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Abnorme Kinder

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Textdaten
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Autor: Johannes Moldenhawer
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Titel: Abnorme Kinder
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, 3, S. 34–37, 49–51
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Abnorme Kinder.
Von J. Moldenhawer, Director des königl. Blindeninstituts zu Kopenhagen.

„Wer ist unglücklicher, der Blinde oder der Taubstumme?“ – das ist eine Frage, die man oft hört. Gewiß ist Taubheit sowohl als Blindheit ein Unglück, da der Mensch durch dieselben eines der wichtigsten Sinne, des Gehörs oder des Gesichts, beraubt wird, es geht aber hiermit, wie mit so vielen Prüfungen – weder die eine noch die andere ist ein unbedingtes Unglück, da derjenige, der davon betroffen wird, trotzdem ein zufriedener und glücklicher Mensch werden kann, der ein in jeder Beziehung menschenwürdiges Leben führt. Gewöhnlich halten die Taubstummen sich für glücklich im Vergleich mit den Blinden, und umgekehrt; es mag dies daher kommen, daß sie selbst keine klare Vorstellung von dem eigenen, wie von dem andern Gebrechen haben. Wohl ist aber hierbei zu beachten, daß diejenigen, welche sich auf diese Weise aussprechen, immer solche sind, die Unterricht genossen und demzufolge sich mit den übrigen vier Sinnen zu behelfen gelernt haben. Blindheit und Taubheit sind nur dann ein wirkliches, ein großes Unglück, wenn sie in Verbindung mit solchen Verhältnissen auftreten, daß dadurch die bestimmungsgemäße Entwickelung des Menschen und die rechte Anwendung seines Daseins gehindert werden. Tief zu beklagen sind daher die Blinden und Tauben, denen Unterricht und Erziehung versagt bleiben, sie gehören zu den unglücklichsten unter unsern Mitmenschen.

Diejenigen Punkte, in denen das Mißverhältnis zu Vollsinnigen am stärksten hervortritt, sind: bei blinden Kindern der Mangel an Mitteln zu nützlicher Beschäftigung und eine daraus hervorgehende Erschlaffung der körperlichen und geistigen Kräfte, im Verein mit mangelhafter Entwickelung, langer Weile und Passivität – bei tauben Kinder: die Schwierigkeit der Verständigung mit Hörenden in allen den Verhältnissen, die außerhalb des rein Persönlichen oder des Materiellen liegen, und eine daraus folgende Armuth an Vorstellungen, namentlich höherer Art, und ein Gefühl des Alleinstehens. Sobald nun das Kind dasjenige Alter erreicht hat, in welchem die genannten Entbehrungen sich geltend machen, wo also das blinde Kind das Bedürfniß dauernder Beschäftigung, das taube Kind das Bedürfnis eines vollkommneren Mittheilungsmittels, als der bisher benutzten natürlichen Zeichensprache fühlt, ist auch der Zeitpunkt gekommen, an welchem regelmäßiger Unterricht beginnen muß. Ich werde im Folgenden das Verfahren beim Unterrichte blinder und taubstummer Kinder je für sich betrachten, indem ich die in meiner Heimath, Kopenhagen, bestehende Ordnung zunächst in’s Auge fasse.

Der Blinde.

Wenn man bedenkt, wie groß die Bedeutung des Gesichtssinnes bei Kenntnisnahme der Dinge und Verhältnisse in der Welt ist, so begreift sich das Ungenügende einer durch bloße mündliche Erklärung übermittelten Vorstellung von den Dingen. Es muß nothwendiger Weise noch eine andere, ähnlich wie das Gesicht wirkende Sinnesthätigkeit helfend eintreten, und der einzige Sinn, welcher diese Bedingungen erfüllt, ist der Gefühls- oder Tastsinn. Namentlich spielt das feine Gefühl in den Fingerspitzen eine so bedeutungsvolle Rolle beim Blindenunterrichte, daß erst die Anwendung desselben zum Lesen erhabenen Drucke und erhabener Schrift, zur Orientirung auf Reliefkarten und Reliefgloben und zur Untersuchung von Formen und Raumverhältnissen die Blindenschule in den Stand gesetzt hat, neben der Schule für vollsinnige Kinder einen würdigen Platz einzunehmen.

In den täglichen Verhältnissen spielt für den Blinden das Gehör die Hauptrolle, da es ihm in solchen Fällen hilft, wo er mit den Gegenständen nicht in unmittelbare Berührung kommen kann, und ihn oft davon benachrichtigt, wenn sich Etwas ihm nähert, oder er in die Nähe eine Gegenstandes kommt. Eine merkwürdige Anwendung des Gehörs habe ich in einigen Fällen angetroffen. So befindet sich im hiesigen Institute ein vollkommen blinder Knabe, der dann und wann leise in die Hände klatscht oder mit der Zunge schnalzt. Aus meine Frage hin, warum er dieses thue, erwiderte er: „Die Dinge antworten mir dann.“ Auf diese Weise antwortet nicht nur das Haus, sondern auch die offene Thür des Hauses, sodaß er seinen Schritt dahin richten kann; es antworten die Kühe auf dem Felde, sodaß er sich von der einen zur andern finden kann; ja, das Wasser im Lehmgraben antwortet, wenn er sich demselben nähert, und die Bäume im Walde, sowie die Steinhaufen an der Landstraße antworten, wenn er vorüber geht oder fährt, sodaß er sie zählen kann. Es ist das schwache Echo, welches die Gegenstände zurückwerfen und das sein feines Ohr auffaßt, während Andere es nicht bemerken. Ein früherer, sehr musikalischer Zögling konnte bei jedem Laute, den er hörte, den Ton und die Octave desselben angeben, wenn er z. B. einen Hund bellen, einen Hahn krähen, ein Glas oder einen metallenen Gegenstand klingen hörte.

Wenn das blinde Kind in’s Blindeninstitut kommt, schließt es sich seinen Cameraden bald an, und diesen macht es Freude, dem Neulinge in den ihm ungewohnten Umgebungen zurecht zu helfen. Es dauert darum gewöhnlich auch nicht lange, so fühlt es sich heimisch und findet sich leicht in Haus und Garten zurecht. Weiter wird der Zögling von Anfang an so weit als möglich daran gewöhnt, mit allen zum täglichen Leben gehörenden Dingen sich selbst zu helfen, sich also aus- und anzukleiden, sein Bett zu machen und seine Speise zu zerschneiden.

