J. die Empfindung, daß sein neuer Ideenkreis die Rahmen des Römischen Rechts überschreite und auf den Boden der abstracten Rechtswissenschaft hinüberführe [658] und diesem Gedanken ist er mit seinem Zweck im Recht gefolgt. Der Geist wurde infolge dessen nicht fortgesetzt, wie es denn ein Charakteristikum von Jhering’s Arbeitsweise war, daß seine Werke Torsos blieben – nicht aus einfacher Unlust an der Vollendung sondern weil die innere Entwicklung seiner Gedankenreihen die ursprüngliche Anlage immer sprengte. Ueber den Werth des Zwecks mögen Manche günstiger denken als ich; ich halte ihn trotz mancher glänzender Einzelheiten für ein in der Hauptsache schwaches Werk. Einerseits tritt hier wo die specielle Anwendung der Teleologie auf Jhering’s Fachwissenschaft nicht mehr in Frage stand, und daher die gerade hier bahnbrechende Detailforschung entfiel, die mangelnde Originalität des teleologischen Grundgedankens stärker und störender hervor als im Geist, andererseits ist auch die Durchführung dieses rationalistischen Utilitarismus eine schwächliche und zeigt vor allem eine gewisse Enge des Gesichtskreises und dadurch bedingte Aermlichkeit der Ausführung. Ueberhaupt wirkt, sofern das Buch doch auch als ein sociologisches gelten will, der Vergleich mit der englisch-amerikanischen und selbst der deutschen Sociologie etwas beschämend. Zweihundert Jahre früher würde sich Jhering’s System beträchtlich stärker herausgehoben haben als es zur Zeit von Herbert Spencer[WS 2] einer- und Karl Marx andererseits noch der Fall sein konnte.

„Der Kampf ums Recht“, eine kleine aus einem Abschiedsvortrag in Wien hervorgegangene Gelegenheitsschrift, betont in sehr ansprechender Weise den Gedanken, daß die Durchsetzung des subjectiven Rechts für dessen Träger ethische Pflicht sei und nur in der gemeinsamen consequenten Festhaltung dieses Pflichtgedankens das sittliche Zusammenleben gedeihen kann. Man muß dieses Schriftchen noch zu Jhering’s philosophischen Schriften stellen, obwol es eigentlich, so wie es ist, keinem bestimmten System angehört; denn es ist eine seiner geistvollsten Leistungen und enthält eine noch weit größere Wahrheit, als man ihm gewöhnlich schon beilegt. Trotz der scheinbar paradoxen Schärfe, mit der der Kampf ums Recht als ethische Pflicht hingestellt wird, ist die Sache durchaus richtig, und es läßt sich darauf sogar ein System bauen. Freilich ist dies von jedem teleologischen weit verschieden und es ist eigentlich eine große Ironie der Litteraturgeschichte, daß ein so begeisterter Verfechter des utilitaristischen Gedankens gelegentlich eine so starke Anwandlung der ethischen Rechtsidee hat.

Jhering’s eigentliche Kraft lag immer auf dem Gebiet des Juristischen. Wo immer er philosophisch gearbeitet hat ist er bei der Philosophie nur zu Gast gewesen, freilich mit Vorliebe, ein Beispiel mehr von der häufigen Erscheinung, daß Viele die schwächere Seite ihrer Begabung mit mehr Vorliebe cultiviren als deren eigentliche Stärken. Als Jurist sucht er durchaus seines gleichen; die juristische Intuition ist bei ihm mit einer Sicherheit und Urkraft vorhanden, die ihn zu den juristischen Phänomenen aller Zeiten stellen. Neben seiner Entdeckung der juristischen Technik in den beiden letzten Theilen des „Geist“ sind es vor allem seine rein juristischen Schriften, die sein Ansehn unerschütterlich fundirt haben.

