Zum Inhalt springen

ADB:Struensee, Johann Friedrich Graf von

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Struensee, Johann Friedrich“ von Karl Wittich in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 647–661, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Struensee,_Johann_Friedrich_Graf_von&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 04:55 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Struensee, Gustav von
Band 36 (1893), S. 647–661 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Johann Friedrich Struensee in der Wikipedia
Johann Friedrich Struensee in Wikidata
GND-Nummer 118619470
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|36|647|661|Struensee, Johann Friedrich|Karl Wittich|ADB:Struensee, Johann Friedrich Graf von}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118619470}}    

Struensee: Johann Friedrich St., der bekannte unglückliche dänisch-deutsche Staatsmann. Geboren am 5. August 1737 zu Halle a. S. als Sohn des angesehenen Pastors Adam St., eines zweifellosen Anhängers des Halleschen Pietismus, fand er sich, bei völlig verschiedener Anlage und Denkart, von früh an durch die Einseitigkeit dieser pietistischen Richtung, sowie durch die Härte der väterlichen Erziehung abgestoßen. Je weniger der Hallesche Pietismus bei seinem auf Erbaulichkeit gerichteten Streben den Werth der Wissenschaft zu würdigen verstand, um so mehr fühlte der junge St. sich zu dieser, insbesondere zu Philosophie und Naturwissenschaften hingezogen. Zum Gelehrten sich berufen glaubend, ward er durch die äußeren Verhältnisse indeß genöthigt, nachdem er bereits mit fünfzehn Jahren die Universität in seiner Vaterstadt bezogen, sich einem Brodstudium zu widmen. Bereits im zwanzigsten Lebensjahre zum Doctor der Medicin daselbst promovirt, wurde er, doch wol durch den Einfluß seines inzwischen als Propst nach Altona berufenen Vaters, am 6. Februar 1758, mithin noch nicht einundzwanzig Jahre alt, zum Physikus in letzterer Stadt ernannt. Dennoch gelang es ihm nicht, sei es seiner allzu großen Jugend, sei es der freisinnigen Grundsätze wegen, zu denen er in dieser frommen Stadt sich offen bekannte, eine einträgliche Praxis zu erlangen. Auf die Unterstützung des Vaters angewiesen, jedoch bestrebt, von diesem – der übrigens zu Ostern 1760 als königl. dänischer Oberconsistorialrath und Generalsuperintendent der Herzogthümer Schleswig und Holstein nach Rendsburg übersiedelte – sich ganz frei zu machen, wandte er sich mit einem Bittgesuch nach Kopenhagen an den Minister v. Bernstorff. Dasselbe ist interessant durch die Erklärung: daß er bei einer Erhöhung seines Gehalts auf nur 200 Reichsthaler zufriedengestellt sein würde, sich dann aber auch durch anatomische Vorlesungen, durch Hebammenunterricht und dergleichen den Altonaern [648] nützlicher machen könnte, als wenn er, um seinen Unterhalt zu gewinnen, „sich mit der praxi medica allzu viel zu zerstreuen gezwungen sähe“. Die Praxis scheint er, da sie ihn von Hause aus nicht interessirte, vernachlässigt zu haben, obwol er auch noch die Ernennung zum Landphysikus in der Grafschaft Ranzau und der Herrschaft Pinneberg annahm. Andrerseits war er, zumal seine finanziellen Verhältnisse sich nicht besserten und sein wiederholtes Gesuch um Gehaltserhöhung abschlägig beschieden wurde, keineswegs von Brodneid frei; es gebe zu viel Aerzte, meinte er, und er sprach sich grundsätzlich gegen die Zulassung neuer in Altona aus. Ohnehin war er schnell geneigt, Quacksalber und Charlatans in einigen seiner Collegen zu sehen, denen die Wissenschaft vorwiegend Erwerbsquelle war. Mit dem ihm eigenen Spott begann er dieselben, sowie die von ihnen angepriesenen Geheimmittel in der seit Juli 1763 zu Hamburg erscheinenden, angeblich in Rabener’s Spuren wandelnden Monatsschrift „Zum Nutzen und Vergnügen“ zu geißeln; freilich ohne Nennung seines Namens, doch ist seine Autorschaft meist durchsichtig genug. Auch bekannte oder behauptete er nachher, daß ihm eine derartige Geißelung durch sein Amt zur Pflicht gemacht worden sei. Allein er blieb bei den Mißbräuchen seines eigenes Standes nicht stehen; gleich das erste Stück der Monatsschrift enthält ein ihm ebenfalls zugeschriebenes scharf satirisches Epigramm „An die Fürsten“, das gegen einen politischen Uebelstand des dänischen Reichs, den sog. Lakaismus zu Felde zog. Die Reaction erfolgte aber bald; noch im nämlichen Jahre wurde auf Veranlassung des bekannten Hamburger Hauptpastors J. M. Goeze, der in diesen Satiren selbst Schmähungen der Religion, ja Gotteslästerungen erblickte, das weitere Erscheinen der Monatsschrift in Hamburg verboten. Durch den dortigen Magistrat wurde zugleich der Oberpräsident im benachbarten Altona auf die Zügellosigkeit ihrer Verfasser und Redacteure, des Juristen Panning und des Physikus Dr. Struensee, in den schärfsten Ausdrücken aufmerksam gemacht. Nur die persönliche Milde des an sich selbst sehr sittenstrengen Ministers Bernstorff scheint den jungen St. damals vor ernsteren Unannehmlichkeiten bewahrt zu haben. Dieser ward nicht abgeschreckt durch die Unterdrückung der Zeitschrift und die Vereitelung des Versuches, sie unter verändertem Titel erscheinen zu lassen. Aber er setzte es begreiflicher Weise auch nicht durch, daß ihm für die „Altonaische Monatsschrift“, die er seit Beginn des Jahres 1764 auf eigene Hand herausgeben wollte, die erbetene Befreiung von der gesetzlichen Censur bewilligt wurde. Da verzichtete er auf die Herausgabe; indeß aus Ehrgeiz, aus Interesse wie aus der Nothwendigkeit, „seine Einkünfte zu vermehren“, fuhr er fort, mit populär-wissenschaftlicher Tendenz – seiner Satire nun aber doch wol einen Zügel anlegend – für die schleswig-holsteinischen und für andere Provinzialblätter der deutschen Nachbarlande zu schreiben.

