ADB:Tschammer, Gotthard von
*): Hiob Gotthard v. T., schlesischer Dichter des beginnenden 18. Jahrhunderts, wurde am 4. December 1674 auf Schloß Dromsdorff bei Striegau geboren. Seine Eltern, die beide aus alten angesehenen und begüterten schlesischen Adelsfamilien stammten, schickten ihn 1687 nach Liegnitz in die Schule, bald aber auf das Elisabethgymnasium zu Breslau. 1693 trat er die üblichen großen Reisen an, auf die er so großen Werth legt, daß sie ihm zum ’rechten Ehrenmann‘ unentbehrlich scheinen. Die Aufzeichnungen, die er von 4jährigem Aufenthalt in Livland, Schweden, Holland, England, Frankreich und Italien nach Hause brachte, füllten 2 Quartbände. 1696 wurde er Kammerjunker bei der verwittweten Kurfürstin von Pfalz-Heidelberg, die sich damals in Sachsen aufhielt. Er legte das Amt erst nieder, als ihn der Tod des Vaters und die Kränklichkeit der Mutter 1700 zur Verwaltung der Erbgüter Dromsdorff und Lonig nach Hause rief. Ein vortrefflicher, unermüdlich thätiger Landwirth, erwarb er das Dromsdorff benachbarte Lederose hinzu; seiner Lieblingsbeschäftigung, der Jagd, dienten zwei berühmte große Thiergärten, die er dort anlegte. 1707 heirathete er Marianne Elisabeth geb. v. Debschitz und Schadewalde; von den 5 Kindern dieser Ehe hat nur eine Tochter den Vater überlebt. Durch starke Corpulenz an der gewohnten Bewegung im Freien, zumal an der geliebten Jagd gehindert, ergab er sich mit sportmäßigem Eifer der Poesie, die ihm als echtem Schlesier von jeher Vergnügen gemacht hatte, und einer ausgedehnten Correspondenz mit berühmten Brüdern in Apollo. Seiner Constitution war die Reimjagd aber wenig zuträglich: Asthma und Wassersucht stellten sich ein; er starb am 19. August 1735 zu Dromsdorff.
TschammerDer ehrliche fromme, aber grundprosaische ältliche Landjunker, dem der Vers das edle Waidwerk ersetzen mußte, verfiel dabei auf die Passion, seinem Pegasus eine wahre Hindernißbahn der Correctheit zu errichten. Besonders [110] grimmig verfolgt er den Hiat in jeder Gestalt und die Enklise; nicht nur in Prosaregeln, mit denen er seine, erst 1737 von dem Pfarrer Joh. Conr. Hantelmann zu Obernigk herausgegebenen ’Geistlichen und Weltlichen Gedichte‘ (Striegau 1737; Breslau 1739) begleitete, sondern auch in Versen befehdet er grimmig diese seine Todfeinde. Werth legt er ferner darauf, jedes Substantiv stets mit Artikel oder Adjectiv auszustatten. Fremdwörter verwirft er; das Enjambement meidet er mehr theoretisch als praktisch; die stark betonte Reimreinheit wird von der Mundart behindert, die Tenuis und Media nicht scheidet, gerundete Vocale nicht kennt. Wirkliche Anerkennung aber verdient seine saubere, ungezwungene Wortstellung. Schwierige Strophenformen schrecken ihn nicht; an Sonett und ’Sechstinne‘ hat er sich öfters gewagt. T. war auf seine Regeln sehr stolz und legte sie allenthalben zur Prüfung vor; selbst die Berliner Akademie hat er mit seinen Anfragen belästigt. Zumal in der engern Heimath hat es ihm an Beifall nicht gefehlt. Männer wie Christ. Stieff, G. B. Scharff, besonders Casp. Gottl. Lindner, Tschammer’s guter Freund, den erst der Feuereifer des alten Herrn der deutschen Dichtkunst zuführte, waren sehr geneigt, im krassen Rückschlag gegen den üppigen Geschmack der zweiten schlesischen Schule, die reinlichste Correctheit über Alles zu stellen. Von Lohenstein’s farbenreicher Art hat denn auch T. keine Spur. Er schreibt eine schlichte und saubere, aber ganz ärmliche nüchterne Sprache, die so etwa zwischen Opitz und Gottsched’s Lehrstil in der Mitte steht, nur freilich jeden Aufschwunges und Schmuckes noch weit mehr entbehrt als selbst die gequälten Producte des Leipziger Dictators. Charakteristisch ist Tschammer’s Vorliebe für das Pronomen ’derselbe‘. Die geistlichen Gedichte überwiegen weitaus: trockene Reimereien des Katechismus, der Sonntagsepisteln, der andächtigen Betrachtungen, die er in Casp. Neumann’s ’Kern aller Gebete‘ vorfand. Unter den weltlichen stehn voran steife Alexandrinerstücke auf alle möglichen Familienereignisse im Kaiserhause, dem T. trotz seinem evangelischen Bekenntnisse treu ergeben war; sie setzen regelmäßig mit einer Anrede an das erfreute, betrübte, geliebte, liebwerthe etc. Schlesien ein. Ganz mißglückt sind alle epigrammartigen Versuche; und die Ansätze zur Satire (’Die von einem frechen Sachwalter zu seinem Schaden neuerbaute Steige-Leiter von zwölff Sprossen unterschiedener Arten‘) bleiben in ihrer leeren Unbeholfenheit schon darum himmelweit hinter Canitz und Neukirch zurück, weil ihnen jede Anschaulichkeit fehlt. Die schwerfälligen Selbstanklagen, in die er König Christian II. von Dänemark im Gefängniß ausbrechen läßt, geben uns etwa einen Begriff von seinen ungedruckten Trauerspielen, unter denen ein ’Bessus‘ und ein ’Graf Gusman‘ gewesen zu sein scheint. Am leidlichsten präsentirt sich der biedere Junker in den täppischen Scherzen, die der Schwester rathen Geld aus der Wirthschaft zu lösen oder ihren Kater schelten, weiter in den gravitätischen Späßen, mit denen er seine Jagdbeute an gute Freunde verschenkt, endlich in den schlesischen Dialektgedichten, die er dem Thierwärter Gabel und seiner Frau in den Mund legt. Aber auch diese halbverlegenen Versuche im niedern Genre sind doch von rührender Unsicherheit des Tones. T., der von Phantasie und Schönheitsgefühl keine Spur besaß, veranschaulicht ganz gut die öde gehaltlose Reinlichkeit, der die schlesischen Poeten verfielen, als sie mit dem marinistischen Schwulst schonungslos aufgeräumt hatten: war der schillernde Prunk abgestreift, so blieb eben nur die nackte correcte Armseligkeit zurück.
- Hantelmann, Leben Des Wohlgebornen Ritters, Herrn von Tschammer und Osten, in T.’s ’Geistlichen Und Weltlichen Gedichten‘ (Breßlau 1739). – Gelehrte Neuigkeiten Schlesiens 1738, S. 59–63.
[109] *) Zu Bd. XXXVIII, S. 699.