Es sind zum großen Theil Gelegenheitsschriften; gerade die allerschönsten und fruchtbarsten davon, wie die Theorie der culpa in contrahendo im 4. Bd. der „Dogmatischen Jahrbücher“, die diversen Gutachten, die Schrift über das Nachbarrecht im 6. Band der Jahrbücher u. a. sind ersichtlich angeregt durch concrete Rechtsfälle oder durch zufällige litterarische Anregung. Bücher im eigentlichen Sinn nach lang vorgefaßtem Plan zu schreiben war Jhering’s Art auf juristischem Gebiet nicht; nur der „Besitzwille“ kann als lang ausgereifte Frucht bestimmter Arbeitspläne gelten. In jenen kleineren Schriften [659] aber ist die Fülle und vor allem die innere Triebkraft der Ideen eine so große, daß sie die ganze civilistische Litteratur mit treibenden Fermenten versehen haben.

Von der Dissertation „de hereditate possidente“ (1842) kann hier abgesehen werden – sie hat unzweifelhaft dem Verfasser Anlaß gegeben zu der dritten der in seinem ersten Büchlein gesammelten „Abhandlungen aus dem Römischen Recht“ (1844). Deutlicher als in diesen beiden Untersuchungen zeigt sich der künftige Meister in der ersten dieser Abhandlungen („Inwieweit muß der, welcher eine Sache zu leisten hat, den mit ihr gemachten Gewinn herausgeben“), wo die überaus feinen, fünfzehn Jahre später von Friedrich Mommsen in seinen Erörterungen aus dem R. R. und dann noch mit mehr oder weniger Glück von Anderen bearbeiteten Probleme der Restitution des Commodum eingehend untersucht werden und der Gegensatz des lucrum ex re und propter negotiationem perceptum schärfer als bis dahin geschehen war, hervorgehoben wird. J. hat hier Fragen ins Auge gefaßt, die ihn eigentlich nie mehr ganz losgelassen haben; insbesondere die auf S. 78–85 besprochene Frage, inwieweit der ehemalige Besitzer einer fremden Sache den von ihr erzielten Verkaufserlös dem Eigenthümer herauszugeben hat, hat J. gegen die bis dahin herrschende ältere Ansicht schon damals ganz richtig dahin formulirt, daß der gutgläubige Besitzer hierzu nur dann verpflichtet ist, wenn sein Besitztitel ein bloß putativer war und diesen vollkommen richtigen Satz gegen die durchaus grundlosen und im ganzen fast verwunderlichen Angriffe Windscheid’s später noch (Jahrb. f. Dogm. 16, 230 f.) siegreich vertheidigt. Sehr anregend ist aber auch die zweite Abhandlung über die Consolidation der bonae fidei possessio und der jura in re aliena durch die Analogie des Eigenthums, ein Gesichtspunkt, der zwar gelegentlich schon berührt worden war (Glück, Pand. 8, S. 47 Anm. 30 u. a.), aber erst nach J., insbesondere von Brinz, der hier sicher auf Jhering’s Schultern steht, zu einem freilich überspitzten systematischen Gedanken erhoben worden ist.