Dank seiner allseitigen Wißbegierde, seiner dementsprechend ausgebreiteten Lectüre, seiner großen Arbeitskraft und seinem durchdringenden Verstande, hatte St. sich unleugbar schon in jüngeren Jahren eine Menge der verschiedenartigsten Kenntnisse angeeignet, wenn diese auch nicht immer tief gewesen sein mögen. Zu seinen Lieblingsschriftstellern gehörten die Encyklopädisten, Voltaire und insgemein die Aufklärungsphilosophen jener Zeit. Er selber bildete sich ein metaphysisches System, das aber schon an sich nicht consequent war. Seine Moral war die des praktischen Eudämonismus. Die Begriffe gut und böse waren ihm im Grunde gleichbedeutend mit nützlich und schädlich im Hinblick auf die menschliche Gesellschaft, und gerade für die mannigfachen Schäden im socialen wie im politischen Leben hatte er einen scharfen Blick; ihnen durch seine Kritik entgegenzutreten, fühlte er sich immerdar berufen. Der positiven Religion ebenso wie den historischen Ueberlieferungen gegenüber sich auf die Vernunft stützend, war er ein Freigeist und theoretischer Weltverbesserer – bei der Abneigung freilich, [649] die ihm nicht bloß sein eigener Vater, sondern im allgemeinen die herrschenden streng conservativen Elemente entgegensetzten, aller Voraussicht nach ohne weiteren Einfluß. Daß es aber anders kam, wurde durch seine Bekanntschaft mit einem Manne bewirkt, welcher ihm wie kein Zweiter für sein ganzes übriges Leben verhängnißvoll werden sollte. Der Graf Schack Karl zu Rantzau-Ascheberg, der, zwanzig Jahre älter als St., bereits eine vielbewegte, ja abenteuerliche Vergangenheit hinter sich hatte, hielt sich, von großen Reisen zurückgekehrt, eben damals für längere Zeit gleichfalls in Altona auf. Geist- und kenntnißreich, fand er sich mit St. um so eher zusammen, als er mit ihm den kritischen Tadel am Bestehenden, vor allem im Gegensatz zu der Regierung in Dänemark, als dessen Provinzen Schleswig und Holstein schlechthin galten, gemein hatte. Dies jedoch immer mit dem Unterschiede, daß, was bei St. Theorie war, bei Rantzau, dem einst ganz plötzlich und offenbar nicht freiwillig verabschiedeten Generalmajor, von persönlichem Groll und Haß eingegeben erschien und besonderen praktischen Zwecken diente. Er glaubte an St. einen Gesinnungsgenossen gefunden zu haben, den er sich selber unbedingt nutzbar machen könne. Er schmeichelte ihm – wozu allerdings auch der Umstand beitrug, daß er, durch seine Verschwendungen in arge finanzielle Bedrängniß gerathen, sich nicht entblödete, theilweise auf Kosten seines jungen bürgerlichen Freundes, trotz der stets unsicheren pecuniären Verhältnisse desselben, zu leben. Nur zu leicht ließ sich St. durch Rantzau’s bestechende Art gewinnen; während sie mit einander beim Tabakrauch politisirend alle möglichen Reformprojecte für Staat und Gesellschaft entwarfen, ließ er sich von ihm einreden, daß er die Fähigkeit habe, der Minister eines großen Reiches zu werden. Dennoch soll Rantzau es gewesen sein, der, direct und indirect, ihn vor der Hand noch veranlaßte, sich mehr als bisher der ärztlichen Praxis zu widmen. Der gute Erfolg, mit welchem St. die an den Pocken erkrankte Gemahlin des Grafen behandelte, hatte die Wirkung, daß vornehme Häuser, die ihm bis dahin verschlossen waren, sich ihm öffneten. Rantzau empfahl ihnen St. als einen Mann, der durch sein Genie die Wissenschaft oder Erfahrung ersetze. Die rationelle Sicherheit, mit welcher St. auftrat, die Liebenswürdigkeit und der Humor, die er im rechten Augenblick zu entfalten verstand, dazu auch sein einnehmendes Aeußere, machten ihn in den ersten Kreisen des holsteinischen Adels mit einem Male als Arzt und, da er sich ebenso aufrichtig als dienstwillig zeigte, bald selbst als Vertrauten begehrenswerth. In dieser zwiefachen Hinsicht hatte er besonders bei den Frauen ein unerwartetes Glück.

Seinem Ehrgeiz aber diente diese glückliche Wendung nur als Staffel zur Erreichung einer höheren Position. Altona war ihm, wie Rantzau, auf die Dauer ohnehin zu klein; und seine adligen Verbindungen ließen ihn früher oder später hoffen, sich unmittelbar dem Hofe zu nähern. In der That hatte er es ihnen zu verdanken, daß er für die große und lange Reise, die Christian VII. von Dänemark im Mai 1768 nach England und Frankreich antrat, als Arzt angenommen und somit dem königlichen Gefolge beigegeben wurde. An sich war dies freilich kein bedeutender Posten; St. aber nahm von da aus die Gelegenheit bald wahr, sich in des Königs unmittelbarer Umgebung festzusetzen. Vor Christian selber, den seine frühen Ausschweifungen bereits als geistig zerrüttet erscheinen ließen, wagte er mit imponirendem Freimuth hinzutreten. Er wagte es, ihn vor den schädlichen Verleitungen unwürdiger Höflinge zu warnen und ihm, wiewohl ohne ernstlichen Erfolg, Ermahnungen zu neuer Selbstachtung zu geben. Er verstand es, sich ihm während dieser Reise durch Unterredungen und angeblich selbst noch durch Lectüre angenehm zu machen, indeß er, mit seinem offenen Blick und vielseitigen Interesse, in Frankreich wie in England zugleich Beziehungen mit den Männern der Wissenschaft anknüpfte, auch seine eigenen Kenntnisse durch den [650] Besuch der naturwissenschaftlichen Sammlungen zu bereichern bemüht war. Für St. hatte diese, ursprünglich auf zwei Jahre angesetzte, dann um mehr als die Hälfte abgekürzte Reise nun aber vor allem das wichtige Ergebniß, daß sie ihm die dauernde Anstellung als Leibarzt Seiner Majestät verschaffte. Im Januar 1769 mit dem Könige heimgekehrt, verließ er ihn fortan nicht mehr, sondern machte sich ihm, für seine körperliche Gesundheit ebenso wie für seinen seelischen Zustand besorgt, von Tag zu Tag nothwendiger und unentbehrlicher. Seine Offenheit hinderte ihn nicht, dem schwachsinnigen, gleich unselbständigen als eingebildeter Fürsten in eigenthümlicher Weise auch wieder zu schmeicheln. Ja, wenn gelegentlich und anscheinend zufällig das Gespräch auf Politik kam, suchte er ihn glauben zu machen, daß er, der absolute Monarch, auch ohne seine Minister zu regieren fähig sei und nicht nöthig habe, ihre Anmaßungen sich gefallen zu lassen.

Bereits im Frühjahr 1769 zum Wirklichen Etatsrath ernannt und dadurch hoffähig geworden, war St. bestrebt, nach verschiedenen Richtungen hin seine Fäden anzuknüpfen und sich einer festen Stellung in der eigentlichen Hofgesellschaft zu versichern. Noch aber stand ihm die Königin Caroline Mathilde mit persönlicher Abneigung gegenüber: und das um so mehr, als sie ihn für einen gewissenlosen Intriganten, moralisch überhaupt für nicht besser als ihren Gemahl, bei seinem freigeistigen Wesen wohl auch für einen Religionsspötter hielt. Ihre Ehe mit dem in jeder Beziehung weit unter ihr stehenden König war eine höchst unglückliche; ihr liebebedürftiges Herz hatte dieser nie verstanden, nie zu würdigen vermocht. Und ihre Abneigung gegen seinen neuen Günstling bemerkend, drängte Christian, als sie im Sommer des nämlichen Jahres erkrankte, nicht sowohl aus Theilnahme wie aus Bosheit St. als Arzt ihr förmlich auf. Da aber erwies sich St. als Meister in psychologischer Beobachtung und Berechnung. Von Altona her gewohnt, die Damen der vornehmen Welt als Arzt und Rathgeber zu behandeln, gelang es ihm, jene Abneigung der jungen edlen, aber gänzlich unerfahrenen Königin durch sein ehrerbietiges Benehmen, seine trostreichen Versicherungen, sein auch hier sogleich vollkommen sicheres und freimüthiges Auftreten schnell zu überwinden. Erst ihr ehelicher Kummer hatte sie krank gemacht, und er durfte es unternehmen, indem er diesen delicaten Punkt aufs delicateste berührte, sich als Vermittler zwischen ihr und dem König anzubieten. Er verpflichtete sie sich zu Dank, indem er den letzteren ermahnte, statt sie durch Sarkasmus abzustoßen, ihr mit natürlicher Höflichkeit und Aufmerksamkeit entgegenzukommen. Und mehr noch; wenn es St. auch unmöglich war, ihm Liebe für die ihm wider seinen Willen angetraute Gemahlin, eine englische Prinzessin, und Empfänglichkeit für ihre unverkennbaren Reize einzuflößen – wahrer und inniger Liebe war Christian überhaupt nicht fähig –, so glückte es ihm doch, denselben der Königin fügsamer zu machen. So weit fügsam in der That, daß sich Christian ihr unwillkürlich mehr und mehr unterordnete und sie allmählich eine Herrschaft über ihn gewann, die ohne Struensee’s fortgesetzte Einwirkung undenkbar gewesen wäre. Der Vertraute des Königs war überraschend schnell auch der der Königin geworden. Doch zu der Dankbarkeit für St., die außerdem durch die von ihm glücklich ausgeführte, damals noch als lebensgefährlich geltende Impfung des zweijährigen Kronprinzen (Mai 1770) bedeutend erhöht ward, gesellten sich bei Caroline Mathilde sehr bald andere, tiefere Empfindungen. St. interessirte sie durch seinen Verstand, seine Kenntnisse, seine Art zu sprechen und zu unterhalten, täglich mehr; seine ganze Persönlichkeit fesselte sie; aus dem Vertrauten wurde ein Freund und, bei ihrem häufigen Zusammensein, im Lauf von wenigen Monaten, sicher schon im Frühjahr 1770, ein Geliebter. Damals erhielt er auch bereits Aemter von größtem thatsächlichem Einfluß auf die Verhältnisse des Hofes; er ward Vorleser des Königs, Cabinetssecretär der Königin und Conferenzrath. [651] Er hatte seine Wohnung auf dem Schloß, und sogar auf jedem Ausflug begleitete er das hohe Paar; er war die maßgebende Stimme desselben. Ueber alle Höflinge war er emporgestiegen; unvermeidlich mußte er der Gegenstand ihres Neides werden, und zwar um so mehr, als die Königin ihre Zuneigung zu ihm der Welt mit großer Unvorsichtigkeit zeigte, und als er selber durch diese Zuneigung sein Ansehen öffentlich documentiren wollte. Ein Bürgerlicher, ein einfacher Doctor, ein Parvenu, wurde er verächtlich als Favorit bezeichnet. Seiner hohen Protectorin sicher, fragte er nicht danach. Der indolente König ließ ihn gewähren; ja, von Eifersucht gänzlich frei, schien derselbe das unerlaubte Verhältniß fast zu begünstigen.

