ADB:Stender, Friedrich David

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Artikel „Stender, Friedrich David“ von Gustav Roethe in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 44–46, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stender,_Friedrich_David&oldid=- (Version vom 19. April 2024, 17:36 Uhr UTC)
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Stender: Friedrich David St., Anagrammatist des 17. Jahrhunderts, geboren 1628 in Erfurt, scheint zu der Arnstädter Gelehrtenfamilie desselben [45] Namens Beziehungen gehabt zu haben. Er studirte in Jena (immatriculirt 20. Mai 1647). Sein Leben fristete er äußerst kümmerlich als verheiratheter Schulmeister an verschiedenen Orten, aber nicht in seiner Heimath; 1666 war er in Lüneburg, später in Hamburg thätig. Aus der drückendsten Noth befreite ihn Herzog Rudolf August zu Braunschweig, der, durch Stender’s poetische Leistungen auf ihn aufmerksam geworden, ihn 1676 in eine würdige Stellung am braunschweiger Hofe brachte. Aber St. durfte sich des plötzlichen Schicksalswechsels nicht lange erfreuen: der schwächliche kleine Mann, der das Elend muthig ertragen, wurde aus dem Glücke schon nach 11/2 Jahren am 23. Februar 1678 durch einen plötzlichen Tod abberufen. Ganze Bogen voll begeisterter Lobgedichte gaben ihm das Ehrengeleite. Uns wird es schwer, diesen Enthusiasmus auch nur annähernd zu entschuldigen. Denn St. war wahrscheinlich ein herzensguter Mann, aber ganz sicher ein sehr schlechter Poet. Mit possierlicher Ausschließlichkeit und Unermüdlichkeit läßt er seinen Pegasus auf einem allerkleinsten Gebiete Kunststücke machen. Seine drei Werkchen „Anagramma Latina“ (Hamb. 1666, 922 Nummern), „Teutscher Letterwechsel“ (Hamb. 1667, 552 Nrn.) und die posthume „Anagrammatum Latinorum et Germanorum Coronis“ (Braunschw. 1679, 782 Nrn.) enthalten mit verschwindenden Ausnahmen nichts als Anagramme, anfangs möglichst kurz, in ein lat. Distichon oder in zwei deutsche Alexandriner zusammengedrängt, später zuweilen breit ausgeführt. Ist uns diese geistlose Spielerei, die durch Umstellung der Buchstaben aus einem Worte andre bildet und den neuen Begriff nun poetisch zu dem alten in Beziehung setzt, schon bei einem tüchtigen Manne wie Logau widerwärtig, der sie doch nur vereinzelt anwendet, so sind Stender’s Virtuosenkunststücke, die in ihrer Massenhaftigkeit mit den schlimmsten poetischen Verirrungen des 17. Jahrhunderts wetteifern können, nun gar unerträglich. Und er verschmäht nichts: sowol die guten alten, schon dem Mittelalter geläufigen Versetzungen, wie Eva-Ave, Lied-Leid, Lieb-Leib, wie die albernsten und sinnlosesten neuen Einfälle (z. B. Magdalene-lange Dame; Wolfenbüttel – Füllt bewohnt; Johann Ludewig Wagner – Wi da gahr vil gewonnen u. s. w.) werden von ihm versificirt; aller Freiheiten der Orthographie und der Syntax bedient er sich, um einen nothdürftigen Sinn bei seinem ’Letterwechsel‘ herauszubekommen. Günstige Worte nützt er gründlich aus: in einem Gespräch zwischen Paris, Helena und Menelaus z. B. erscheint dieser letzte Name in nicht weniger als 18 anagrammatischen Variationen. Ueber dieser Spielerei wird der wirkliche Inhalt so vernachlässigt, daß die Schrecken des großen Krieges, die sittliche Corruption der Zeit in den Epigrammen Stender’s fast gar nicht zum Ausdruck kommt, und selbst mit einem bessern Anagramm wie ’Republica Romano-germanica: Gens libera, corpora cum anima‘ weiß er, obgleich guter Patriot, nichts rechtes anzufangen. Zum Epigrammatiker, zu dem ihn die gewählte Gattung machte, fehlte dem verkümmerten, schmiegsamen Männchen vor allem der Charakter. Mit Vorliebe besingt er lobhudelnd Personen, voran natürlich seinen Gönner Rudolf August, dann aber eine Wolke unbekannter Theologen und Schulmänner: Opitz, Fleming, Rist, Dach, Clajus, Harsdörffer, Buchner, Schottel, der Engländer Owen, Nikolaus Zriny und Octavio Piccolomini, Gustav Adolf und Karl Stuart, Heilige und Patriarchen, Griechen und Römer, Städte und Stände, sie alle müssen ihre Namen anagrammatisch mißhandeln lassen. Und damit noch nicht genug: mit dem Anagramm verbindet St. wol gar noch das Chronogramm, um damit den letzten Rest von Sinn und Verstand aus seinen Versen zu treiben. Freilich, er glaubte im ’Anagramma‘ ’Magna arma‘ zu besitzen, und die Zeitgenossen bestärkten ihn in diesem Glauben. Ja, diese Künste waren nicht einmal brotlos, wie uns das Anagramm ’Ziel-Zeil‘ lehrt:

[46] Dis ist mein Tuhn und Werk: die Zeil’ hab ich zum Ziel:
Mein Leib und Weib ernehrt nuhr eine Feder-Kihl.

St. ist ein lehrreiches Beispiel dafür, bis zu welcher bodenlosen Albernheit die Ueberschätzung der formellen Künsteleien führen konnte, und mit Recht hat Gervinus ihn aus der Milchstraße von Dichtern zehnten Grades, wie sie das siebzehnte Jahrhundert zeugte, neben den Leberreimern als besonders abschreckenden Typus herausgehoben.