ADB:Stuhr, Peter Feddersen
Steffens, einen entschieden nordischen Beigeschmack, so daß sich wol annehmen läßt, daß die dänische Sprache es gewesen ist, in welcher er Erziehung und ersten Unterricht empfing. Er studirte in Kiel, Heidelberg, Göttingen und Halle hauptsächlich die Rechte und Philosophie und kehrte auch nach vollendeten Universitätsjahren nicht in die Heimath zurück. Er blieb in Deutschland. Wo er zum Doctor promovirt wurde, weiß ich nicht, kenne auch nicht seine Dissertation. Von den älteren Universitätslehrern übte besonders Steffens großen Einfluß auf ihn aus. Mit Freude erkannte dieser die große, geistige Kraft des jüngeren Mannes, und er war es, der St., wie viele Andere, für die Befreiung des deutschen Vaterlandes begeisterte, während der Landesherr des Letzteren, der König von Dänemark, es mit dem fremden Unterdrücker hielt. Als die Zeit der That in Deutschland begann, blieb denn auch St. nicht zurück. Freudig trat er in die Reihe der Krieger und machte als Ulan der hanseatischen Legion in den Jahren 1813 und 1814 den Feldzug gegen Frankreich mit. Nach dem ersten Pariser Frieden nahm er seinen Abschied als Stabsrittmeister. Als nach Napoleon’s Rückkehr von Elba der Krieg 1815 abermals ausbrach, trat St. von neuem in die Reihen der Kämpfer, diesmal als Premierlieutenant der preußischen Landwehr. Nach dem zweiten Pariser Frieden war er eine Zeit lang Secretär bei der Militärstudiencommission in Berlin, welche Stadt er nicht mehr verlassen sollte. Im J. 1821 habilitirte er sich an der dortigen Universität und wurde 1826 zum außerordentlichen Professor in der philosophischen Facultät ernannt. Weiter hat er es nicht gebracht, wie so mancher Andere, der an höchster Stelle in der Wissenschaft hätte stehen sollen. Sein ganzes Leben hindurch blieb er unverheirathet, obgleich er dem weiblichen Geschlecht in Ehrfurcht und Hochschätzung zugethan war. Ueber die Gründe seines Junggesellenthums sprach er sich nicht aus, gab es doch damals eine ganze Reihe Größen an der Berliner Universität, welche die Ehe mit der Arbeit des Gelehrten für unvereinbar hielten. Ich nenne Ranke, Friedrich v. Raumer, Lachmann, Jacob Grimm und A. Den Vormittag, den er bis gegen 3 Uhr ausdehnte, widmete St. angestrengtester Arbeit. Dann ging er in die Universität und hielt seine Vorlesungen. Nachdem diese beendet, um 4 oder 5 Uhr, nahm er in einer der besten Restaurationen Unter den Linden sein Mittagsmahl und begab sich von dort in die bekannte Conditorei von Stehély, wo er Kaffee trank und politische Zeitungen las. Er hatte mir gestattet, ihn dort abzuholen, so oft es meine Zeit erlaubte, und der junge Student hat häufig von dieser Erlaubniß Gebrauch gemacht. Wir verfügten uns dann in sein Junggesellenheim, gleichfalls Unter den Linden, dort machte er es sich bequem und bei einer Flasche Wein, die er aus seinem Kleiderschrank holte und einer Caraffe Wasser, die auf dem Tische stand, plauderten wir bis gegen Mitternacht über wissenschaftliche Dinge, die uns nahe lagen. Dabei fröhnte St. der einzigen Leidenschaft, von der er sich beherrschen ließ, – dem Tabakschnupfen. Er hatte zu Hause beständig vier bis fünf Dosen mit verschiedenen Sorten vor sich stehen, aus denen er abwechselnd in kurzen Intervallen seine Prise nahm. Alle Gegenstände, die mit ihm in Berührung kamen, alle seine Bücher, waren derartig mit dem Aroma des Schnupftabaks imprägnirt, daß man beständig niesen mußte, wenn man sie gebrauchte. Wenn er so neben mir auf seinem [739] alten, unbequemen Divan saß, in einen nicht mehr jugendfrischen Schlafrock gehüllt, seine vier bis fünf Schnupftabaksdosen vor sich, war seine Unterhaltung überschäumend von Geist und trefflichen Gedankenblitzen, eine überraschende Idee jagte die andere.