Allein für St. war auch dies nur ein Mittel zum Zweck, so sehr er gleich sich dadurch mit seiner Selbstliebe und seinem sinnlichen Behagen geschmeichelt fand, und so sehr er sich der Königin, ohne sie zu lieben, wie er von ihr geliebt wurde, verpflichtet fühlte und ihr aufrichtig ergeben war. Sein Zweck war, ohne daß er es vorzeitig merken ließ: mit dem König und durch denselben das Land zu beherrschen, die absolute Monarchie, welche Dänemark darstellte, im Sinne des aufgeklärten Despotismus zu regieren und zu reformiren, seine vor Rantzau in Altona entwickelten Theorien damit zu praktischer Ausführung zu bringen. Und eine Reise der Majestäten nach Holstein im Sommer 1770 gab ihm Hoffnung, daß es dazu kommen werde, als unterwegs fast der ganze sie begleitende Hofstaat und selbst der Minister Graf Bernstorff plötzlich nach Kopenhagen heimgeschickt wurde. Auf den besonderen Wunsch des so fast allein mit dem Königspaar zurückbleibenden St. wurde dagegen jener bisher wie in einer Art Verbannung lebende Graf Rantzau, der ausgesprochene Gegner Bernstorff’s und seiner Regierungsprincipien, herangezogen und wiederum in Gnaden aufgenommen. Jetzt hatte St. gewonnenes Spiel, und Jedermann sah große Umwälzungen am Hof wie in der Regierung voraus. Drei königliche Cabinetsbefehle, vom 4. September datirt, galten als sein gegen Bernstorff gerichtete Manifest. Sie signalisirten den bevorstehenden Sturz dieses Ministers, indem sie theils einen Fehlgriff seiner auswärtigen Politik – eine kostspielige, doch aber wegen unzureichender Rüstungen verunglückte Expedition Dänemarks gegen den Seeräuberstaat Algier –, theils Mißbräuche betrafen, die während seiner langen Regierung im Innern des Landes fortgewuchert hatten. Ein solcher Mißbrauch war namentlich die bisher übliche übermäßige Verleihung von Ehrentiteln; nach dem bezüglichen Cabinetsbefehl sollte fortan damit sparsam verfahren, sollten nur noch Männer von wirklichem Verdienst eines Charakters oder einer Standeserhöhung gewürdigt werden. Der dritte dieser königlichen Befehle war aber der wichtigste und ohne Frage von epochemachender Bedeutung, indem er die drückende und oft jedenfalls mit Chicanen verknüpfte Censur, unter welcher St. selbst als Schriftsteller gelitten hatte, völlig aufhob und für die dänische Monarchie das Recht einer uneingeschränkten Preßfreiheit verkündigte.

Bernstorff’s Entlassung erfolgte bereits am 15. September und die der übrigen Minister, der alten Perücken, wie Rantzau mit bezeichnendem Hohn sie nannte, daneben auch vieler anderer höherer Beamten in den nächsten Wochen oder Monaten. Gedeckt durch die Königin, die an des Königs Stelle getreten war, beschlossen St. und Rantzau, sich in die Summe der Staatsgeschäfte zu theilen, letzterer das Kriegswesen und die hohe Politik, ersterer alles Uebrige und dies zugleich zu leiten. Beide verschmähten zunächst den Ministertitel, und mit der Einfachheit eines Cincinnatus schien wenigstens St. an seine schwierige selbstgestellte Aufgabe zu gehen. Andrerseits aber wurde ihm seine formelle Zurückhaltung von Anfang an auch als Verlegenheit oder gar als Furcht ausgelegt: und das zumal, da die unerwartete Entlassung des trotz aller Fehler sehr verdienstvollen [652] und überall hochgeachteten Bernstorff als ein Werk der Intrigue weithin im Lande Unwillen erregte. Empfindliche Störungen drohten alsbald im Lauf der auswärtigen Geschäfte einzutreten; da es keinen Minister des Auswärtigen mehr gab, wurde den fremden Gesandten durch eine königliche Note eröffnet, daß sie in Angelegenheiten, die keinen Aufschub duldeten, sich schriftlich an den König selber wenden möchten; die dänischen Diplomaten im Ausland hatten ihre Berichte an das scheinbar führerlose „Bureau für die ausländischen Angelegenheiten in Kopenhagen“ einzusenden. Die ungünstigste Wirkung übte aber Bernstorff’s Entlassung auf das Verhältniß Dänemarks zu Rußland aus. Der bekannte provisorische Tractat von 1767, den dieser Minister mit der Zarin Catharina II. zur Ausbreitung und Befestigung der dänischen Herrschaft über ganz Schleswig und Holstein zu Stande gebracht hatte, schien sofort wieder in Frage gestellt; in höchstem Grade mißgestimmt über seine Entlassung wie über das Emporkommen des ihr von früher her verhaßten Rantzau, erklärte Catharina den Tractat für suspendirt. Und schnell traten unter dem Schüren des gewissenlosen Rantzau Verwicklungen ein, die selbst einen Krieg mit Rußland befürchten ließen, die indeß St., obwohl im ersten Moment von ihm fortgerissen, klug genug war, bei Zeiten durch vorsichtiges Einlenken beizulegen. Hinweg über Rantzau, dessen Gefährlichkeit er schon bei dieser Gelegenheit erkennen muhte, den er trotzdem noch keineswegs fallen lassen wollte, zog er, als der wahre Premierminister, obwohl mit seinem Titel „Conferenzrath“ sich noch begnügend, den Grafen v. d. Osten an seine Seite. Er berief diesen, der als ehemaliger dänischer Gesandter in Petersburg Erfahrungen gesammelt hatte, bereits im December 1770 zum Minister des Auswärtigen. Zwar blieb das Verhältniß zwischen beiden Reichen ein sehr kühles; St. suchte sich aber damit zu trösten, daß es wenigstens auch ein friedliches blieb. Ja, im Gegensatz zu der allzu großen Fügsamkeit, die Bernstorff Rußland aus Rücksicht auf jenen provisorischen Tractat bewiesen hatte, wollte er nun der dänischen Monarchie eine feste selbständige Haltung hier wie insgemein nach außen hin geben. Entschlossen, jeden fremden Einfluß auf die inneren Angelegenheiten zurückzuweisen, verzichtete er umgekehrt auf die Interventionspolitik seiner Vorgänger in Bezug auf schwächere Nachbarstaaten, vornehmlich auf ihre in gehorsamem Anschluß an Rußland thätig gewesene Einmischung in die Parteiverhältnisse des tief in sich gespaltenen und damit zur Ohnmacht verdammten Schwedens. Graf v. d. Osten, der trotz seines höheren Titels für den schon allgewaltigen St. doch nicht mehr als „eine Art Departementsdirector“ war, mußte sich, wohl oder übel, nach diesem jedenfalls an sich vernünftigen Princip einer durchgehenden Neutralität richten. St. erachtete die letztere ebenso wie den auswärtigen Frieden für nothwendig, um sich desto intensiver der Ausführung seiner inneren Reformen widmen zu können. Das war ihm unter allen Umständen die Hauptsache. Er fühlte sich berufen, sämmtliche Mißbräuche ohne Ausnahme im Staat abzuschaffen, und erklärte gelegentlich, in der Regierung desselben keinen Stein auf dem anderen lassen zu wollen.

