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ADB:Volkmar, Gustav

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Artikel „Volkmar, Gustav“ von Adolf Jülicher in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 764–775, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Volkmar,_Gustav&oldid=- (Version vom 5. November 2024, 04:12 Uhr UTC)
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Vol(c)kmar: Gustav V., protestantischer Theologe, † 1893. Charakteristisch für die Unzuverlässigkeit der Ueberlieferung noch aus dem letzten Jahrhundert ist, daß bei G. V. weder die Schreibung des Familiennamens noch seine Vornamen – Reihenfolge und Zahl – noch das Datum seiner Geburt absolut feststehen; selbst in den amtlichen Urkunden wechseln Volkmar und Volckmar. Erst vom Jahre 1853 an schreibt G. V. seinen Namen ausnahmslos Volkmar, während das Kirchenbuch zu Gunsten von Volckmar entscheidet. Nach dem Kirchenbuch ist er am 12. Januar 1809 morgens 1 Uhr geboren, nach seinen eigenen Erklärungen am 11. Januar; Gustav Hermann Joseph werden ihm amtlich als Taufnamen bestätigt: er führt dahinter noch ein Philipp. – Sein Vater Adam Valentin V. war seit 1804 Stadtorganist in Hersfeld, seiner Ehe mit Marie Philippine geb. Zeiß aus Rinteln war schon im November 1806 eine Tochter entsprossen; am 26. December 1811 wurde Wilhelm Adam Val. V. geboren, der als Lehrer und Professor der Musik am Lehrerseminar im Homberg lange Jahre thätig gewesen ist. Volkmar’s Vater war am 6. März 1770 in Schmalkalden geboren, von 1796–1804 leitete er als Hofmusikus und Hoforganist die Hofconcerte in Rotenburg a. Fulda und benutzte die Gelegenheit, auf Reisen und in längerem Aufenthalt zu Frankfurt a. M. seinen künstlerischen Geschmack auszubilden. Er war ein ausgezeichneter Orgel- und Klavierspieler, hat auch eine Reihe eigener Compositionen herausgegeben; in beidem scheint sein Sohn Wilhelm ihn noch übertroffen zu haben. Aber auch der Sohn Gustav hat die musikalische Begabung von dem Vater geerbt. Im Herbst 1817 siedelte die Familie Volkmar nach Rinteln über, wo Adam Valentin V. Musiklehrer an dem neuerrichteten Gymnasium geworden war; zugleich versah er die Stelle des Organisten an der Nicolaikirche. Erst am 11. September 1851 hat der Tod den allgemein hochgeachteten und beliebten Mann seiner Berufsarbeit entrissen, der „einfach und bieder in seinem ganzen Wesen, pflichttreu in allen, nicht immer ungetrübten Verhältnissen seines Lebens sich durch die Reichthümer seiner Kunst für die Dürftigkeit seiner Lebenslage entschädigt gefühlt hat (s. Gymnas.-Programme von Rinteln III, 1819, S. 7 und 1852, S. 43).

Der Sohn Gustav hatte in Rinteln seit 1818 das Gymnasium besucht, Ostern 1828 das Zeugniß der Reife erhalten, dann ein Jahr lang (der Neunzehnjährige!) „kraft eines Examens vor der Rector. Prüfungs-Deputation“ einer Privatschule in Rinteln, der späteren Quinta des Gymnasiums, vorgestanden. [765] Von Ostern 1829 bis Ostern 1832 studirt V. in Marburg Theologie und Philologie, und offenbar mit größerer Liebe Philologie; denn dem philologischen Seminar hat er während seiner ganzen Studienzeit angehört: Wagner, Platner und Hupfeld nennt er als seine philologischen Lehrer. Die Absolvirung des theologischen Facultätsexamens im Sommer 1831 erlaubte ihm, den Rest der sechs Studiensemester ganz für classische und orientalische Philologie und für Philosophie zu verwenden. Das folgende Jahr verbrachte er in Frankfurt a. M. als Hauslehrer bei dem Geheimen Rath und Bundestagsgesandten v. Rieß; zur Herstellung seiner angegriffenen Gesundheit verlebte er den nächsten Sommer aber wieder in Rinteln. Im Herbst 1833 erhielt er „in Folge seiner zu Rinteln gehaltenen Probelection und einer öffentlichen Disputation“ die damals neugegründete Stelle eines Hülfslehrers am Rintelner Gymnasium und verwaltete sie bis zum November 1835, wo er an das Gymnasium Fridericianum zu Kassel berufen wurde. Hier wurde er August 1836 zum ordentlichen Lehrer ernannt, Ostern 1837 aber bereits nach Hersfeld versetzt. Jetzt schien eine Periode ruhiger Entwicklung für ihn gekommen; er gründete einen Hausstand durch seine Verheirathung mit Elise Pauline Antoinette Köhler, der Tochter des Kriegsraths Johann Paul Köhler zu Kassel: der erste Sohn aus dieser Ehe, Johann Paul Viktor, wurde im Juli 1838 geboren, ein zweiter, 1840 geboren, starb im März 1844. Im Hersfelder Osterprogramm von 1838 veröffentlichte der neue praeceptor ordinarius ein „Specimen quaestionum lexicologicarum de vocibus graecis cum v. ἅγιος radicitus cognatis“ und kündigte in einer Anmerkung als demnächst erscheinend ein anderes Specimen an unter dem Titel: „Notio vocis religionis Romana“, außerdem zwei weitere „Bücher“ bei Th. Fischer September 1838. Die zwei Bücher sind ausgeblieben, aber Buch I der „libri tres lexicologici cum prolegomenis et excursibus de verbi legendi natura atque progenie praecipua verborum relegendi et religendi ratione habita“ ist in Marburg 1838 als Inauguraldissertation erschienen und hat V. die Würde eines Dr. phil. eingetragen. Etwas später fabricirte er, der hauptsächlich Unterricht in den alten Sprachen ertheilte, nur anfänglich auch in der Religion, eine Blumenlese aus römischen Dichtern (Hersfeld 1840); von Mai 1844 bis December 1845 gehörte er dem Lehrkörper des Marburger Gymnasiums an, dessen Leitung damals in A. Vilmar’s Händen lag; während der nächsten sieben Jahre wirkte er in Fulda, wo er zum Ordinarius der 2. Classe aufstieg. Die „Observationes in Sophoclis Antogonen pars prior“ im Fuldaer Gymnasialprogramm 1851 – die wiederum ohne Fortsetzung blieben – sind wie die lexicologischen Studien von 1838 eine für jene Zeit respectable Leistung; der Verfasser hat nicht einen gelehrten Apparat zusammengeschleppt, sondern möchte das Dichtwerk als Philosoph und Culturhistoriker würdigen. Aber daß Volkmar’s Interesse längst nicht mehr in den Arbeiten der Schule aufging, daß die Tagesfragen des öffentlichen Lebens ihn gewaltig erregten, verrieth eine von ihm 1846 zu Siegen publicirte Broschüre: „Der höchste Grundsatz des Christenthums, der Reformation und des freien Katholizismus der Gegenwart. Ein protestantischer Zuspruch an die Deutsch-Katholiken zu Marburg bei ihrer Constituirung“. Da handelt es sich um eine Ansprache, die V. im August 1845 zu Marburg gehalten hatte und deren Drucklegung dort verhindert worden war; weshalb Vilmar den enthusiastischen Gönner der reformkatholischen Bewegung schleunigst nach Fulda abstieß, ist durch einen Blick in dies Schriftchen mehr als erklärt. Noch heftiger gehalten ist eine 1850 zu Fulda anonym ausgegebene Flugschrift Volkmar’s: „Der Kriegszustand in Kurhessen oder der Sieg eines freien Volkes über die Willkür-Regierung von Gottes Gnaden. Ein Denkmal“ [766] (8 S.). Es war ein flammender Protest gegen das System Hassenpflug, das gerade 1850 die Clerikalisirung des höheren Unterrichts mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit vornahm. Man wundert sich bloß, daß die Rache so lange ausblieb. Erst am 26. November 1852 wurde V. auf Requisition des kurfürstlichen Garnisongerichts zu Kassel, Abtheilung für die Untersuchungen des permanenten Kriegsgerichts, aus der Schulclasse hinweg in Haft genommen und nach Kassel in das Castell abgeführt. „Derselbe ist durch Erkenntniß Kurf. General-Auditoriats vom 7. Febr. (1853) des durch die genannte Druckschrift begangenen Majestätsverbrechens schuldig erkannt und zur Amtsenthebung sowie zum Verluste des Rechts, die kurhessische Nationalkokarde zu tragen, verurtheilt worden.“

