ADB:Wilhelm VI.
W. V. und seiner Gemahlin Amelia Elisabeth, geborenen Gräfin von Hanau, deren dritter, aber allein am Leben gebliebensr Sohn, geboren zu Kassel am 23. Mai 1629, † am 16. Juli 1663 zu Haina in Hessen, erhielt seine erste Erziehung wesentlich durch seine treffliche Mutter, da der Vater als sein eigener Feldherr, durch die Sorgen des Krieges sehr in Anspruch genommen, vielfach abwesend war. Nach dem frühen Tode des Vaters (21. September 1637) führte die Mutter die Regierung bis zum 25. September 1650, zu welchem Termin W. selbst die Zügel in die Hand nahm. Um Wilhelm’s Erziehung zu vervollständigen war er nach damaliger Sitte in Begleitung seines Hofmeisters v. Hoff auf Reisen geschickt worden, hatte die Niederlande und Frankreich besucht, die Strapazen des Krieges kennen lernen müssen und war in die Staatsgeschäfte eingeführt worden. Am 19. Juli 1649 erfolgte zu Berlin die Vermählung Wilhelm’s mit Hedwig Sophie von Brandenburg, der geistvollen und willensstarken Schwester des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, mit der er bereits seit vier Jahren verlobt war. W. zählt nicht zu den hervorragend geistreichen Regenten, war aber ein für das Wohl seines Volkes unermüdlich strebender Fürst, dem seine Unterthanen sehr viel zu danken haben. W. hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht Ruhe und Ordnung in seinem Lande wiederherzustellen und die schweren Wunden, welche der dreißigjährige Krieg geschlagen hatte, wieder zu heilen, zu welchem Zwecke er, unterstützt von einsichtsvollen Räthen, auf dem von seiner Mutter beschrittenen Wege weiterwandelte. Die Bedeutung der Regierung Wilhelm’s VI. liegt in ihren Reformen im Innern, deren segensvolle Wirkungen in Hessen z. Th. noch heute bemerkbar sind.
Wilhelm VI., der Gerechte, Landgraf von Hessen. W. VI., das fünfte Kind seiner Eltern, des LandgrafenInfolge des Krieges, der gegen sein Ende einen immer wüsteren Charakter angenommen hatte, da man schließlich lediglich die Schädigung des gegnerischen Eigenthums im Auge gehabt hatte, lagen auch in Hessen weite Strecken wüst. Um nur nach und nach wieder Kräfte zu gewinnen, die im Stande wären, das wüste Land urbar zu machen, ging man daran, die abgedankten Soldaten anzusiedeln; nur gegen die Verpflichtung, die nöthigen Abgaben zu leisten, war Land in Menge zu haben. Allein vielen war das wilde Kriegsleben so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie das Stillsitzen nicht mehr zu ertragen vermochten; sie liehen den im Lande umherziehenden fremden Werbern gern Gehör und folgten ihnen in die Ferne. Es wurde deshalb verboten das Land zu verlassen und befohlen die fremden Werber, wenn sie ertappt wurden, sofort in [55] Haft zu bringen. Ueberdies erhielten die Beamten, um größere Seßhaftigkeit der alten Soldaten zu erzielen, Anweisung, sie weder mit Einzugsgeld noch sonstigen Auflagen zu beschweren. Auch sonst war die Regierung bemüht, was in den verödeten Ortschaften an Heimstätten erhalten werden konnte, zu erhalten. Jede Hand, die arbeiten wollte, war willkommen, andererseits duldete der Landgraf nicht, daß müssiges Gesindel, das in Menge im Lande sein Wesen trieb, sich einnistete. Namentlich das platte Land wurde von Strolchen allerlei Art überfluthet, wodurch der öffentlichen Sicherheit Abbruch geschah. Landgraf W. gab den Ortschaften gegen das Gesindel völlig freie Hand. Sobald sich solches irgendwo zeigte, wurde mit der Glocke das Zeichen gegeben, auf daß die Nachbargemeinden die unbedingte Verpflichtung hatten, mit der ihnen zu Gebote stehenden Wehr sich einzustellen, um gemeinsam unter Führung der Beamten sich auf die Verfolgung zu machen. Widersetzten sich die wilden Gesellen, so durften sie straflos niedergeschlagen werden.