Um aber dazu möglichst freie Hand zu bekommen, verfolgte er von Anfang an die Tendenz, an die Stelle der bisherigen Collegialregierung die reine Cabinetsregierung, mit anderen Worten seine persönliche Regierung zu setzen. Durch königliche Cabinetsbefehle vom November und December 1770 wurden sämmtliche Regierungscollegien in einfache Bureaus mit engumschriebenen Befugnissen umgewandelt, wobei jedoch auch auf die Beschleunigung des Geschäftsganges besonderes Gewicht gelegt ward. Und es erschien nur als die Consequenz dieser Umwandlung sowie jener allgemeinen Ministerentlassung, daß er durch eine königliche Acte vom 27. December das aus den Chefs der Regierungscollegien bestehende Geheime Etatsconseil, das stolzeste und ehrwürdigste aller Collegien überhaupt, [653] vermuthlich noch mit Rantzau’s nachdrücklicher Unterstützung förmlich aufheben ließ. War dasselbe für den Einen wie den Andern doch eine Kette an Hand und Fuß, für St. ohnehin ein unliebsames aristokratisches Gegengewicht gegen die rein monarchischen Bestrebungen, die er vertrat oder zu vertreten vorgab. Wie Friedrich der Große sein eigener Minister und Rathgeber war, so wollte eben auch St. im Namen oder anstatt König Christian’s dies sein. Und er gedachte zu herrschen nach dem Vorbilde Friedrich’s, wie ihm denn auch die preußische Verwaltung vor jeder anderen als Muster diente. Gewiß ist, daß er nach diesem Muster viel Zweckmäßiges schuf, die Staatsmaschine wesentlich vereinfachte, Ordnung und Sparsamkeit herstellte. Systematische Sparsamkeit erkannte er als ein Gebot für die Verbesserung der zerrütteten Finanzen. Freilich nicht ohne persönliche Härte, wurden Pensionen und Gnadengehälter so viel als möglich beschnitten, Höflinge, die ihm als Nichtsthuer oder Schmarotzer galten, mit ihren Familien fortgeschickt. Dem herrschenden Luxus trat er auf allen Seiten entgegen; den Künsten wurde die reiche Unterstützung, die sie bis dahin vom Hofe genossen hatten, entzogen oder doch außerordentlich verkürzt. Auch Industrie und Handel sollten keine Unterstützung mehr für Experimente und künstliche Operationen erhalten, Manufacturen und Fabriken, die nicht anders als auf Kosten des Staats bestehen könnten, ohne weiteres eingehen; so wurden z. B. die nur mit Verlust arbeitenden königlichen Seidenfabriken sofort geschlossen. Sein Hauptaugenmerk richtete St., wie man sich denken kann, unmittelbar auf die Finanzverwaltung selber. Ein ganz neues Finanzcollegium ward im Frühjahr 1771 errichtet, das, da vor allem im Finanz- und Cameralwesen Einheit noth that, die allgemeine Aufsicht über dieses im vollen Umfang des Reiches und seiner zugehörigen Provinzen führen sollte, zugleich aber ebenfalls in mehrere Bureaus, in vier scharf gesonderte Departements für die einzelnen Zweige der Finanzen getheilt wurde; den letzteren wurde außerdem je eine dänische, eine norwegische, eine deutsche Kammer angegliedert. Eine glückliche Wahl traf St., indem er seinen älteren Bruder Karl August, der während eines langen Aufenthalts in Preußen die dortige Administration eingehender studirt hatte, durch König Christian zum Finanzdeputirten berufen ließ. Freilich hatte er auch dabei einen Hintergedanken: ohne ihn selbst, der die Hand über die Privatcasse des Königs hielt, und seinen Bruder, der im Finanzcollegium dominirte, durfte hinfort kein Thaler mehr ausgegeben werden. Auf jeden Fall war die Neuordnung des Finanzwesens, wie sich bald aus der Vermehrung der Einkünfte und der Verminderung der Ausgaben ergab, ein unleugbares Verdienst dieser beiden Männer. – Eine durchgreifende Förderung erfuhr gleichzeitig durch St. die Rechtspflege, an sich schon durch die Reorganisation des Gerichtswesens, vornehmlich durch die Begründung einer allgemeinen centralisirten Gerichtsbarkeit in der Hauptstadt, des „Hof- und Stadtgerichtes“, mit Beseitigung der vielen bisherigen privilegirten Gerichte daselbst, nach dem Grundsatz der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Hierzu trug dann aber auch die Verbesserung des Proceßverfahrens, die Aufhebung veralteter und inhumaner Gesetze, die Milderung der Strafgesetze, die Abschaffung der Sporteln wesentlich bei. Im Zusammenhang mit diesen Neuerungen stand die Umgestaltung der Stadtverfassung von Kopenhagen, welches bei seiner bisherigen, dem Mißbrauch der Vetterschaften wie dem Schlendrian allzu leicht Vorschub leistenden Verfassung nur als ein mangelhaft verwalteter Ort bezeichnet werden konnte. Der alte Magistrat mit der ihm zur Seite stehenden Versammlung deputirter Bürger und Notabeln, der sog. zweiunddreißig Männer, wurde aufgehoben und durch einen ganz neuen, zunächst vom König ernannten Rath ersetzt; doch sollten, mit Ausnahme der Bürgermeister und des Syndikus, die Rathmänner in Zukunft von der Bürgerschaft, aus deren Mitte jährlich gewählt werden (königl. Rescript vom 2. April [654] 1771). So hoffte St. die städtische Verwaltung zum allgemeinen Nutzen nach oben wie nach unten hin abhängiger zu machen, wozu nun insbesondere mitwirkte, daß dieser neuen Stadtobrigkeit die richterliche Gewalt seiner[1] Vorgängerin[2] gänzlich entzogen worden war. – Kurz zuvor schon hatte er dem Protectionswesen durch die gesetzliche Vernichtung des Lakaismus, d. h. durch das Verbot der Zulassung von Domestiken zu den öffentlichen Aemtern (Cabinetsordre vom 12. Februar), einen wuchtigen Streich versetzt.

Auf die allgemeine Wohlfahrt vorzüglich Bedacht nehmend, brachte St. überall seine philanthropischen Ideen zur Geltung. Der Armen und der Bedrängten nahm er sich an. Er war eifrig bestrebt, der herrschenden, durch Mißwachs und andere Umstände hervorgerufenen Theuerung durch Verbote der Ausfuhr und durch Erleichterung der Einfuhr aller Arten von Getreide zu wehren; er sorgte für die Anlage von Reservemagazinen und für billige Brotpreise zu Gunsten der vielen Unvermögenden in Kopenhagen. Er dachte an rationelle Verbesserung des Armenwesens ebenso wie an völlige Befreiung der Bauern von der zwar nicht mehr rechtlich, indeß noch thatsächlich bestehenden Leibeigenschaft. Was die frühere Regierung nach dieser Richtung hin gethan, hatte keine nennenswerthe Erfolge gehabt; von der seinigen durfte man sich solche versprechen. Eine Ordonnanz zu genauer Abgrenzung der Frohndienste und zu wesentlicher Beschränkung der gutsherrlichen Willkür (vom 20. Februar) bedeutete einen guten Anfang. In seiner Absicht lag ferner auch die Aufhebung der verknöcherten Zünfte. Ein Gebiet, auf dem er als ehemaliger Arzt vornehmlich berufen schien wohlthätig zu wirken, war das Sanitätswesen. Um die öffentliche Gesundheitspflege machte er sich verdient durch die Reorganisation der Hospitäler, durch die Ausbreitung der Blatternimpfung, durch die von ihm bewirkte Bearbeitung einer neuen Pharmakopöe.

