ADB:Reinmar der Alte
Docen’s vom Jahre 1809 folgend glaubt man den Dichter wiederzuerkennen in jenem Minnesänger, den Gottfried von Straßburg unter der Bezeichnung „Nachtigall von Hagenau“ um 1210 als verstorben beklagt (Tristan V. 4777 ff.). Gottfried findet es nicht nöthig, seinen Personennamen zu nennen, unter dem R. doch sonst allein angeführt wird, statt dessen zeigt er eine sonst verschollene Kenntniß seiner Abstammung. Wahrscheinlich setzten ihn landsmannschaftliche Beziehungen in den Stand, ohne von seinem elsässischen Zuhörerkreis mißverstanden zu werden, den gewöhnlich nur „Reinmar“ genannten Sänger lediglich nach seiner Herkunft zu bezeichnen und eine Namengebung anzuwenden, die zwar auch anderwärts gewiß nicht unbekannt und unverständlich, aber ungebräuchlich war. Und so ist am glaublichsten, daß R. aus dem Elsaß gebürtig war. Für seine elsässische oder wenigstens westdeutsche Herkunft darf man auch die neuerdings aufgedeckte Nachahmung eines Liedes des französischen Trouvere Auboin de Sezane (vgl. O. Schultz, Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur 31, 185 ff.) geltend machen. Gottfried’s Ausdruck „von Hagenau“ ist an sich mehrdeutig. Schwerlich war Reinmar aber ein Mitglied des mächtigen elsässischen Reichsministerialengeschlechts der Marschalle von Hagenau, vielmehr entweder aus der Stadt Hagenau oder aus dem Straßburger Geschlecht derer von Hagenau oder aus einem anderen Geschlechte dieses Namens. Von diesen drei Möglichkeiten verdient die erste den Vorzug, aus einem ganz bestimmten, bisher nicht beachteten Grunde: der Dichter war Ritter, vermuthlich Ministerial eines freien Herrn oder eines Ministerialen und führte als solcher gar keinen festen Geschlechtsnamen, wie Leute dieser Stellung im 12. Jahrhundert noch gewöhnlich (vgl. Ficker, Germania 20, 271). So erklärt sich am besten der Widerspruch, daß außer Gottfried ihn die ganze Ueberlieferung einfach Reinmar nennt. Es verbietet sich nach alledem, mit von der Hagen und R. Becker den Dichter in den baierischen oder österreichischen Geschlechtern „von Hagenau“ zu suchen; denn hätte er zu einer dieser reichen und angesehenen Familien gehört, so würde er nicht so oft mit bloßem Personennamen genannt worden sein. Sein späterer langer Aufenthalt in Oesterreich kann natürlich für seine Herkunft so wenig entscheiden, wie bei seinem rheinischen Namensvetter Reinmar von Zweter. Wie früh R. an den Wiener Hof kam, wissen wir nicht. Er trat dort in nahe Beziehungen zu dem Herzog Leopold V. (VI.), der 1177–94 regierte, und wahrscheinlich auch zu dessen Gemahlin Helena, der Tochter des Königs Geysa von Ungarn. Im Frühjahr 1195 dichtete er wenigstens ein Klagelied auf den Tod des Herzogs († Sylvester 1194) und legte es seiner Wittwe in den Mund (Minnesangs Frühling 167, 31). Ob R. eine Kreuzfahrt mitmachte, bleibt zweifelhaft: die beiden ihm zugeschriebenen Kreuzlieder sind äußerst schwach beglaubigt. Ihre Entstehung fällt nach G. Wolfram’s Ansicht (Zeitschrift für deutsches Alterthum 30, 120) zwischen den Januar 1193 und das Ende des Jahres 1195. Ist das richtig, dann kann ihr Verfasser nicht 1190–92 mit Leopold in Palästina gewesen sein, wie behauptet worden ist. Reinmar’s Geburt dürfte zwischen 1150 und (spätestens) 1160 anzusetzen sein, angefangen zu dichten hat er sicher vor 1190, wahrscheinlich um 1180.
