ADB:Voß, Julius von
[350] geltend. Der Eifer, mit dem sich V. der Kriegswissenschaft widmete, fand zwar zunächst eine gewisse Anerkennung, doch hatte keiner der von ihm ausgearbeiteten Reformvorschläge irgendwelchen praktischen Erfolg. Auch die Verdienste, die er sich im polnischen Feldzuge 1794 durch die Rettung der Festung Thorn und der Kriegscasse erwarb, wurden nicht so belohnt, wie er es erwartet hatte. Deshalb nahm er 1798 seinen Abschied und ließ sich nach längeren Reisen dauernd in Berlin nieder, wo er sich durch schriftstellerische Thätigkeit seinen Lebensunterhalt verdiente. Gelegentlich trat er als Theaterrecensent auf; auch war in den Jahren 1815–23 wiederholt davon die Rede, daß er zum Director eines geplanten Volkstheaters in Berlin ausersehen sei, ohne daß sich diese Aussichten verwirklicht hätten. So waren es im wesentlichen belletristische und dramatische Arbeiten, auf deren Ertrag V. angewiesen war, und er wurde daher durch seine äußeren Lebensverhältnisse zur Vielschreiberei gezwungen. Die nothwendige Folge dieser Massenproduction war eine völlige Verzettelung seines Talentes; V. hat es nicht vermocht, einige unzweifelhaft lebensfähige Keime seiner Dichtung ausreifen zu lassen und sie zu organischen Gebilden auszugestalten. Durch die unfertige Gestalt, in der diese Keime vorliegen, und durch die Thatsache, daß sie in einem Wuste unbrauchbarer Tagesarbeit völlig vergraben sind, erklärt es sich, daß gerade die wichtigsten Seiten seines Schaffens bis vor kurzem so gut wie unbekannt waren. Obgleich seiner Zeit viel gelesen, starb er doch schon als ein halb Vergessener in dürftigen Umständen am 1. November 1832. – Eine von E. T. A. Hoffmann herrührende Porträtskizze, welche uns V. als ungefähr dreißigjährigen Mann vorführt, zeigt ein feines Gesicht, in dem die belebende Kraft geistiger Arbeit nicht zu verkennen ist, das aber andererseits durch einen Ausdruck der Schlaffheit sowie durch einen cynischen Zug abstößt.
Voß: Julius v. V., geboren am 24. August 1768 zu Brandenburg, Sohn des Oberstlieutenants v. V., folgte schon sehr frühzeitig seinen Neigungen zum Militärdienst und trat bereits 1782 in das Heer ein. Zunächst gab er sich widerstandslos dem Taumel wilder Ausschreitungen und Verirrungen hin, in welchem während der langen Friedenszeit die Tüchtigkeit des größten Theiles des preußischen Officierstandes untergegangen war; allmählich lenkten ein persönliches Erlebniß so wie das Interesse für die Kriegswissenschaft und für litterarische Fragen den Jüngling auf edlere Bahnen. Völlig überwunden hat er allerdings die erste Phase seines Entwicklungsganges nie; in dem Behagen, mit welchem er während seines ganzen Lebens schlüpfrige Situationen ausmalte, macht sich eine durch unsaubere Elemente frühzeitig verdorbene Phantasie recht widerlichDie Bedeutung der litterarischen Thätigkeit Vossens liegt zunächst darin, daß er allein es versucht hat, die Zustände Preußens vor 1806 dichterisch festzuhalten. Wenn ihm das im einzelnen unzweifelhaft geglückt ist und wenn er bei der Vergegenwärtigung dieser Verhältnisse ein nicht geringes Geschick an den Tag gelegt hat, so ist der Grund für solche – an seiner übrigen Production gemessen – verhältnißmäßig hohen Leistungen vor allem darin zu suchen, daß V. ein Stück eigenen Erlebnisses gestaltet hat. Er selbst hatte die Mißstände im Heere und in der Verwaltung, die schließlich den allgemeinen Zusammenbruch herbeiführten, frühzeitig durchschaut und mit aufrichtigem Schmerz das durch Leichtsinn und Verblendung verschuldete Unglück herankommen sehen, ohne es abwenden zu können. Wie man nun auch über die in seinen Broschüren („Was war nach der Schlacht von Jena zur Rettung des preußischen Staats zu thun?“ 1806. „Eingetroffene Weissagungen und prophetische Irrthümer der Herren Archenholz, Bülow und Fr. Buchholz“, 1807) niedergelegten militärischen Vorschläge denken mag, so wird man doch das Eine zugestehen müssen, daß in ihnen die Ursachen von Preußens schmählichem Niedergange klar erkannt worden sind und daß augenscheinlich eine aufrichtige Vaterlandsliebe dem Verfasser die Feder geführt hat. So machte sich V. nur von einer lange getragenen drückenden Last frei, wenn er die Zustände des preußischen Staates vor 1806 in besonders charakteristischen Zügen und Typen zu vergegenwärtigen suchte. Am besten sind die ihm dabei vorschwebenden Absichten in dem Lustspiele: „Loos des Genies oder die alte Fabel“ (1809) verwirklicht; geringwerthiger sind die aus dem gleichen Stoffgebiete schöpfenden Lustspiele: „Der Kommandant à la Fanchon“ (1807); „Der Pseudopatriotismus“ (1809); „Die Leuchte ins Gemüth oder Harlekin als Patriot“ (1811). Dagegen ist wieder der Roman: „Geschichte eines bei Jena gefangenen preußischen Officiers“ (1807) trotz der mangelhaften Composition eine bemerkenswerthe Leistung, während in einem zweiten, aus späterer Zeit stammenden [351] Roman: „Geschichte des Ministers Graf Sternthal“ (1818) die dankbaren Motive nur eine ungenügende Bearbeitung gefunden haben.