Stuhr: Peter Feddersen St., Gelehrter und Geschichtsforscher von Bedeutung, wurde am 28. Mai 1787 in Flensburg im Herzogthum Schleswig geboren. Von seinen Eltern, seiner Familie, seiner Jugend, seiner Schul- und Studienzeit ist dem Referenten nichts bekannt. Obgleich er mir mehr als Andern vertraute, beobachtete er doch über diese Dinge ein hartnäckiges Schweigen. Nie überkam ihn im Verlaufe des Gesprächs eine Erinnerung an die Jugendzeit. Aber noch in späterem Alter hatte sein Deutsch, wie das vonGeschichte und Religion aller Völker und Zeiten waren die Felder, die Stuhr’s Geist bebaute und auf denen er die Themata zu seinen Vorlesungen pflückte. Besonders aber war ihm, dem Sohn des Nordens, das nordische Alterthum ins Herz gewachsen und zu ihm kehrte er immer mit besonderer Vorliebe zurück. Während ich in Berlin studirte und bei ihm hörte, las er deutsche Geschichte, nordische Mythologie und Philosophie der Mythologie.
Ganz anders aber als in seinen Vorlesungen spricht sich der Reichthum und die Mannichfaltigkeit seiner geistigen Arbeit in seinen Schriften aus, von denen hier ein annähernd vollständiges Verzeichniß folgt: 1) „Die Staaten des Alterthums und die christliche Zeit“ (Heidelberg 1811); 2) „Feodor Eggo, der Untergang der Naturstaaten, dargestellt in Briefen über Niebuhr’s Römische Geschichte“ (Berlin 1812); 3) „Von dem Glauben, dem Wissen und der Dichtung der alten Skandinavier“ (Kopenhagen 1815); 4) „Abhandlungen über nordische Alterthümer“ (Berlin 1817); 5) „Geschichte des preußischen Heeres“. Erster Theil. Auch unter dem Titel: „Brandenburgisch-preußische Kriegsverfassung zur Zeit Friedrich Wilhelm’s des Großen, Churfürsten von Brandenburg“ (Berlin 1819); 6) „Sendschreiben an Herrn Dr. Gustav Adolph Stenzel, Privatdocenten an der Universität Breslau“ (Berlin 1819); 7) „Deutschland und der Gottesfriede. Sendschreiben an Görres gegen seine letzte Schrift, mit Auszügen aus derselben“ (Berlin 1820); 8) „Das Verhältniß der Ostsee und des Rheines zu einander, wie es in der Natur gegründet ist und in der Geschichte seit Jahrhunderten sich bewährt hat“ (Berlin 1820); 9) „Untersuchungen über die Ursprünglichkeit und Alterthümlichkeit der Sternkunde unter den Chinesen und Indiern und über den Einfluß der Griechen auf den Gang ihrer Ausbildung“ (Berlin 1831); 10) „Die drei letzten Feldzüge gegen Napoleon“ (2 Bde., Lemgo 1832/33); 11) „Der siebenjährige Krieg in seinen geschichtlichen, politischen und allgemeineren militärischen Beziehungen dargestellt“ (gr. 8°, Lemgo 1834); 12) „Die chinesische Reichsreligion und die Systeme der indischen Philosophie in ihrem Verhältniß zu Offenbarungslehren mit Rücksicht auf die Ansichten von Windischmann, Schmitt und Ritter betrachtet“ (gr. 8°, Berlin 1835); „Allgemeine Geschichte der Religionsformen der heidnischen Völker“ (I. und II. Theil, Berlin). Auch unter den Titeln: 13) Thl. I. „Die Religionssysteme der heidnischen Völker des Orients“ (ebd. 1836); 14) Thl. II. „Die Religionssysteme der Hellenen, in ihrer geschichtlichen Entwicklung dargestellt bis auf die makedonische Zeit“ (ebd. 1838); 15) „Die Geschichte der See- und Colonialmacht des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg in der Ostsee, auf der Küste von Guinea und auf den Inseln Arguin und St. Thomas aus archivalischen Quellen dargestellt“ (gr. 8°, Berlin 1839); 16) „Forschungen und Erläuterungen über Hauptpunkte der Geschichte des Siebenjährigen Krieges. Nach archivalischen Quellen“ (Hamburg 1842, 2 Bde.); 17) „Das Verhältniß der christlichen Theologie zur Philosophie und Mythologie nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft“ (Berlin 1842); 18) „Die Phantasien des Herrn Gervinus und seiner Freunde über die Geschichte und Verfassung Preußens beleuchtet“ (gr. 8°, Berlin 1847); 19) „Die preußische Verfassungsfrage vom weltgeschichtlichen Standpunkte aus betrachtet“ (Berlin 1847); 20) „Vom Staatsleben nach platonischen, aristotelischen und christlichen Grundsätzen. Eine staatswissenschaftliche Abhandlung“ (1. Thl., gr. 8°, Berlin 1850).
