ADB:Wuttke, Heinrich
*): Johann Karl Heinrich W., Historiker und Publicist, geboren zu Brieg in Schlesien am 12. Februar 1818, † als Universitätsprofessor in Leipzig am 14. Juni 1876. Der Vater, Bürgermeister zu Brieg, ein streng kirchlich und conservativ gesinnter Mann, vermochte ihm als dem einzigen Kinde eine ausgezeichnete Erziehung angedeihen zu lassen. Der kränkliche, frühreife Knabe bewies sehr zeitig starke Willenskraft und unermüdliche Arbeitslust. Schon in seinen Schuljahren auf dem Magdalenengymnasium zu Breslau von Ostern 1829 bis Michaelis 1835 beherrschte ihn eine außerordentliche Neigung zur Geschichte. Während des Studiums an der Breslauer Universität von 1835–38 hörte er außer historischen auch philosophische und philologische, ja selbst theologische und naturwissenschaftliche Vorlesungen. Den größten Einfluß auf ihn übte der Historiker Stenzel und der Philosoph Braniß; den Professoren Wachler und Ambrosch trat er näher, Kutzen und Hoffmann von Fallersleben schlossen mit ihm Freundschaft. Im Herbst 1838 trat er mit zwei Schriften hervor, von denen die eine über Thukydides ihm den Doctortitel, die andere Stenzel’s Mißgunst, zugleich aber den Ruf eines trefflichen historischen Kritikers verschaffte. In dieser Schrift „über das Tagebuch Valentin Gierth’s und die Herzogin Dorothea Sibylla“ wies er einen litterarischen Betrug nach, der selbst Stenzel, Hoffmann und K. A. Menzel entgangen war. Zu Ostern 1839 verließ [570] er die Hauptstadt Schlesiens mit dem Plane, in den nächsten Jahren die Koryphäen der Geschichtswissenschaft in Deutschland zu hören und sich dann an einer Universität zu habilitiren. Von 1839–40 hielt er sich in Berlin auf und besuchte vor allen Ranke’s Vorlesungen und Uebungen, ohne sich jedoch dessen Geschichtsauffassung zu eigen zu machen. Entscheidend für seine politische Richtung wurde es, daß er Ostern 1840 von Berlin, wo ihm der herrschende strenge Ton nicht zusagte, nach Leipzig übersiedelte, welches Mittelpunkt der liberalen Opposition in dem damals schon constitutionellen Sachsen war. Nach der sächsischen Universität zog ihn besonders Wachsmuth, den er für einen ausgezeichneten Kenner der Culturgeschichte hielt. Bereits nach einjährigem Aufenthalte entschloß er sich zur Habilitation und begann am 14. Juni 1841 seine Vorlesungen. Mit Eifer war er als Lehrer wie als Schriftsteller thätig. K. Biedermann berichtet in einem Nekrologe in der „Deutschen Allg. Zeitung“: „Wuttke’s akademische Thätigkeit war anfangs eine sehr rege und vielseitige. Die sprühende Lebendigkeit seines Vortrages fesselte eine zahlreiche Zuhörerschaft an ihn, der er zum Theil auch persönlich nahe trat und auf die er einen starken Einfluß übte“. Er hatte 100 bis 150 Zuhörer und galt bis 1845 für einen Liebling der Studentenschaft. Neben zahlreichen Abhandlungen schrieb er in dieser Zeit eine schlesische Geschichte unter dem wenig zutreffenden Titel „König Friedrichs des Großen Besitzergreifung von Schlesien und die Entwicklung der öffentlichen Verhältnisse in diesem Lande bis zum Jahre 1740“, wovon 1841 und 1843 zwei Bände erschienen, während der dritte ungedruckt geblieben ist. Seine sonstigen Schriften dieser Periode sind zwei Bände „Jahrbuch der deutschen Universitäten“ 1842, die mit Mosig v. Aehrenfeld herausgegebene Uebersetzung und Erläuterung von Schafarik’s „slavischen Alterthümern“ in zwei Bänden 1842 und 1844, die aus Artikeln für die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ vom Jahre 1846 hervorgegangene Broschüre „Polen und Deutsche“, in der er zuerst in Deutschland der Polenschwärmerei entgegentrat und auf die Gefährlichkeit des Panslavismus hinwies, u. a. m. Daneben arbeitete er an einer allgemeinen Geschichte, die das Hauptwerk seines Lebens bilden sollte, sowie an einem alle historischen Hülfswissenschaften umfassenden Handbuche. Das langandauernde Privatdocententhum und die Verschlechterung seines Verhältnisses zu den Universitätscollegen wirkten aber allmählich auf ihn verbitternd und seine wissenschaftliche Thätigkeit lähmend, und immer offener wandte er sich dem publicistischen und politischen Leben zu. Schon 1842 war er dem Leipziger Schriftstellerverein und dem Schillerverein beigetreten, denen er viel Zeit widmete; 1845 gründete er mit Robert Blum u. A. den rhetorischen Verein. Seine geringen natürlichen Mittel wußte der kleine schwächliche