Hand in Hand mit dem Kampf gegen die Landstreicher ging der gegen die Rohheit, welche unter den obwaltenden Umständen mehr und mehr zugenommen hatte und vor fremdem Eigenthum nicht zurückschreckte, weil die Begriffe von Mein und Dein weit und breit in Verwirrung gerathen waren. Daß es anders wurde und gesittete Zustände wiederkehrten, überhaupt die Landescultur sich hob, ist das Verdienst Landgraf Wilhelm’s, der anhaltend bemüht war dem durch die Wechselfälle des Krieges so schwer betroffenen Landmann nach bestem Vermögen aufzuhelfen. Dieses Streben brachte er u. a. in der Taxordnung vom 19. December 1653 zum Ausdruck, wo es heißt: „der arme Bauersmann, welcher Getreide und Frucht mit schwerer Mühe und blutsaurer Arbeit baut, muß die Erträgnisse seines Ackers oft um ein ganz Geringes hingeben, dagegen das, was er zu seiner Nothdurft bedarf, bei andern um hohes Geld kaufen; auch übernehmen Handwerksleute, Tagelöhner und Gesinde den Bauersmann“. Schon damals war die Tagelöhner- und Gesindenoth für den Landmann eine schwer wiegende Frage. Die Klagen über die zu hohen Ansprüche und die Unzuverlässigkeit der Arbeiter und Dienstboten muß der Landgraf, nach einzelnen Bestimmungen seiner Taxordnung zu urtheilen, für sehr berechtigt gehalten haben. Es wurde streng verboten die Arbeit niederzulegen, ehe die ausbedungene Zeit ausgehalten war, wie denn Contractbruch bei dem Gesinde infolge der eingerissenen Zügellosigkeit damals besonders beliebt gewesen sein muß. Landgraf W. belegte, um dem Contractbruch zu steuern, den Dienstherrn, welcher einen aus dem Dienst gegangenen Dienstboten annahm, ohne sich von ihm die Bescheinigung des bisherigen Arbeitgebers zeigen zu lassen, daß das Verlassen des Dienstes mit dessen Einwilligung geschehen sei, mit Strafe. Der Dienstbote wurde haftbar erklärt für den Schaden, der seinem früheren Herrn aus dem Contractbruch erwachsen war. Streng untersagte der Landgraf alle Versuche die Dienstboten den Herrschaften durch Angebot von höheren Löhnen abspenstig zu machen. Dabei übersah der Landgraf in seiner Gerechtigkeitsliebe aber keineswegs, daß auch Fälle denkbar waren, in denen die Dienstboten im Recht waren. Deshalb ordnete er an, daß, wenn der Dienstbote zum Verlassen des Dienstes erhebliche Ursache gehabt hätte, die seitens der Obrigkeit für begründet erkannt wäre, Dienstherr oder Dienstherrin genöthigt sein sollten den Lohn vom ganzen Jahre auszuzahlen und eine Bescheinigung über den bewilligten Dienstaustritt auszustellen.
Um dem Landmann, dessen Noth durch mehrfach wiederkehrende Mißernten noch gesteigert zu werden drohte, weiter zu Hülfe zu kommen, in erster Linie aber um wucherischer Ausbeutung dieser Noth vorzubeugen, erließ Landgraf W. unter dem 14. Juli 1662 sein Edict gegen die wucherlichen Fruchtcontracte, in [56] welchem er seine Beamten anwies, wenn sie von Derartigem hörten, auf Grund deren die Gläubiger sich berechtigt glaubten, dem nicht zahlungsfähigen Schuldner seinen besamten Acker unchristlicber Weise weg- und die Früchte an sich zu nehmen, einzuschreiten und den Gläubigern lediglich das in der That von ihnen Vorgeschossene zuzusprechen. Aus Fürsorge für den schwergedrückten Landmann arbeitete der Landgraf, der auch im übrigen der Landesmelioration, namentlich inbezug auf Ausbesserung der Wege und Herbeiführung besserer Ent- und Bewässerung, sein besonderes Augenmerk schenkte, systematisch auf eine vernünftige Waldwirthschaft hin. Nach seiner Holzordnung vom 1. December 1659 hatte eine rationelle Aufforstung mit einem vorsichtigen, zielbewußten Abtrieb Hand in Hand zu gehen. In diesem Sinne erließ er recht ins einzelne gehende Bestimmungen. Die treffliche Baumpflege, durch die Hessen sich auszeichnet, ist zum guten Theil eine Errungenschaft Landgraf Wilhelm’s, der, obschon die Jagd seine Lieblingsneigung und einzige Erholung war, doch ernstlich bedacht blieb die Felder seiner Unterthanen vor Wildschaden zu bewahren. Das zu den bei Eingatterung der Wälder erforderlichen Zäunen verwendete Holz wurde auf Geheiß des Landgrafen forstfrei verabfolgt.
