ADB:Walter, Ferdinand (evangelischer Theologe)
Piers als bedeutender Frauenarzt und Menschenfreund, Julius als Theologe, beide als Professoren der Landesuniversität mit ihrem Wirken in Dorpat wurzelnd. Ferdinand, ein derber, kräftiger, kerngesunder Knabe, wuchs im elterlichen Hause heran, zuerst von seiner Schwester unterrichtet, dann in der Bürgerschule seiner Vaterstadt, zuletzt im Gymnasium zu Dorpat, wo dessen Director Rosenberger auf seine moralische wie intellectuelle Bildung viel Einfluß hatte. Im December 1819 wurde er als Student der Theologie in Dorpat immatriculirt. Die dürftige Besetzung der theologischen Facultät zwang W., wie er selbst einmal bekannte, zum Selbststudium. „Mein Studiren“, so schrieb er, „war meistentheils ein fleißiges Sammeln von Kenntnissen und Materialien im Felde der theologischen Disciplinen und mangelte einer rechten Leitung, die in dieser Zeit wohl vornehmlich Noth that“. An dem flotten Studentenleben nahm er regen Antheil; seine Bemühungen aber, eine allgemeine Burschenschaft zu gründen, waren von dauerndem Erfolge nicht gekrönt. Sie scheiterten an dem Particularismus, der damals in Dorpat in jeder Gestalt überwog. Die allgemeine Burschenschaft wurde aufgehoben und W. der weitere Aufenthalt in Dorpat verleidet. Eine im Jahr zuvor über Abo nach Schweden unternommene Ferienreise, wohin ihn persönliche Beziehungen wie der geschichtliche Zusammenhang dieses Landes mit der livländischen Heimath führten, ließ den Entschluß reifen, das akademische Triennium in Abo zu beschließen. Hier traten aber die theologischen Studien hinter die philosophischen und sprachlichen zurück; auf Grund einer philosophischen Arbeit wurde er promovirt. Im Frühjahr 1823 kehrte er nach Livland zurück. um sich für das Consistorialexamen vorzubereiten, im Januar 1824 bestand er es. Seine Anlagen wiesen ihn auf den Beruf des Geistlichen. Zunächst aber entschied er sich doch für einige Jahre pädagogischer Thätigkeit: er wurde Hauslehrer in der Familie des Landraths v. Sivers zu Heimthal bei Fellin und blieb es drei Jahre lang. Er zählte sie zu den reichsten seines Lebens, die pädagogische Thätigkeit gewann er lieb, doch lehnte er das Anerbieten Albert Hollander’s, des erfahrenen Pädagogen und Schülers von Jahn, mit ihm gemeinsam die Leitung einer Erziehungsanstalt zu übernehmen, ab, in der festen Ueberzeugung, daß sein Lebensberuf im geistlichen Stande liege.
Walter: Ferdinand W., livländischer Prediger und Generalsuperintendent, geboren in Wolmar am 30. September 1801, stammte aus einer bürgerlichen Familie, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Riga ansässig war. Walter’s Vater war Arzt, zuerst in Riga, später in der kleinen im Herzen Livlands gelegenen Landstadt Wolmar, die in der Ordenszeit eine große Vergangenheit gehabt hat und noch heute mit den dürftigen Resten des von den Russen zerstörten Ordensschlosses an gesunkene Größe gemahnt. Unter fünfzehn Geschwistern war Ferdinand W. das dreizehnte. Außer ihm haben sich zwei ältere Brüder Namen und Ansehen erworben:W. hatte genug an dem Lehrerthum dreier Jahre; er schreibt: „es trat das Bedürfniß nach freiem Studium zu stark wieder hervor, als daß ich länger hätte Lehrer bleiben können“. Er unternahm eine längere Reise nach Deutschland und ließ sich in Berlin immatriculiren. Ein Zeit lang wohnte er mit seinem Neffen, dem späteren berühmten hallischen Philosophen Eduard Erdmann, auch einem wolmarschen Kinde, zusammen. W. hörte fleißig bei Schleiermacher [20] und schrieb nach, daß ihm der Daumen vertaubte, bei Hegel hörte er Geschichte der Philosophie, Logik, Psychologie und Anthropologie, bei Neander Charakteristik des apostolischen Zeitalters, Patristik, praktische Theologie und Dogmatik. Aber auch in Schauspielhaus und Oper war er häufig anzutreffen nach der regen Arbeit des Tages. Nach Abschluß der Berliner Studien machte W. noch eine pädagogische Reise durch Preußen und Sachsen und lernte die Organisation des deutschen Volksschulwesens kennen. In Jena, bei Frau v. Wolzogen, sah er Goethe und Wilhelm v. Humboldt.