In den Erholungsstunden, hauptsächlich nach dem Frühstücke und dem Mittagessen, rühren sich die Zöglinge im Freien, wenn das Wetter es erlaubt; sie spazieren dann zu zweien oder dreien im Garten herum, gehen auf Stelzen und spielen verschiedene Spiele.

Während der fünf Jahre, welche die Zöglinge dazu brauchen, um die Schule zu absolviren, sind sie Vormittags täglich vier bis fünf Stunden in den Schulclassen; die übrige Arbeitzeit, ebenfalls vier bis fünf Stunden täglich, wird zu Gesang, Turnen, Musik und Handarbeit benutzt. Nach den Schuljahren brauchen die Knaben gewöhnlich zwei Jahre, die Mädchen ein Jahr, um sich praktisch weiter auszubilden.

Die Wahl eines Handwerks geschieht nicht gleich nach der Aufnahme; zuerst lernen die Knaben das Schilfflechten, und wenn sie es so weit gebracht haben, daß sie eine Matte verfertigen können, ist es ihnen erlaubt, ein Handwerk zu wählen Bei der Wahl desselben ist die Neigung des Knaben entscheidend, wenn [35] nicht seine Befähigung oder die Verhältnisse in der Heimath dagegen sind. So sitzt mancher Knabe schon im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren als eifriger Korbmacher oder Schuster da, oder schreitet, mit Hanf umgürtet, rücklings die Seilbahn entlang, während er den langen Faden spinnt.

Diese frühzeitige Beschäftigung mit derjenigen Arbeit, die ihm späterhin seinen Lebensunterhalt verschaffen soll, setzt ihn nicht nur in den Stand, größere Uebung zu erhalten, als sonst möglich wäre, sondern weckt auch in ihm eine gewisse Liebe zum Handwerk und jenen Ernst, der für den Zweck der Blindenanstalt, die Blinden zu selbstständigen, selbstthätigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, von großer Bedeutung ist. Wie wäre es auch ohne eine solche frühzeitige Einführung möglich, daß Blinde im Alter von siebenzehn bis neunzehn Jahren, nach Beendigung ihrer Ausbildung in der Blindenanstalt, ihr Handwerk ganz selbstständig betreiben und nach Verlauf einiger Jahre es so weit bringen, daß sie sich selbst und bisweilen sogar eine Mutter oder Schwester, oder Frau und Kinder ernähren können.

Vor allen Dingen kommt es darauf an, daß der Blinde die Anstalt nicht eher verläßt, als bis er sein Handwerk so vollständig erlernt hat, daß er es ganz auf eigene Hand betreiben kann. Die Erfahrung lehrt, daß es nicht rathsam ist, einen Blinden bei einem Meister in die Lehre zu geben. Selbst nachdem er sein Handwerk in der Anstalt erlernt hat, ist es ein schlechter Ausweg, ihn bei einem sehenden Meister arbeiten zu lassen, weil er hierdurch gehindert wird, vorwärts zu streben; während ein solches Verhältniß für den Sehenden eine natürliche Vorbereitung zur Selbstständigkeit ist, wird es für den Blinden dasselbe, wie wenn man dem Vogel die Flügel stutzt. Darin liegt überhaupt die größte Schwierigkeit in der Blindenerziehung und der ganzen Blindenfürsorge, daß der Blinde in die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens nicht recht hineinpaßt und doch wo möglich draußen im Leben einen Platz finden soll. Es fällt den meisten Menschen schwer, ausfindig zu machen, auf welche Weise sie den Blinden am besten stützen können, und es geschieht leicht, daß sie entweder zu viel oder zu wenig für ihn thun. Da liegt denn für den Blinden die Versuchung nahe, entweder zu empfangen ohne Hinreichendes dafür zu leisten, oder den Muth zu verlieren und den Kampf aufzugeben, weil ihm die nothwendige Stütze fehlt. Die beiden Gefühle, die dem Blinden gegenüber am leichtesten erweckt werden: Mitleid wegen des so augenfälligen Mangels und Zweifel an seiner Brauchbarkeit, sind zugleich diejenigen, welche ihm am meisten schaden. Mancher giebt dem Blinden gern ein reichliches Almosen, und manche Dorfbehörde findet es ganz in der Ordnung, wenn der junge Blinde zum Armenhause seine Zuflucht nimmt; werden aber, um die Selbstthätigkeit des Blinden zu fördern, an die Barmherzigkeit Ansprüche gemacht, dann ist es ein dorniger Pfad, den der Blinde betreten muß, dann kommt es darauf an, daß er einen festen Halt in sich habe, und daß das Ehrgefühl stark genug sei, um ihn im Kampfe aushalten zu lassen. Hier sind wir an den Hauptpunkt in der Blindenerziehung gekommen, an dasjenige, ohne welches die ganze Arbeit umsonst ist: – gelingt es nicht, eine starke Willenskraft und ein lebhaftes Ehrgefühl in dem jungen Blinden zu wecken, sodaß er es für eine Schande ansieht, auf Kosten Anderer zu leben, dann wird er eine Beute der zwischen dem Mitleide und der Geringschätzung geschlossenen Alliance.

Unter den Mitteln, welche die Blindenanstalt benutzt, um ihren Zögling dahin zu führen, sich in der Welt zu bewegen, muß man neben dem bildenden Einflusse der Schule und der praktischen Ausbildung in erster Reihe die Gymnastik nennen. Das blinde Kind, welches in der Heimath oft verwahrlost worden ist und das Beispiel Anderer nicht beachten kann, bedarf in höherem Grade, als das sehende Kind, die Anleitung und Uebung in Körperbewegungen und Haltung. Bei uns haben daher sowohl Mädchen wie Knaben gymnastische. Uebungen, die kleineren Knaben während der Wintermonate sogar täglich eine Stunde. Im Sommer wird ein Theil der Turnstunden für Knaben zum Schwimmunterricht verwendet. Auch Tanz gehört bei uns zum Turnunterrichte, und sämmtliche Zöglinge haben darin, in drei Abtheilungen (zwei für Knaben, eine für Mädchen) getheilt, je eine Stunde wöchentlich. Bei festlichen Gelegenheiten wird lustig getanzt, und dem, der es zum ersten Male sieht, ist es auffallend, zu beobachten, wie der ganze Saal von tanzenden Paaren wimmeln kann, ohne daß sie gegen einander stoßen; der Flug der Fledermäuse fällt einem dabei ein.