Bei der Fülle seiner Neuerungen fehlte es freilich nicht an allerhand sehr anfechtbaren Verordnungen. Die Zahlenlotterie, die er – zumeist wohl aus finanziellen Gründen – durch ein königliches Octroi vom 12. Januar 1771 einführen ließ, war in moralischer wie ökonomischer Hinsicht verwerflich. In moralischer trug St. überhaupt nun die laxesten Grundsätze selbst als Leiter der Regierung zur Schau. Er war ein Feind aller vom Staat dictirten Sittengesetze, da er fand, daß der Staat sich um Sitten und Handlungen seiner Unterthanen nicht zu bekümmern habe, insofern nicht die Ruhe und die Sicherheit der Gesellschaft durch dieselben unmittelbar betroffen würden. Im Gegensatz zu den drakonischen Polizeigesetzen aus vergangenen Zeiten, durch deren Zwang nur zu häufig heimliche Laster neben der Heuchelei hervorgerufen sein mochten, gewährte er einer von Kirche und Polizei bis dahin aufs strengste bevormundeten Nation auf einmal Freiheiten aller Art. Zu ihrer Aufheiterung, die sie nach seiner Meinung auch besser machen würde, ließ er bisher kaum gekannte Vergnügungen zu. In Wirthshäusern und Schankstätten hob er die Polizeiaufsicht auf. An bestimmten Tagen ließ er auf den Marktplätzen Kopenhagens öffentliche Musik aufführen; an Sonn- und Festtagen, was in Dänemark noch nicht der Fall gewesen war, gestattete er Schauspiele und Concerte. Zu festlichen Aufzügen, Wettrennen, Maskeraden erhielt das Publicum häufig freien Zutritt. Er erlaubte sogar die Errichtung einer Pharaobank im Rosenborger Schloßgarten, der außerdem bis tief in die Nacht fortan geöffnet blieb und so zum Schauplatz mannigfacher Orgien wurde. – Auch an sich zu rechtfertigende Anordnungen, die er als Mediciner oder sonst aus praktischen oder humanen Gründen traf, schienen unter den Umständen einen Beigeschmack zu haben, als begünstige er die Corruption. So die größere Zulassung von öffentlichen, unter ärztlicher Controle stehenden Häusern; so die Herstellung eines Findelhauses in der Hauptstadt und einer königlichen Erziehungsstiftung für Findelkinder, zu deren Unterhaltung eine Steuer [655] auf Luxuspferde erhoben wurde; so auch die Beschränkung der zahlreichen Feiertage in Dänemark, die freilich allzu sehr dem Müßiggang und der Trunkenheit gedient hatten. Dazu kam ferner die Abschaffung aller Strafen für Ehebrecher und Mädchenverführer, diejenige der an sich immerhin bedenklichen Geld- und Gefängnißstrafen wegen außerehelicher Geburten, die Aufhebung des Verbots von Heirathen zwischen Ehebrechern, sowie die Bestimmung, daß niemand überhaupt mehr in Ehebruchsfällen klagbar werden dürfe, als der beleidigte Gatte.

Es war Struensee’s Unglück, daß man diese unter den obwaltenden Verhältnissen mehr oder minder gefährlichen Neuerungen nicht bloß als einen Commentar zu seinen moralischen Grundsätzen, sondern direct auch zu seinem persönlichen Lebenswandel auffaßte. Und der Tadel, der Widerspruch, auf den sie dadurch in verschärftem Maaße stießen, übertönte gar bald das Lob, das seine unzweideutigen Bemühungen um Hebung von Wohlfahrt und Bildung, seine wohlberechtigte Förderung von Toleranz und Humanität, seine zahlreichen Anregungen und Verbesserungen auf politischem wie socialem Gebiete bei allen Unbefangenen fanden. Allerdings war seine Reformsucht an sich schon viel zu ungestüm, sein ganzes Vorgehen ein zu übereiltes, als daß Störungen und Erschütterungen im Gange der Geschäfte hätten ausbleiben können. Eben dadurch, wie durch die Härte, mit welcher die von ihm nicht für berechtigt angesehenen, die privilegirten, die sonst ihm im Wege stehenden Existenzen infolge seiner jähen Umwandlungen betroffen wurden, ward das Gute und Vortheilhafte, das er schaffen wollte, großentheils von vornherein aufgehoben oder durch empfindliche Nachtheile aufgewogen. Die Kopenhagener Bürgerschaft, die wider sein Erwarten in der Beseitigung jener zweiunddreißig Notabeln einen ihr selber angethanen Schimpf erblickte, zeigte sich um so mißmuthiger, als der durch ihn veranlaßte Wegzug vieler der vornehmsten Familien aus der Hauptstadt Handel und Wandel daselbst merklich beeinträchtigte. Der Ausfall im Miethzins der Wohnungen wie im Absatz des Kleinhandels wurde überdies noch durch den Abgang zahlreicher Arbeiter erhöht, die, über Nacht brodlos geworden durch das plötzliche Aufhören der nicht rentablen Fabriken, der Prachtbauten und sonstiger luxuriöser Unternehmungen, sich nach anderer Arbeit an anderen Orten umsehen mußten. So litt die Hauptstadt – die um Mitte 1771 bereits von mehr als 4000 ihrer Einwohner verlassen war – und die große Menge zu gleicher Zeit schwer, obwohl doch St. sich beider materiell wie auch sonst annahm. – Ohne Rücksicht auf die Herkunft und die noch vor kurzem herrschende Protection, bloß nach ihren Fähigkeiten wählte er seine Beamten, und meist gelang es ihm wirklich, für seine Zwecke die brauchbarsten Männer zu finden. Aber er überbürdete sie dann auch mit Arbeiten, die sich auf die Durchführung seiner Reformen bezogen und derentwegen die laufenden Geschäfte oft massenhaft liegen bleiben mußten. Dabei verbat er sich als echter Dictator alle Einwendungen und Erinnerungen, zu der sie größere Sachkenntniß und praktische Erfahrung im Sinne behutsamen Vorgehens und zur Vermeidung schroffer Uebereilungen gewiß berechtigt haben würde. Von niemand wollte dieser unfehlbare Theoretiker belehrt sein, und er wies mit kategorischer Heftigkeit selbst die ihm näher Stehenden, die einmal eine andere Ansicht äußerten, zurück. Er konnte dann auch sie ohne weiteres fallen lassen, wie er bei seiner Umwälzung der alten Collegien und andrerseits aus Sparsamkeitsgründen schon zahlreiche Amtsentsetzungen, in der Mehrzahl der Fälle selbst ohne Gewährung von Pension und Entschädigung, vorgenommen hatte. Thatsächlich war denn niemand seiner Stelle mehr sicher. Er schuf damit in einem Staat, der an sich wenig Industrielle, desto mehr Beamte und Diener der Krone hatte, zahllose Mißvergnügte; und auch dieses Mißvergnügen der Bureaukratie übte naturgemäß eine ungünstige Rückwirkung auf die Arbeiten selber aus. – Die [656] meisten Feinde erwuchsen ihm in dem Heer jener ehemals Privilegirten. Die Lakaien, der Aussicht auf die übliche Beförderung zu Räthen und Amtsleuten beraubt, die Zunftmeister, denen die Aufhebung ihrer Zünfte bevorstand, haßten ihn. Die gefährlichste Feindschaft aber zog er sich von seiten des Adels und der Geistlichkeit, der beiden berufenen Hauptstützen der absoluten Monarchie, zu. Die orthodoxen Prediger erkannten ihn als Atheisten, und schon jene Beschränkung der Feiertage galt ihnen als Gotteslästerung. Sie verdammten ihn als unwürdig, wie er seinerseits den Adel verdammte. Durch die vollendete Rücksichtslosigkeit, mit der er die Vornehmen behandelte und in allen ihren Privilegien zugleich angriff, wollte er, wie man annahm, ihren Stand zu Grunde richten. Nicht genug, daß er ihnen – mit jener einen Ausnahme – die Ministerstellen verschloß, sie in großer Anzahl aus den ansehnlicheren Aemtern, die sie stets als ihre Domäne betrachtet, entfernte und sie allmählich ganz entfernen zu wollen schien. Nicht genug, daß er sie in ihrer Eigenschaft als Gutsherren durch Beschränkung der Bauernfrohnden und andere Maßregeln kränkte, daß er ferner so viele adlige Familien vom Hofe förmlich ins Elend schickte. Durch sein Vorhaben, die Armee auf mehr als die Hälfte zu reduciren, beleidigte er noch insbesondere den Officierstand und durch die im Mai 1771 erfolgte Verabschiedung der berittenen Garde, mit der er dies Vorhaben gleichsam einweihte, hier wieder die Adligen in erster Reihe. Und so fast in allem Uebrigen. Ihr Stolz empörte sich bei dem Gedanken, von einem gemeinen Emporkömmling, noch dazu einem derartigen „Favoriten“ sich maßregeln lassen zu sollen.