Wie V. über das gegen ihn geübte Verfahren urtheilte, mag man in seinem Vorwort zu Justin d. M. 1853 nachlesen; es hat etwas Ergreifendes, wie er da von der ihm lieb gewordenen philologischen Stellung als Gymnasiallehrer zu Fulda erzählt, von dem Zwang, sich weit von der Heimath eine andre Wirksamkeit zu suchen, von seinen Vorsätzen für den neuen Beruf, den er inzwischen gefunden, und von der stillen Hoffnung auf eine Rückkehr nach dem Vaterland. Er war durch die Absetzung ja mit seiner Familie an den Bettelstab gebracht; der frische Muth, mit dem er alle Schritte thut, um sich zu helfen, ehrt ihn wie die Männer, die ihn darin bestärkten und sicher auch durch Fürsprache unterstützten – vor allem wohl Ed. Zeller, damals in Marburg. V. richtete unter dem 18. März 1853 an die theologische Facultät zu Zürich ein Gesuch, ihn dort zur Habilitation als Privatdocent der neutestamentlichen Exegese und der Dogmengeschichte zuzulassen. In der Facultät nimmt sich am wärmsten Hitzig seiner an, die Abneigung von J. P. Lange konnte ihm nicht schaden; am 28. April hält er bereits die Probevorlesung, die von der Facultät anerkannt wird und am 9. Juni ertheilt ihm der Züricher Erziehungerath die venia legendi. – V. hat Zürich nicht wieder verlassen. Im Wintersemester 1857/58 wurde er zum außerordentlichen, genau 5 Jahre später zum ordentlichen Professor für Kritik und Exegese des Neuen Testaments ernannt und hat alle in sein Fach einschlagenden Vorlesungen gehalten, bis er im October 1892 schwer erkrankte. Am 9. Januar 1893 ist er entschlafen; an demselben 12. Januar, wo er 84 Jahre früher geboren, hielt ihm sein College und Freund E. Egli in der Frauenmünsterkirche die Gedächtnißrede.