Die Maßnahmen des Landgrafen behufs Besserung der Straßen und Wege (Ausschreiben vom 13. Juni 1651 und vom 2. Mai 1661), Instandhaltung der Ströme und Flüsse bezweckten vornehmlich auch die Hebung des Verkehrs, wie er denn die Flußschifffahrt zwischen Kassel und Münden zu heben suchte, die durch die Concurrenz der Frachtfuhrleute lahmgelegt zu werden drohte. Daß die Hebung des Flußverkehrs auf Kosten der Fuhrleute geschehen sollte, die nur dann Gespanne mit Bremer Gütern zu befördern berechtigt waren, wenn sie im Besitz eines von der fürstlichen Rentkammer in Kassel beglaubigten Erlaubnißscheins waren, daß die Fuhrleute angehalten wurden sich zunächst die Verfrachtung des in der Landessaline zu Sooden bei Allendorf a. W. gewonnenen Salzes angelegen sein zu lassen, dessen Verfrachtung nicht soviel einbrachte als die Beförderung der Bremer Waaren, zeigt die Befangenheit des Landgrafen in den volkswirthschaftlichen Anschauungen seiner Zeit. Dementsprechend verfügte er auch in deren Sinne Ein- und Ausfuhrverbote sowie Verkehrserschwerungen, doch nur insoweit, als er es zum Besten des Landes für unerläßlich hielt. An und für sich huldigte er, wie er in dem Edict vom 14. Juli 1662 über den Fruchtverkauf außer Landes aussprach, der Ansicht, es wäre zu wünschen „diese Commercia könnten gleich wie sonst also auch jetzt allenthalben ihren freien und ungehinderten Lauf haben“. Dieser Ueberzeugung gab er durch die Aufhebung der Fruchtsperre am 8. April 1663, also schon im folgenden Jahre wirksamen Ausdruck, damit man im Lande zu desto besseren Geldmitteln gelangen könne. Gleichermaßen ging er darauf aus Fremde nach Kassel zu ziehen und so dessen Wohlstand zu fördern, wie er es in seiner Verordnung vom 25. Novbr. 1653, „wie es mit Reinhaltung von Stadt und Festung Kassel solle gehalten werden“, als sein Ziel aufstellte, „daß Jedermann sowohl Einwohner als fremde Durchreisende Kassel zu rühmen und Lust und Liebe haben und gewinnen mögen, eine also gereinigte Stadt anzusehen und zu bewohnen“. Wenn W. VI. das landgräfliche Postregal in Hessen zur Geltung brachte, den bis dahin in Kassel ansässigen kaiserlichen Erbpostmeister beseitigte und im J. 1662 oder 1663 den ersten hessischen Postmeister einsetzte, auch die Einrichtung eines regelmäßigen Postcurses zwischen Frankfurt a. M., Kassel und Bremen bald folgen ließ, so sind diese Maßnahmen wol hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Mehrung der fürstlichen Einkünfte zu betrachten, weniger unter dem der Förderung des Verkehrs.