Zu Ende des Jahres 1828 kehrte W. nach Livland zurück, belebt von den reichen Eindrücken, die er in Deutschland, vor allem in Berlin, gewonnen hatte. Er schreibt darüber: „Ich lebte ein Jahr in Berlin. Großen Genuß und reiche Schätze für meine intellectuelle Bildung boten mir hier Schleiermacher und Hegel. Was ein reges wissenschaftliches Leben, nicht eines einzelnen Menschen, sondern einer Universität, eines Landes sei, lernte ich in Berlin erst kennen, wie die Macht schätzen, die es auf jeden ausübt, der die Wissenschaft nur irgend liebt“. Im Spätherbst 1829 trat W. sein erstes Pfarramt in Neuermühlen in der Nähe von Riga an. Das Pfarrhaus war idyllisch am Ufer eines Sees gelegen, vom Garten umgeben. Der Blick ging aufs Wasser und seine waldigen Ufer. Die Bauerschaft nahm den neuen Pastor mit Vertrauen auf, und er vergalt es mit warmem Herzen. Ueber die schönen neuermühlenschen Jahre hat Walter’s Nachfolger im Predigtamt, Propst Döbner, uns in seiner biographischen Skizze Walter’s einen mit wohlthuender Wärme geschriebenen Bericht hinterlassen. „Seine vielseitige Lebenskenntniß“, schreibt Döbner, „hatte ihn die Menschen in aller ihrer Schwäche und Sündhaftigkeit kennen gelehrt. Er hatte den Einfluß erwogen, der in den äußeren Verhältnissen liegt und in der Regel um so größer ist, je angestrengter der Kampf um die Lebensbedingungen und Bedürfnisse sich gestaltet. Er kannte seine Gemeindeglieder und stand ihnen nahe. Im Gespräche mit den Leuten beobachtete er immer eine ruhige, ernste Haltung und wendete gern jeden Gedanken auf das religiöse Gebiet hinüber. Eigenthümlich war es ihm, daß er sich nicht sowol biblischer Redeweisen und Ausdrücke bediente, als vielmehr auf sonstige Weise das echt Christliche hervorhob. Er stellte sich unter die schlichten Leute als ein Armer unter die Armen, als ein Sünder unter die Sünder, als ein Heilsbedürftiger unter die Heilsbedürftigen, und umfaßte alle mit gleicher Liebe. Der geringste Tagelöhner fand in ihm ein wohlwollendes Entgegenkommen“.
Krankenpflege und Schulwesen gehörten zu Walter’s schwersten Sorgen. Als Typhus und Scharlach in seinem Kirchspiel wütheten, hatte er unausgesetzt Krankenbesuche zu machen und wurde selbst von schwerer Krankheit befallen. Der unterrichtslosen Kinder nahm er sich an, indem er sie in sein Haus zog und sie unterrichten ließ. Nur wenige Jahre blieb er in Neuermühlen, denn als Eduard Erdmann Wolmar verließ, um sich nach kurzer pastoraler Wirksamkeit der akademischen Laufbahn zu widmen, wurde W. sein Nachfolger. Im Frühjahr 1833 siedelte W. in die Vaterstadt über, wo ein Jahr zuvor Erdmann seinen Ehebund eingesegnet hatte. Von 1833 bis 1855 ist W. „der Pastor von Wolmar“ gewesen, dessen hochragende Gestalt, leidenschaftliche Beredsamkeit und energische Führung sich unauslöschlich seiner Gemeinde eingeprägt haben, zu der nicht allein die Stadt gehörte, sondern mehr als achttausend lettische Eingepfarrte, die über ein Gebiet von drei Meilen verstreut wohnten. Neun Jahre lang arbeitete der neue Pastor an der Organisation seiner Gemeinde. Er bekämpfte den Einfluß der Herrnhuter, die mit ihrem religiösen Proselytenthum Unzufriedenheit und Heuchelei verbreitet hatten, und war überhaupt [21] der bewegende Mittelpunkt seiner Gemeinde nicht nur auf geistlichem und geistigem, sondern auch auf jedem anderen Gebiete.