Zu Jhering’s früheren Arbeiten gehört noch eine, die wie wenig andere eingeschlagen und auf die weitesten Kreise anregend gewirkt hat, seine „Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen“. Wie er in späteren Jahren zu erzählen liebte, hat er sie als junger Professor um des mit einem solchen gangbaren Büchlein verbundenen materiellen Emoluments willen geschrieben; wenn irgendwo, so ist hier das Schriftstellerhonorar und vielleicht auch die Anregung des Verlegers der Sache zu gute gekommen. Uebrigens hat J. mit dieser Arbeit in erster Linie doch einem inneren Bedürfniß entsprochen; denn zu lehren und anzuregen war ihm Lebenslust und Daseinselement und er konnte nicht lehren ohne ins Plastische, Anschauliche, Lebendige hineinzukommen. Das Praktikum war für ihn aber nicht bloß eine Lehraufgabe, sondern auch eine Fundgrube juristischer Gedanken; die alte Quästionenmethode der römischen Juristen hat unter den Neuern vielleicht keinen so überzeugten Anhänger gefunden wie ihn. Die Civilrechtsfälle, zum Theil aus Spruchsammlungen, zum Theil aus eigenen Beobachtungen genommen, sind gleich meisterhaft in der spannenden, einleuchtenden und oft künstlerischen Darstellung wie in der stets präcisen, alles Wesentliche genau enthaltenden, nur eine einzige Entscheidung ermöglichenden Entwicklung des Thatbestands; Vorzüge, von denen nur der erfahrene Lehrer den letzteren, aber selbst das große Publicum den ersteren zu würdigen versteht. Heute noch unerreicht an Geist und Fülle der juristischen Gedanken, die in ihnen verborgen liegt, sind sie der Gefahr des Veraltens noch auf lange Zeit entrückt. Ein Nachtrag dazu, die „Jurisprudenz des täglichen Lebens“ (1870) wirft hunderte von kleinen Rechtsfragen [660] des täglichen Lebens auf und zeigt die rastlose Bethätigung des juristischen Denkens, die J. eigen war.

Schon bald nach der Gießener Berufung schritt J. im Verein mit Gerber an die Gründung der „Dogmatischen Jahrbücher“, welche sich alsbald zum ersten civilistischen Organ Deutschlands erhoben und diese Stellung zum großen Theil Jhering’s eigener Mitarbeit verdankten. Nicht oft hat der Herausgeber einer Zeitschrift soviel für deren Blüthe gethan als J. für die Jahrbücher. Gleich die beiden ersten Jahrgänge brachten eine seiner bleibendsten Forschungen, über die Mitwirkung bei fremden Rechtsgeschäften. Die scharfe Trennung der directen von der indirecten Stellvertretung, heute zum sicheren Gemeingut der Wissenschaft geworden, vorher zwar nicht unbekannt aber mehr gestreift als fest entwickelt, ist dort zum ersten Mal in voller Kraft und Breite aus den juristischen Quellen herausentwickelt; insbesondere die erstmalige richtige Interpretation der schwierigen Stelle D. mend. 17, 1, 49 ist eine romanistische That, die freilich der jüngeren Generation kaum mehr bekannt ist und auch der älteren aus dem Gedächtniß zu schwinden droht, aber eben deswegen hier festgestellt werden soll. Der dritte und vierte Band brachten sodann die Beiträge zur Lehre von der Gefahr beim Kaufcontract; von ihnen ist namentlich der zweite Theil (Bd. IV), entwickelt an einem praktischen Rechtsfalle, fundamental geworden nicht bloß für die romanistische Theorie, sondern auch für das Bürgerliche Gesetzbuch, welches in § 243 II im wesentlichen die von J., im Gegensatz zu Thöl’s Ausscheidungslehre, entwickelten Gedanken der „Lieferungstheorie“ angenommen hat. Daneben enthält aber der gleiche vierte Band – welcher infolge dessen für die moderne Rechtsentwicklung eine der bedeutsamsten litterarischen Erscheinungen des vorigen Jahrhunderts bildet – den Aufsatz über „Schadenersatz bei nichtigen Verträgen“. Die Frage, um die es sich dabei handelt, ist zu bekannt, um darauf einzugehen; ebenso bekannt, daß die äußere Schale, in welche J. seine Antwort auf die Frage einkleidete, die Theorie der culpa in contrahendo, nicht die zulängliche Formulirung ist; das Verdienst an der Hand von D. 18, 1, 62 1 die in der Sache voll befriedigende Lösung der Aufgabe gegeben zu haben, wird dadurch ebensowenig verkümmert, als durch die Thatsache, daß Ansätze zu dieser Lösung sich schon im Preuß. L. R. und Oest. G. B. fanden; weder hat J. diese gekannt – seine Aufrichtigkeit in diesen Dingen wird durch die Note Jahrb. II, 121 ins hellste Licht gesetzt – noch würden diese damals halb vergessenen Dinge auf die gemeinrechtliche Doctrin und damit auch auf das Bürgerliche Gesetzbuch jenen Einfluß gewonnen haben, den sie in der heut jedem Schüler geläufigen Theorie des ungleichen Vertragsinteresses gegenwärtig thatsächlich ausüben. Ebenso sind auch in der Abhandlung vom Nachbarrecht (Jahrb. VI) die allein maßgebenden Gesichtspunkte scharf erkannt; auch hier ist dem Forscher die Genugthuung widerfahren, daß das Bürgerliche Gesetzbuch seine Lehre in Paragraphen formulirt hat (bes. § 905 S. 2, 906).