Arbeitete Landgraf W. unablässig an der Hebung des Wohlstands seiner Unterthanen, so mühte er sich in nicht geringerem Maaße um die Verbreitung [57] von Bildung und religiösem Sinn, kurz um die Hebung des sittlichen und geistigen Niveaus seines Volkes. Neben der Rohheit bekämpfte er die zunehmende Völlerei und Unsittlichkeit mit scharfem Nachdruck. Es ergingen strenge Verordnungen gegen alles Uebermaß bei Gastereien, Hochzeiten, Kindtaufen und Leichenbegängnissen, die zum Theil ältere Maßregeln seiner Vorfahren wieder in Kraft setzten, indessen erkannte W. sehr bald, daß mit Strafverfügungen allein nichts auszurichten sei, vielmehr die Umkehr von innen heraus anzubahnen sei. Das verwilderte Volk mußte durch Lehre und Beispiel zu Zucht und Sitten zurückgeführt werden, es galt Kirche und Schule heranzuziehen, um in anhaltendem Streben der um sich greifenden Rohheit und Entsittlichung Halt zu gebieten. Zunächst war eine durchgreifende Reorganisation des in Hessen einst so blühenden Schulwesens nothwendig, der der Landgraf alsbald seine Fürsorge zuwendete. Im J. 1653, im selben Jahre, in welchem er die Universität Marburg wie das dortige Pädagogium wieder ins Leben rief und dem Hersfelder Gymnasium seine im Kriege verloren gegangenen Einkünfte zurückerstattete, schritt der Landgraf zur Ausarbeitung einer neuen Schulordnung für die höheren Schulen, die unter Mitwirkung ausgezeichneter Schulmänner wie des Superintendenten Hütterodt zu Eschwege und des Professors Dr. Crocius zu Marburg ausgefertigt im J. 1656 veröffentlicht wurde. Sie fußt im wesentlichen auf der Schulordnung von Wilhelm’s Großvater Landgraf Moritz, zeigt aber gegenüber dieser Ordnung von 1618 das ängstliche Bemühen, die reine ästhetisch-classische Lectüre der griechischen und römischen Dichter aus den Oberclassen (es gab im ganzen 8 Classenstufen) zu verbannen und durch einen vorwiegend religiös-moralischen Lehrstoff zu ersetzen, wodurch besonders das Studium des Griechischen, zu dessen Lectüre man sich ausschließlich des Neuen Testaments bediente, empfindlich beeinträchtigt wurde. Ueberhaupt legte man höheres Gewicht auf die Kenntniß der Grammatik als auf die der Schriftsteller und ihrer Werke, was bald zu einer Verknöcherung des Unterrichts führte. Es gebrach jedoch der neuen Schulordnung andererseits nicht an Vorzügen, wozu die Ausdehnung des Unterrichts in der deutschen Sprache bis in die 5. Classe und die maßvolle Einbeziehung der Realien, Arithmetik, Geometrie und Sphärik in den Kreis der Lehrgegenstände im Sinne des Comenius und die Anberaumung einer Unterrichtsstunde für die Geschichte zu zählen ist. In den Dorfschulen sah es weit trauriger aus als in den Lateinschulen. Hier bei der Hauptmasse des Volks lag die Aufgabe für Bildung und Erziehung Sorge zu tragen ausschließlich in den Händen der Geistlichkeit. Das Verdienst des armen Dorfpfarrers ist es, daß es auf dem Lande nach und nach wieder besser wurde, und doch hat Landgraf W. unendlich viel zu thun gehabt, um erst den Dorfpfarrer selbst wieder zu der sittlichen Höhe zu erheben, von der aus er an dem mühsamen Werke der Erziehung des Volkes mit Erfolg zu wirken vermochte. Die von Wilhelm’s Räthen ausgearbeitete Kirchenordnung erhielt Bestimmungen darüber, wie die schwer geschädigte Sittlichkeit zu heben und vor allem die Heilighaltung des Feiertags wieder zu erzielen sei. Darüber hinaus sollte sie dem Lande eine gleichmäßige kirchliche Verfassung verschaffen und den Lehrbegriff der hessischen Kirche festlegen. Sie zerfällt in die Reformations-, Presbyterial- oder Aeltesten-, Consistorial- und endlich die eigentliche Kirchenordnung, welche insgesammt 1657 erschienen. Durch die Kirchenordnung, welche bis heute zu Recht besteht, suchte der Landgraf die Spaltung, welche in dem Bekenntnißstande des hessischen Volkes von der Einführung der Verbesserungspunkte und des reformirten Bekenntnisses hervorgerufen war, nach Kräften wieder auszugleichen. Das reformirte Bekenntniß kommt darüber zwar zu seinem Rechte, doch ist namentlich inbezug auf Liturgie und Taufformular den Wünschen der Lutheraner Rechnung getragen; [58] Stark betont in der Kirchenordnung ist das landesherrliche Kirchenregiment, weshalb die bei der Ausarbeitung zu Rathe gezogene Synode gegen die Einführung Einspruch erhob. Rief die Veröffentlichung der Kirchenordnung eine geharnischte Gegenerklärung der Kasseler Geistlichkeit hervor, ist, wie Cuno in dem „Gedächtnißbuch deutscher Fürsten und Fürstinnen reformirten Bekenntnisses“, Liefg. 