Einzelne Aufsätze Stuhr’s, welche die Geschichte der Könige von Preußen Friedrich’s I., Friedrich Wilhelm’s I., Friedrich Wilhelm’s II. und Friedrich Wilhelm III. [740] behandeln, finden sich in Brüggemann’s Conversationslexikon. Andere Abhandlungen vermischten Inhalts stehen im „Gesellschafter“, in der Zeitschrift für speculative Theologie, in der Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges, in den Hallischen, Deutschen und Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik.
In Schmidt’s Zeitschrift für Geschichtswissenschaft haben folgende Artikel St. zum Verfasser: Bd. I (1844) S. 237–282: „Ueber einige Hauptfragen des nordischen Alterthums“ (1. Artikel); Bd. III (1845) S. 354–382 (2. Artikel): „Wikingszüge. Fahrten nach dem Osten“; Bd. IV (1846) S. 188–195: „Litteraturberichte“ (H. Müller, das nordische Griechenthum; Obermayer, Teuton; v. Leutsch, Ueber die Belgen des Julius Caesar); S. 275–284: desgl. (Höfler, Kaiser Friedrich II.); S. 472–479: desgl. (J. Greve, Geographie und Geschichte der Herzogthümer Schleswig und Holstein); Bd. V (1846) S. 172–179: „Macphersons Ossian“ (in dieser Abhandlung kündigte St. eingehende Untersuchungen über den Gegenstand an, welche ich damals in Angriff genommen, die aber niemals publicirt worden sind); Bd. VI (1846) S. 94–96: „Recension“ von: Bonvent, Extrait d’un manuscript rélatif à la prophétie du frère Hermann de Lehnin; S. 269–285: „Die Bedeutung der finnischen Götternamen Jumala und Ukko“.
Gewissenhafte, unermüdliche Forschung und ein ungewöhnlicher Reichthum an neuen, frappirenden Gedanken charakterisiren alles, was St. sprach und schrieb. Dabei verfügte er, wie jeder Gelehrte von Bedeutung, über eine nicht unbeträchtliche poetische Begabung. Als wir eines Abends vertraulich bei einander saßen, brachte er eine dramatische Dichtung, „Baldurs Tod“, zum Vorschein und las mir einige charakteristische Stellen daraus vor. Später gab er mir das in seiner schwer zu entziffernden Handschrift niedergeschriebene Manuscript und meinte, ich solle zusehen, ob etwas daraus zu machen wäre. Das war nun freilich nicht der Fall. Die Dichtung ist eine Oper und ursprünglich auch in dem Titel als solche bezeichnet, also auf musikalische Composition angewiesen. Dabei ist aber der Inhalt nur dem verständlich und zugänglich, der in der nordischen Mythologie vollkommen heimisch ist. Das Werk enthält aber Stellen von tiefster poetischer Empfindung. Es klingt wie die Lieder der Edda, die dem Dichter in Fleisch und Blut übergegangen waren. Damit das Manuscript der Nachwelt nicht verloren sei, habe ich dasselbe mit einer deutlichen Abschrift der großherzoglichen Universitätsbibliothek in Heidelberg zum Geschenk gemacht, wo es der Benutzung von Jedermann zugänglich ist.
