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ADB:Wittichen, Karl

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Artikel „Wittichen, Karl“ von Ehlers. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 108–112, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wittichen,_Karl&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 13:30 Uhr UTC)
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Wittichen: Karl W., Theolog (1832–1882). Er war das vierte unter sieben Geschwistern, geboren am 7. April 1832 zu Montjoie, einem industriereichen Städtchen in der Eifel, mit wohlhabender Bevölkerung von unabhängiger [109] Gesinnung. Sein Vater war Tuchfabrikant. Seine Mutter, Sophie Charlotte geb. Moller, entstammte einer Familie, die nicht in reichen, aber auskömmlichen Verhältnissen lebte und Lernbegier und Bildungsbedürfniß ihm und seinen Geschwistern von früh auf in die Seele pflanzte. – Herbst 1847 trat er zugleich mit seinem Bruder Emil in die Tertia des Bonner Gymnasiums ein. Nach bestandenem Abiturientenexamen studirte er ein Semester lang in Bonn unter Rothe; dann bezog er 1853 die Universität Göttingen. Dort lehrten die Theologen Dorner und Ehrenfeuchter, der Historiker Waitz, der Philosoph Ritter. Von Göttingen siedelte er nach Berlin über, um seine Studien fortzusetzen. Er hat zu C. I. Nitzsch’s und Twesten’s Füßen gesessen und von Vatke nachhaltige Anregung empfangen. In Coblenz hat er das Candidatenexamen bestanden. Dann ist er Hauslehrer geworden in der Nähe von Göttingen, in der Familie eines Gutsbesitzers. Hier blieb er aber nur kurze Zeit. Er wurde Pfarrvicar in Castellaun auf dem Hunsrück. Die Mutter und seine jüngste Schwester wohnten mit ihm zusammen, bis er nach wenigen Jahren einem Rufe nach Malmedy folgte. Dort hat die älteste Schwester dem Einsamen den Haushalt geführt. Einen eigenen Hausstand gründete er am 6. Mai 1871, nachdem die Gemeinde Eschweiler ihn im Winter 1869/70 zu ihrem Pfarrer gewählt hatte.

Dort hatte Jahrzehnte lang Pfarrer Greeven, einer rheinischen Pastorenfamilie angehörig (auch Superintendent der Synode Jülich), das Pfarramt verwaltet. Ein eifriger Seelsorger und fleißiger Prediger, bei großer Strenge mild und weitherzig, ein Sohn jener Zeit, in welcher der Geist Schleiermacher’s noch den nachhaltigsten Einfluß auf die aufstrebende theologische Jugend ausübte. Von seiner Thätigkeit in der Verwaltung dachte er hoch; er konnte wohl scherzend rühmen, daß er zu den Superintendenten gehöre, welche die Consistorien überflüssig machen. Der Nachfolger dieses würdigen Mannes ist W. gewesen; ganz anders veranlagt als er, aber in Gewissenhaftigkeit und Ernst amtlichen Verhaltens und persönlicher Lebensführung seinem Vorgänger ebenbürtig. Wittichen’s Begabung drängte ihn zu wissenschaftlicher Beschäftigung. Bei gewissenhafter Erfüllung seiner amtlichen Obliegenheiten hat er mit unermüdlichem Eifer theologischen Studien obgelegen, auch wo er in seiner nächsten Umgebung wenig Verständniß fand für seine Arbeit und unter seinen Collegen einsam blieb mit seinem wissenschaftlichen Streben, nur von Wenigen verstanden, die in der Rheinprovinz zerstreut ihres Amtes walteten. Wir nennen statt Vieler Doerrien in Gladbach, Schepers in Mühlheim a. Rh. W. hat jede freie Minute ausgekauft, um mit theologischer Forschung nicht bloß auf dem Laufenden zu bleiben, sondern um selbstthätig in die theologische Debatte einzugreifen. Das größte Interesse wandte er den Untersuchungen über die Entstehung der Evangelien zu und den Fragen, welche in dem Leben Jesu ihre Beantwortung suchten und, allerdings in schnellem Wechsel, fanden.