Reinmar der Alte, Minnesänger. Weder die alten Liederhandschriften noch die von Kunstgenossen ihm gewidmeten Nekrologe überliefern seinen Familiennamen. Einer sehr wahrscheinlichen, aber nicht bewiesenen VermuthungMan hat R. als österreichischen Hofdichter bezeichnet, und der Ausdruck, richtig verstanden, hat sein Wahres. Er dichtete nicht aus bloßer, vornehmer [94] Liebhaberei wie etwa die Burggrafen von Regensburg (s. A. D. B. XXVII, 550), wie Friedrich von Hausen oder Otto von Botenlauben, sondern er diente der Hofgesellschaft in Wien. Wiederholt rühmt er sich als den, der die Gesellschaft unterhalte; seinen Gönnern zu Ehren und zum Vergnügen erklärt er zu singen; gegen Abend trägt er seine Lieder als ein âbentmaerlîn vor und mit Anspielung auf die Wendungen, mit denen die Spielleute ihre Poesie anzupreisen pflegten, nennt er seine Minneklagen niuwe maere. Von dem Geschmack eines engen, exclusiven Kreises hängt er ab: ihm hat er sich mit seiner Kunst bequemt. Und er scheint sich dabei recht gut gestanden zu haben: von allem materiellen Druck blieb er frei; er kennt kein anderes Mißgeschick, als seinen Liebeskummer oder Undank seiner Freunde, Rücksichtslosigkeiten der Gesellschaft; er scheint stets in gesicherter äußerer Lage gelebt zu haben, so wenig er auch Reichthum und höheres Standesansehen besessen hat. In dieser Lebensstellung nun, nicht gerade gewerbsmäßig als Berufsdichter oder Hofpoet im Stile späterer Jahrhunderte, aber inmitten der Hofgesellschaft und ihr sich einordnend, hat R. die von Friedrich von Hausen (s. A. D. B. XI, 86) geschaffene Weise des Minnesangs zu virtuoser Vollendung gebracht. Wie bei diesem ist das Thema der eigentliche Minnedienst im Sinn der neuen aus Frankreich stammenden Convenienz: die Verehrung einer verheiratheten Frau. Diese Liebe mußte in den meisten Fällen eine unglückliche sein und das gerade ward als besonderer Reiz, als dankbares poetisches Motiv empfunden. Aufgabe des Dichters ist es jetzt nur, die Stimmungen, welche ein solches Verhältniß erzeugt, in immer neuen Variationen, aber überall in den von den Geboten der höfischen Sitte gesteckten Grenzen auszusprechen. Das Muster für diese Kunst gaben die romanischen Lyriker. R. hat die von Hausen gezogenen Linien fortgesetzt, aber auch neue Wege eingeschlagen: vor allem in formaler Hinsicht. Während Hausen in Strophenbau, Reimkunst und wol auch in musikalischer Beziehung ganz von seinen Vorbildern, den Troubadours, abhing, während er noch unreine Reime sich gestattete, bildet R. in der metrischen und musikalischen Form seiner Gedichte selbständig die heimischen Traditionen weiter und führt die Reinheit des Reims streng durch. Er trägt die eigentlich höfische Lyrik aus dem Westen nach Oesterreich, wo vor ihm nur Dietmar v. Eist Versuche gemacht hatte, die neuen Lebensformen in der Lyrik zu verwerthen; er eignet damit die bisher nur äußerlich herübergeholte romanische Lyrik Deutschland wirklich an und schneidet die directe Nachahmung ausländischer Muster ab. Reimar’s älteste Lieder unterscheiden sich von der großen Masse seiner späteren nach Inhalt und Stil, sie stehen noch der älteren volksthümlichen Lyrik näher, enthalten Motive der altösterreichischen Minnepoesie, zeigen noch nicht die conventionelle Galanterie, verstoßen noch durch unverhüllte Ausdrücke für sinnliche Dinge gegen die höfische Anstandslehre (vgl. Burdach, Reinmar und Walther, S. 44 f., 189): R. scheint also von mehr volksthümlicher Dichtungsweise ausgegangen zu sein. Aber die von Becker vertretene Ansicht, er sei der eigentliche Schöpfer einer specifisch österreichischen autochthonen, von fremden Vorbildern unabhängigen Lyrik ist eine Uebertreibung und auf eine willkürliche Behandlung der handschriftlichen Ueberlieferung, litterarhistorischen Vorurtheilen und ungenügender ästhetischer Einsicht aufgebaut.