Mann so wohlberechnet zu verwerthen, daß er bald einer der geschätztesten Redner Leipzigs wurde. Eng mit Blum verbunden galt er als eins der überzeugungstreuesten und dabei kenntnißreichsten Häupter der liberalen Opposition in Sachsen. Am 2. März 1848 war er es, der Blum den Gedanken eingab, die Entfernung der Minister zu fordern. Ueberhaupt hat er in den ersten Wochen der Bewegung unausgesetzt auf diesen Volksführer anfeuernd, wie auch öfter hemmend eingewirkt. Von dem Augenblicke an, wo die Massen in Gährung geriethen, warnte er noch mehr als sein von der allgemeinen Gunst getragener Freund vor allen Ausschreitungen. Beim Vorparlament in Frankfurt Anfang April, zu dem er mit Blum, Joseph und Brockhaus aus Leipzig berufen worden war, hielt er sich zur gemäßigten Linken, arbeitete offen den Republikanern entgegen und lud dadurch den Zorn der Mehrheit seiner Partei und das Mißtrauen der übrigen Führer auf sich. So kam es, daß er bei den Wahlen zum Frankfurter Parlament nur als Ersatzmann für Leipzig aufgestellt und gewählt wurde. Im Mai 1848 fiel ihm die Würde des Obmanns [571] aller sächsischen Vaterlandsvereine zu, die ihm außerordentliche Arbeit und scharfe Anfechtungen einbrachte. Von dem liberalen Ministerium Braun-Oberländer ward ihm am 1. Juli die durch Hasse’s Tod erledigte Professur der historischen Hülfswissenschaften übertragen. Vor gedrängt vollem Hörsaale las er „Geschichte des Königthums“ und entfaltete gleichzeitig in Rede und Schrift eine fieberhafte politische Agitation in Sachsen sowol wie in den Nachbarländern Böhmen, Thüringen und Brandenburg. Im August kam es zum Bruche zwischen ihm und den in Frankfurt zur äußersten Linken übergegangenen Freunden: W. sah sich genöthigt, aus dem Ausschusse des Vaterlandsvereins auszutreten. Seit der am 4. September erfolgten Spaltung der Vaterlandsvereine Sachsens stellten sich die „deutschen Vereine“ als Vertreter der Wuttke’schen gemäßigten Richtung den extremen Vaterlandsvereinen entgegen, aber die Landtagswahlen entschieden zu gunsten der Radicalen. Um sich über den Stand der Dinge außerhalb Sachsens zu unterrichten, reiste W. Mitte September nach Wien, verbrachte dort gleichzeitig mit Blum, aber ohne Verbindung mit ihm, die verhängnißvollen Octoberwochen, kritisirte in einer Sitzung des Wiener Centralvereins aufs schärfste das Verhalten der Umsturzpartei und gerieth während des Kampfes um die Leopoldstadt mehrmals in Lebensgefahr. Nach Blum’s Erschießung trat er als dessen Ersatzmann in das Parlament zu Frankfurt ein und reiste am 27. November dorthin ab. Er ward hier Mitglied des „Württemberger Hofes“ und trat erst hervor, als die Fragen der Lostrennung Oesterreichs von Deutschland und der Wahl eines Reichsoberhauptes zur offenen Stellungnahme nöthigten. W. war durchaus von der Meinung durchdrungen, daß Oesterreich ein wesentlicher, nur zum Schaden des Ganzen ablösbarer Theil des deutschen Reiches sei, daß ihm, wenn nicht allein die Oberleitung, so doch ein Antheil an dieser gebühre, daß Preußen hinsichtlich der materiellen und geistigen Hülfsmittel für die deutsche Cultur hinter Oesterreich zurückstehe und daß ein Neubau des deutschen Staatsgefüges nur dann Bestand haben werde, wenn keine Hegemonie geschaffen, sondern dem Föderationstriebe der Deutschen ohne centralisirende Hintergedanken Genüge geleistet werde. Mit größter Energie bekämpfte er 1849 die Ideen desselben Gagern, den er noch im Jahre vorher hoch verehrt hatte. Sein Bestreben, den Plan eines Deutschlands mit preußischer Spitze zu Falle zu bringen, machte ihn neben Heckscher, Welcker u. A. zu einem der thätigsten Führer der großdeutschen Partei. Er gründete und schrieb fast allein eine eigne Parlamentscorrespondenz, die er an mehr als 100 Zeitschriften versandte; an allen großdeutschen Kundgebungen und Entwürfen hatte er wesentlichen Antheil und wirkte besonders als Mitglied des Ausschusses an dem nachmals abgeworfenen Reichsverfassungsentwurfe mit, der eine streng föderalistische Gestaltung des Reiches anstrebte und die Leitung der Reichsregierung durch ein Directorium für möglich erachtete. Der 27. März brachte seinen Bestrebungen die entscheidende Niederlage, indem die Erblichkeit der Kaiserwürde angenommen und dem Könige von Preußen die Kaiserkrone angeboten wurde. Nach diesem Verlauf der Ereignisse hielt W. eine friedliche Lösung der Verfassungsfrage