2, S. 52 behauptet, seit dieser Zeit alles synodale Wesen in Hessen untergegangen und der landesherrliche Summepiscopat in einer Weise gestärkt, daß sich eine reformirte Kirche nie damit abfinden kann, so ist doch nicht zu verkennen, daß die Thür der Landeskirche für die Rückkehr der Lutheraner geöffnet war. Eben dem Wunsche unter seinen Unterthanen, wo nicht Eintracht, so doch Duldung in Religionssachen herbeizuführen, entsprang die Einladung zu dem Religionsgespräch in Kassel, welche der Landgraf im J. 1661 an die Professoren der beiden Landesuniversitäten Marburg und Rinteln, welch letztere er völlig neu organisirte, ergehen ließ. Unter dem Vorsitz landgräflicher Commissare gelangte man nach neuntägiger Discussion einer Verständigung in der Hauptsache so nahe, daß voraussichtlich eine Einigung erzielt wäre, wenn nicht der Einspruch anderer lutherischer Hochschulen, vor allem der von Wittenberg, alles wieder in Frage gestellt hätte. Den auswärtigen reformirten Glaubensgenossen hat sich W. jederzeit als rechter Beschützer gezeigt, so den bedrängten Waldensern, wie er denn seiner Kirche aufrichtig ergeben war.
Es ist nicht angängig der reformatorischen und organisatorischen Thätigkeit des Landgrafen zu gedenken, ohne seine Verdienste um die bessere Gestaltung der Rechtspflege zu berühren, welche sich in dem Erlaß der Kanzleiordnung vom 20. März 1656, dem decretum commissionis in Appellationssachen vom 3. April 1656 und der Sportelordnung vom 16. Mai des gleichen Jahres, Leistungen von grundlegender Bedeutung, bekundeten. Der Landgraf, dessen oberster Grundsatz die Sicherung einer rechtschaffenen, unparteiischen und beschleunigten Rechtspflege war, haßte leichtfertiges Processiren, war dagegen lebhaft darauf aus, wo möglich, gütliche Auseinandersetzung der streitenden Parteien zu Stande zu bringen, bezw. bei Klagen über die Behörden die Uebelstände, die den Stein des Anstoßes bildeten, aus dem Wege zu räumen. Weiter sprach aus der Kanzleiordnung das Bemühen, die Befugnisse der Gerichtsbehörden von einander abzugrenzen und festzulegen. Den drei Kanzleien zu Kassel, Marburg und Rinteln wurde als oberen Instanzen die Entscheidung einer Reihe von Angelegenheiten vorbehalten, so die landfriedbrüchiger Sachen, der Vergehen gegen Leben und Eigenthum der Mitmenschen, der Pfändungsklagen sowie der Angelegenheiten, in denen an den Untergerichten das Recht versagt oder Parteilichkeit geübt worden war. In der Richtung der Competenzbegrenzung der Behörden that Landgraf W. einen Schritt, der deshalb ganz besondere Beachtung verdient, weil er als Ausgangspunkt einer erst im laufenden Jahrhundert zum Gemeingut gewordenen Errungenschaft zu betrachten ist, nämlich der Trennung der Verwaltung von der Rechtspflege, freilich nur als Ausgangspunkt. Um einen Beamten zu haben, der nur mit dem Gerichtswesen zu thun hätte und, durch Verwaltungsgeschäfte nicht behelligt, seine Kraft ausschließlich in den Dienst der Justiz zu stellen vermöchte, wurde der Kanzler von der ihm obliegenden Leitung der Geschäfte in den übrigen Reichs- und Landsachen, „durch die er dem Justizwesen abzuwarten, vielfältig verhindert und divertiret würde“, entbunden und mit deren Versehung der Vicekanzler bezw. der nächstfolgende gelehrte Rath betraut. Die Sorge für den kleinen Mann, die den hessischen Fürsten eigen war, wurde in der von W. VI. getroffenen Neuordnung des Gerichtswesens nicht vergessen. So z. B., wenn dabei auf Bewahrung der Rechtsuchenden vor überflüssigen Ausgaben gesehen wurde, die Anwälte scharf beaufsichtigt [59] wurden, und ihnen untersagt wurde die Parteien, deren Beschwerden unbegründet erschienen, zur Beschreitung des Rechtsweges zu ermuntern und zweifelhafte Sachen zu übernehmen.