R. hat zu seiner Zeit als Dichter die lebhafteste Bewunderung genossen. Gottfried preist ihn mit reicher Beredsamkeit, freilich was gewöhnlich übersehen wird, eigentlich nur seine formale Begabung. Walther hat ihm einen schönen Nachruf gewidmet, worin er seiner Kunst hohe Ehre erweist, obwol er eine persönliche Entzweiung andeutet. Andere Dichter, wie der Tiroler Rubin, der Kärntner Heinrich vom Türlin, der Schwabe Marner, der Baier Reinmar von Brennenberg und Andere stimmen in dies Lob ein. Und was mehr als das [95] sagen will: kein Geringerer als Walther selbst war sein Schüler und Rival, ist längere Zeit in seinen Bahnen gewandelt und hat sich nur allmählich von seinem Einfluß befreit, Gottfried von Straßburg hat von ihm die sichtbarsten Einwirkungen erfahren und im ganzen 13. Jahrhundert haben viele kleinere Geister ihn sich zum Muster des höfischen Sanges genommen. Dennoch können wir über ihn nur ein kühleres Urtheil fällen, uns zwar an einzelnen seiner Gedichte erfreuen, als Ganzes aber seine Poesie nur sehr bedingt rühmen.
Reinmar’s Lyrik ist Stimmungslyrik im vollsten Sinne des Worts, ihr Stoffgebiet allein die innere Welt, die Bewegungen des liebenden Herzens: sein Hoffen und Bangen, seine Enttäuschungen, seine Treue und Entsagung, seine immer erneute Erwartung. Sie ist nicht plastisch, sie wirkt nicht durch lebhafte Farben und bestimmte Zeichnung, sie gefällt sich vielmehr im Halbdunkel, in schwimmenden Umrissen, in schwebenden Wendungen. Und es fehlt ihr dabei das musikalische Element der Sprache, welches diese Art von Dämmerungslyrik, die in den Tiefen des Gemüthslebens zu Hause ist, braucht: der leichte klingende Fluß, der schwingende Rhythmus des Gefühls, das mühelos Quellende des Ausdrucks. Freilich sehen wir Reinmar’s Lieder ja alle nur halb vor uns, ohne die Melodien, wir können also über ihre Wirkung auf das Gehör, in der schließlich aller Lyrik letztes Ziel besteht, nur sehr unvollkommen urtheilen. – Die Reflexion breitet sich wie ein graues Spinneweb über seine Dichtung. Er empfindet gewiß tief und wahr, er besitzt ein reiches Gemüthsleben, er leidet sicherlich an seiner Liebe, wie er betheuert, aber er vermag nicht als echter Lyriker sein Gefühl, wie es ihn erfüllt, unmittelbar herauszusingen und dadurch den Hörer zu packen, er beobachtet, er beschreibt, er zersetzt es. Treffend nannte ihn Uhland, der feinste Kenner des Minnesangs, selbst ein großer Lyriker von tiefem Gemüth, den Scholastiker der unglücklichen Liebe. Etwas Dialektisches, Spitzfindiges, Verzwicktes haftet ihm an, ein Ton von der subtilen mittelalterlichen Disputirkunst. Niemals fast klingt bei ihm eine Empfindung in einem Gedicht allein aus, wie es in natürlicher Lyrik, die durchaus momentan, einfach, gegenwärtig ist, geschieht, sondern sie verschlingt sich mit vielen anderen. Dabei gehen die Zeitformen der Darstellung durcheinander: in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft wird immer der eine Zustand reflectirt, die ungestillte Sehnsucht. So entsteht eine schaukelnde Bewegung, die anfangs ohne Frage anzieht, auch eigenthümlich wirkt, bald aber ermüdet und ungeduldig macht. R. ringt danach, indem er die vorübergehendsten Regungen seines Innern erspürt und kunstvoll verwebt, der Liebe, der gefährlichen Sphinx, ihr großes Räthsel zu entwinden, die Widersprüche, die sie in sich trägt, zu lösen, die wunderbare Verkettung von Qual und Lust im liebenden Herzen, den jähen Wechsel und den Zwiespalt der Empfindungen auszudrücken. Er häuft Antithesen, Oxymora, Fragen, Widerrufe, Selbstanklagen, er rechnet mit Möglichkeiten und Bedingungen, er reiht Wunsch an Wunsch, Hoffnung an Hoffnung – vergeblich: was er sucht, vermag er nicht zu ergreifen und in anschauliche Darstellung zu bannen. Er bleibt der Analytiker, der Anatom seiner Empfindung, nicht der gestaltende Künstler.