Seine ganze Stellung zu dem preußischen Staatswesen hätte V. auf das Gebiet der satirischen Dichtung hinweisen müssen; und es ist nicht zu bezweifeln, daß er dafür eine starke Begabung mitbrachte. Sowol einzelne Scenen und Capitel aus den soeben erwähnten Dichtungen als auch etwa das Lustspiel: „Künstlers Erdenwallen“ (1810), in welchem die Auswüchse des Virtuosenthums und die Bettelpoeten gegeißelt werden, zeigen, daß sein Talent gerade nach dieser Seite hin entwicklungsfähig war. Trotzdem hat er diesen dankbaren Boden bald wieder verlassen und ihn nur gelegentlich wieder betreten, um gegen die Kräfte zu polemisiren, von denen man eine Erneuerung und Wiederbelebung des preußischen Staates erhoffte. V. blieb allezeit ein Anhänger der fridericianischen Traditionen; selbstverständlich war daher der Freund der Aufklärung ein Feind der Romantik, die er mit seinem in der Einkleidung an Knigge’s Erzählung: Noldmann’s Geschichte der Aufklärung in Abyssinien anknüpfenden, in der Erfindung ärmlichen Roman: „Gemälde der Verfinsterung in Abyssinien“ (1818) recht unglücklich bekämpft hat, während er mit größerem Geschick in dem Lustspiel: „Die Griechheit“ (1807) als ihr Gegner auftrat.
Unmittelbar mit dieser Veranlagung zur satirischen Dichtung hing bei V. eine zweite glückliche poetische Gabe zusammen, die er aber ebenfalls planmäßig auszubilden nicht vermocht hat. V. hat einen guten Blick für die Eigenart des kleinen Bürgerthums; zahlreiche seiner Lustspiele und auch hier und da seine Romane weisen scharf beobachtete und treu wiedergegebene Einzelzüge aus diesen Kreisen auf. Auch war V. der erste, der das Berliner Kleinbürgerthum nach seinen Sitten und Lebensgewohnheiten, seinen guten und schlechten Seiten abzuschildern versucht hat. Als Ganzes betrachtet können nun freilich seine beiden wichtigsten Berliner Stücke, die Possen: „Der Strahlower Fischzug“ und „Die Damenschuhe im Theater“ (1822) auch mäßigen künstlerischen Ansprüchen nicht genügen, allein in der Erfassung besonders charakteristischer Züge zeigt sich eine nicht verächtliche Beobachtungsgabe, und immerhin läßt sich V. das Verdienst nicht abstreiten, mit diesen Possen ein Stoffgebiet erschlossen zu haben, für dessen Bedeutung die zahlreichen Nachfolger sprechen, die er in Glaßbrenner, der späteren Berliner Posse und einzelnen Vertretern der Dichtung unserer Tage gefunden hat.
Sucht man sonst ein Urtheil über seine Production zu gewinnen, so kann man sagen, daß Spuren einer wirklichen dichterischen Kraft noch am ehesten in seinen dramatischen Arbeiten zu finden sind. Zwar den Ansprüchen, die das Drama höheren Stiles stellt, zeigt er sich nicht gewachsen, so ist er z. B. am „Faust“ kläglich gescheitert. Doch hat er sich nur verhältnißmäßig selten an derartigen Gegenständen versucht. Eine große Fruchtbarkeit entfaltete er dagegen auf dem Gebiete des Lustspiels. Glücklich ist er indessen auch hier fast nur in den Partien, in denen er Persönlichkeiten und Verhältnisse des kleinen Bürgerthums schildert; überall, wo er sich im Stoffe etwas höher erhebt, stören Plumpheiten und Trivialitäten, die V. in solchen Fällen nur ganz ausnahmsweise – so z. B. in dem Lustspiele: „Versailler Hofluft“ – zu vermeiden weiß. In seinen zahlreichen Romanen treten die lebensfähigen Elemente so gut wie ganz zurück; die meisten dieser Stücke enthalten eine wüste Mischung allerlei abenteuerlicher Motive; alles ist auf die gröbste Art der Spannung des Lesers abgelegt, und eine wirklich künstlerische Absicht ist nirgends zu erkennen.
- Eine ausführliche Darstellung der schriftstellerischen Thätigkeit Vossens ist in der Einleitung zu dem Neudruck seines Faust zu finden: Faust. Trauerspiel mit Gesang und Tanz. Von Julius von Voß. Herausgegeben von [352] Georg Ellinger. Berliner Neudrucke, II, 2. – Verzeichniß der Schriften Goedeke, Grundriß² V, 537 ff. – L. Geiger, Berlin 1688–1840, Bd. II, S. 500 f., 507 ff.