Wollte der Landgraf seiner Reformthätigkeit im Innern eine sichere Grundlage verschaffen, so bedurfte es neben einem durchaus zuverlässigen Beamtenstand, der die Absichten des Fürsten da, wo dessen Augen nicht hinsehen konnten, zur Durchführung brachte, einer ständigen Mehrung seiner und des Landes Einkünfte, zumal, wenn nach außen hin die Stellung festgehalten werden sollte, die sich Hessen im Laufe des dreißigjährigen Krieges errungen hatte. Die Heranbildung eines zuverlässigen Beamtenstandes war ein besonders schwieriges Werk, schon weil durch den Krieg die Disciplin gelockert war, die Willkür überhand genommen hatte, namentlich aber Bestechlichkeit und Eigennutz in den Kreisen der Beamtenschaft zu nie gekannter Höhe gestiegen war. Und doch hat W. auf diesem Gebiete durch seine Beharrlichkeit bedeutende Erfolge erzielt. Nicht so glückte es ihm inbetreff der unter möglichster Schonung der Steuerkraft des Landes geplanten Finanz- und Steuerreform, mit deren Hülfe zunächst die Kriegsschulden getilgt werden sollten; die Hauptschuld des Mißlingens ist dem Zwiste des Landgrafen mit der althessischen Ritterschaft zuzuschreiben, den er von seiner Mutter überkommen hatte. Wollte der Landgraf die Ritterschaft zu den Staatslasten schärfer heranziehen und dem Staatsgefüge enger einordnen, so hatte die letztere die Aufrechterhaltung ihrer Vorrechte, namentlich aber ihrer Bedeutung als besondere Körperschaft im Auge, wie beides dem Streben beider Factoren auch in anderen Staaten in damaliger Zeit entsprach. Dem Landgrafen war es hinderlich, daß auch dem Adel energische und tüchtige Vorkämpfer zur Verfügung standen wie der Obervorsteher Otto von der Malsburg, der sich in der schlimmen Kriegszeit als wackerer Patriot bewährt hatte, und Erbmarschall Kurt Riedesel zu Ludwigseck. Im J. 1655 kam es zu einem vorläufigen Vergleich, der in die Form fürstlicher Resolutionen gekleidet, im Princip zu Gunsten des Fürsten ausfiel, übrigens die Ritterschaft noch keineswegs völlig in den allgemeinen Unterthanenverband hineinzwang.