Wie oft hört man die Ansicht aussprechen, alle Blinden seien musikalisch! Das ist vollkommen irrig, da es viele Blinde giebt, die ganz ohne Sinn für Musik sind. Der Irrthum rührt aber davon her, daß es eine relativ große Anzahl von Blinden giebt, die nicht nur Freude daran haben, Musik zu hören, sondern auch Lust haben, selbst singen und spielen zu lernen, und denen es leicht fällt, sich Melodien und Harmonien anzueignen. Wenn der Blinde Musik treibt, giebt er sich ihr gewöhnlich mit ganzer Seele hin, und dieser Umstand kann, richtig benutzt, zur Erreichung guter Resultate wesentlich beitragen; andererseits aber liegt darin auch die Gefahr, daß der Blinde die Musik als Spielerei ohne rechten Ernst betreibt und daß er ohne hinreichendes Talent sie zu seinem Hauptzwecke macht. Ein vorzügliches Mittel, um den blinden Musikschüler selbstständig arbeiten zu lassen, ist die vom blinden Louis Braille in Frankreich erfundene Reliefpunktschrift, die nicht nur die Buchstaben, Interpunctionszeichen, Zahlen und mathematische Zeichen, sondern auch ein vollständiges Notensystem umfaßt.

Während diese Punktschrift vollkommen dazu ausreicht, eine für den Blinden leserliche Schrift darzustellen – zu schriftlichen Aufsätzen, Notizen, Correspondenz mit anderen Blinden, Abschreiben von Lesestücken, Gedichten und Musikalien und zum Componiren – bedarf es zur Correspondenz mit Sehenden einer andern Schrift. Für diesen Zweck wird bei uns der hier erfundene Guldberg’sche Schreibapparat benutzt. Auf diesem kleinen und billigen Apparate kann der Blinde mittelst einer Bleifeder eine kalligraphische und deutliche lateinische Schrift hervorbringen. Der Schreibunterricht auf diesem Apparate ist von pädagogischem Interesse, weil der Schüler daraus dieselben Buchstabenformen hervorbringt, die er bereits aus den Reliefbüchern kennt, und, um sie richtig zu bilden, sie sich vorher vergegenwärtigen muß – es ist also keine mechanische Arbeit, die er ausführt. Mittelst dieser Schrift kann der Blinde Rechnungen, Gesuche u. dergl. selbst schreiben; sie erleichtert in hohem Grade die Verbindung der Zöglinge mit der Heimath während ihres Aufenthaltes in der Anstalt, und nach dem Austritte aus derselben können sie, ohne Mittelspersonen zu gebrauchen, mit ihren früheren Lehrern und Lehrerinnen schriftlich verkehren. Ein solches eigenhändiges Schreiben tritt Einem ja auch auf eine weit persönlichere Weise entgegen, als ein von einer dritten Person geschriebener Brief. Der in Deutschland erfundene Hebold’sche Schreibapparat dient demselben Zwecke.

Es ist einleuchtend, daß es beim Handarbeits- und Handwerksunterrichte der Blinden einer wirklichen Anleitung bedarf, sodaß der Lehrling entweder nachfühlt, wie die Hand des Lehrers die Arbeit ausführt, oder seine Hand von ihm führen und leiten läßt; bisweilen aber bedarf es auch besonderer Hülfsmittel, damit der Blinde die Arbeit befriedigend ausführen kann. Wir sind dabei stets von dem Grundsatze ausgegangen, daß man dem Blinden nicht andere Hülfsmittel gewähren darf als solche, die er auch später benutzen kann. Darum verwerfen wir den Gebrauch von Modellen für den Korbmacher; er sowohl als der Seiler und Bürstenbinder benutzen ganz dieselben Geräthe wie sehende Handwerker; die Schuhmacher hingegen haben besondere Hülfsmittel, die hier construirt sind und mit denen jeder blinde Schuster beim Austritte aus der Anstalt versehen wird. Mittelst dieses Werkzeuges wird er in den Stand gesetzt, mit derselben Genauigkeit wie der sehende arbeiten zu können. Die Bürstenbinderei wird sowohl von Mädchen wie von Knaben gelernt und dient oft als Nebenarbeit für den blinden Musikschüler.

Unter den übrigen hier in der Anstalt betriebenen Arbeiten verdient angeführt zu werden, daß einige unter den Mädchen auf der Nähmaschine nähen und die feste Nadel selbst einzufädeln lernen. Für männliche Blinde ist das Clavierstimmen ein sehr zweckmäßiger Erwerb, welcher namentlich für blinde Organisten in Provinzialstädten einen guten Nebenverdienst abgiebt; mitunter wird es auch Haupterwerb des Blinden.

Nach beendigtem Tagewerke haben die Zöglinge von halb acht Uhr bis neun Uhr – vom Abendessen bis zur Abendandacht – frei. Nach der kurzen Abendandacht gehen die meisten Zöglinge zu Bette; nur den Aeltesten ist es erlaubt, bis zehn Uhr aufzubleiben, wenn sie sich still beschäftigen.

In den freien Abendstunden kann man, wenn man die Stuben [36] durchwandert, Einige beim Damen-, Schach-, Domino- oder Kartenspiel antreffen, während Andere mit Abschreiben einer Gedichtsammlung oder eines andern Buches oder mit Briefschreiben sich beschäftigen; Einige lesen, während Andere vorziehen, auf den Corridors oder im Garten zu spazieren und sich mit einander zu unterhalten, oder zu singen und zu spielen. Häufig wird ihnen auch vorgelesen, und die meisten älteren Zöglinge und viele unter den jüngeren ergreifen mit Eifer diese Gelegenheit, um für den fühlbaren Mangel an Reliefbüchern unterhaltenden Inhalts Ersatz zu finden. Wie hoch sie etwas Lectüre schätzen, geht auch aus dem Eifer hervor, mit dem sie sich durch Abschreiben eine kleine Büchersammlung zu verschaffen suchen, die sie aus dem Institute mitnehmen können; Alles, was sie auf diese Weise zuwege bringen, wird auf Kosten der Anstalt eingebunden.