Die mannichfaltigen Anregungen, welche die in den folgenden Bänden der Jahrbücher verstreuten Abhandlungen gebracht haben, im einzelnen aufzuführen, würde zu weit gehn; die Untersuchung über die Reflexwirkungen des Rechts im zehnten Band zeichnet sich hier durch seine Beobachtungen aus und enthält einen interessanten, wenngleich praktisch kaum jemals verkannten, so doch theoretisch bis dahin nicht formulirten Gesichtspunkt. Unter den nachfolgenden Aufsätzen ist der über Rechtsschutz bei injuriösen Rechtsverletzungen (Bd. 23) weitaus der anregendste, wenngleich ihm unmittelbarer praktischer Erfolg nur in geringem Maße zu Theil geworden ist.

Indessen ist von all diesen Untersuchungen keine so berühmt geworden, [661] wie die im 9. Band der Jahrb. enthaltene, später in zwei Auflagen als Separatabdruck erschienene Abhandlung über den Grund des Besitzschutzes. Wir berühren hiermit eine Seite in Jhering’s juristischer Thätigkeit, wo er selbst in der zweiten Hälfte seines Lebens eine seiner Lebensaufgaben gefunden hat, nämlich sein Verhältniß zum Besitzrecht.

Der Grundgedanke dieser Abhandlung ist ein einheitlicher, der sich freilich in zwei Functionen zeigt. Er geht dahin, daß im Besitze der vermuthliche Eigenthümer geschützt wird; dies wird als eine unumgängliche Ergänzung des sonst unzulänglichen Eigenthumsschutzes betrachtet, als ein Vorwerk des Eigenthums. Daran schließt sich die Consequenz für den Begriff des Besitzthatbestands; er ist gegeben, so oft man sich zu einer Sache in dem Verhältniß befindet, in dem sich normaler Weise der Eigenthümer zu seiner Sache zu befinden pflegt.