Die 40 Jahre seiner Thätigkeit in Zürich sind doch, äußerlich angesehen, in mancher Hinsicht eine Leidenszeit gewesen; um so bewunderungswürdiger muß die Fruchtbarkeit zumal seiner litterarischen Arbeiten erscheinen, die bis in die 80er Jahre hinein andauert. Nicht bloß, daß er ein Ordinariat erst erhielt als Vierundfünfzigjähriger, wo für Viele schon der Kampf mit den Beschwerden des Alters begonnen hat: er hatte um seinen Lebensunterhalt mühsam zu kämpfen, eine Hülfspredigerstelle (Capitelsdiacon), die er nebenbei versah und die ihm jährlich 1400 Frcs. abwarf, war für ihn fast eine Rettung. Und mit Stolz titulirte er sich 1862 Professor der Theologie an der Universität und Kantonal-Diakon zu Zürich! Ostern 1876 wurden ihm Vorlesungen über die allgemeine Religionsgeschichte am Züricher Staatsseminar übertragen; natürlich fühlte er nach einigen Jahren, daß die stets wachsende Stundenzahl neben dem akademischen Hauptamt aufreibend wirkte; er mußte diese Nebenbeschäftigung aufgeben. In seinem Hause wurde es immer einsamer, als die Kinder durch Beruf und Verheirathung in die Ferne gezogen wurden und der Tod ihm die Gattin entriß. Zu den meisten Collegen in der Facultät glückte es ihm auch da, wo nicht schon die theologische Richtung hinderlich in den Weg trat, nicht, ein vertrautes Verhältniß zu gewinnen. Alex. Schweizer [767] z. B. und A. E. Biedermann sind nie in geistigen Austausch mit ihm eingetreten; bei Th. Keim waren die Schwierigkeiten ohnehin größer. V. war in dieser Beziehung nicht frei von Schuld. Unbelehrt durch die Erfahrungen in der Heimath, hatte er auch in der Schweiz alsbald wieder Politik getrieben: nur für echte Radikale war er zu haben, dann aber auch mit Leib und Seele; bei diesen Actionen ist es nicht ohne unangenehme Niederlagen abgegangen. So war es wohl ein Triumph für ihn, als er 1869 nach dem Sieg der entschieden demokratischen Partei im Kanton Zürich in den Kirchenrath erwählt wurde; aber als er 1872 wieder ausschied, ließen ihn seine Freunde gern ziehen, weil er das Regiment doch nicht demokratisch genug geführt hatte. Wie er ein höchst anregender Gymnasiallehrer gewesen war, so konnte er jetzt in den Vorlesungen die Geister mächtig bewegen; und an treuen Schülern, die fast auf ihn schwuren, hat es ihm nicht gefehlt. Aber auf Andere wirkte er auch abstoßend; die Gabe, Widerstrebende allmählich zu gewinnen, indem er zunächst sich auf ihren Standpunkt stellte und sie langsam von ihren Vorurtheilen befreite, war ihm nicht zu Theil geworden. Glänzende Lehrerfolge waren ja schon durch die Kleinheit des Zuhörerkreises ausgeschlossen, aber auch die erwarteten Erfolge seiner wissenschaftlichen Thätigkeit blieben aus. Wohl ehrte ihn die Universität Leyden durch die Verleihung der theologischen Doctorwürde, und besonders niederländische Theologen setzten sich aufs ernstlichste gerade mit V. auseinander; in der Schweiz fand seine Grundanschauung von der Geschichte Jesu viele Freunde, und in H. Lang einen begeisterten Lobredner, in Fr. Langhans einen eifrigen Fürsprecher. Allein keinen der großen Pläne, die V. angekündigt, hat er auszuführen vermocht, gewiß nicht, weil ihn nachträglich die Lust verließ, sondern weil der Absatz die Verleger nicht zu neuen „Opfern“ anspornte. Zu Zürich erschien 1855 ein „Erster Band: Quellen der Ketzergeschichte bis zum Nicänum, kritisch untersucht“ unter dem Sondertitel: „Hippolytus und die römischen Zeitgenossen oder die Philosophumena und die verwandten Schriften nach Ursprung, Composition und Quellen untersucht“. Ein zweiter Theil sollte die kritische Bearbeitung des Epiphanius und der anderen griechischen Häresiologen darbieten: er ist nicht geschrieben worden. 1860 veröffentlichte V. zu Tübingen die erste Abtheilung von Theil I eines Handbuchs der Einleitung in die Apokryphen (Judith); die zweite Abtheilung (das vierte Buch Esra) folgte 1863; aber nicht einmal die dritte Abtheilung von Theil I (Henoch) ist fertig geworden, statt dessen bloß ein Bruchstück aus einem zweiten oder dritten Theil: „Mose Prophetie und Himmelfahrt, eine Quelle für das Neue Testament zum ersten Male deutsch im Zusammenhang der Apokrypha und der Christologie überhaupt“ 1867. 1870 ließ er in Leipzig sein umfassendstes Werk „Marcus und die Synopse der Evangelien“ ausgehen und behielt sich nicht bloß eine gleichartige Erklärung der späteren Evangelienbücher vor, sondern versicherte im October 1874, daß die Fortsetzung über das Lucas-Evangelium schon ziemlich vollendet sei; und im Vorwort zur zweiten Ausgabe October 1875 verheißt er wenigstens Textausgaben von Lucas, Matthäus und von allen Evangelienfragmenten des zweiten Jahrhunderts: nichts davon hat das Licht der Welt erblickt. Wiederum in Zürich begann er 1875 ein großgedachtes Werk: „Die Neutestamentlichen Briefe, geschichtlich im Zusammenhang erklärt“. Es ist bei dem ersten Band: „Paulus Römerbrief. Der älteste Text deutsch und im Zusammenhang erklärt (mit dem Wortabdruck der Vatikanischen Urkunde)“ verblieben. Im December 1873 ist um V. eine Historische Gesellschaft Schweizer Theologen zusammengetreten, in der er den Vorsitz bis an sein Lebensende geführt hat: von dem Jahrbuch dieser „Züricher histor. theol. Gesellschaft“ ist nur der erste Band 1877 erschienen, [768] wozu V. „Einleitendes über D. Fr. Strauß’ Alten und Neuen Glauben“ beigesteuert hat. W. Wrede war mit seiner Entdeckung des Messiasgeheimnisses in den Evangelien (Göttingen 1901, s. S. 279–284) im Reinen, als er in V. einen Vorgänger entdeckte, d. h. zum ersten Mal Volkmar’s: „Die Evangelien oder Marcus und die Synopsis der kanonischen und außerkanonischen Evangelien“ 1870 und 1876 kennen und in gewissem Sinne bewundern lernte. Und Alb. Schweitzer schreibt gar 1906 eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung im genus grande: „Von Reimarus zu Wrede“ und widmet darin V. ein paar Seiten, 224–227, aber ohne sich um die größten Arbeiten Volkmar’s zu kümmern; er begnügt sich mit der popularisirenden Darstellung von Volkmar’s Resultaten im „Jesus Nazarenus“ von 1882. Dann darf man sich nicht wundern, daß die neueste Auflage der Protest. Real-Encyklopädie W. Volck und andrerseits Bruno Bauer Artikel widmet, für Volkmar aber keinen Platz behält.