Auch Graf Rantzau ertrug es nicht, daß dieser niedrig Geborene, den er sich zum Werkzeug ausersehen, der immer nur seine Creatur hatte sein sollen, über ihn hinweg gestiegen war und ihn bei Seite geschoben hatte. Nicht minder widerwärtig war es aber dem Grafen Osten, als Minister des Auswärtigen ganz von St. und dessen Weisungen abhängen, auch nicht wie er zum König unmittelbaren Zutritt haben zu sollen. In letzterer Hinsicht ging es jedoch auch den fremden Gesandten am Hofe nicht besser. St. wagte es, sogar sie, die zu fürchten er freilich noch besondere Ursachen hatte, in möglichster Entfernung zu halten, so daß sie nicht einmal mehr zu Privataudienzen bei den Majestäten zugelassen wurden. Durchgehends zeigte er, wie sehr es ihm auf die absolute und widerspruchslose Beherrschung des Hofes ankam; und unter dieser Voraussetzung glaubte er, zu seinem Verhängniß, keiner Partei im Lande als Stütze weiter zu bedürfen. Radical despotisch, gleich Joseph II. sich wild überstürzend, hatte er so wenig als dieser eine Ahnung von der Macht der Ueberlieferung und ebenso wenig von der Macht des Vorurtheils. In seiner persönlich nur allzu precären Stellung meinte er sich hinreichend durch die nach außen hin verbreitete Fiction zu decken, daß er ganz im Auftrag des – thatsächlich zwischen Stumpfheit und Wahnwitz schwankenden – Monarchen handle, das Organ der Gedanken Seiner Majestät sei. Durch bloße Cabinetsbefehle ließ er seine neuen Gesetze, darunter auch seine einschneidendsten Reformen verkündigen. Wenn ein derartiges Verfahren schon durchaus ungewöhnlich war, so wurde es dadurch, daß diese Befehle sämmtlich auf deutsch abgefaßt waren, für die Nationaldänen geradezu tief verletzend. Die Sprache verrieth jeden Augenblick die wahre Stimme des Orakels, die Herrschaft eines Fremdlings in ihren Landen, die durch seine Entschuldigung, daß er keine Zeit habe, dänisch zu lernen, nur noch verhaßter werden mußte.

Am schwersten wurde aber doch empfunden, wie und wodurch das beispiellose Emporsteigen Struensee’s überhaupt erst ermöglicht worden war – sein Verhältniß zur Königin Caroline Mathilde, über welches die große Unvorsichtigkeit Beider, ihr stetes und auffallendes Zusammensein weder der Dienerschaft bei Hofe noch anderen Einsichtigen einen Zweifel übrig ließ. Er hatte sich eingenistet [657] an diesem Hof. Er hatte ihm nach Verdrängung der gewohnten aristokratischen Gesellschaft, ja nach Zurücksetzung und wenigstens indirecter Fernhaltung der Königinwittwe Juliane Marie, der Stiefmutter König Christian’s, sowie ihres Sohnes, des sog. Erbprinzen Friedrich, gleichsam den Stempel eines gut bürgerlichen Hauses ausgedrückt, in dem er selbst sich Herr wie im Staate fühlte. Dank der Preßfreiheit, die er selber erst geschaffen, erschienen seit dem Frühjahr 1771 Pamphlete mit Anspielungen auf das Verhältniß Struensee’s zur Königin, die, obwohl Beide nicht genannt waren, doch keiner Mißdeutung unterliegen konnten – Pamphlete zugleich auf seine exorbitante Stellung im Staat wie auf das Schattenkönigthum Christian’s. Als am 7. Juli Caroline Mathilde einer Tochter genas, zeigte sich Hoch und Niedrig in demonstrativer Weise kalt und zurückhaltend; die öffentliche Meinung schien dieselbe als Prinzessin, als ein Glied des erlauchten Hauses Oldenburg nicht anerkennen zu wollen, wenn sie auch durch die Anzeige ihrer Geburt an die auswärtigen Höfe und durch die Tauffeierlichkeit officiell als legitim erklärt ward. In den nämlichen Tagen, am 14., beging St. den unbegreiflichen Fehler, sich zum Geheimen Cabinetsminister ernennen und gleich darauf sich in den dänischen Grafenstand erheben, sich außerdem zu standesgemäßer Ausstattung die Summe von 60 000 Reichsthalern vom Könige schenken zu lassen. Ersteres war ein in Dänemark bisher nicht gekannter Titel, und er bedeutete, durch eine bezügliche Cabinetsordre vom 15. näher erläutert, ein Amt, eine Machtbefugniß, wie sie ebenfalls bisher noch keinem Unterthanen anvertraut gewesen war. St. durfte hinfort im Namen des Königs und ohne dessen Unterschrift Cabinetsbefehle ertheilen, die vollkommen respectirt werden sollten, als wenn sie der König selbst unterzeichnet hätte. Alle Behörden und Beamten sollten ihnen unbedingte, augenblickliche Folge leisten. Was er thatsächlich allerdings längst schon besaß, die exclusive Gewalt, erhielt er demnach mit dem exclusiven Titel auch officiell. Folgerichtig konnte kein anderer Minister mehr neben ihm bestehen; und man nahm an, daß Graf Osten ihm auch als Minister des Auswärtigen förmlich werde weichen müssen. Nach zehn Monaten seiner Regierungsthätigkeit hatte St. sich nun als Reichsverweser, als Großvezier offenbart. Es war ein überaus gewagter Schritt, von dem sogar seine königliche Freundin ihm vergebens abgerathen hatte, der seine Feinde vermehrte und auch von seinen Anhängern als der herrschenden Lex Regia zuwider für mehr denn unpolitisch gehalten wurde. Bloß er selber hatte gewähnt, seine wankende Autorität dadurch befestigen zu können. Seine Standeserhöhung aber zeigte ihn, den bewußten Verfolger der Vorrechte und Vorurtheile des Adels, erst recht in einem eigenthümlichen Lichte; und vollends inconsequent, selbstsüchtig und habgierig zugleich ließ ihn die großartige Schenkung erscheinen, die er sich im Widerspruch mit seinem Sparsystem, mit seiner durchgreifenden Reduction der Gnadengehälter zugewendet hatte. Fast muthwillig steigerte er damit nach allen Richtungen hin, in allen Schichten wie in allen Provinzen, in Schleswig und Holstein nicht weniger als im eigentlichen Dänemark, die gegen ihn bestehende Erbitterung. Hatte er doch auch dadurch eine neue unverzeihliche Unvorsichtigkeit begangen, daß jene Standeserhöhung am Geburtstage Caroline Mathildens, gleichzeitig dem Tag der Taufe ihres Töchterchens, am 22. Juli erfolgt war – nachdem er sie wenige Monate zuvor, am Geburtstage des Königs, 29. Januar, einen neuen Orden unter dem Namen des Mathildenordens hatte stiften und schon damals zum Gerede der Leute sich von ihr zum Ritter dieses Ordens hatte machen lassen. Die gehässigsten Gerüchte wurden ausgesprengt, die schließlich in der Behauptung gipfelten, daß er nach Entfernung des einfältigen Monarchen die Königin heirathen und, ein neuer Cromwell, sich zum Protector des Reiches ausrufen lassen, ja sich der Krone bemächtigen wolle.