Der Taubstumme.

Während ich in der Blindenwelt zu Hause bin, da ich in ihr lebe und wirke, komme ich zu den Taubstummen – das heißt im Allgemeinen Personen, die wegen Gehörmangels, nicht etwa zugleich durch organische Mängel der Sprechwerkzeuge, stumm sind – nur als Gast. Man wird es daher gewiß berechtigt finden, wenn ich mich bei Behandlung des Taubstummenunterrichts darauf beschränke, die verschiedenen Methoden, die zur Anwendung kommen, und das Verhältniß derselben zu den Fähigkeiten der Zöglinge und zu den Ansprüchen des Lebens darzustellen.

Bei der Aufnahme in’s Taubstummeninstitut ist das taubstumme Kind nur im Besitze eines sehr unvollkommenen Mittheilungsmittels, nämlich der natürlichen Zeichen- und Geberdensprache, mit der es sich in der Heimath hat behelfen müssen. Sie erinnert an diejenigen Zeichen, zu denen wir unwillkürlich greifen, wenn wir uns Jemandem in so großer Ferne mittheilen wollen, daß er uns nicht hören kann, oder wenn das Geräusch so stark ist, daß die menschliche Stimme nicht durchdringt, oder – wenn wir einem Tauben etwas mittheilen wollen und kein schriftliche Mittheilungsmittel bei der Hand haben.

Das taubgeborene Kind, welche in der ersten Zeit seines Lebens Wohlbehagen und Uebelbefinden auf dieselbe Weise wie andere Kinder geäußert hat, bildet sich späterhin eine eigene, aus Hand-, Arm- und Körperstellungen und -Bewegungen bestehende Vernunftsprache, durch welche es sich mit seiner Umgebung zu verständigen vermag. Sobald aber der kleine Taubstumme mit Fremden in Berührung kommt, fühlt er sich verlassen und allein. Schon im Spiele mit anderen Kindern hat er häufig das Unglück, nicht verstanden zu werden, und was muß er von den heiteren Kindern denken, die mit so großer Leichtigkeit einander verstehen, ohne solche Zeichen zu gebrauchen, wie er sie anwenden muß! Das Wort, nicht nur der Laut der Sprache, sondern die menschliche Sprache überhaupt ist Etwas, dessen Existenz er nicht ahnt. Wie ist es möglich, daß das taubstumme Kind sich in solchen Umgebungen zufrieden fühlen kann! Und es wird noch schlimmer, wenn es dasjenige Alter erreicht hat, in welchem andere Kinder anfangen, in die Schule zu gehen; es sieht sie lesen und schreiben, begreift aber nicht, wozu; es will gern dasselbe wie andere Kinder thun und lernen, ist aber davon ausgeschlossen und empfängt auf diese Weise ein lebhaftes und in hohem Grade drückendes Gefühl davon, daß es von anderen Kindern verschieden ist. Hierzu kommt noch das Bedürfnis, eine Menge Fragen beantwortet zu erhalten und die Sehnsucht nach steter Beschäftigung.

Bleibt der Taubstumme ohne Belehrung, so wird er stets auf der tiefsten Stufe geistiger Entwicklung verharren. Nicht so, wenn er noch jung in’s Institut aufgenommen wird. Hier eignet er sich zunächst sehr bald die übliche Geberdensprache an, eine symbolische Sprache, welche mit der Natursprache das gemein hat, daß sie aus Hand- und Körperstellungen besteht, aber darin von derselben verschieden ist, daß es dem Einzelnen nicht freisteht, die Zeichen willkürlich zu wählen, weil bereits die einzelnen Gegenstände, Eigenschaften, Handlungen und Begriffe durch bestimmte Stellungen und Bewegungen der Körpertheile, hauptsächlich der Hände, festgestellt sind. Es giebt Zeichen für Zeit- und Raumbestimmungen, für die Wortbiegungen, wie sie in Rede und Schrift vorkommen, etc..

Mancher Gegenstand wird durch eine Andeutung oder ein flüchtig skizzirtes Bild desselben bezeichnet, z. B. „Mann“ dadurch, daß die geballte rechte Hand gegen die Stirn gehalten wird, „Weib“, indem die hohle Hand auf die Brust gelegt wird. Als Beispiele von der Art und Weise, wie man die Eigenschaften der Dinge bezeichnet, wollen wir folgende Zeichen anführen: „schwarz“, eine Bewegung mit der Hand am Gesichte vorüber; „blind“, das Schließen der Augen, indem die rechte Hand das rechte Auge verschossen hält; „blau“, eine Bewegung mit der Hand aufwärts in einem Bogen (Andeutung des blauen Himmels); „ich“, bezeichnet man dadurch, daß man auf sich selbst deutet; „du“, indem man auf den Angeredeten deutet etc..

Diese Geberdensprache, welche – obgleich sie nicht zur Schriftsprache ausgebildet ist – zunächst an die Hieroglyphenschrift der alten Aegypter und an die symbolischen Zeichen der Chinesen erinnert, sagt dem Taubstummen sehr zu und bleibt neben und in Verbindung mit der künstlich erlernten Laut- und Schriftsprache ein vorzügliches Hülfsmittel im täglichen Verkehre.

Der schwerste Theil des Taubstummenunterrichts ist begreiflicher Weise die Aneignung der mündlichen Rede und der Schriftsprache. Wie kann der Taubgeborene, der von einer Lautsprache keine Vorstellung hat, seine Gedanken in Wörtern ausdrücken und dieselben aus Buchstaben zusammensetzen lernen? Das geschieht gewöhnlich auf folgende Weise:

Zuerst lernt das Kind zwischen Ausathmen und Hervorbringen der Stimme zu unterscheiden. Jenes bemerkt der Zögling, indem er die Kehrseite seiner Hand vor den Mund des Lehrers hält und das Ausathmen nachahmt, während er die andere Hand vor seinen eigenen Mund hält; das Hervorbringen der Stimme aber bemerkt er, indem er die Kehrseite seiner einen Hand gegen den Kehlkopf des Lehrers, und die Kehrseite seiner anderen Hand gegen seinen eigenen Kehlkopf hält und nun die Vibration nachzuahmen sucht, die er in der Kehle des Lehrers fühlt.