Trotzdem ist V. einer der bedeutendsten Bibelkritiker der letzten hundert Jahre; er gehört zu den originellsten Köpfen unter den deutschen Gelehrten des Restaurations- und Revolutionsjahrhunderts. Und er hat bleibende Verdienste. Seine Schriften sind ja von recht verschiedenem Werth. Sie brauchen nicht alle registrirt zu werden: die Reihe der speciell theologischen Arbeiten läuft von 1846 bis 1889. V. hat an vielen Zeitschriften mitgearbeitet, vornehmlich an den Theologischen Jahrbüchern von Baur und Zeller, an Hilgenfeld’s Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, aber auch an der Zeitschrift für historische Theologie, an den Studien und Kritiken, den Jahrbüchern für protestantische Theologie, der Theologischen Zeitschrift aus der Schweiz, sowie an Recensionsorganen, z. B. der Jenaischen Litteraturzeitung. In den Theol. Jahrb. 1846, H. 3, S. 363 ff. enthüllt sich V. zum ersten Mal als echten „Tübinger“ in der Abhandlung über einen historischen Irrthum in den Evangelien. Er weist dort nach, daß Herodias nicht, wie Mc. 6,17 und Mtth. 14,3 behauptet wird, das Weib des Philippus, sondern eines Herodes gewesen ist und verallgemeinert diese Erkenntniß zu der Gewißheit, „daß die Evangelien überhaupt bloß auf die vagsten Data der vulgären Kunde einer späteren Zeit bauen und das Nähere ihrer Erzählung erfinden“. Mit förmlicher Freude treibt er die Skepsis an dem Quellenwert auch der synoptischen Evangelien für die wirkliche Geschichte Jesu hier auf die höchste Spitze, stellt sich freimüthig auf die Seite von Bruno Bauer gegen Ebrard, J. P. Lange und Guericke. Besonders grimmig fährt er auf Ebrard los, den Charlatan und Lügner – so daß die Redaction eine Anmerkung des Inhalts beifügt, sie lasse eine so starke Ausdrucksweise unwidersprochen nur, „um diesem Gelehrten die Consequenzen seines polemischen Tons anschaulich zu machen“. Eine gleiche Rücksichtslosigkeit in der Auseinandersetzung mit Gegnern, auch im Ausdruck nur bemüht, recht offen zu sein, hat V. zeitlebens beobachtet. C. v. Tischendorf z. B., doch auch Hilgenfeld – der schon 1858 in der Zeitschr. f. wissensch. Theol. I, 247–285 Volkmar’s chronologischen Entdeckungen den offenen Krieg erklärt hatte, vgl. ebd. X, 217 ff., XIII, 345 ff. – und der spätere D. Fr. Strauß haben das erfahren. Aber so grob er einmal sein konnte und wollte, es fehlte jede Spur von Bosheit; er schlägt nicht auf Ohnmächtige los und er mengt unter seine höchst aufrichtigen Scheltworte kein Gift, wie es Ebrard meisterlich verstand; die treuherzige Frische seiner Zornausbrüche erweckt fast etwas wie Behagen.

Sachlich bedeutsamer waren Volkmar’s Beiträge in Heft 1 und 2 der Theologischen Jahrbücher 1850 (S. 110–138 u. 185–239) „über das Lucas-Evangelium nach seinem Verhältniß zu Marcion und seinem dogmatischen [769] Charakter“, die Vorarbeit zu dem 1852 vollendeten Erstlingswerk „Das Evangelium Marcion“ (Leipzig, 268 S.) Die theologische Facultät in Zürich hätte auf diese Schrift hin ein Recht gehabt, dem Verfasser nicht bloß die venia legendi, sondern eine Professur zu ertheilen. Ja, in gewissem Sinne ist diese seine älteste Schrift die reifste von allen, weil sie die sorgfältigste Einzeluntersuchung mit unbefangener Kritik verbindet und fast ohne Abgleiten auf Nebenfragen und Unentscheidbares den damals von V. so hoch geachteten Autoritäten von Baur und Ritschl zum Trotz das festgestellt hat, was heute Alle wissen, ohne sich Volkmar’s zu erinnern, nämlich, daß das Marcion-Evangelium bloß eine gnostische Bearbeitung des Lucas-Evangeliums ist, wie wir es wesentlich noch haben, nur daß dem Marcion ein älterer Lucas-Codex als uns zur Verfügung stand. Dem eingebildeten Ur-Lucas tritt V. siegreich entgegen, wie er später auch die Ur-Marcus- und Ur-Matthäus-Theorien bekämpfte. Und im Gegensatz zur gesammten Tübinger Schule hat V. schon bei diesen Studien erkannt, daß Marcus älter als Matthäus und Lucas ist. Er hatte hiermit zugleich die Aufgabe seines Lebens in Angriff genommen, die Geschichte der evangelischen Ueberlieferung als ein Spiegelbild der Entwicklung des Urchristenthums zu reconstruiren. Und die Lösung, die er gefunden und in verschiedenen Formen immer neu verkündigt hat, ist nur eine Systematisirung der im Schlußabschnitt 1852 einzeln hingeworfenen Anschauungen; alle seine größeren Werke dienen unmittelbar oder entfernter dem einen Zweck, seine schon 1852 fertige Construction der evangelischen Geschichte zu befestigen. Die vorhin erwähnte Monographie über Hippolytus und überhaupt die Studien zur Ketzergeschichte – wieder war 1854, Heft 1 der Theologischen Jahrbücher eine Vorarbeit vorangeschickt worden – geht nicht in dem Interesse an den neuentdeckten Philosophumena und ihrem Autor Hippolyt von Rom (gegen Baur’s Cajus-Hypothese) auf, sondern will die eigentlichen in die Kritik des 4. Evangeliums eingreifenden Quellen jenes „gleichsam neuen Kirchenvaters“ aufspüren und feste Punkte für die Chronologie der altchristlichen Litteratur gewinnen; denn von den Häresiologen verspricht sich V. für solchen Zweck das Beste. Aber auch die Untersuchungen über die Zeit Justin’s des Märtyrers und seiner einzelnen Schriften sind erwachsen aus dem Interesse für Justin in seinem Verhältniß zu unseren Evangelien (s. die Habilitationsschrift von 1853). Die jüdischen Apokryphen, Judith, 4. Esra, Henoch hat V. in sein Herz geschlossen, weil er in ihnen intime Urkunden aus der Zeit und der religiösen Atmosphäre, worin auch die Evangelien erwachsen sind, zu entdecken glaubte; den „Commentar zur Offenbarung Johannis“ gab er 1862 heraus, zwischen Theil 1 und 2 der jüdischen Apokryphen, weil ihm klar war, daß man die johanneische Apokalypse nicht ohne ihre jüdischen Schwestern verstehen könne, ihr volles Verständniß aber wiederum für das Verständniß der Evangelien nöthig sei, da sie diesen zeitlich voranstünden. Die Auslegung des Römerbriefs im J. 1875 bedeutet für ihn nicht die Hinwendung zu neuen Aufgaben; er braucht den Paulus schon für das Verständniß des ältesten Evangeliums, das ihm mit paulinischen Gedanken gesättigt erscheint. Als einen Nachtrag aber zu dem Römerbrief darf man sein letztes Buch bezeichnen: „Paulus von Damascus bis zum Galaterbrief“, 1887, ein kritischer Gang durch „die beiden Apostelgeschichten N. T.s“, mit dem Zweck, speciell aus dem Galaterbrief das reine Evangelium des Paulus in seiner ganzen Einfachheit klarer zu erfassen.