Diese Idee, glänzend und durch ihre Einfachheit bestechend wie sie ist, hat wenigstens in ihren Anfängen lebhaften Anklang gefunden und J. konnte in der zweiten Auflage des Separatabdrucks O. Bülow, Otto Bähr und Josef Unger als deren erklärte Anhänger bezeichnen. Mehr und mehr hat sich dann die Opposition geregt, und wenn man die Schrift heute noch als eine allseits geschätzte und viel gelesene bezeichnen darf, so kann man doch nicht sagen, daß sie sich noch vieler überzeugter Gläubigen erfreut. In der That ist wenigstens für das Römische Recht eine Einwendung gegen Jhering’s Grundposition gegeben, welche sehr einleuchtend scheint, nämlich die, daß gegen die Besitzinterdicte selbst die liquide petitorische Einrede nicht aufkommt. Freilich hat später Ubbelohde letzteren Satz zu bestreiten gesucht, schwerlich mit Glück; und daß jetzt das B.G.B. die urtheilsmäßige liquidirte exceptio petitoria zuläßt, kann natürlich für das R. R. nicht in Betracht kommen. Dessenungeachtet würde ich mit diesem Moment allein die Sache nicht für erledigt halten; doch kann auf diesen überaus schwierigen Punkt hier nicht eingetreten werden. Eine davon zu unterscheidende Frage ist es, ob die Voraussetzungen des Besitzwechsels wirklich mit der Herstellung der normalen Eigenthumslage zusammenfallen. Es läßt sich dagegen einwenden, daß diese Formel einen Zirkel enthalte: welches ist denn die normale Eigenthumslage? Doch eben die, daß der Eigenthümer besitzt; gerade in den Fällen, wo die Besitzlage schwer zu entscheiden ist, ist auch die Frage, ob noch die normale Eigenthumslage gegeben ist, kaum zu beantworten, oder ist das vom Windstoß in den Nachbargarten getragene Wäschestück in der normalen Eigenthumslage? Dennoch muß man sich wohl hüten vor der Meinung, als ob mit solcher Dialektik Jhering’s Idee einfach aus der Welt geschafft sei; Thatsache ist, daß, bewußt oder unbewußt, die Entscheidungen der römischen Quellen doch von dem Vorbild des Eigenthümers in weitestem Umfange beherrscht sind und daß auch wir desselben uns instictiv bedienen, um für gewöhnliche Besitzfragen einen Leitfaden zu haben. Dabei ist freilich richtig, was hervorgehoben zu haben ein Verdienst von Pininski ist, daß die rein zufällige Herstellung der eigenthumsmäßigen Situation zum Erwerb des Besitzes nicht schlechthin genügt, vielmehr, wenigstens nach römischen Recht, zum Erwerb des Besitzes ein besonderes Eingreifen, als die That erforderlich ist, und dies ist vielleicht das stärkste Bedenken gegen Jhering’s Theorie. Aber trotz aller Einschränkungen, die sie sich etwa gefallen lassen muß, steckt in ihr doch ein sehr gesunder und lebensfähiger Kern, welchen nur der Scholastiker überschätzen kann, der eine alles umfassende aber dann auch meist todte Formel herauszudestilliren wünscht.

Noch weittragender als der Grund des Besitzschutzes ist Jhering’s Besitzwille, 1889 in Buchform erschienen. Hier ist die Opposition gegen Savigny’s [662] Besitzlehre, die im Grund d. B. Sch. sich auf das Corpus possessionis beschränkte, auf den Besitzwillen übertragen und sicher mit Glück. Die außerordentlich subjective, theils leidenschaftliche, theils emphatische Darstellung, in der J. ein förmliches wissenschaftliches Duett mit Savigny provocirt, haben anscheinend Manchen im ungünstigen Sinn beeinflußt und es haben sich auch hier alsbald polemische Stimmen vernehmen lassen; m. E. ist J. in allem Wesentlichen auf der richtigen Bahn. Der Grundgedanke ist: weder historisch noch dogmatisch ist die Grenze von Besitz und Innehabung durch das physische Element des Besitzwillens gegeben, sondern diese Grenzscheidung liegt im Rechtsgrund des Innehabens. Und das ist im wesentlichen zutreffend; historisch wird es durch die Geschichte des republikanischen Besitzrechts, die freilich J. weit entfernt war, genügend genau zu kennen und aufzuhellen, sicher bestätigt und auch dogmatisch ist der Gedanke, daß der Besitz z. B. des Pfandgläubigers, sich von dem des Miethers und Pächters im Punkt des Besitzwillens in nichts unterscheidet von unüberwindlicher Richtigkeit, mag man auch sonst einwenden können, daß J. den Gegensatz von Eigen- und Fremdbesitz etwas leichter nimmt als nothwendig war. Unleugbar stehen denn auch die neuesten Forschungen über den Besitzerwerb durch Stellvertreter, z. B. von Lenel[WS 3] und Regelsberger[WS 4] unter dem Einfluß dieses Gedankens und dessen Weiterentwicklung hat die besten Resultate gebracht.