Nachdem er schon 1864 einen Vortrag über den Sieg des Christenthums über das Heidenthum unter Constantin dem Großen veröffentlicht hatte, hat er ein Jahrzehnt später eine ganze Reihe von Untersuchungen ausgehen lassen, die in der gelehrten Welt seinen Namen schnell bekannt machten und zu Ehren brachten. Im J. 1864 hat er in seinem „Leben Jesu in urkundlicher Darstellung“ den Erwerb unermüdlich fortgesetzter eingehender Studien im Zusammenhang und ausführlich niedergelegt. Dieses Leben Jesu darf wohl als die reifste Frucht seiner Studien bezeichnet werden. Die Arbeit ist durchaus selbständig. Ihre Voraussetzung ist, daß sich die Geschichte Jesu auf den synoptischen Berichten, insonderheit des Markusevangeliums, mit Ausschluß des [110] 4. Evangeliums aufzubauen hat. Im Unterschiede von anderen gleichnamigen Werken stellt es sich nicht eigentlich als eine pragmatische Erzählung dar, sondern als eine fortlaufende Zusammenstellung, Uebersetzung und Erklärung der kritisch bearbeiteten Urkunden. Sie sind im wesentlichen auf den Faden aufgereiht, den das Markus-Evangelium, wie es nach Wittichen’s Kritik ursprünglich gestaltet war, darbietet. Noch heutes bemerkenswerth sind die einleitenden Abschnitte über die Quellen, über die materiellen Kriterien für die Unterscheidung von Geschichtlichem und Ungeschichtlichem, über die rhetorischen Formen in den Worten Jesu und vieles Einzelne, vorbildlich und erfreulich noch heute der ernste, nüchterne, ebenso besonnene wie freimüthige Geist der Behandlung im Ganzen. Alb. Schweizer (Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung; Tübingen 1906, S. 217 Anm.) hält die Anlage des Wittichen’schen Buches für verfehlt, weil der Verfasser exegetische Erklärung und historische Darstellung ineinander gearbeitet hat, aber er bezeichnet das Werk als eines der abgeklärtesten auf Grund der Markushypothese; er rühmt ihm nach: das Detail ist sehr interessant. Heute arbeitet die Leben-Jesu-Litteratur mit neuen Mitteln, die, als W. schrieb, noch keine Geltung hatten, sie beschäftigt sich mit Problemen, die für den Gesichtskreis der damaligen Forschung noch gar nicht gestellt waren. Trotzdem wird der Name Wittichen unter den Kundigen immer als der eines Vorarbeiters, dem die Nachfolger Dank schulden, mit Ehren genannt werden.

Nach seinem Hingang hat Everling nach einem fertigen Manuscript des verehrten Lehrers den Ur-Markus herzustellen versucht. Diese Abhandlung (Jahrb. f. protest. Theol., 17. Jahrg. 1891, S. 481–519), leider von den Fachgenossen nicht genügend berücksichtigt, ist keineswegs veraltet. Die Methode, aus den Uebereinstimmungen des Matthäus und Lukas gegen unseren heutigen Markustext den älteren Text, den sie einst gelesen haben, zu reconstruiren, verspricht auch heute noch Erfolg. W. steht hierin der Auffassung von K. Weizsäcker (Untersuchungen zur ev. Geschichte) am nächsten und auf der Linie, die heute besonders von J. Weiß verfolgt wird. – Eine Anzahl von Einzeluntersuchungen, auch über den damals noch nicht erschlossenen Charakter des vierten Evangeliums, dienten Wittichen’s Grundanschauungen zu bestätigen und fester zu begründen.

Seine wissenschaftliche Arbeit umfaßte aber nicht bloß die Entstehungsverhältnisse der Evangelien, sondern auch eingehende Untersuchungen über den Kern der neutestamentlichen Theologie, über die Idee Gottes als des Vaters (Göttingen 1865), über die Idee des Menschen (1868), über die Idee des Reiches Gottes (1872). Diese Beiträge haben ihrer Zeit ihren Dienst vollauf gethan, eine lebendigere geschichtliche Behandlung der biblisch-theologischen Probleme anbahnen zu helfen. Durch die reiche Fülle des in ihnen niedergelegten Stoffes haben sie befruchtend gewirkt. Sehr geschätzt wurden sie z. B. von Albrecht Ritschl. Heute sind sie naturgemäß durch die Arbeiten Wellhausen’s und der von ihm angeregten religionsgeschichtlichen Erforschung des N. T.s in Vielem überholt. Immerhin wird man sie noch heute mit Nutzen lesen können.