Wie Gottfried von Straßburg ist R. in der Auffassung des poetischen Stoffs ganz subjectiv. Und gleich Gottfried fehlt ihm dabei das künstlerische Maß, der Takt für das Wirksame, der rechte Sinn für die Contrastwirkung. Gleich ihm leidet er an einem einseitigen Geschmack, an der Uebertreibung einer geistreichen Manier. Er theilt mit seinem Landsmann, der ihn so weit überragt, das Virtuosenthum, wenn auch in ganz anderer Richtung. Gottfried, der Virtuos des Colorits, der durch Farbenverschwendung das Leibliche erdrückt, R. der Virtuos des Schattens. Gottfried’s Minne ist ein üppiges, sonnenfrohes, [96] grelles und heißes Wesen; R. hat die Minne, wie er selbst sagt, stets in bleicher Farbe gesehen, ihm erscheint sie mit abgehärmtem, blassem Gesicht. Beiden gemein ist die Vorliebe für psychologische Zergliederung, in welcher der Epiker offenbar von dem Lyriker gelernt hat. Aber Gottfried ist die unvergleichlich bedeutendere Persönlichkeit, er hat wie Walther, wie Heinrich von Morungen den Muth des Realismus, der ihm geradezu einen modernen Zug gibt. R. hingegen ist durch und durch ein mittelalterlicher Mensch. Er sieht den Himmel und die Welt nicht im Freien, im hellen Tageslicht, sondern aus den dunkeln Hallen einer Burg, eines Kreuzgangs. Und wie wenig kraftvoll und männlich erscheint dieser Mensch, wenn man ihn mit Wolfram vergleicht, der doch auch im Mittelalter wurzelt! Eine weibliche Natur, der äußeren Welt abgewandt; wo diese Eingang findet in seine Dichtung, weckt sie nur Klage, passiven Widerstand. Reinmar’s Leyer ist einzig auf den elegischen Ton gestimmt; satirische Töne, wie sie Wolfram, humoristische, wie sie Walther anschlägt, sind ihr versagt. Mit einer Art Eigensinn will er nichts sein als ein Meister im Trauern, ein unermüdlicher Poet der unglücklichen Liebe, darin ein deutscher mittelalterlicher Petrarca. Sein Joch trägt er seufzend, mit einem gewissen Stolz, ohne heftige Auflehnung, ohne Ausbruch des Zorns, ohne einen Laut des Trotzes oder Hohnes. Und wenn das die Folge seiner Begabung, seines Naturells ist, so hängt es doch auch zusammen mit seiner Lebensstellung: er ist bedingungslos der Dichter der höfischen Gesellschaft. Sie bestimmt den Ton und ihr wäre jede Tragik, jede Herbheit und Bitterkeit zuwider; sie duldet nichts Jähes oder Brutales, nichts Exaltirtes, keine Satire, sie verlangt die Aeußerung jeder Empfindung in gedämpftem Tone und erstickt so alle natürliche Leidenschaft. Die Poesie Reinmar’s, die der starken Accente entbehrt und immer mezza voce singt, war seinem Publicum ebenso entsprechend, wie des Dichters spiritualistischem Wesen. Gleichwol ermüdeten stärkere Gemüther schon damals die ewigen Mollklänge; schon damals spotteten Einzelne der thränenreichen Eintönigkeit seiner Lieder und zweifelten an deren Aufrichtigkeit. Man setzte dem Dichter zu mit Fragen nach dem Alter der so lange vergeblich umworbenen Dame, aber R. lehnte solche Witze der realistischer Gesinnten als der valschen nît ab und seufzte weiter.
Reinmar’s Gedichte sind fast durchaus rein lyrisch. Alle epischen Elemente, wie sie das volksthümliche Tanzlied liebte, sind ihnen fremd. Der Dichter redet als ein Einzelner, nicht im Namen eines Zuhörerkreises, allein von sich und seinen inneren Zuständen, er bewegt sich auf dem eigensten Gebiet der Lyrik, und er redet als Einsamer, ohne zu seinem Publicum äußerlich eine Beziehung anzudeuten. Hierin sondert er sich gleich den meisten übrigen höfischen Minnesängern vor ihm, gleich Hausen, Rudolf von Neuenburg, Bernger von Horheim, Bligger von Steinach von der alten, naiven Tradition der volksthümlichen Poesie, in der zwischen Hörer und Dichter ein enges Verhältniß waltete, und in der fortwährenden Beziehung und Anrede an die Hörenden sich ausdrückte. Und ebenso richtet R. seine Worte fast niemals unmittelbar an die Geliebte. Ja selbst in den Dialogen zwischen Ritter und Dame, den sogenannten Wechseln, die er gedichtet hat, bleibt der monologische Charakter gewahrt: Jedes spricht vom Andern als einem Abwesenden; es sind zwei neben einander gestellte Monologe, nichts