So kann man denn Jhering’s langjährige, noch in einem Artikel im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (= Jahrb. 32, 41 ff.) recapitulirte Thätigkeit auf dem Gebiet des Besitzrechts als eine fundamentale bezeichnen; wenn es ihm nicht gelungen ist die unverrückbaren Grundlagen von Savigny’s Jugendwerk zu erschüttern, so hat er doch an diesem Werk selbst vieles neu- und umgebaut, was gleich jenem noch in einer fernen Zukunft bestehen wird.

Wenn mit dem Besitzwillen J. noch kurz vor seinem Tod ein Zeugniß seiner unerschöpflichen juristischen Divination abgelegt hat, so beweisen umgekehrt die aus seinem Nachlaß herausgegebenen Schriften „Vorgeschichte der Indoeuropäer“ und „Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts“, daß er als Historiker unverändert geblieben war. Namentlich das erstgenannte Werk zeigt Lesefrüchte auf dem Gebiet der altarischen und altgriechischen Völkerkunde, über deren Verwendung die Fachmänner wenig günstig berichten; der Mangel eigener Sprach- und Sachkenntniß läßt sich eben auch durch die reichste und selbständige Gedankenbewegung in historischen Dingen nicht ersetzen und das Fragment der Entwicklungsgeschichte läßt trotz einzelner Gedankenblitze doch jede methodische Forschung und Selbstkritik allzusehr vermissen. Die Pietät der Angehörigen hat diese Arbeiten der Oeffentlichkeit überliefern zu sollen geglaubt und wol mit Recht; denn sie haben damit nur in Jhering’s Sinne gehandelt, der mit solchen Publicationen nicht ängstlich war; die Aufrichtigkeit der Kritik darf demgegenüber nichtsdestoweniger nicht verstummen.

Mit um so größerer Freude gedenkt man danach einer kleinen aber höchst gehaltvollen Arbeit, welche J. im Jahre 1867 als Festschrift der Universität Gießen für den Kanzler Birnbaum verfaßt hat, des „Schuldmomentes im römischen Privatrecht“. Niemals ist im Gebiet des römischen Rechts der Gedanke, daß einerseits die ältere Zeit das subjective Moment in der Widerrechtlichkeit ignorirt und nur auf das objective Gewicht legt, und daß andererseits für eine ganze Reihe von obligatorischen Verhältnissen das pönale Element den Ausgangspunkt gebildet hat und erst allmählich dem reipersecutorischen gewichen ist, besser, reicher und schöner durchgeführt worden. Die den fünfziger Jahren angehörigen Forschungen über die Entwicklung der obligatorischen Contracte von Dernburg, Bekker[WS 5], später Demelius u. A. haben hier einen Widerhall [663] gefunden, der seinerseits für lange hinaus und noch für die heutige Forschung wenigstens eines der Leitmotive bildet und gebildet hat.

Es ist ein seltenes Gelehrtenbild, das sich aus der zusammenfassenden Betrachtung der einzelnen Züge in Jhering’s litterarischer Erscheinung ergibt. Immer und immer wieder ist es die impetuose Genialität und die Kraft des Wollens und Empfindens, welche in den Vordergrund tritt. Der Eindruck der größten juristischen Potenz und einer sieghaften, alles mit sich fortreißenden Individualität ist der bleibende, dabei auch der einer substantiellen, jedem Formalismus abgeneigten, stets das Lebendige lebendig mitempfindenden Persönlichkeit. Wie wohlthätig berührt es, um das letztgesagte noch besonders zu betonen, in den Verhandlungen des Juristentags von 1862 über die Regelung der unehelichen Vaterschaft Jhering’s Vertheidigung der Vaterschaftsklage zu lesen; welcher Abstand zwischen der eleganten, aber kühlen, eiskalten juristischen Logik seiner Gegner, welche die Frage vom Standpunkt der Solidarobligationen behandeln, und der warmen, das Lebendige in diesen Fragen empfindenden Vertheidigung Jhering’s. Und nicht minder erfreulich, wenn im Lucca-Pistoja-Actienstreit J. den Standpunkt des zeichnenden Publicums vertritt gegenüber dem von L. Goldschmidt vertretenen Standpunkt des Bankiers über die Frage, ob gewisse Zusagen eines Emissionsprospects mit der bona fides zu vereinbaren seien. Da war es eine Weltanschauung, welche die Gutachter trennte; wie denn überhaupt von dem manchesterlichen Formalismus, der die Rechtswissenschaft der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts beherrscht hat, niemand sich so frei zu erhalten gewußt hat wie J. Manchesterthum und Scholastik – auch die letztere hat sehr einflußreiche Vertreter in der Jurisprudenz gehabt – gleich weit von sich entfernt haltend, hat J. die Bahnen für eine reiche und innerlich freie Entwicklung der Rechtswissenschaft offen gehalten wie kein zweiter.