Mit außerordentlicher Geisteskraft und Begeisterung für seinen hohen Beruf verband St. einen überaus geraden und redlichen Charakter, ein lebhaft und warm fühlendes Gemüth. Unentwegt wandelte er die ihm vorgesetzte Bahn und sah nicht rechts und nicht links, selbst da nicht, wo Klugheit und Rücksicht auf weltliche Vortheile ihm eine andere Richtung einzuschlagen gerathen hätten. Wer mit ihm in Berührung kam, gewann ihn trotz mancher schroffen, seltsamen Formen bald lieb wegen seiner Offenheit und Redlichkeit, die wenig Schonung, aber auch kein Falsch kannte. In der Wissenschaft führte ihn sein hochflackernder Geist und seine lebhafte Phantasie nicht selten über das angemessene Ziel hinaus. In seinem Urtheil über Collegen war er scharf und absprechend. Er wollte immer zwischen belesen und gelehrt den strengsten Unterschied gemacht wissen und nur wenigen Größen der Wissenschaft das zweite Epitheton zuerkennen. Seine Ideen waren zwar immer neu und geistvoll, nicht selten aber allzu gewagte Erzeugnisse seines lebendigen Geistes. So z. B. wollte er in der Gestalt Hamlet’s wie sie die Sage geschaffen, nichts anderes sehen, als die Personification des Schmerzes über Baldur’s Tod. In unserem modernen Christenthum vermißte [741] er mit großem Bedauern die Abwesenheit des dionysischen Elements und verstand darunter die Lebensfreude, die Freude am sinnlichen Genuß des Daseins.
Mancherlei Sonderbarkeiten waren St. eigenthümlich oder stellten sich im Verlauf seines einsamen Junggesellenlebens bei ihm ein. So ging er nie anders als im schwarzen Anzuge mit Frack. Gegen irgend welche Störungen seiner Vorlesungen war er höchst empfindlich und konnte außer sich gerathen, wenn kurz vor dem Schlusse des Collegs die Zuhörer des im Auditorium folgenden Professors die Thüre öffneten und hineinsahen. Er erblickte darin persönliche Chicane. Als junger Privatdocent wurde er von einer merkwürdigen Liebesleidenschaft erfaßt, deren Gegenstand kein geringerer war, als die Prinzessin Alexandrine von Preußen, Tochter des Königs Friedrich Wilhelm III., geboren 1803. Wo die hohe Dame sich damals öffentlich zeigte, folgte ihr in ehrerbietiger Entfernung der schwarzgekleidete junge Professor, mit dem Anblick der angebeteten Frau sich still begnügend. Die Sache war damals in Berlin allgemein bekannt, da jedoch Stuhr’s Liebe die Grenze der Harmlosigkeit nicht überschritt, ließ man ihn ruhig gewähren. Zu jener Zeit bewarb sich gerade der Großherzog Paul Friedrich von Mecklenburg-Schwerin, welcher röthliches Haar hatte, um die Hand der Prinzessin, und ihr ältester Bruder, der damalige Kronprinz, als König Friedrich Wilhelm IV., verfehlte nicht, seinen bekannten Witz leuchten zu lassen in der Bemerkung: „Alexandrine spielt jetzt rouge et noir!“ Uebrigens war der regierende König, der Vater der Prinzessin, Friedrich Wilhelm III., dem stillen Anbeter seiner Tochter von Herzen gewogen und nahm ihm seinen stummen Minnedienst nicht übel. Ich habe selbst in Stuhr’s Besitz eine goldene Schnupftabaksdose gesehen, ein Geschenk des Königs, in welche allerlei symbolische Figuren gravirt waren, die sich auf jenes romantische Verhältniß bezogen.
Nach längerer Kränklichkeit starb St. plötzlich am Schlage, am 13. März 1851, an demselben Tage, an welchem die gelehrte Welt Lachmann verlor. Am 16. März wurde sein sterblich Theil auf dem Dreifaltigkeitskirchhofe vor dem hallischen Thore zu Berlin der Erde übergeben; Professor Dr. Nitzsch hielt die Gedächtnißrede.