Das, worauf V. mit dem allem, patristischen Untersuchungen, alt- und neutestamentlichen Commentarwerken hinauswollte, hat er zum ersten Male 1857 vorgetragen in dem Werk: „Die Religion Jesu und ihre erste Entwicklung [770] nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft“. Die Darstellung ist möglichst allgemein verständlich gehalten; eine Ergänzung dazu bildet die „Geschichtstreue Theologie“, Zürich 1858; seine litterar- und kirchengeschichtlichen Voraussetzungen vertheidigt er mit gelehrtem Material Zürich 1866, „Der Ursprung unserer Evangelien nach den Urkunden“; die hier S. 160 ff. angehängte „Zeittafel der Schriften“ von c. 55 „Paulus an die Galater“ an bis c. 245 „Origenes gegen den Celsus“ ermöglicht eine bequeme Uebersicht über Volkmar’s Vorstellungen von der altchristlichen Litteratur- und Dogmengeschichte, z. B. „c. 170 Sct. Ignatii 3 Märtyrerbriefe für die Monarchie des Episcopates“, „c. 175–180: ein römischer Cleriker erweitert Sct. Ignatii 3 Märtyrerbriefe zu 7 (für Unterjochung des übrigen Clerus unter den Bischof, mit scheuer Benutzung der neutestamentlichen Sammlung)“, der erste Johannesbrief c. 150–165! In größerem Stil und mit genauerem Eingehen auf die Quellen ist die Arbeit von 1857 wiederaufgenommen in dem „Marcus“ von 1870, der mit Nachträgen behufs Berichtigung und Ergänzung S. 661–738 und „Uebersicht und Register zu den kanonischen Synoptikern“ (29 Seiten) 1876 nochmals ausgegeben wurde. Hier faßt er S. 719 ff. den Inhalt der „Religion Jesu“ unter der Ueberschrift zusammen: Das Geschichtliche vom Leben Jesu, nach der ältesten Schrifturkunde des Paulus (55–60 u. Z.), des Johannes in Apocalypsi (68), des Marcus (73) und des Josephus (c. 90 u. Z.); er verzichtet sonach auf jede Verwerthung nicht bloß des Johannesevangeliums wie der apokryphen Evangelien und Agrapha, sondern auch der beiden späteren Synoptiker; sein Buch dient ebensosehr dem Zweck, die Unbrauchbarkeit der gesammten nachmarcinischen Ueberlieferung zu erweisen, wie dem, den Marcus zu erklären und für die Geschichte auszunutzen. Die Vollständigkeit, mit der V. hier das gesammte Evangelien- und evangelisch-historische Material der ersten 2½ Jahrhunderte verarbeitet hat, ist seitdem von Niemandem erreicht worden; V. wird nicht müde, bei jedem Abschnitt des Marcus die Wege nachzuziehen, auf denen er mißverstanden, umgedichtet, verdorben sei, um zuletzt zu verschwinden: wie er auch nicht müde wird, den tiefen Gedanken nachzuspüren, die der Lehrdichter Marcus allerwegen in seinen Jesusgeschichten und Jesusworten bis auf die Reihenfolge und die Rahmenstücke untergelegt haben soll.

Wieder ein Marcus-Commentar gleicher Stimmung, nur in populärer Form bildet den Kern des Jesus Nazarenus 1882; was dem vorangeht S. 1 bis 168, und nachfolgt, S. 332–399, sind theils kritische Ausführungen über nachmarcinische Jesusdichtung, theils Versuche, die Hauptdaten aus dem Leben und der Wirksamkeit Jesu festzulegen und das Bild seiner Persönlichkeit vor uns zu reconstruiren.

In diesen Beiträgen Volkmar’s zur Leben-Jesu-Forschung liegt daß Hauptstück seiner wissenschaftlichen Arbeit beschlossen; in jedem von ihnen paaren sich auffallende Schwächen mit großen Vorzügen. V. ist kein hervorragender Schriftsteller; er läßt sich, zumal in den volksthümlich gehaltenen Werken, leicht etwas gehen und verfügt nicht eben über reiche Ausdrucksmittel. Aber er lebt in den Dingen, von denen er handelt, und er hat ganz eigene Gedanken über sie: er fesselt dadurch, daß er allbekannte Sachen in neuem Lichte zeigt, und er nöthigt uns Ehrfurcht ab durch die Energie und Treue, mit der er seine Intentionen an dem gesammten Material, auch die bescheidensten Textvarianten nicht ausgenommen, als probehaltig nachweist und nicht ruht, bis er Alles von seinem Gesichtspunkt aus verständlich gemacht hat. Ein originellerer Commentar als der Volkmar’s zu Marcus wird nie geschrieben [771] werden; ich meine aber, er kann sich auch an gelehrter Gediegenheit mit jedem messen.

