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ADB:Singenberg, Ulrich von

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Artikel „Singenberg, Ulrich von“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 34 (1892), S. 390–392, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Singenberg,_Ulrich_von&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 23:05 Uhr UTC)
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Singenberg: Ulrich v. S., Minnesänger des angehenden 13. Jahrhunderts, gehörte zu einem thurgauischen Ministerialengeschlecht, dessen Stammsitz bei Bischofszell auf steilem Abhange am rechten Ufer der Sitter lag, und das von Alters her das Truchsessenamt bei den Aebten von St. Gallen inne hatte. Seinen gleichnamigen Vater, in dessen Gesellschaft S. am 24. Juni 1209 urkundlich zuerst erscheint, verlor er vor 1219. Die Urkunden, die uns Zeugniß von ihm ablegen, stehen meist mit frommen Stiftungen in Zusammenhang; die bedeutendste darunter war die Begründung des Hospitals zum Heiligen Geiste in St. Gallen, das S. in Verbindung mit einem St. Galler Bürger, Ulrich Blarer, anlegte und aus den Einkünften seiner Güter dotirte. Am 20. Februar 1228 erscheint S. in Ulm bei König Heinrich. Seit Ende dieses Jahres kommt er in Urkunden nicht mehr vor: er wird also bald darauf gestorben sein; sein Todestag war der Tag der heil. Juliana, der 16. Februar. Aus einem Nachruf an Walther von der Vogelweide schloß man, daß er diesen seinen Meister überlebt habe; aber die Verfasserschaft Singenberg’s steht gerade für diese Strophe nicht fest. Von späteren Dichtern gedenkt seiner als eines Todten erst Reinmar v. Brennenberg, der bis in die siebziger Jahre des Jahrhunderts gelebt zu haben scheint.

Singenberg’s Dichtungen sind wesentlich in zwei Heidelberger Handschriften auf uns gekommen, in der älteren aber kleineren A und in der großen, ehemals in Paris befindlichen Liedersammlung C. Für die Charakteristik des Dichters ist es von Bedeutung, ob wir diejenigen Strophen, die nur in der für Autorfragen sehr unzuverlässigen Handschrift A unter Singenberg’s Namen erscheinen, für sein Werk halten oder nicht. Nur in A ist ihm eine Reihe politischer Sprüche beigelegt, die man auf die Regierung König Heinrich’s VII. bezieht; nur in A hat er ein Paar moralische Spruchstrophen; nur in A stehen die Todtenklagen auf Walther v. d. Vogelweide und auf einen ungenannten gelehrten, also wohl geistlichen Fürsten, Strophen, die aller Wahrscheinlichkeit nach viel eher einen armen Spielmann zum Urheber haben als den reichen Truchsessen. Nur A giebt ihm ein scherzhaftes Gespräch, die Variation eines Neidhart’schen Motivs, in dem der Sohn seinen Vater mahnt, Sang und Frauendienst ihm, dem Jungen, zu überlassen; in dem viereggôt gebûr Rüedelin Ulrich’s Sohn Rudolf zu wittern, liegt mindestens ferne. Nur A bringt eine Strophe, durch die ein Liebeslied Ulrich’s unzweifelhaft falsch auf Frau Welt gedeutet wird, nur A eine Strophe, die Singenberg’s maßvolle Neigung zum Gleichklang ins Alberne übertreibt, nur A schiebt einem Singenberg’schen Liede einen Natureingang vor. [391] Fast durchweg also weichen die allein in A S. zugewiesenen Strophen inhaltlich oder stilistisch ab von dem Bilde, das wir uns nach den zahlreichen, sicher bezeugten Liedern von dem Dichter machen dürfen; Grund genug, hier zumal von diesem zweifelhaften Gute abzusehen.