Die Unterscheidung verschiedener Laute wird dadurch erzielt, daß der Schüler die Mundstellungen des Lehrers nachahmt, indem er seine Hände bei den Mitlauten beständig vor seinen eigenen Mund und bei den Selbstlauten an die Kehle des Lehrers hält. Die Anwendung eines Spiegels, in welchem der Schüler seinen eigenen Mund und den des Lehrers gleichzeitig sehen kann, ist ein vorzügliche Hülfsmittel bei dem ersten Sprechunterrichte, sowie auch verschiedene Apparate benutzt werden, um die Sprachorgane des Schülers in die rechten Stellungen zu bringen. So lernt der Schüler allmählich alle Buchstaben kennen, entweder nur die geschriebenen und gedruckten und die Zeichen des Handalphabetes [1] (wie nach der Zeichenmethode – der französischen Methode) oder zugleich die Lautbuchstaben (wie nach der Lautmethode – der deutschen Methode), während gleichzeitig durch Anwendung der Buchstaben zur Bildung von Wörtern, deren Bedeutung man mittelst Bildern erklärt, der Vorstellungskreis erweitert wird.

Von Wörtern, welche Gegenstände und deren Eigenschaften und Zustände bezeichnen, geht der Lehrer zu Sätzen über, indem die Schüler dasjenige benennen lernen, was Personen, Thiere oder Dinge thun, oder in welchem Zustande sie sich befinden; Alles wird durch bildliche Darstellungen erläutert.

Wenn man bedenkt, auf welche Weise das hörende Kind sprechen lernt, wie die Sprache gewissermaßen sprießt und sich entfaltet, blüht und Früchte trägt, wie die Schwierigkeiten der Aussprache allmählich besiegt werden und der Wortvorrath sich bereichert, dann wird man wahrnehmen, daß die beiden wichtigsten Factoren dabei die Nachahmung und die Wiederholung sind. Und wie natürlich fällt die Nachahmung, wie leicht kommt die Wiederholung! Ja, und wie früh kommt nicht diese Aneignung! Und wie gut versteht die liebevolle Mutter instinctmäßig gerade dasjenige Verfahren zu wählen, das für jeden einzelnen Fall das beste ist, sich nach den Fähigkeiten des Kindes zu richten und bei Schwierigkeiten den Muth aufrecht zu erhalten! Und späterhin: wie strömt einem die Sprache überall entgegen, und wie oft hört man dieselben Ausdrücke, dieselben Beziehungen, dieselben Wendungen und Redensarten, sodaß sich diese wohl zuletzt im Gedächtnisse befestigen und dermaßen Wurzel schlagen müssen, daß sie zum geistigen Eigenthum werden! Aber der Taubstumme? Wie ist seine Stellung diesem reichen Vorrathe gegenüber? Für ihn ist es eine fremde Sprache, die er sich mühsam aneignen muß, ohne sich auf die Analogie stützen zu können, die [37] für denjenigen vorhanden ist, welcher eine Lautsprache, die seine Muttersprache ist, sprechen und lesen kann und nun, an diese sich haltend, eine andere Sprache lernt. Und wie spät beginnt diese Aneignung beim taubstummen Kinde im Vergleich mit dem hörenden! Und nun die Wiederholung, die das Gedächtniß entwickeln und stützen soll; wie schwer ist es nur einigermaßen die natürliche Wiederholung zu ersetzen, die das Leben dem glücklichen Hörenden darbietet!

Man darf sich darum auch nicht wundern, wenn die Sprache des Taubstummen armselig und mangelhaft ist, und seine Weise, sich auszudrücken, häufig eine unbeholfene und kindliche bleibt. Gleichzeitig mit dem Erlernen der Lautsprache lernt der Taubstumme vom Munde des Redenden abzulesen, das heißt an seinen Lippen zu sehen, was er spricht. Es ist offenbar, daß Uebung darin das beste Mittel ist, um im Gebrauche der Rede und überhaupt in sprachlicher Beziehung tüchtig zu werden. Wenn dieser Unterricht, wie es stets geschieht, durch Lesen von Büchern unterstützt wird, und wenn die Wahl der Lesestücke dem Wortvorrathe und der Entwickelungsstufe des Zöglings angepaßt wird, kann man sehr günstige, ja sogar erstaunenswerthe Resultate erreichen.

Hat der Taubstumme sich die Lautsprache angeeignet, dann tritt die Zeichensprache in den Hintergrund, sodaß sie nur als Nothhülfe benutzt wird, wenn die andern Mittheilungsmittel nicht ausreichen. Dahingegen benutzen die Taubstummen die mündliche Rede als eine Zeichensprache, indem sie oft unter einander mit den Lippen und den andern Mundtheilen ganz lautlos sprechen. Die Geberdensprache aber geben sie nie ganz auf, und es ist merkwürdig zu sehen, mit welcher Freude die Taubstummen sich dieser etwas schwebenden, aber poetischen Sprache hingeben, die recht eigentlich die Muttersprache des Taubstummen ist.

Ob man auch der größtmöglichen Anzahl der Taubstummen zur Lautsprache Zutritt giebt und sie das Ablesen vom Munde lehrt, so wird dich stets eine Anzahl solcher zurückbleiben, die sich diese unschätzbaren Vortheile nicht erwerben können, und die sich darum mit der Fingersprache und einer kärglichen schriftlichen Mittheilung begnügen müssen. Zu diesen gehören nicht nur die blödsinnigen Taubstummen, deren viele es natürlich nicht einmal so weit bringen, sondern auch viele schwachbegabte, taubgeborene Kinder, die, obwohl nicht besonders abnorm in geistiger Beziehung, doch derjenigen Fähigkeiten und derjenigen Arbeitskraft entbehren, die erforderlich sind, um ein so reichhaltige Material, wie es die Laut- und Schriftsprache darbietet, sich anzueignen. Diese Kinder müssen in einer besonderen Anstalt oder Abtheilung unterrichtet werden.