Ein Werk Volkmar’s, das bisher ungenannt geblieben ist, hat ihn bei Einigen in den Ruf eines nicht ganz soliden Arbeiters gebracht; die von ihm 1860 herausgegebene „Geschichte des Neutestamentlichen Kanon von C. Aug. Credner“. Leider ist das lehrreiche Buch viel zu wenig studirt worden. Aber allerdings sind eine Menge von Fehlern stehen geblieben, die Credner selber entfernt haben würde, und Volkmar’s Randnoten sind bisweilen überflüssig, manchmal störend; der von ihm selbständig zugefügte Anhang: „Der Grundbestand des N. T.s im Einzelnen, die Reihenfolge im Besonderen“ (S. 337 bis 416) enthält durchaus keine abschließende Arbeit. Bedenkt man indessen, daß Credner’s hinterlassene Entwürfe erst längere Zeit nach seinem Tode (16. Juli 1857) in Volkmar’s Hand gelangt sein können, daß laut der Vorrede Volkmar’s Edition am 5. December 1858 bereits gedruckt vorlag, so wird man angesichts der Schwierigkeit der ihm gestellten Aufgabe, zumal ihm die Kanonsgeschichte der späteren Jahrhunderte in ihren Details noch ein unbekanntes Gebiet war, sowohl seinen Eifer anerkennen als allerlei Mängel entschuldigen.

Ueber Volkmar’s eigene Leistungen hat sich bei denen, die wirklich etwas von ihm gelesen haben, so ziemlich das Urtheil durchgesetzt, das D. Fr. Strauß 1861 in einem Brief an Vatke (s. Benecke: W. Vatke, Bonn 1883, S. 503) so formulirt: „Ein närrischer Kauz, der aber nicht ohne einzelne Lichtblicke ist, … es ist Tollheit, was er vorbringt, doch nicht ohne Methode“ („und leider ist diese Methode zum Theil die Baur’sche: d. h. es fällt mir manchmal schwer, zwischen Baur’s Vordersätzen und Volkmar’s Folgerungen den Graben zu ziehen, der die Consequenz abschnitte“). O. Pfleiderer hat in seiner „Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant“, 1891, S. 294 den Werth der Verdienste Volkmar’s um die Erkenntniß des Urchristenthums doch erheblich höher eingeschätzt; Volkmar’s Studien über jüdische und christliche Apokalyptik findet er indessen auch weit weniger originell und meint, im Commentar zur Johannes-Apokalypse folge er den Tübinger Voraussetzungen bis zu den kühnsten und unmöglichsten Deutungen der apokalyptischen Bilder auf die antipaulinische Parteipolemik des Judenchristenthums. W. Wrede hat m. E. auf S. 283 f. des „Messiasgeheimnisses“ das gerechteste Urtheil über Volkmar’s „Marcus“ gefällt. Er verlangt, daß man ihn nicht mit der Etikette „Tübinger Schule“ abthue, nennt V. den geistreichsten und scharfsinnigsten Commentator des Marcus, der eine Fülle von feinsinnigen Beobachtungen über Marcus selbst wie über das Verhältniß der Parallelen zu ihm gemacht habe. Namentlich habe er nicht bloß gelegentlich beachtet, sondern wirklich gewußt, daß die Evangelisten das Leben Jesu als Glieder der Gemeinde, in der sie standen mit allen ihren Gedanken und Interessen, geschrieben haben. Trotzdem sei die Summe des Falschen und Unmöglichen in seinem Werk groß, und zwar im Großen wie im Kleinen. Er rechne zu wenig mit der Tradition und übertreibend mit der Schöpferkraft des Marcus, werde den beiden anderen Synoptikern, wo sie von Marcus unabhängig sind, gar nicht gerecht, traue ihnen da Ungeheuerliches zu in der Umbildung von Marcus-Stoffen zu neuen Lehrstücken. V. sei als Exeget Allegorist und Symbolist, überscharfsinnig im Aufspüren von Beziehungen und künstle reichlich, indem er in der Darstellung des Marcus überall Symmetrie und wohlberechneten Rhythmus wahrnehme.

Nun, genau das Gleiche gilt von den übrigen Werken Volkmar’s. In seinem Commentar zum Römerbrief beherrscht ihn nur zu sehr das Bestreben, [772] den reinen Text dieses Lehrbriefs – „dieses systematisirenden Briefs“ – so zu gliedern, wie es der Apostel selbst bestimmt; er bewundert über alles die Verstandesschärfe des Paulus, „die sich hier in einer, je näher man zusieht, um so großartiger strengen, bis in das Einzelnste reichenden Disposition der Gedanken“ zeige! Damit ist das Interesse auf etwas concentrirt worden, woran dem Paulus schlechterdings nichts gelegen war: über dem Suchen nach dem Zusammenhang geht denn auch der Gehalt der einzelnen Gedanken oft verloren. Außerdem wirkt das unablässige Herummäkeln an Luther’s Uebersetzung verstimmend; eine gleichmäßige und ruhige Analyse des Briefes wird nicht erreicht. Holsten hatte Recht, wenn er in den Jahrbüchern f. prot. Theol. 1879 die Volkmar’sche Disposition ablehnte, und ihn aufforderte, „seine Auffassung des Briefs doch nicht nur aufzustellen, sondern durch den Inhalt zu begründen“. Aber an neuen Vorschlägen, ernst zu nehmenden Beiträgen zum Verständniß besonders wieder der Verunstaltungen des Textes in der weiteren Ueberlieferung ist kein Mangel, und wie für unsere Gegenwart geschrieben klingt Volkmar’s Wunsch, seine Auslegung möchte doch den Herren die Größe und Genialität des Apostels etwas besser beleuchten, die schon eine neue Reichskirche auf Grund von einigen Stücken Bergpredigt gründen, den Apostel aber exkludiren wollen. – Die Uebersichtigkeit, mit der V. bei der Erklärung des Judithbuchs, wie der jüdischen und christlichen Apokalypsen in den harmlosesten Phrasen deutliche Anspielungen auf die Zeitgeschichte wittert, ist nur eine andere Erscheinungsform des exegetischen Fehlers, der bei Marcus und dem Römerbrief ihn nie verläßt, in jedem Textwort tiefen Sinn und geheime Absichten zu vermuthen: das ist aber nicht ein Erbstück aus der tübingischen Schule, sondern der uralte Grundfehler der theologischen Auslegung. Die Reaction gegen Volkmar’s Ueberspanntheiten ist inzwischen bei den Apokalypsen so schroff erfolgt, daß man heut in Gefahr ist, auch das Bedeutsame und Unterstrichene in diesen Büchern als Bestandtheil des allgemeinen apokalyptischen Apparats gering zu achten: ein Tropfen von Volkmar’s Blut thut schon fast wieder noth, vollständig verarbeitet – und in dem Sinne veraltet – dürften auch diese Commentare Volkmar’s noch nicht sein.