Dann aber stellt sich Singenberg’s dichterische Persönlichkeit recht einheitlich und rund heraus. Freilich weder das Lob, das ihm der Brennenberger spendet: „dîns schimpfes maneger kunde vol gelachen“, noch auch seine eigenen Worte: „dâ singe ich von der heide und von dem grüenen klê“, erwiesen sich als zutreffend: Humor wie Naturgefühl fehlen ihm so gut wie ganz. Er ist im wesentlichen Schüler Reinmar’s des Alten, dessen melancholisch grauer Grundfarbe er nachstrebt, nur daß sein im Grunde behagliches Naturell die Maske des interessant unglücklichen Schwärmers nicht mit derselben Virtuosität festhält, wie das Reinmar gelingt. Von ihm entlehnt er vor allem die schattenhaft abstracte Dialektik des Liebeskummers, die wahre Leidenschaft nie zu Worte läßt: auch hier verfehlt S. den rechten Ton, wenn er seine spitzfindigen Darlegungen gern in Sprüchwörter ausmünden läßt; die gesunde Logik der Volksweisheit erscheint in der Minnescholastik stillos. Darin wie sonst verräth sich aber sein zweites Vorbild, Walther, dessen Einfluß man freilich darum nicht überschätzen darf, weil S. die curiosen Künste seines Vocalspiels copirt und in unzarter Parodie eines bekannten Walther’schen Spruchs seine eigne behagliche Lage selbstgefällig dem heimathlosen Vagantenthum des Meisters entgegenstellt. Der Gedanken- und Interessenkreis Singenberg’s deckt sich vorzugsweise doch mit dem Reinmar’s des Alten. Natürlich ist er der beklagenswertheste Liebende, den es je gab: aber selbst dreißigjähriges Leid würde ein Lächeln der Geliebten gut machen, das ihn erfreute, und wenn er halb todt wäre; freilich bemerkt er bei andrer Gelegenheit sehr unreinmarisch und ehrlich, daß er die Ungunst der Dame eher verschmerzen würde, wenn sie gealtert wäre. Er jammert, daß die Freude aus der Mode sei; schon aus Rücksicht auf die Gesellschaft darf er nicht froh sein. Doch Niemand kanns aller Welt recht machen, und er mahnt wenigstens die Jugend zur Heiterkeit. Wiederholt weist er die Dame auf seine dichterischen Erfolge hin und baut darauf Ansprüche auf. Die Vorstellung, daß er in ihrer eigenschaft lebe, betont er nur, um daraus abermals Anspruch auf Lohn abzuleiten. Die gewöhnliche Anrede an sie ist vrouwe, so auch in den von S. besonders virtuos gehandhabten Dialogen, die sich von der altmodischen Form des Wechsels schon durch die Kürze von Rede und Gegenrede, durch das Schlagende und Zugespitzte der Antwort weit entfernen. Einmal nennt er sie auch unhöfisch süeze maget (d. h. Jungfrau) und deutet in derselben Strophe mit unmißverständlicher Bitte auf die letzte Gunst hin, die er im Vocalspiel in nacktester Rohheit sich wünscht: gewiß Einwirkung Walther’scher volksthümlicher Lieder, die bei ihm nur gar zu unorganisch und ungraziös von dem sonst gewählten Tone absticht. Das Schwanken zwischen Hoffnung und Furcht wird veranschaulicht, indem der Refrain eines Liedes den zuversichtlich-freudigen Inhalt der Strophe immer wieder aufhebt; auch ein Mittel, das zwar andre Dichter der lyrischen Frühzeit, aber nicht der so starken Effecten abholde Reinmar braucht. Und durch alle angeblichen Mißerfolge bricht bei S. immer wieder eine mühsam zurückgehaltene heitere Stimmung durch, die merken läßt, wie wenig ernst er es mit dem Jammern meint, die aber leider nicht stark genug ist, um die stumpfsinnige Eintönigkeit der Minnetrauer belebend zu durchleuchten. Es stimmt zu dem auch sonst fühlbaren sinnlichen Hang des Dichters, daß er die provenzalische Gattung des Tageliedes, der Alba, nachahmt, nicht nur an Wolfram, seinem großen deutschen Vorgänger, sondern wohl auch an den Originalen selbst geschult; aber auch hier nicht schwüle Leidenschaft, nicht alles vergessende Hingabe; seine Liebenden trennen [392] sich aus der sehr nüchternen Erwägung heraus, daß sie durch Unvorsichtigkeit sich künftige Liebesnächte verscherzen könnten. Diese natürliche Nüchternheit bringt zuweilen lehrhafte Anklänge in Singenberg’s Lieder herein; wirklich lehrhaft ist nur ein Lied, in dem er der betrogenen Betrügerin Welt Valet sagt. S. besaß ein entschiedenes, leichtes Formtalent, das sich sogar in einer ihn gut kennzeichnenden stilistischen Eigenheit äußert; er hat eine spielerige, aber nicht maßlose Freude an gleichen Wortstämmen, verbindet Substantive und Adjectiva, Verba und Adverbia von gleichem Sinn und Klang und liebt es, Gedankenzusammenhänge durch sinnliche Wortanklänge nachdrücklich fühlbar zu machen.

Es war ein bedauerlicher Mißgriff, daß diese harmlose, zufriedene, muntere Natur den unglückseligen Einfall hatte, sich gerade den jammerfreudigen Reinmar zum maßgebenden Muster auszusuchen, und daß er Walther’s Art nur sehr in zweiter Linie Einfluß einräumte: begreiflich und entschuldbar wird dieser Mißgriff freilich durch die thörichten Vorurtheile der Mode und der Gesellschaft. Das Resultat ist gequälte, unfrische Stümperei gewesen, wo naive, anspruchslose Lebenslust wahrscheinlich die rechten Worte gefunden hätte.

Singenberg’s Gedichte gaben heraus v. d. Hagen, Minnesinger, Nr. 48; Wackernagel und Rieger, Walther v. d. Vogelweide (Gießen 1862), S. 207 ff.; Bartsch, Die Schweizer Minnesänger (Frauenfeld 1886), Nr. 2. Ueber seine Familie und das Urkundenmaterial vgl. Meyer von Knonau’s Ausgabe der Nüwen Casus Monasterii sancti Galli von Kuchimeister (St. Gallen 1881. St. Gallische Geschichtsquellen V), S. 88 ff. und Germ. 35, 311. Ueber die Echtheitfrage vgl. Roethe, Reinmar v. Zweter, S. 178 und Kleiber, Die handschriftliche Ueberlieferung der Lieder Ulrichs von S. (Berlin 1889. Progr. Nr. 55). Beiträge zur Charakteristik gibt Kuttner, Zeitschrift für deutsche Philologie 14, 466 ff., eine populäre Skizze Götzinger, Zwei St. Gallische Minnesänger (St. Gallen 1866)