„Auch in Wolmar war W.“, wie sein jüngster und gründlichster Biograph ihn schildert, „in erster Linie Landprediger, ein Pastor der Bauern; aber er war es in großem Stil, und alle Kräfte seiner Natur waren dabei voll in Anspruch genommen.“ Die Macht seiner Rede war gewaltig, und weder Hoch noch Niedrig konnte sich ihrer bestrickenden Gewalt entziehen. In den Jahren 1842 bis 1848, in einer Zeit, wo die griechische Propaganda in Livland die evangelische Freiheit vergewaltigte, war W. berufen, als Mitglied des evangelisch-lutherischen Generalconsistoriums (Oberconsistorialrath), der höchsten Kirchenbehörde des russischen Reichs, die Interessen der lutherischen Kirche der Ostseeprovinzen zu vertreten. Wiederholt mußte er in jedem Jahre längeren Aufenthalt in St. Petersburg nehmen. Mit der ihm eigenen Furchtlosigkeit trat er für die Kirche seines Landes ein. In den ersten Petersburger Jahren erschöpfte sich Walter’s Thätigkeit darin, den durch List und Betrug zum Abfall vom evangelischen Glauben getriebenen Protestanten die Rückkehr in ihre Kirche zu verschaffen und die ernstlich beabsichtigte Herabwürdigung der theologischen Facultät in Dorpat zu einem Predigerseminar zu hintertreiben. Letzteres gelang dank dem imponirenden Eindruck, den Walter’s Persönlichkeit auf die Umgebung Kaiser Nicolaus’ ausübte. Da W. zum Kaiser über die Bedrängniß der lutherischen Kirche und Geistlichkeit nicht reden durfte, fand er Gelegenheit, dem König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen bei dessen Anwesenheit in Petersburg die Lage des Lutherthums in Livland eingehend zu schildern. Der König äußerte wohlwollende Theilnahme, sie zu beweisen fühlte er sich aber außer Stande.
In den weitesten Kreisen der Residenz wurde W. durch die Predigten bekannt, zu denen ihm die hauptstädtischen Pastoren ihre Kanzeln liehen. Zu ihnen aber drängte sich nicht allein die evangelische Bevölkerung Petersburgs, sondern selbst russische Minister wie der deutschfeindliche Uwarow und Anverwandte des Kaiserhauses. Sie waren ein Ereigniß in der Residenz und Tage lang allgemeines Gesprächsthema, dem Prediger selbst aber, wie er einmal bekannte, eine Lust. Freilich meinte er, er müsse „bei den verschiedenerseits auf seine Worte hörenden Ohren und dem oft ganz korrupten Wiedererzählen derselben stets sehr gespannt aufmerksam wachen“, um seinen Gegnern keine Waffe in die Hand zu geben, denen die brechend vollen Kirchen, wo W. vor Tausenden predigte, zu denken gaben. „Es scheint mir eben solcher Taumel zu sein“, schreibt W., der sich nicht einmal für einen Redner hielt, „wie das Laufen unsrer armen Bauern zur griechischen Kirche einer ist; nur daß es hier die Verständigen gleich wie die armen lettischen Soldaten erfaßt, und Griechen und Katholiken mit Lutheranern zu Massen versammelt in dasselbe lutherische und wahrlich ehrlich lutherisch bediente Gotteshaus“. Der Fortbestand der lutherischen Kirche in Livland, woran W. seine beste Kraft setzte, blieb noch immer bedroht. Erst die Ernennung des Fürsten Suworow zum Generalgouverneur von Liv-, Esth- und Kurland ließ bessere Zeiten erhoffen. Walter’s Thätigkeit in Petersburg fand aber schon 1848 ihr Ende, denn von der griechischen Geistlichkeit wegen einer lettischen Predigt, in der er sie beleidigt haben sollte, in einen Criminalproceß verwickelt, konnte er nach den bestehenden Gesetzen nicht zur Neuwahl kommen. Uebrigens wurde ihm hiefür glänzende Genugthuung zu theil. Angesichts der Gerichtsbehörde stürzten die von griechischen Geistlichen verführten Ankläger, nachdem W. seine incriminirte Predigt wiederholt hatte, zur Erde, umschlangen des Pastors Kniee und riefen