Die größte Bedeutung für den Taubstummen hat die Aneignung der Lautsprache selbstverständlich in seinem Verhältnisse zu Nichttaubstummen; die Auswege, zu denen er greifen muß, um den Mangel derselben hier zu ersetzen, sind sehr beschwerlich. Entweder muß man Frage und Antwort auf ein Stück Papier oder eine Tafel schreiben, oder man muß die Schriftzüge in die Luft, in die Hand oder auf den Rücken schreiben und den Angeredeten so durchbuchstabiren lassen.

Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß taubgeborene oder in frühester Jugend vollkommen taub gewordene Kinder am leichtesten und sichersten im Ablesen vom Munde sich Uebung erwerben, während umgekehrt eine früher durch's Gehör erreichte Uebung im Reden, selbst dann, wenn diese zum Theil verloren ist, doch in Bezug auf die Erwerbung der Lautsprache durch künstliche Mittel eine vorzügliche Hülfe ist, so wie auch ein geringer Rest von Gehör wesentlich zur richtigen Auffassung der Eigenthümlichkeiten der Lautsprache beitragen kann.

[49]
Der blinde Taubstumme.


Welch Unglück, wenn ein Kind blind und zugleich auch taub ist! Und doch ist es möglich, auch diesen Aermsten eine menschenwürdige Existenz zu schaffen, indem moralische und religiöse Begriffe und Brauchbarkeit zu irgend einer Wirksamkeit ihnen beigebracht werden können.

Da die Anzahl solcher Kinder nicht groß genug ist, um die Errichtung besonderer Anstalten zu veranlassen, sind die einzelnen Fälle, in welchen dieselben Unterricht erhalten haben, entweder in Blinden- oder in Taubstummenanstalten vorgekommen. Einige dieser Versuche sind sehr bekannt geworden, da sie in pädagogischer und psychologischer Beziehung von nicht geringem Interesse sind. Die am meisten bekannten sind: die beiden im Blindeninstitute zu Boston unter Leitung Dr. Samuel Howe’s erzogenen taubstummen Blinden, namentlich die oft genannte Laura Bridgman (über deren Unterricht die „American notes“ von Charles Dickens interessante Mittheilungen enthalten), der im Blindenasyle zu Lausanne von Director Hirzel ausgebildete taubstumme blinde Kunstdrechsler Edouard Meystre, der von Director Borg im Manilla-Institute bei Stockholm unterrichtete Korbmacher Magnus Olsson und der vom verstorbenen Blindenanstaltsdirector Dr. Georgi in Dresden zur Wirksamkeit und zum Verkehr mit Andern angeleitete Max Alfons, der alle Sinne bis auf den Tastsinn verloren hatte.

Beim Unterricht Edouard Meystre’s, mit dem ich mich während eines Aufenthaltes in Lausanne 1854 näher bekannt machte, benutzte man nicht nur die Fingersprache, welche der Schüler mittels des Tastsinnes auffaßte, sondern zugleich die mündliche Rede, indem der Lehrer seine Sprachwerkzeuge, sowohl Kehle wie Mund, vom taubstummen Blinden befühlen ließ, damit dieser bemerken konnte, auf welche Weise die verschiedenen Laute hervorgebracht werden, und ihn so dahin brachte, daß er dieselben nachahmte und ein seiner Umgebung verständliches Französisch redete. Die Consonanten sprach er am besten aus; die Vocale von einander zu unterscheiden, fiel ihm schwer. Da er wegen seiner Blindheit nicht wie andere Taubstumme von den Lippen ablesen konnte, mußte man, wenn man sich mit ihm unterhielt, die Fingersprache benutzen oder mit dem Finger ihm auf den Rücken schreiben. Er las und schrieb erhabene Schrift wie ein Blinder, orientirte sich mittels des Tastsinnes und machte Handarbeit auf dieselbe Weise wie die Blinden, in geistiger Beziehung aber hatte er mit den Taubstummen am meisten gemein. Unter dem Titel „A happy man“ (ein glücklicher Mensch) hat der schweizerische Naturforscher Professor Morlot einen Artikel über ihn in Chamber’s Journal für Juli 1855 veröffentlicht.

Eines eigenthümlichen Falles aus meinem Erfahrungskreise sei hier gedacht. Ein siebenjähriges Mädchen verlor auf einmal Gesicht und Gehör und war nahe daran, taubstumm zu werden, indem seine Rede beständig undeutlicher wurde, sodaß nur die Mutter es einigermaßen verstehen konnte. Das Kind war in beständiger Unruhe, sprach viel und schnell und fühlte starkes Verlangen nach Beschäftigung und geistiger Nahrung. Da brachte die Mutter dasselbe zu mir und fragte, was hier zu thun sei. Das Erste, worauf ich die Aufmerksamkeit richtete, war, dem Kinde die Rede zu retten und womöglich zu verbessern. Da es wegen der Taubheit den gewöhnlichen Regulator der Aussprache, das Ohr, vermißte, und wegen der Blindheit des von den Taubstummen benutzten Hülfsmittels, die Bewegungen des Mundes zu beobachten, entbehrte, ergriff ich das einzige mir zu Gebote stehende Mittel, nämlich das Lesen vom Reliefdruck. Indem das Mädchen sich durch die Wörter hindurch buchstabirte und auf diese Weise deren Bestandtheile im Bewußtsein festhielt, wurde es allmählich dahin gebracht, daß es die Wörter deutlicher aussprach und von einander trennte. Zugleich war ihm durch das Relieflesen zu einer neuen und nützlichen Beschäftigung die Möglichkeit geworden, welche es mit wahrem Entzücken ergriff.

Ich habe bisher nur von Blinden und Taubstumme gesprochen. In das Capitel der „abnormen Kinder“ aber gehört noch eine Kategorie, der ich im Anschlusse an das Bisherige einen letzten Abschnitt widmen möchte; ich meine die Schwachsinnigen.


Der Schwachsinnige.