Was W. erforscht hatte, versuchte er für den Religionsunterricht in höheren Classen zu verwerthen, zu eigener Orientirung bei dem Unterrichte, den er selbst ertheilte und zur Förderung für die Praxis seiner Mitarbeiter im Religionsunterricht. 1874 erschien seine „Christliche Lehre, ein Leitfaden für den höheren evangelischen Religionsunterricht“. In demselben Jahre hat er in der „Zeitschrift für praktische Theologie“ Vorschläge gemacht für die Auswahl und Gruppirung des kirchengeschichtlichen Stoffes in den Classen [111] höherer Schulen. Mit besonderem Fleiß ist er Jahre lang bemüht gewesen, ein Lesebuch herzustellen für den evangelischen Religionsunterricht in Schule und Haus (Bonn 1878). Er war der Meinung, daß in dem frühesten Kindesalter die biblischen Geschichten in der herkömmlichen Weise noch nicht behandelt werden sollten, daß der Anfang vielmehr mit Fabeln, Märchen und leicht faßlichen Geschichten gemacht werden sollte. Seine Anregungen werden in der pädagogischen Welt heute noch angelegentlich erörtert, in der Praxis und in der Theorie. Er findet heute mehr Zustimmung als zu seinen Lebzeiten. Auch mit den Kirchenverfassungsfragen hat er sich eifrig beschäftigt. Dem an der rheinischen Kirchenverfassung geschulten Manne schien es selbstverständlich, daß der Einzelgemeinde und ihren Vorständen ein großes Maß von Selbstverwaltung zukomme, daß der Schwerpunkt des kirchlichen Lebens in der Gemeinde zu suchen sei. Der von den Synoden erwählte Superintendent war nur primus inter pares, nicht eigentlich Vorgesetzter. Die Consistorien sollten die Beziehungen der Gesammtkirche zum Staate wahrnehmen und ordnen. Ein gutes Theil reformirter Tradition lebte in den rheinischen Gemeinden und ihren Pfarrern. W. gehörte zu den zielbewußten Hütern reformirter Observanz.

Wittichen’s Arbeiten sind alle schlicht, solide und einzig auf die Sache gerichtet; es fehlt ihnen der Geistesreichthum, welchen die heutige Zeit sucht, liebt, forcirt; sie können sogar trocken erscheinen, sie verschmähen den Schein, sie sind ganz frei von Phrasen. Seine Arbeit ist um so höher einzuschätzen, weil er das erforderliche Material mit Mühe sammeln und herbeischaffen mußte, und weil er der fortgesetzten Anregung durch Gleichstrebende entbehrte, auf welche auch die Träger der theologischen Wissenschaft zu ihrer Förderung angewiesen sind. Unter der damaligen Geistlichkeit gab es wohl viele tüchtige, auch ausgezeichnete Männer, aber das wissenschaftliche Bedürfniß war bei der Mehrzahl nicht groß. Noch wirkte C. J. Nitzsch’s Einfluß auf die Pastorenschaft nach; Rothe war auch in Bonn einsam gewesen; die Tübinger Schule war mehr gefürchtet als gesucht, ihre Resultate wurden verdächtigt, als dem Glauben gefährlich; Bleek’s Kritik am Alten Testament ließ man gewähren, aber man scheute sich, sie auf das Neue Testament anzuwenden. Auch die Kritik hatte einen conservativen Zug und befliß sich der Vorsicht; sie strebte in Einklang zu bleiben mit der sog. vermittelnden Theologie, deren Wortführer bei aller Gelehrsamkeit in ihrem religiösen Leben noch nicht modern sein wollten. A. Ritschl aber war erst ein aufgehendes Licht. Da hatte ein Mann wie W. keinen leichten Stand. Er blieb unangefochten, weil man damals noch ängstlicher als heute „Fälle“ zu vermeiden suchte. Vielleicht hat ihn auch seine Kühnheit, die niemals Keckheit wurde, vor amtlicher Verfolgung bewahrt. Denn dem strebsamen Manne war bei seiner wissenschaftlichen Energie doch auch ein reiches Maß von Bescheidenheit eigen. Er blieb demüthig, ließ Andere seine Ueberlegenheit nicht fühlen, verleugnete es nie, daß er nur Einer unter vielen Arbeitern sei und Viele über sich habe; er konnte sich dabei begnügen, Fragen, die er nicht beantworten konnte, wenigstens richtig gestellt zu haben und wußte, daß keine schwierige Frage auf den ersten Anlauf gelöst wird, sondern nur nach viel Irrungen und vergeblichem Bemühen; deshalb lernte er gern auch vom Widerspruch, den er fand, und von den Einwänden, die ihn berichtigten (siehe H. Holtzmann, Prot. Kirchen-Zeitung 1882 Nr. 22, S. 507).