laut und mit Thränen in den Augen: „Wir haben gelogen, Ihr habt das niemals gesagt, wir widerrufen unsere Anklage und nehmen sie zurück“. Selbst in einem ausländischen Badeorte [22] sollte die eminente Redegewalt des livländischen Landpastors ungeahnte Wirkungen erzielen: im Sommer 1849 zur Cur in Karlsbad sich aufhaltend, hielt W. eine Reihe von Predigten, denen die höchsten Kreise der Gesellschaft andächtig lauschten, und legte durch 400 Gulden, die er sammelte, den ersten Grund zum Bau der evangelischen Kirche. Seiner wolmarschen Gemeinde wieder ganz zurückgegeben, übte er in alter Kraft seine seelsorgerische Thätigkeit aus. Daneben nahm er den regsten Antheil an den Arbeiten der livländischen Provinzialsynode. Auf seinen Antrag wurde ein Lehrerseminar für Heranbildung von Volksschullehrern begründet. Auch in abstracte theologische Materien vertiefte er sich und hielt Vorträge darüber auf den Synoden. Seine Erfahrungen über das praktische Wirken der Geistlichen legte er in dem Geschäftskalender für livländische Landgeistliche nieder, dessen erste Lieferungen als Gratulationsschrift an die theologische Facultät zum fünfzigjährigen Jubiläum der Dorpater Universität (1852) erschienen; sie sind leider ein Torso geblieben.
Im J. 1855 wurde W. zum livländischen Generalsuperintendenten erwählt und vom Kaiser Alexander II. in diesem Amte bestätigt. In den Audienzen, die er beim Kaiser und der Kaiserin hatte, brachte W. die kirchlichen Nothstände vor, der Kaiser versprach wol, die Klagen der Livländer in Zukunft selbst zu hören und zu entscheiden, er mißbilligte auch das in den Provinzen Geschehene, es rückgängig zu machen erklärte er indessen für unmöglich. Die Erfolglosigkeit aller seiner vielen Mühen drückte W. tief herab, dennoch mußte, wie Suworow es that, an der Ueberzeugung festgehalten werden, daß der Kaiser zu günstigerer Zeit alles gewähren würde, wenn ihn augenblicklich andere Rücksichten daran hinderten. Erst der Besuch des Thronfolgers in Livland im J. 1860 brachte einen wirklichen Erfolg. W. hatte sich mehrfacher Zeichen des kaiserlichen Wohlwollens zu erfreuen, unter denen die Verleihung der Würde eines evangelischen Bischofs obenan stand, eine Wendung der kirchlichen Verhältnisse, wie sie W. erstrebt hatte, trat erst nach seiner Verabschiedung ein.
Zu den Obliegenheiten des Generalsuperintendenten gehörte auch die, bei Eröffnung der Landtage den Gottesdienst zu halten. Die von ihm am 9. März 1864 gehaltene Rede wurde von der böswilligen Moskauischen Zeitung, die die Regierung beherrschte, als das „Programm der staatsgefährlichen livländischen Germanisirungspartei“ bezeichnet. Der moskowitische Führer Katkow hatte nun einmal die Losung ausgegeben, daß den confessionellen Bestrebungen der Ostseeprovinzen nicht das Wesen derselben, sondern eine politische Tendenz, die Germanisirung und Lostrennung von Rußland, zu Grunde liege. Alle Entschuldigungen und Erklärungen der Landesvertretung blieben fruchtlos. Die Staatsregierung, der Kaiser an der Spitze, verlangte zur Sühne des Geschehenen ein Opfer. In schonender Form wurde W. seines Amts enthoben, unter Belassung seines vollen Gehalts als lebenslänglicher Pension. Die letzten Jahre verlebte er in Dorpat. Er starb plötzlich infolge eines Herzleidens am 29. Juni/11. Juli 1869 am livländischen Seestrande.
- (J. Walter,) Bischof Dr. Ferdinand Walter, weil. General-Superintendent von Livland. Seine Landtagspredigten und sein Lebenslauf. Leipzig 1891. – (A. Döbner,) Bischof Dr. Ferdinand Walter. Ein kurzer Abriß seines Lebens und Wirkens. Eisenach 1870. – J. Eckardt, Russische und baltische Charakterbilder. 2. Aufl. Leipzig 1876.