Lange nachdem man angefangen hatte, für die Erziehung und den Unterricht taubstummer und blinder Kinder Etwas zu thun, hatte man noch nicht daran gedacht, daß die Gesellschaft auch dem schwachsinnigen Kinde gegenüber Pflichten habe. Man ließ (und läßt zum Theil noch heutzutage) solche arme Kinder in einem völlig verwahrlosten Zustande aufwachsen, sodaß sie oft in einer Irrenanstalt oder in einem Unterkunftshause für arbeitsunfähige Menschen ihr Leben endigten. Es giebt Gegenden, wo Blödsinnige und Cretins schlechter behandelt werden als irgend ein Thier, aber selbst da, wo dies nicht der Fall, ist es schon traurig genug, daß menschliche Wesen ohne geistige Entwickelung, ohne Begriff von etwas Höherem als den materiellen Seiten des Lebens, oder wenigstens ohne die in ihnen niedergelegten Fähigkeiten und Anlagen gebrauchen zu können, das Leben durchwandern sollen. Indeß ist man doch in mehreren Ländern jetzt so weit gekommen, daß eine große Anzahl schwachsinniger Kinder Unterricht bekommt, und bei uns sucht man in neuerer Zeit dahin zu wirken, daß der Staat sich der Sache annehme, um allen schwachsinnigen Kindern im Lande eine ihrem Zustande angepaßte Behandlung [50] zu verschaffen, mit dem Zwecke, ihre physischen und geistigen Kräfte zu wecken, zu stärken und zu entwickeln.

Wie erreicht man diesen Zweck? Durch welche Mittel gelingt es, schwachsinnige Kinder zu entwickeln? Ganz im Allgemeinen kann man sagen: theils dadurch, daß man diejenigen Mittel, durch welche normale Kinder sich entwickeln, verstärkt, theils dadurch, daß man geringere Ansprüche an das Kind stellt und überhaupt einen ganz anderen Standpunkt einnimmt als den, welchen man einem geistig gesunden Kinde von demselben Alter gegenüber einzunehmen pflegt, sodaß hier die Fortschritte so zu sagen auf der Goldwage gewogen werden, und selbst ein geringer Fortschritt mit Dank angenommen wird, wenn er nur von gutem Willen und ein wenig Selbstthätigkeit zeugt. Der Erzieher muß sich beständig erinnern, daß das Kind, andern gegenüber, so unendlich weit zurück ist, daß er auf die gewöhnlichen Voraussetzungen gar nicht bauen kann, sondern sich so zu sagen bei der Arbeit vorwärts fühlen muß. Oft kommt es hauptsächlich darauf an, die Aufmerksamkeit des Kindes zu wecken, es aus einem durchaus willenlosen Schlaffheitszustande herauszureißen, und es ist nun Aufgabe des Erziehers, die Mittel dazu zu finden; bald sind es starke Farben, bald Töne und andere Laute, bald Gegenstände, die auf den Tastsinn wirken, je nach dem Zustande des Kindes.

Während viele schwachsinnige Kinder normalen Altersgenossen zu gleichen scheinen, nur daß sie sich geistig viel langsamer entwickeln, giebt es auf der andern Seite auch viele, deren geistiger Zustand ein so niedriger ist, daß sie auf dem Entwickelungsstandpunkte kleiner Kinder bleiben, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, daß der Körper wächst und daß alles das, was beim kleinen Kinde so natürlich ist, daß es keinen Anstoß erweckt, beim großen idioten Knaben oder Mädchen uns entweder abstoßend oder lächerlich erscheint. Aber zwischen diesen beiden äußersten Punkten befindet sich eine zahlreiche Schaar schwachsinniger Kinder in den verschiedenartigsten Zuständen, welche durch anhaltende und geduldige Einwirkung nach und nach es so weit bringen können, daß sie in gewöhnlichen Schulkenntnissen Unterricht empfangen und zur Confirmation vorbereitet werden können.

Eine hervorragende Rolle spielt der Sprechunterricht. Häufig ist das schwachsinnige Kind ganz ohne Sprache, und noch häufiger sind diejenigen Sprachlaute, die es hervorbringt, höchst unvollkommen; es kommt deshalb darauf an, das Kind in der Nennung der Gegenstände zu üben. Indem es in Verbindung mit dem Worte die Sprache selbst kennen lernt, wird nach und nach sein Vorstellungskreis erweitert, und indem es, je nach dem verschiedenen Aussehen und der Anwendung der Dinge, unter denselben unterscheiden lernt, wird sein Verstand geübt. Gewiß bedarf es oft einer häufigen Wiederholung, um dem Gedächtnisse des Kindes das Erlernte einzuprägen, und Vieles, das sonst jedes Kind „von selbst lernt“, nimmt hier den Charakter eines Lehrgegenstandes an. Eine der wichtigsten Eigenschaften des Lehrers ist in diesem Falle die Gabe, selbst das Einfachste und Alltäglichste unterhaltend und abwechselnd zu machen, um den Schüler immer anzuregen und nicht zu ermüden. Darum kann die untere Abtheilung einer Idiotenanstalt passend die Spielabtheilung genannt werden, wie dies in den hiesigen Anstalten dieser Art der Fall ist.

Indem nun das schwachsinnige Kind allmählich in den Besitz der Sprache kommt, fühlt es sich seinen Umgebungen näher, und da die geistige Entwickelung mit der Aneignung der Sprache gleichen Schritt hält, erhält es zugleich ein menschlicheres Aussehen. Es giebt sogar Fälle, in welchen sich dies in der Form des Kopfes zu erkennen giebt, indem die inneren Organe, um sich Platz zu verschaffen, während ihres Entwickelungsprocesses dermaßen auf die äußeren Theile einwirken, daß die Stirn höher wird, der Kopf eine edlere Form erhält und gleichzeitig das Gesicht einen intelligenteren Ausdruck annimmt.

Wenn das schwachsinnige Kind sprechen gelernt hat und etwas Ausdauer und Aufmerksamkeit zeigt, dann beginnt der Schulunterricht, und man trifft oft sehr fleißige und eifrige Schüler in einer aus schwachsinnigen Kindern bestehenden Classe, weil auch hier der Wetteifer eine wichtige Rolle spielt.