An dem größten Werk Volkmar’s, seiner synoptischen Bearbeitung des Marcus, bestätigt sich aufs sicherste der Eindruck, den schon alle theologischen Arbeiten Volkmar’s von 1846 an erwecken: er ist unter den Jüngern F. Chr. Baur’s derjenige, der (trotz Strauß’ Urtheil, siehe oben) dem Meister am wenigsten wesensverwandt, am häufigsten eigene Wege geht. Hilgenfeld ist viel mehr im Bann tübingischer Geschichtsdogmen gefangen geblieben, als es V. jemals gewesen ist. Der philosophische Einschlag, der neben der zugleich genialen und auf ernste Quellenforschung gegründeten Anschauung geschichtlichen Werdens bei Baur so unverkennbar ist, fehlt, wie mir scheint, bei V. völlig: V. ist in erster Linie Philolog und Kritiker. Einen dauernden Einfluß hat Strauß’ „Leben Jesu“ auf ihn gewonnen, insofern es ein für alle Mal ihm das Vertrauen zu den concreten Einzelheiten in der evangelischen Ueberlieferung genommen hat, einen nicht minder wichtigen Baur und Zeller, indem sie ihn daran gewöhnten, auf dem Boden des Urchristenthums alles als aus Tendenz geboren zu betrachten, und auch die Classen der damals wirksamen Tendenzen ließ er sich einfach von ihnen vorschreiben. Wohin er schaut, erblickt er Judenchristen oder Pauliner, Gnosis oder Antignostiker; und stets ist sein Hauptanliegen, die vorliegenden Schriften in der richtigen Gruppe und allerdings dort, wo er wohl einige Entwicklung wahrnimmt, an der richtigen Stelle unterzubringen. Aber innerhalb solcher durch Strauß’ Skepticismus und Baur’s Tendenztheorie ihm gezogenen Schranken bewegt sich [773] V. frei und hält die Augen offen. Die Priorität des Marcus, diese für alle Quellenkritik an den Evangelien fundamentale Erkenntniß, hat ihm von seinem ersten Eintreten in die theologische Debatte an festgestanden; daß Paulus’ Geist bereits über Marcus weht, daß dieser eine Mischung von Ueberlieferungen und paulinisirenden Ideen darstellt, hat er unermüdlich behauptet, als ihm noch Niemand es glauben wollte. Und für das Verständniß der Entwicklung der Evangelienbildung bedeutet Volkmar’s These eine Großthat, daß Marcion wesentlich nichts Anderes gethan hat als z. B. der Verfasser des sogen. kanonischen (Lucas-)Evangeliums. Wobei V. den Unterschied zwischen Marcion und Lucas oder Matthäus treffend dahin definirt, daß wenn sie aufs freieste mit dem ihnen vorliegenden Stoff früherer Evangelien umgehen, und ihn im Sinn ihrer entwickelteren, bestimmten Ansicht umbilden, Marcion weder die Fähigkeit noch das Bedürfniß dazu gehabt hat. In seiner Phantasielosigkeit und Wortklaubrigkeit konnte er nur reinigen, wo die Anderen organisch umschufen. Aber sein innerliches Verhältniß; zum evangelischen Stoff ist kein anderes, als das des Marcus oder Matthäus. In solchen Sätzen liegt die Forderung, alle Evangelien, selbst die gnostischen nicht ausgenommen, nach einem Maß zu messen, alle als Versuche zu bewerthen, die eigene Glaubensauffassung von der neuen Offenbarung in der Geschichtsform und mit den Mitteln der Ueberlieferung kräftig zum Ausdruck zu bringen, darum alle sowohl Geschichtsquellen als „Lehrschriften“. Es war nur eine ungeheure Inconsequenz, wenn V. in praxi den Marcus doch wieder von den Anderen absonderte, indem er ihm Benutzung echter Traditionen zugestand, während die Späteren sich ausschließlich aus Marcus ihren Stoff zu holen haben. Aber diese Ueberschätzung des Geschichtswerths von Marcus machen ihm ja unsere besten Kritiker bis heute nach! Nun muß er natürlich einen großartigen Scharfsinn aufbieten, um die Massen von Stoff, die sich bei Lucas und Matthäus über Marcus hinaus, größtentheils Beiden gemeinsam, vorfinden, als im Dienst anderer Tendenzen vorgenommene Umformung von Marcusparallelen – die in Wahrheit gar nicht existiren – zu erweisen, und so leistet denn V. auch gelegentlich Unerhörtes in der Zurückführung nachmarcinischer Evangelienstücke auf die vermeintliche Wurzel, und was er an Gewaltthat, Blödheit und auch wieder Raffinement dem nach seiner Meinung jüngsten Synoptiker Matthäus zutraut, erregt noch weit größeres Befremden als die Ruhe, mit der er daneben seinen Dichter Marcus Geschichten als Kleid der Ideen aus dem Nichts hervorzaubern läßt. Bei dem Einen volle Schöpferkraft, bei dem Andern nur Handwerksarbeit; als ob nicht jeder zugleich Bildner und Umbildner sein könnte. Hier liegt die Grenze von Volkmar’s Können; er bringt an die Quellenwerke oder an ihre Autoren, nachdem er durch eine große Conception ihr Verhältniß zu einander im wesentlichen richtig begriffen hat, ein paar Formen mit, in die sie hineinpassen müssen; er läßt sich nicht von dem Matthäus-Text zwingen, seine Matthäus-Figur umzugestalten; er stellt sich diese Menschen viel zu wenig als Individuen und die Vorgänge bei der Herstellung ihrer Werke viel zu einheitlich und mechanisch verlaufend vor. Fragen, wie die, ob denn so gar nichts aus einem von V. doch auf eine ganze Reihe von Jahren berechneten öffentlichen Wirken Jesu sich im Gedächtniß der Gläubigen bis auf Paulus und bis nach Paulus erhalten habe, stellt er sich kaum; mit der Einwirkung auf Paulus scheint ihm fast die geschichtliche Wirksamkeit Jesu erledigt. Die Poesie – als Ersatz für Strauß’ Mythus – spielt bei ihm eine ebenso verhängnißvolle Rolle wie die Tendenz. Aber er hatte doch nicht Unrecht, wenn er meinte, gegenüber der zu negativen Haltung der Alttübinger eine positive Ergänzung zu beschaffen. [774] Sie war bloß zu positiv, weil er alles erklären wollte, für jede Variante in den Synoptikern ein Motiv aufspürte und geradezu auf diesem dunkelsten Feld an Stelle der „bloßen Wahrscheinlichkeiten, also im Grund nur Möglichkeiten“, absolut Sicheres zu setzen sich einbildete.