Als Lehrer und als Mensch war er von unverwüstlicher Kraft und Frische und trotz ausgeprägten Selbstgefühles zur Anerkennung fremder Leistungen stets mit Freude bereit; er konnte überschwänglich werden, wo er eine bedeutende Leistung zu finden vermeinte. Durch seine persönliche Liebenswürdigkeit, die von jeder magistralen Steifheit frei war, hat er die meisten seiner Hörer dauernd an sich gefesselt. Und er hatte ein Bedürfniß nach großer Lehrthätigkeit. Daß an seinen Göttinger Sitz ihm schließlich nicht so viele gefolgt sind, als er bei seinem Weggang von Wien erwartet hatte, war für ihn ein Schmerz; er hatte eben vergessen, daß die große Menge den Lehrer zwar nimmt, wenn sie ihn findet, daß aber heutzutage ein einzelner Mann die Wahl des Studienorts nur für wenige auserlesene Studirende bestimmt. Solche hat J. natürlich immer anzuziehen gewußt, wiewol man sagen muß, daß er zum Lehrer für Gelehrte nicht berufen war; dazu war er viel zu viel Eigenpersönlichkeit und zu wenig methodisch. Darum hat er denn auch nie einen eigentlichen Schüler gehabt. Seine Art nachzuahmen haben zwar viele versucht; aber der große Faltenwurf hat ihnen stets übel gestanden.

So ist J. eine eigenartige und unvergängliche Erscheinung in der Geschichte der Jurisprudenz. Eine Persönlichkeit, die man sich heute, unter der Herrschaft des codificirten Rechts kaum mehr denken kann. Wie wenig würde er die Herrschaft der Paragraphen ertragen haben, es über sich gewonnen haben, auf den freien juristischen Gedankenflug zu verzichten und sich zu ergeben auf den wohlgepflegten aber schmalen Kieswegen, welche das Gesetz vorschreibt. Man meint, das Beste an ihm müßte verloren gegangen sein. Und umgekehrt ist es sehr fraglich, ob er für das ungeheuer Erziehliche, das die Codification für den Juristenstand mit sich bringt, genügend empfänglich [664] gewesen wäre. So wie er war, als einer der letzten aus der Zeit des frei wachsenden gemeinen Rechts, derer, welche unmittelbar aus der Bibel predigten, steht er in unserer Erinnerung und auch als einer der größten aller Zeiten. Er ist nicht der Gründer einer Schule geworden wie Savigny, aber unter denen, welche zur historischen Schule zu zählen sind, ist er unzweifelhaft derjenige, welcher neben dem Schulhaupt das stärkste und dauerndste eigene Licht ausgestrahlt hat.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joseph Unger (1828–1913); österreichischer Jurist, Schriftsteller, Politiker und Reichsgerichtspräsident
  2. Herbert Spencer (1820–1903), englischer Philosoph und Soziologe
  3. Otto Lenel (1849–1935), deutscher Rechtshistoriker des römischen Rechts
  4. Ferdinand Regelsberger (1831–1911), deutscher Zivilrechtler und Hochschullehrer
  5. Ernst Immanuel Bekker (1827–1916), deutscher Jurist und Hochschullehrer