Von ihm konnte an seinem Grabe gesagt werden: Er war nicht ein Mann von viel Worten, er hatte gar nichts Bestechendes, Blendendes in seinem Wesen, nichts, was ihm schnell die Gunst, den Zulauf der Menge [112] hätte erwerben können; er war durchaus kein Mann für die große Welt; wem es aber gelang, ihm in sein Herz zu sehen und wem er sein Inneres erschloß, der erkannte bald seinen Werth, der wußte, daß W. nicht zu denen gehörte, die zufrieden sind, wenn das Amt sie nährt, und wenn sie seinen täglichen äußerlichen Obliegenheiten genügen. Sein Idealismus hat ihm nicht leichte Opfer aufgelegt: hätte sein lang gehegter Wunsch sich erfüllt, wäre er in eine theologische Professur berufen worden, oder Director geworden an einem Predigerseminar, so hätte er sich in solcher Stellung nach wissenschaftlicher Ausrüstung und moralischer Qualifikation ohne Frage als vor Vielen tüchtig bewährt; der Jugend wäre er ein zuverlässiger Führer und Lehrer geworden. Zeitumstände, kirchliche Stellung, theologische Strömung waren ihm nicht günstig. Männer von dem Schlage Wittichen’s mußten zu ihrer eigenen inneren Ausbildung Zurücksetzung erfahren; sie geduldig zu ertragen, diente vielleicht noch mehr als ihre wissenschaftliche Arbeit zu innerer Bildung und Vollbereitung.

Die letzte Lebenszeit Wittichen’s war eine lange schwere Heimsuchung. Ein Herzleiden bereitete ihm zunehmende Qual und Pein, bis er in Frankfurt, der Vaterstadt seiner Gattin, im Hause von deren Mutter, durch den Tod von seiner Krankheit erlöst wurde (am 30. März 1882) und zugleich von einem Leben, für dessen Ausgestaltung er tapfer ausharrend seine beste Kraft eingesetzt hatte, in schwierigen Verhältnissen, oft enttäuscht, aber immer hoffnungsvoll, überzeugt, daß auch sein Scherflein Arbeit nicht vergeblich sei, und daß sie eine bessere Zeit bereiten helfe, deren er mit Resignation, aber zuversichtlich wartete, er selbst ein prophetischer Bürger dieser kommenden Zeit. – Vermählt war W. mit Lili Rommel, der Tochter des Geheimen Oberfinanzrathes, Directors der Zolldirection in Frankfurt a. M., Gustav Adolf Rommel. Von seinen Kindern, denen er allzu früh entrissen wurde, ist der älteste Sohn Paul, ein zu den größten Hoffnungen berechtigender Historiker, als Assistent des Preuß. Histor. Instituts in Rom 1904 gestorben, ein Sohn (gleichfalls Historiker) und eine Tochter (Concertsängerin) werden den Vielen theuren Namen fortsetzen.

Ehlers.