weiter, eine poetische Gattung, die künstlerisch unnatürlich nur aus ihrer Entstehung begreiflich wird: als Auftrag und Antwort zweier Liebenden, die durch das Gebot der Sitte getrennt sind, an einen Boten. Zuerst unter allen Minnesängern hat R. ein wirkliches Gespräch einer Dame mit einem Boten dargestellt, wobei er die höfische Conversation nach dem Vorgang der epischen Dichter in manierirter kurzer Wechselrede nachahmt. Kein anderer deutscher Minnesänger hat so viele Frauenlieder gedichtet als er. Charakteristisch genug für seine [97] weibliche Natur! Sie gleichen, wie sich von selbst versteht, in nichts jenen knappen, rührend einfachen alten österreichischen Strophen liebender Damen, die im Stile echter Gelegenheitspoesie aus einer bestimmten Situation fließen. Vielmehr sind sie bis auf eins, das seiner ersten Periode angehört, alle mehrstrophige, wortreiche Reflexionen, ausführliche Raisonnements. Eins ragt unter allen hervor und bezeichnet den Höhepunkt von Reinmar’s Schaffen: das Klagelied, welches der Gemahlin des Herzogs in den Mund gelegt und von den Herausgebern zum Theil falsch verstanden ist. Hier gibt uns R., der sonst in raumloser Unbestimmtheit zu schweben liebt, eine bestimmte Situation und knüpft die Klage in glücklichem Contrast an die Frühlingszeit und ihre Freuden an, hier findet er echte Herzenslaute von einfacher, ergreifender Kraft, hier feiert seine zarte weiche Seele einen künstlerischen Triumph, hier schenkt ihm seine Muse das seinem Talent gemäßeste Kunstwerk: eine wahrhaft classische Elegie von großem Wurf. In diesem Gedichte hat R. zu seinem Vortheil ältere, volksthümliche Motive: Natureingang, Formeln aus Todtenklagen benutzt. Dazu läßt er sich aber nur selten, jedesmal zum sichtlichsten Gewinn, herab. Im Großen und Ganzen hat kaum ein deutscher Minnesänger so geflissentlich der volksthümlichen Tradition den Rücken gekehrt, so absichtsvoll in der Bahn des conventionellen höfischen Stils sich gehalten, als R. Die typischen Motive der alten Tanzlieder, die sich in den Natureingängen der volksthümlichen Minnesänger offenbaren, verschmäht er; die alten typischen Formeln bildet er bewußt um; Scene und Handlung, alles dramatische Leben, welches ein wesentliches Element des volksthümlichen Minnesangs ist, versagt er seinen Liedern; den drastischen, sinnlichen, bildlichen Ausdruck verflüchtigt er in eine abstracte, periodenreiche Sprache. So hat er nicht am wenigsten jene Reaction vorbereitet, welche, obzwar durch Walther und Neidhart verheißungsvoll begonnen, die deutsche Lyrik von ihrer verstiegenen Höhe rasch und jäh in die niedrige Sphäre des gemeinen Alltagslebens hinabführte.
- von der Hagen, Minnesinger I, 174 ff.; III, 318 ff., 468a, 601 ff.; IV, 137 ff., dort auch alle ältere Litteratur. – Uhland, Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage. Stuttgart 1870, V, S. 113 ff.: „Der Minnesang“, mit zerstreuten Bemerkungen über Reinmar. – Lachmann und Haupt, Des Minnesangs Frühling. Leipzig 1857, 2. Aufl. 1875, 3. Aufl. 1882, Nr. XX, S. 150 ff., 290 ff. – Bartsch, Deutsche Liederdichter. 2. Aufl. Stuttgart 1879, Nr. XV. – Regel, Germania XIX, 149. – E. Schmidt, Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge. Straßburg 1874 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker IV), dazu Wilmanns, Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur I, 149 ff., Paul, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Litteratur II, 487 ff. – R. Becker, Germania XXII, 70 ff., 195 ff. – Burdach, Reinmar der Alte und Walther von der Vogelweide. Ein Beitrag zur Geschichte des Minnesangs. Leipzig 1880 (besonders S. 3 ff., 43 ff., 55 ff., 100 ff., 140 ff., 183 ff.), dazu Wilmanns, Anzeiger VII, 258 ff. – R. Becker, Der altheimische Minnesang. Halle 1882 (abgelehnt von Wilmanns, Göttingische gelehrte Anzeigen 1883, 21. November, S. 1473–1483, und Burdach, Anzeiger X, 13–31; Antikritik Beckers, Germania XXIX, 360 ff.). – Wilmanns, Leben und Dichten Walthers von der Vogelweide. Bonn 1882, S. 24 ff., 303 Anm. 60. – R. M. Meyer, Zeitschr. f. d. Alterthum XXIX, 171.