Ein größeres stehendes Heer nach dem Vorbilde von dem seines Schwagers des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, hat Landgraf W. nicht hinterlassen, es standen ihm zur Besetzung seiner Festungen lediglich 11 Compagnien zu Fuße und 4 zu Roß zur Verfügung. Alles, was er weiter erreichte, war die Wiederherstellung der Landmiliz, die nur in Nothfällen oder herrschaftlichen Ehrensachen zu wirklichen Diensten außer Landes herangezogen werden durfte. Auf die Vervollkommnung dieser Miliz war der Landgraf ernstlich bedacht. Der Bewaffnung seiner stehenden Truppen namentlich inbezug auf die Schußwaffen wandte der Landgraf große Sorgfalt zu. Kriegerische Lorbeeren zu pflücken war W. VI. nicht beschieden. Dem bekannten Rheinbund von 1658 gehörte auch Landgraf W. an. Ueber die Tendenz von dessen gegen das Haus Habsburg gerichteten franzosen- und schwedenfreundlichen Abmachungen war er keineswegs im Unklaren, sehr geschickt aber wurde von ihm die Gelegenheit benutzt, einen Theil der von Frankreich aus der Zeit des früheren Kriegsbündnisses noch rückständigen Pensionen und Subsidien ausgezahlt zu erhalten. Die Frankfurter Allianz wurde von Hessen nicht eher ratificirt, als bis 1 169 434 Livres von den rückständigen Verpflichtungen ausgezahlt und über das Ganze eine neue Verschreibung ausgestellt war. Der französischen Gesandtschaft zu Frankfurt hat die Erlangung des landgräflichen Beitritts zu der Allianz manch sorgenvollen Augenblick bereitet. Wie die Gesandten dem Freiherrn v. Dörnberg, dem geschickten Vertreter des Landgrafen erklärten, hatten sie zu dem angegebenen Zwecke mehr als 100 Couriere nach [60] Kassel schicken müssen. Bemerkenswerth ist, daß der Landgraf die Genehmigung der Frankfurter Abmachungen noch an einen zweiten Vorbehalt knüpfte, nämlich an die Nichtverbindlichkeit bezw. anderweitige Fassung des Artikels II des Bundesvertrages, wonach bei einem Widerstande im Innern der betheiligten Staaten, durch den die gegenseitige Leistung der Kriegshülfe verhindert würde, eine bewaffnete Intervention und Execution stattfinden sollte. Im eignen Hause Herr zu bleiben traute sich der Landgraf allein die Kraft zu, er wollte jede Möglichkeit, sein Land zum Spielball fremder Mächte gemacht zu sehen, ausgeschlossen wissen. Dementsprechend hielt er gegenüber den Ansprüchen des berüchtigten Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels auf Ausdehnung seiner landeshoheitlichen Rechte an der Untheilbarkeit der hessischen Lande und alleiniger Landeshoheit des regierenden Landgrafen unerschütterlich fest. Die verderblichen Folgen der Maßnahmen seines Ahns Landgraf Philipp standen ihm klar vor Augen. Deshalb hat er in seinem Testament das Fortbestehen der Untheilbarkeit des einheitlichen hessischen Staatsgebiets ausdrücklich verbrieft.
Gleich seinem Vater und Großvater gehörte W. VI., er unter dem Namen des Auserkorenen mit dem Sinnbild eines Weihrauchbaumes, dem Orden des Fruchtbringenden Gesellschaft an, deren Hauptaufgabe es war, „deutsche Sprache und Tugend zu üben und dem verderblichen Wesen des Auslandes zu steuern“. W. der Gerechte starb plötzlich an einem Schlagflusse, der den Zeitgenossen als die Folge einer vor mehreren Jahren auf der Jagd stattgehabten Verwundung erschien, im 35. Jahre seines thätigen, für seine Unterthanen segensreichen Lebens. Die Herrschaft ging unter Vormundschaft der Landgräfin Hedwig Sophie auf seinen ältesten Sohn Wilhelm VII. über, der indeß die Regierung niemals wirklich angetreten hat, da er noch vor Erlangung der Volljährigkeit am 30. Nov. 1670 dahingerafft wurde.
- Sammlung fürstl. hess. Landesordnungen II, 146–612. – Rommel, Geschichte von Hessen IX, 25–255. – Hugo Brunner, Kirche und Schule während und nach dem dreißigjährigen Kriege (Hessenland, Jahrg. V 1891, VI 1892). – W. Grotefend, Die Regierungsthätigkeit Landgraf Wilhelm’s VI. (Hessenland, Jahrg. IX 1895). – Fr. W. Cuno, Gedächtnißbuch deutscher Fürsten u. Fürstinnen reformirten Bekenntnisses. Barmen (1883), Lfg. 2, S. 51–54.