[658] Unter der Einwirkung einer materiellen Nothlage, die St. zu beseitigen versprochen, aber durch die Fehler seines stürmischen und unpolitischen Verfahrens nur noch verschärft hatte, wuchs der allgemeine Unmuth; man stand wie auf einem Vulkan. Und bereits zu Anfang September drohte eine Eruption, indem ein paar hundert in Norwegen angeworbene Matrosen in demonstrativem Aufzug nach dem Schloß Hirschholm, der Sommerresidenz des Hofes kamen. Durch Struensee’s Umgestaltung des Admiralitätscollegiums sich mit ihren Forderungen empfindlich zurückgesetzt, sich arg geschädigt fühlend, wollten sie den König persönlich sprechen, um von ihm zu erfahren, ob man auf seinen Befehl sie Noth leiden ließe. Man gab ihren Forderungen nach und traf unter Struensee’s Leitung Anordnungen zur Beschwichtigung, die, da sie von der Furcht dictirt erschienen, das gerade Gegentheil bewirkten und die Aufregung nur steigerten. Ein im Namen der Königin am 28. September zu Friedrichsberg veranstaltetes Matrosenfest wurde nach dem gebratenen Ochsen, der dabei zum Schmause diente, spöttisch als Sühnochse bezeichnet; dasselbe gab, unter dem Anwachsen der Schmähschriftenlitteratur, bereits Anlaß zu Gerüchten von einem gegen St. selbst bei dieser Gelegenheit gerichteten Attentat. Er hielt sich mit dem Königspaar zurück und ließ, was bis dahin unnöthig und ungebräuchlich gewesen, die Zugänge zu Hirschholm fortan militärisch streng bewachen, während die Attentatsgerüchte sich thatsächlich von Tag zu Tag mehrten. Bereits am Morgen des 4. October fand man Maueranschläge in Kopenhagen, die den Minister als Tyrannen und Usurpator, als Beleidiger der Majestät für vogelfrei erklärten und offen zum Meuchelmorde wider ihn aufforderten. Der Mißbrauch der Preßfreiheit konnte nicht weiter getrieben werden; und St. sah sich aus Rücksicht auf seine eigene Person veranlaßt, diese Institution, auf die er ganz besonders stolz gewesen war, durch Rescripte vom 7. und 28. des nämlichen Monats zu widerrufen oder doch erheblich einzuschränken. Die Menge der bisherigen Schmähschriften, sowie die anonymen Drohbriefe, die er persönlich erhielt, ließen den nur zu lange sorglos gewesenen Mann auch sonst noch allerhand ernste, militärische und polizeiliche Maßregeln zu seiner und der Königin Sicherheit, sowie zur vollsten Ueberwachung des Königs ergreifen, die den Glauben erweckten, als fiele er plötzlich von einem Extrem in das andere. Sie hatten ohnehin den verhängnißvollen Erfolg, daß sie seine Gegner in dem Glauben bestärkten, er sei im Grunde nur kleinmüthig und furchtsam. War dem so, so galt er nach dem Urtheil der Einsichtigen für verloren.

Der einzige männliche Vertraute, den er noch besaß und an dessen dauernder Freundschaft ihm lag, ja wegen seiner demselben von Anfang an gemachten Confidenzen liegen mußte, stand im Begriff, von ihm abzufallen und ihn zu verrathen. Es war der Kammerherr Enevold v. Brandt, der, schon von Altona her ihm befreundet, von ihm einst zugleich mit Rantzau herangezogen worden war: und dies, um als ständiger Gesellschafter des Königs letzterem die Zeit vertreiben zu helfen, so gut es ging, namentlich aber allen Unbefugten oder Widersachern den Zugang zum Hof, zum Thron zu versperren und unliebsamen Ueberraschungen vorzubauen. Ein bei dem Geisteszustand und der Launenhaftigkeit Christian’s wenig erfreuliches, im übrigen geradezu widerwärtiges Amt, welches dadurch nicht erträglicher ward, daß St. ihm noch das Amt des Intendanten der königlichen Schauspiele, sowie des Directors der königlichen Gemäldegalerie und Kunstkammer für seinen Freund hinzugefügt hatte. Brandt vermochte seine künstlerischen Pläne ja doch nicht zur Ausführung zu bringen, da Struensee’s Sparsystem die nöthigen Mittel allzu sehr beschnitten hatte. Und auch Brandt’s Erhebung in den Grafenstand, die gleichzeitig mit seiner eigenen erfolgt war, auch das gleiche großartige, im Namen des Königs, in Wirklichkeit [659] durch St. ihm zu theil gewordene Geldgeschenk waren nicht im Stande, ihn zufrieden zu stellen. Offen genug und wiederholt hatte Brandt dem despotischen Leiter der Dinge, in dem auch er den bürgerlichen Parvenu nicht übersehen konnte, sein Mißbehagen unter nachdrücklichen Warnungen ausgesprochen. Durch anonyme Schreiben nun aber selbst gewarnt und mit dem Tode gleich St. bedroht, entwarf er den Plan, seinen Freund, der ihn zum Hüter bestellt hatte, hinterrücks zu stürzen, mit anderen Worten ihn aufzuheben, in Haft zu nehmen und dann für immer aus Dänemark zu verbannen. Dieser Plan scheiterte wegen des auf Brandt lastenden allgemeinen Argwohns. Er hatte dagegen das Mißgeschick, sich in Struensee’s bevorstehenden Fall unmittelbar zu verwickeln, indem er (November) durch eine höchst beleidigende Herausforderung von seiten des unberechenbaren und ihm selbst ersichtlich gram gewordenen Königs so gereizt wurde, daß er, sich ganz vergessend, durch Thätlichkeiten sich an ihm, dem Träger der Krone, vergriff. St. aber gereichte auch dies nur zur Erschwerung seines eigenen Unglücks, da er die körperliche Züchtigung Christian’s durch Brandt als eine verdiente unter der Hand zu billigen wagte, ohne verhindern zu können, daß das Geheimniß derselben am Hof und von da aus weiter verrathen wurde. Damit gewannen denn die längst bestehenden, wiewohl ungerechten und äußerst gehässigen Berichte, daß der Gesalbte des Herrn von ihm mißhandelt werde, und es gewannen noch schlimmere Verdächtigungen in unerwarteter Weise Nahrung. Es hieß, St. habe es auf das Verderben nicht allein des Königs, sondern auch des berufenen Thronerben abgesehen. Die Wahrheit ist, daß er den dreijährigen Kronprinzen Friedrich, zur Kräftigung seiner zarten Gesundheit und mit ausdrücklicher Billigung seiner liebevollen Mutter, der Königin Caroline Mathilde, schlicht wie ein bürgerliches Kind nach den freilich extremen Ansichten J. J. Rousseau’s, bei mäßiger Nahrung erziehen und von früh an sich an ein hartes Lager wie an Frost gewöhnen ließ. Ein böser Zufall aber wollte, daß in eben dieser Zeit, an einem rauhen Herbsttage, bei Gelegenheit einer vom Hofe veranstalteten Parforcejagd, der kleine Prinz zu Hirschholm momentan ohne die nöthige Aufsicht gelassen und demnach fast erstarrt vor Kälte in einem einsamen Schloßgemach gefunden worden war. Und das wurde nun dem als Pädagogen ungeübten, in seiner guten Absicht sicher auch hier zu weit gehenden Theoretiker gleichfalls als Verbrechen angerechnet. Aehnlich geschah es in allen Dingen, so daß es den Feinden Struensee’s, die ihm den Tod geschworen hatten und unter denen jetzt sein ehemaliger, inzwischen immer mehr in den Hintergrund gedrängter Freund Graf Rantzau hervorragte, nicht schwer wurde, die Fäden zu einer durchgreifenden Verschwörung zu knüpfen. Denn eine solche galt als unvermeidlich zur Vernichtung des Dictators, der, sich mehr denn je an der Gunst seiner königlichen Freundin sonnend, auf der einen Seite zwar Furcht verrathen hatte, auf der anderen doch noch mit erheucheltem Gleichmuth fortfuhr, nach seinem Belieben zu schalten und zu reformiren.

Anstatt aber wenigstens in seinen Armeereform-Bestrebungen einzuhalten und sich nach so mißlicher Wendung der Dinge womöglich gerade in der Armee noch eine Stütze zu suchen, scheute St. nicht davor zurück, der Auflösung der berittenen Garde auch die der Garde zu Fuß durch eine Cabinetsordre vom 21. December folgen zu lassen. Er übersah, daß in dieser absoluten Monarchie die königliche Leibwache ein Stolz der Nation selber war; und so stachelte er mit dem Unwillen des Adels den der hauptstädtischen Bürgerschaft, bis zum Pöbel herab, aufs ernsteste. Es kam in Kopenhagen zu einer förmlichen Meuterei, die unter dem Namen der Weihnachtsabendfehde bekannt ist und die, da St. sich hierbei von neuem schwach und bis zur Furchtsamkeit nachsichtig gegen die meuternden Soldaten zeigte, die allgemeine Gährung permanent zu machen drohte. Zur [660] nämlichen Zeit bereitete er auch der orthodoxen Geistlichkeit im Lande noch ein neues Aergerniß durch die Aufhebung alter Verordnungen, welche gegen das Eindringen der mährischen Brüder und ihrer Lehren gerichtet waren. Er leistete einer Ansiedlung der Herrnhuter im Schleswigschen erheblichen Vorschub und zeigte damit eine Toleranz, die unter anderen Verhältnissen Lob verdient haben würde, jetzt aber, wie die Dinge einmal lagen, nur einen neuen Beleg für das Unpolitische seines Verfahrens lieferte. Sein eigener Vater, der Generalsuperintendent von Schleswig und Holstein, sprach sich sehr energisch gegen die Zulassung der Secte aus. Von Angehörigen und Freunden beinahe ganz verlassen, stand der Minister vereinsamt da; und bloß die Königin blieb in ihrer Hingebung und Liebe ihm unentwegt treu. Allen feindlichen Auflehnungen zum Trotz glaubte sie in ihm ein Wesen höherer Art zu sehen und hielt ohne Wanken ihn für auserlesen zum Wohlthäter des Reiches. Noch neue formelle Außzeichnungen, so die Ernennung zum Großkanzler, standen ihm, wie es hieß, bevor. Indeß eine umsichtig und bedächtig vorbereitete, dann schnell und sicher ausgeführte Palastrevolution warf alles zu Boden.