für ausgeschlossen und die Größe der Zukunft Deutschlands für geopfert. Dennoch behauptete er mit zäher Consequenz bis zur letzten Minute seinen Platz, protestirte gegen die Zurückberufung der sächsischen Abgeordneten durch die heimische Regierung und begab sich erst Anfang Juli nach Leipzig zurück. Für eine erfolgreiche politische Thätigkeit blieb ihm von da an nur wenig Hoffnung, gleichwol bethätigte er seine Gesinnung mit der ihm eignen Leidenschaftlichkeit und Ueberzeugungstreue bis zum Jahre 1867 noch bei vielen Gelegenheiten. Mit besonderem Feuereifer wirkte er 1859 für die würdige Feier des Schillerjubiläums und für die Schillerstiftung. Als Freund der Armen und Unterdrückten sympathisirte [572] er mit der von Lassalle eingeleiteten Arbeiterbewegung und trat diesem Arbeiterführer persönlich nahe. Dann nahm er aber an den Bestrebungen der socialdemokratischen Partei nur so lange theil, als er glaubte, daß diese den Standpunkt des radicalen Großdeutschthums, wie ihn Liebknecht anfangs einnahm, sich zu eigen machen werde. Nachdem jedoch die deutschen Socialdemokraten 1869 den Basler Beschlüssen der Internationale beigetreten waren, wandte er sich völlig von ihnen ab. Großdeutscher und Demokrat blieb er bis an sein Ende. Eine aufsehenerregende Aeußerung seines unversöhnlichen Preußenhasses war das zuerst 1866 erschienene, gegen das officiöse Preßwesen gerichtete Pamphlet „Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung in Deutschland“, das mehrere Auflagen und eine Uebersetzung in das Französische erlebte. Seine großdeutsche Gesinnung verleitete ihn, noch bis 1873 Verbindungen mit der österreichischen Regierung zu pflegen, aber niemals hat ihm sein hartnäckiges Eintreten für die Interessen Oesterreichs den geringsten persönlichen Vortheil eingetragen. – Seit seiner Rückkehr vom Frankfurter Parlament widmete sich W. wieder mit voller Hingebung seinem Berufe als akademischer Lehrer. Am 25. März 1854 verheirathete er sich mit seiner Cousine Emma Biller (die sich später als Verfasserin von historischen Romanen und Jugendschriften einen guten Namen gemacht hat) und erfreute sich seitdem eines stillen Heims in der Leipziger Straße zu Reudnitz-Leipzig, wo sein verbitterter, unruhiger Geist nach den Enttäuschungen, die ihm die Außenwelt bereitete, in fleißiger Arbeit und edler Geselligkeit Erholung fand. Aus eignem Antriebe und ohne jede Unterstützung seitens der Regierung eröffnete er im Winter 1852–53 als der erste an der Universität Leipzig ein historisches Seminar, das er bis zu seinem Tode fortgeführt hat und in dem er seinen Schülern die Schätze seines Wissens und seine reiche Bibliothek mit größter Uneigennützigkeit zur Verfügung stellte. In politisch erregten Zeiten waren auch seine Collegien noch stark besucht, so 1859 und 1863, wo er im Schützenhaussaale lesen mußte. Als Früchte seiner wissenschaftlichen Thätigkeit erschienen 1853 und in 2. Ausgabe 1854 die „Kosmographie des Istriers Aithikos im lateinischen Auszuge des Hieronymus“, 1853 die Schrift „über Erdkunde und Karten des Mittelalters“, 1856 die Aufsätze über „die Entzifferung der Hieroglyphen“ und „die Entstehung und Beschaffenheit des fönikisch-hebräischen Alfabets“ u. a. m. Die Hauptarbeit der sechziger Jahre war das ihn große Geldopfer kostende „Städtebuch des Landes Posen“; im J. 1863 entstand die in drei Auflagen verbreitete „Völkerschlacht bei Leipzig“, im J. 1865 die Festschrift „über die Gewißheit der Geschichte“. Seine letzte Veröffentlichung, zugleich die erste, die die lange Reihe seiner eigentlichen Hauptwerke einleiten sollte, ist der erste Band einer „Geschichte der Schrift und des Schriftthums“ 1872. Aus seinem äußerst umfangreichen handschriftlichen Nachlasse wurde nur die Untersuchung „Zur Vorgeschichte der Bartholomäusnacht“ 1879 von Georg Müller-Frauenstein herausgegeben. Der Werth seiner von Scharfsinn und Gelehrsamkeit zeugenden historischen Arbeiten leidet dadurch Abbruch, daß er das amtliche Quellenmaterial der Archive nicht genügend würdigte und zu wenig heranzog. Genau 35 Jahre nach seiner ersten Vorlesung starb W. infolge eines Gehirnschlags zu der Stunde, wo ein überfülltes Auditorium des Beginns der von ihm angekündigten Vorlesungen über die „Geschichte der Revolution von 1848“ harrte.
Wuttke- Nach einer handschriftlichen Biographie von Georg Müller-Frauenstein.
[569] *) Zu S. 377.