Wer sich so unerreichbare Ziele wählte, konnte schweren Irrthümern nicht entgehen. Aber Volkmar’s Irrthümer liegen für den historisch Gebildeten von heut klar zu Tage, während das Wahre und Große an seinen Constructionen sich noch nicht vollkommen durchgesetzt hat. Diejenigen, die in den 60er Jahren über den Altweibersommer spotteten, den die paar Schweizerischen Tübinger nach Baur’s Tod uns vielleicht noch bringen möchten, hätten allen Grund gehabt, im Garten des Spättübingers Volkmar sich auf einen neuen Frühling vorzubereiten.

Die bedauerlichsten Mängel bei V. erkläre ich mir aus seiner Unfähigkeit, neue Anregungen und Gesichtspunkte in sich aufzunehmen. Er hat sich selbst außerhalb der theologischen Entwicklung gestellt, und ist somit selber schuld an der ihm zu Theil gewordenen Verkennung. Er schreibt 1857 und 1870 und 1876 und 1882 nichts, was er nicht auch schon 1852 oder 1844 hätte schreiben können. Nicht aus Hochmuth schließt er sich ab, er liest die jüngeren Arbeiten auch, aber nicht, um aus ihnen zu lernen; Weizsäcker, Holtzmann, Holsten gehen spurlos an ihm vorüber. Er lebt eigentlich nicht mit den Zeitgenossen, und cultivirt seine Einseitigkeit, statt sie mit fremder Hülfe zu erweichen. Den Anschluß an ihn muß man erst mühsam sich erkämpfen, auch heute noch.

Die Beschäftigung mit den Schriften Volkmar’s ist nun aber nicht bloß lehrreich, sie gewährt auch eine eigene Art von Genuß. Kein Mißerfolg, auch nicht der dauernde Kampf um ein behagliches Arbeitendürfen, hat diesen Mann verbittert gemacht; immer wieder bittet er in seinen Vorworten und hofft auf eine ebenso strenge Prüfung wie nachsichtige und wohlwollende Aufnahme seiner Schriften. Er ist seiner Sache so sicher, daß ihm ein Zweifel an ihrem endlichen Sieg gar nicht kommt; und, was uns beinahe räthselhaft vorkommt, er empfindet auch niemals etwas von einem Conflict zwischen Wissenschaft und Religion. Die alttübingische, gegen die traditionellen Ansichten gerichtete Geschichtshypothese mochte Bedenken erweckt haben, „in dieser Absolutheit“ – wie bei V. – „wird die Kritik auch völlig positiv und damit ebenso kirchengemäß“. Auf der Linie der Freiheit treffen für ihn die strengste Kritik und die reine protestantische Frömmigkeit immer mit Nothwendigkeit zusammen; Gewissensnöthe können nur aus Halbheit entspringen. Wie V. dem alten Vaterland die Treue hielt, offenbart sich rührend, wenn er 1862 seinen Apokalypse-Commentar den treuen, darum siegreichen Kämpfern für das von Gott besiegelte Recht in der hessischen Heimath widmet; und wie laut bezeugt er 1867 seine „innige Freude über den großen Sieg, den die protestantische Großmacht Deutschlands errungen hat, über die endliche Beseitigung derer, die so lange Gott gespottet haben, und über das energische Anheben einer kräftigen und ehrenhaften Einigung der deutschen Lande“! – Dieser wahrhaftig nicht vom Glück begünstigte Gelehrte ist dankbar für die kleinste Anerkennung bei Freund und Feind; und seine Siegeszuversicht führt ihn weder zu verstocktem Eigensinn noch zu eitler Selbstverherrlichung; er fühlt sich als einen inspirirten Propheten, den seine Offenbarungen, eben weil sie nicht sein eigen sind, erst recht bescheiden machen.

Und das alles ist bei ihm nicht durch Reflexion und Selbstzucht gewonnen; er gibt sich ganz wie er ist: eine urgesunde Natur. Wo er uns Phrasen zu brauchen scheint, sind es solche, die Andere geschaffen haben, und die er äußerst ernst nimmt. Eine merkwürdig-rührende Gestalt bei diesem [775] Mißverhältniß von Verdienst und Lohn auf Erden, und in dieser wunderbaren Mischung von kindlicher Naivetät mit dem glänzendsten Scharfsinn. Der Sohn des Hersfelder Musikmeisters hat ein glückliches Ohr besessen, er hörte die Harmonieen in die Welt hinein, in sein eigenes Schicksal und in die Geschichte.

Das Kirchenbuch der evangelischen Gemeinde von Hersfeld, nach gütigen Mittheilungen des Superintendenten Pfarrer Schafft. – Die Gymnasialprogramme von Rinteln, Kassel, Hersfeld, Marburg, Fulda von 1819 bis 1853. – Marburger Universitätsacten von 1828–31 und für das Diplom von 1838. – Notizen aus Zürich und von Freunden Volkmar’s wie Hrn. Pfarrer Flaigg in Altstetten b. Zürich, vermittelt durch Professor D. A. Meyer in Zürich.