Daß Schwachsinnige zu tüchtigen Arbeitern herangebildet werden können, davon habe ich reiche Beispiele gesehen. Ich habe sie als Schuster und Schneider, Tischler und Korbmacher, Bürstenbinder und Mattenflechter arbeiten, in Feld und Garten pflügen und graben, pflanzen und säen, das Vieh hüten, die Kranken und Schwachen und kleine Kinder warten und sogar das Setzen der Typen besorgen sehen. Sehr lehrreich in dieser Beziehung ist die große, vorzüglich eingerichtete Idiotenanstalt Earlswood bei London. Es giebt genug Arbeiten, die sich für den Schwachsinnigen eignen, er bleibt aber gewissermaßen ein Kind sein ganzes Leben hindurch, und ihm fehlt darum eine wesentliche Bedingung, um ein selbstständiger Mensch zu werden. Dieser Umstand ist von der größten Bedeutung, wenn man sich klar machen will, auf welche Weise man am besten für die Schwachsinnigen sorgen könne.

Eine allgemeine Regel für die Idiotenerziehung zu geben, oder eine Methode aufzustellen, ist unmöglich; denn die schwachsinnigen Kinder sind unter sich so verschieden, daß jedes einzelne Individuum eine besondere Aufgabe darbietet. Deshalb tritt auf der untersten Stufe der Entwicklung die individuelle Behandlung in den Vordergrund, und erst später, wenn die allgemeinen Bedingungen eines regelmäßigen Unterrichts in einem gewissen Grade vorhanden sind, kann man daran denken, die Kinder classenweise zu unterrichten. Diejenigen Disciplinen, in welchen die Schwachsinnigen am frühesten gemeinschaftlich unterrichtet werden können, sind Gymnastik und Gesang. Diese beiden Lehrfächer haben darum große Bedeutung in der Idiotenerziehung. Die Gymnastik ist, richtig angewandt, nicht nur ein Mittel zur Entwickelung des Körpers und zur Uebung in Disciplin und Aufmerksamkeit, sondern zugleich eine gute Verstandesübung, indem das Kind stets einen deutlichen und sinnlich hervortretenden Gedanken an das Commandowort knüpfen muß; wenn irgendwo Wort und Gedanke leicht mit einander zu verbinden sind, dann muß es da sein, wo der Gedanke auf Befehl des Wortes zur That wird. In der obengenannten Idiotenanstalt bei London sah ich eine Reihe von Uebungen, aus einer Combination von Verstandes-, Rede- und Körperübungen bestehend, indem die Lehrerin, gleichzeitig mit dem gegebenen Befehle zu einer bestimmten Bewegung oder Stellung, die entsprechende Bewegung selbst machte, worauf die Kinder alle auf einmal diese nachmachten, indem sie auch die begleitenden Worte nachsagten. In vielen Fällen wirkt die Gymnastik auf schlaffe Naturen belebend ein.

Es giebt nicht wenig Beispiele davon, daß Idioten für Musik ein offenes Ohr haben, selbst dann, wenn sie im Uebrigen, sowohl in Verstand wie Rede, weit zurückstehen. Nicht nur die Gabe, Melodien zu behalten und sie zu singen, trifft man häufig, sondern auch Sinn für Harmonien kommt nicht selten vor, sodaß die Schwachsinnigen zweistimmig singen.

Die dem Idiotenlehrer gestellte Aufgabe ist sehr verschieden, je nachdem das Kind, das er vor sich hat, in Beziehung auf Entwickelung und Geistesfähigkeiten mehr oder weniger vom normalen Kinde entfernt ist. Es giebt Fälle, wo die Aufgabe von derjenigen, die jedem Lehrer gestellt ist, nur darin verschieden ist, daß man mehr arbeiten und weniger fordern muß, es giebt aber andere Fälle, wo man sozusagen bis auf den Grund der Seele hinabdringen muß, um für eine weckende und belehrende Einwirkung Anknüpfungspunkte zu finden, wo man lange prüfen und suchen muß, bevor es Einem gelingt, sich mit dem Kinde in Wechselwirkung zu setzen. Und wenn man endlich so weit gekommen ist, daß der Geist des Kindes etwas angeregt ist, entdeckt man die eine Abnormität bei diesem, die andere bei jenem, ein Mißverhältniß unter den verschiedenen Geistesfähigkeiten in Beziehung auf Bildungsfähigkeit und Zugänglichkeit, welches ein fortwährendes Nachdenken über die Mittel und eine strenge Selbstkritik erheischt. Hierzu kommt noch die Abnormität des Seelenlebens, die dem Lehrer schwierige pädagogische Aufgaben stellt, indem er durch Anwendung der gewöhnlichen Erziehungsmittel den Zweck verfehlen würde und, um den rechten Weg zu finden, sich nicht nur die Behandlung eines weit jüngeren Kindes vor Augen halten, sondern das relativ stärker entwickelte Gemüthsleben besonders berücksichtigen muß.

Es kommt darum bei Erziehung tiefstehender Idioten mehr als bei irgend einer andern Lehrerwirksamkeit auf eine besondere Begabung an, sodaß man sagen kann, daß nicht gar Viele für diese Wirksamkeit sich eignen und dabei aushalten. Der vor Kurzem verstorbene Philanthrop Dr. Howe in Boston hat irgendwo geäußert, daß es mit der Zeit schwerer sein würde, eine hinlängliche [51] Anzahl von Lehrern für idiote Kinder, als von Professoren für unsere Universitäten zu finden.[2]


  1. In deutschen Anstalten wird das Handalphabet nicht mehr benutzt.
    Die Redaction.
  2. In vorstehendem Artikel ist Deutschlands nur beiläufig gedacht worden. Dieses liegt in der Natur der Arbeit, deren Zweck es war, nicht eine Darstellung der verschiedenen Bestrebungen, sondern eine allgemeine, Interresse erregende Schilderung zu geben. Wir beabsichtigen in einem späteren Artikel auf diese Angelegenheit zurückzukommen und bemerken jetzt nur noch, daß die „Gartenlaube“ bereits früher wiederholt derselben gedacht hat. Das Taubstummenbildungswesen wurde behandelt in den Artikeln: „Stille Leute“, Jahrg. 1861, S. 599, “Aus der Welt des Schweigens“, Jahrg. 1869, S. 40, „Samuel Heinicke“, Jahrg. 1870, S. 85; die Blindenerziehung in dem Artikel „Die Blindenanstalt in Dresden“, Jahrg. 1860, S. 427, vergl. auch „Der Apostel der Blinden (Friedrich Scherer)“, Jahrg. 1859, S. 732; das Idiotenbildungswesen in dem Artikel über Hubertusburg, Jahrg. 1858, S. 154. Die Red.