Durch die dreiste Vorspiegelung, daß in allernächster Zeit der Monarch vom Thron gestoßen werden sollte (von hochverrätherischen Machinationen war St. weit entfernt), hatte Graf Rantzau die Bedenken der zaghaften Königinwittwe Juliane Marie, sich mit ihm in ein Complot einzulassen, unter Assistenz ihres Gewissensrathes Professor Guldberg zu überwinden verstanden. Von St. und zweifellos von Caroline Mathilde ebenfalls gekränkt, stellte sie sich an die Spitze der nunmehr auch nach ihrer Ueberzeugung zur Rettung des Staates nothwendig gewordenen Verschwörung. Einer Verschwörung, an der außerdem ein alter Bekannter des Grafen, der aus persönlichen Gründen von dem gleichen Haß gegen St. erfüllte „Generalkriegscommissar“ Beringskjold, ferner der erst vor kurzem an den Hof berufene Generalmajor v. Eickstedt und der wie St. aus Deutschland nach Dänemark eingewanderte Oberst v. Köller thätigen Antheil nahmen. In den ersten Morgenstunden des 17. Januar 1772, nach einem Ballfest auf Schloß Christiansborg, wurde dort zunächst der König von den Verschworenen überrumpelt und, aus dem Schlaf geweckt, zur Ausfertigung verschiedener Vollmachten und Befehle, die sie für ihre Zwecke brauchten, genöthigt. Gleichzeitig aber wurde ebendaselbst auch schon St. in seiner Wohnung durch den ungeduldigen Köller, wenig später Caroline Mathilde durch Rantzau, der ihr den Haftbefehl von seiten ihres Gemahls bereits vorlegen konnte, in ihren Gemächern überfallen und gefangen genommen. Andere Verhaftungen folgten noch in derselben Nacht oder am nächsten Morgen nach. Struensee’s Sturz war gelungen und wurde in der Hauptstadt wie im ganzen Lande freudig begrüßt, durch Illumination, durch Dankfeste, von der Kanzel wie in der Presse als ein Ereigniß der Erlösung gefeiert. Ein außerordentlicher Gerichtshof, officiell als Inquisitionscommission bezeichnet, hatte über St. und Brandt, die alsbald nach der Citadelle abgeführt und dort in Ketten geschlossen worden waren, sowie über die anderen verhafteten Männer abzuurtheilen, die, wie sein völlig schuldloser Bruder, als ihre Complicen betrachtet wurden. Der gefallene Cabinetsminister war elend genug, in seinem Verhör vom 21. Februar, nach anfänglichem Widerstande, unter Thränen ein – am 25. noch weiter ausgeführtes – Geständniß abzulegen, welches die Königin Caroline Mathilde in vernichtender Weise compromittirte, aber auch zu seinem Todesurtheil hingereicht haben würde. Ein zweiter außerordentlicher Gerichtshof verurtheilte die unglückliche, auf Schloß Kronborg gefangen sitzende Frau, die nun nicht mehr zu leugnen im Stande war, am 6. April als Ehebrecherin zur Scheidung von ihrem ungeliebten und ihrer Liebe niemals würdig gewesenen Gemahl. Am 25. ward das härteste [661] Urtheil über St. selbst wie über den mit ihm als unlösbar verbunden geltenden Brandt gefällt. Beide wurden als Majestätsverbrecher ihrer gräflichen und anderen Würden für verlustig erklärt und am 28. öffentlich, auf dem Oesterfelde bei Kopenhagen, nach Abhauung der rechten Hand enthauptet. – Dann folgte naturgemäß eine Zeit der politischen Reaction, die, an die conservativen Tendenzen der früheren Minister anknüpfend, fast alle von St. berufenen Beamten entfernte, alte Institutionen und alte Privilegien wiederherstellte und von seinen Einrichtungen nur das Wenigste bestehen ließ. Gleichwol vermochte sie nicht zu verhindern, daß die fruchtbaren Impulse, die er unter allen Umständen gegeben hatte, künftigen Reformen in freundlicheren Zeiten zu Gute kamen. Tief einschneidend in die allgemeinen Verhältnisse war Struensee’s Sturz aber noch besonders dadurch, daß er, obschon in den deutschen Provinzen ebenfalls laut bejubelt, in Dänemark selbst zu einem dauernden nationalen Siege über das Deutschthum ausgedehnt wurde. Ging letzteres nun doch ein für alle Mal der Begünstigung und Bevorzugung verlustig, die es hinsichtlich der Sprache wie der Persönlichkeiten früher von oben her genossen hatte. Es war die Folge von Struensee’s beleidigender Geringschätzung des Dänischen. Im allgemeinen hat in seinem Walten und Wirken der aufgeklärte Despotismus des vorigen Jahrhunderts ein Fiasco erlitten, wie es nirgends größer war. Und trotz seiner unleugbaren Begabung, seines unermüdlichen Fleißes, seines redlichen Willens, zu bessern und zu beglücken, war es ein nur allzusehr verschuldetes Fiasco. Denn ohne Kenntniß der Menschen, ohne Achtung vor dem Volk, ohne praktische Erfahrung in den Geschäften, zumal aber auch ohne die persönliche Reinheit des berufenen Staatsmanns, ohne höheres moralisches Bewußtsein, war St. in der Hauptsache doch nur seinem kühnen und blinden Ehrgeiz gefolgt. Ein Amt hatte er ausgeübt, das ihm von Rechtswegen und nach Verdienst nicht gebührte, sondern unter Ausbeutung einer unerlaubten Gunst von ihm usurpirt worden war.

J. K. Höst, Geheime Kabinetsminister Grev Johann Friedrich Struensee og hans Ministerium; deutsch u. d. T.: Der dänische Geheimecabinetsminister Graf Joh. Friedr. Struensee und sein Ministerium. (L. J. Flamand, Christian den Syvendes Hof, eller Struensee og Caroline Mathilde. – G. F. v. Jenssen-Tusch, Die Verschwörung gegen die Königin Caroline Mathilde und die Grafen Struensee und Brandt.) – K. Wittich, Struensee; dies Buch ins dänische übersetzt und durch einen Beitrag des deutschen Verfassers, kursächsische Gesandtschaftsberichte enthaltend, vermehrt von Chr. Blangstrup. – Belangreich sind die englischen Gesandtschaftsberichte bei Fr. v. Raumer, Beiträge zur neueren Geschichte III. Vgl. Mrs. Gillespie Smyth, Memoirs and correspondence of Sir R. M. Keith.Comte E. de Barthélemy, Struensée d’après les dépêches du ministre de France à Copenhague: Revue d’histoire diplomatique. 1. année. – Zahlreiche Memoirenwerke, insbesondere: Reverdil, Struensée et la cour de Copenhague 1760–1772. – Mémoires de M. de Falckenskiold, officier général au service de S. M. le roi de Danemarck.Charlotte Dorothea Biehls historiske Breve in Historisk Tidsskrift, udgivet af den danske historiske Forening. III, 4. – Vgl. die Aufsätze von Molbech, Schiern, Holm, Grundtvig, Koch und Anderen in der nämlichen Zeitschrift sowie in Danske Samlinger for Historie, Topographi, Personal- og Literaturhistorie. – G. Hille, Struensee’s literarische Thätigkeit: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holstein-Lauenburgische Geschichte XVI. – N. Lassen, Den Struenseeske Proces: Tidsskrift for Retsvidenskab. 1891.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 654. Z. 3 v. o. l.: „ihrer“ (statt „seiner“). [Bd. 45, S. 673]
  2. Band 36 S. 654 Zeile 3 von oben lies: ihrer Vorgängerin (st. seiner). [Bd. 38, S. 793]