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ADB:Wechtlin, Johann

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Artikel „Wechtlin, Johann“ von Friedrich Haack in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 41 (1896), S. 369–371, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wechtlin,_Johann&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 02:01 Uhr UTC)
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Wechtlin: Johann W. (Wechtelin, Wächtlin), Maler und Zeichner für den Formschnitt, ward um die 80er Jahre des 15. Jahrhunderts geboren. Sein Name hat echt alemannischen Klang, und der Künstler war vermuthlich ein Straßburger Kind. Wenigstens empfing er in Straßburg und zwar im J. 1514 das Bürgerrecht „von her hans Wechtlin priester sinem Vatter. wil dienen zur steltzen“. Das heißt: er ward der Innung der Maler, Bildhauer, Goldschmiede, Holzschneider u. A. zugetheilt. In Straßburger Registern aus späteren Jahren wird er noch mehrfach in Berichten über Künstlerstreitigkeiten erwähnt, was jedoch für seine kunstgeschichtliche Würdigung völlig bedeutungslos ist. Sein übliches Monogramm besteht aus seinen Anfangsbuchstaben: Io und V mit gekreuzten Formschneideinstrumenten dazwischen. Diese letzteren wurden irrthümlicherweise als Pilgerstäbe angesehen, und der Meister, dessen Namen man nicht wußte, dementsprechend als „Pilgrim“ bezeichnet, bis im J. 1850 der Kupferstecher H. Lödel aus Göttingen auf dem Titel einer in Holz geschnittenen und mit Io V bezeichneten Passion die Worte: „cum figuris artificiosissimis Joannis Vuechtelin“ und damit den wahren Namen des Künstlers entdeckte. Hieraus ergibt sich auch zur Evidenz, daß Johann W. mit dem Meister Io V [370] identisch ist. Auf dem Titel des Bamberger Exemplars der erwähnten Passion findet sich noch das Datum 1508, wonach diese zu seinen frühesten Werken zu gehören scheint. Im J. 1517 zeichnete der Künstler drei anatomische Figuren zu der „Anatomy Meister Guido’s de Cauliaco montis Persulani“, welche der Straßburger Chirurg Hans v. Gerszdorff, gen. Schylham[WS 1], ins Deutsche übersetzte, um sie mit seinem „Feldbuch der Wundartzeney“ zu vereinen. Aus dem Jahre 1519 ist uns eine interessante Zeichnung, das Porträt Melanchthon’s darstellend, im Museum zu Braunschweig erhalten, welche außer der Jahreszahl die Bezeichnung „Jo. Wechtlin“ trägt. Daher die übliche Schreibweise seines Namens. Wie 1508 das erste, so ist 1519 das letzte Datum aus seinem Leben, das urkundlich feststeht. Ueber seinen Todestag schweigen die Documente.

Tafelbilder von seiner Hand sind uns nicht bekannt, dagegen eine ziemlich beträchtliche Zahl von Holzschnitten. Sein bedeutendstes Verdienst besteht darin, als einer der ersten Künstler neben seinem Mitbürger Hans Baldung Grien und neben Burgkmair und Lucas Cranach für den farbigen, von mehreren – meist zwei – Holzstöcken gedruckten Holzschnitt, das sogenannte Chiaroscuro, Clairobscur oder Helldunkel, gearbeitet zu haben. Nagler glaubt in den ihm zugeschriebenen farbigen Holzschnitten eine andere Hand zu erkennen wie in den übrigen. In der That lehrt die oberflächlichste Betrachtung, daß die Clairobscur-Holzschnitte weit höher stehen als die gewöhnlichen. Bei eingehenderem Studium entdeckt man jedoch genau denselben Stil in beiden Kategorien. Der große qualitative Unterschied erklärt sich wol hauptsächlich daraus, daß die farbigen Holzschnitte zumeist in eine spätere Zeit des Meisters fallen, in der seine Fähigkeiten bereits reifer entwickelt waren. Ferner aus der gefälligeren Wirkung, die dem Helldunkel überhaupt eigen ist. Endlich mag sich auch der Künstler für die neue Technik persönlich mehr interessirt und bemüht haben, waren doch die – häufig mythologischen – Gegenstände schon an sich reizvoller und anregender, als die damals bereits recht abgedroschenen Scenen aus dem neuen Testament, bei deren Verkörperung der Künstler unwillkürlich in die alte typische Auffassung hereingerathen mußte.

Johann W. steht deutlich erkennbar unter der Einwirkung Hans Baldung Grien’s und noch mehr unter derjenigen Albrecht Dürer’s. Nicht als ob er nothwendigerweise mit dem letzteren in unmittelbare persönliche Beziehung getreten oder gar sein Schüler gewesen wäre, aber dem alles beherrschenden Einflusse des Riesengenius konnte sich W. ebenso wenig wie irgend ein anderer deutscher Holzschnittmeister entziehen. Dabei erscheint sein Stil – namentlich in der Passion von 1508 – merkwürdig alterthümlich und erinnert häufig geradezu an die Künstlergeneration vor Dürer.

W. erscheint uns im ganzen als eine Persönlichkeit untergeordneten Ranges. Er war mehr Handwerker als Künstler. Seine Strichführung ist kleinlich. Er konturirt seine Figuren mit mehreren großen Hauptzügen und modellirt sie mit geschwungenen Parallelstrichelchen. Die Modellirung der Köpfe macht er sich oft sehr leicht, indem er die eine Hälfte ganz dunkel und die andere ganz hell gibt. Ein bestimmter Kopftypus ist für ihn sehr charakteristisch: niedriger, breiter, plattgedrückter Schädel mit etwas schief eingesetzter Nase. Eine dem Schäufelin wahlverwandte Natur vermag er menschliche Charaktere wol nach der Seite des Täppischen und Spießbürgerlichen, aber nicht nach der Seite des Graciösen und Lieblichen hin zu charakterisiren. Sehr bezeichnend sind dafür seine plumpen Engel und Amoretten. Hoheit und Würde zu verkörpern, war ihm völlig versagt: sein Christustypus gehört zu den niedrigsten der Kunstgeschichte. Er war ein Wirklichkeitsabschreiber, der die erhabenen Geschichten des neuen Testamentes geistig nicht zu durchdringen vermochte. Aber auch die [371] nackte Wirklichkeit getreu wiederzugeben, ist ihm nicht immer gelungen. So pflegen ihm die Thiere, die er häufig anzubringen liebt, bisweilen bös zu mißglücken. Dagegen besaß er ein offenes Auge für landschaftliche Schönheiten, und in ihrer Wiedergabe leistet er sein Höchstes. Ferner vermag er seine Compositionen klar und scharf zu gliedern und sie dem gegebenen Raum gut einzufügen. Auch in der geschickten perspectivischen Darstellung von Räumlichkeiten und in der Wiedergabe von architektonisch-decorativem Beiwerk, wie Randleisten u. dgl., liegt seine Stärke. Sowohl durch die freie und großzügige Composition, wie besonders durch landschaftliche Schönheit, ragt die „Madonna im Garten“ hervor, welches Blatt überhaupt zu seinen ansprechendsten und reifsten Schöpfungen gehört.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. wegen des Gebrechens, an welchem er litt, „Schyl-Hans“ genannt