Alexander der Zweite, der „Czar-Befreier“

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Titel: Alexander der Zweite, der „Czar-Befreier“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 235–238
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Alexander der Zweite, der „Czar-Befreier“.

Das furchtbare Ereigniß der Ermordung des Kaisers von Rußland, Alexander’s des Zweiten, am 13. März d. J. hat in dem ganzen civilisirten Europa einen Schrei des Entsetzens und des Abscheus hervorgerufen. Alles, mit einziger Ausnahme jener Partei, welche die Anwendung von Gift und Dolch, von Petroleum und Dynamitbomben zu den unveräußerlichen Menschenrechten zählt und daher jede That der Zerstörung, wenn sie gelingt, verherrlicht, Alles wendet sich schaudernd ab von einer Denk- und Handlungsweise, deren verbrecherische Verruchtheit den ganzen Bestand der Gesellschaft untergräbt und nur von ihrer widerlichen, im Dunkel schleichenden Feigheit überboten wird.

Durch Meuchelmord ist noch niemals ein Volk wirklich frei, groß oder glücklich geworden. Die Dolchstöße, die Cäsar's Brust durchbohrten, haben die Freiheit Roms nicht gerettet. Der berühmte Tellschuß in die Brust des Tyrannen Geßler[1] hat die Waldstädte nicht von dem Joche der Vögte erlöst. das that das Rütli, das mannhafte Zusammenstehen einer ganzen Bevölkerung für ihre Freiheit; das thaten die Kämpfe bei Morgarten und Sempach und Arnold von Winkelried's opfermuthiger Heldentod. Sands blutige Verirrung hat an Deutschland, des Herzogs von Berry Ermordung durch Louvel’s Dolch an Frankreich der Reaction unschätzbare Dienste geleistet. Die Sache der Freiheit war in Italien 1848 von dem Augenblicke an verloren, wo der päpstliche Minister Rossi auf der Freitreppe des Palastes Cancellaria meuchlings getroffen hinsank.

Die Erhebung eines ganzen Volkes oder doch des größeren Theiles eines solchen, selbst wo sie zur gewaltsamen Revolution ausschlägt und „zum letzten Mittel, zum Schwerte“, greift, wird immer auf bestimmte Ziele gerichtet sein, über deren Berechtigung, auch wenn man das Mittel verwirft, sich mindestens streiten läßt: bei dem politischen Meuchelmorde ist in der Regel der Zweck ebenso verwerflich wie das Mittel, oft ist es ein Einzelner, höchstens ist es eine kleine Minorität, die ihren schlechten Leidenschaften, der Rache, dem Fanatismus oder einer maßlosen Verblendung, auf diesem Wege Befriedigung schaffen will.

Eine gute und gerechte Sache wendet sich an die öffentliche Meinung und sucht diese für sich zur gewinnen um so, wenn auch langsam, zu siegen eine schlechte flieht in das Dunkel des Geheimnisses, des Complots und greift zum Dolch oder zur Orsinibombe. Neben einzelnen politischen Meuchelmorden die im mißverstandenen Interesse der Freiheit vollzogen wurden, zählt die Geschichte ebenso viele oder noch mehrere auf, wo der Dolch des Mörders nicht blos gegen die Moral, sondern auch gegen den Fortschritt des Menschengeschlechts und der Cultur sich richtete. Der edle Befreier der Niederlande, Wilhelm von Oranien, fiel durch die Kugel eines fanatischen Mönchs; der gute und freisinnige Körnig Heinrich der Vierte vorn Frankreich verblutete unter Ravaillac’s Dolch, denn die Jesuiten geschliffen; Gustav der Dritte von Schweden ward das Opfer einer Verschwörung des Adels, dessen Uebermacht und Uebermuth er im Interesse des Landes gebrochen hatte.

Und Alexander der Zweite? Es heißt, er sei von den Nihilisten. ermordet worden, weil er seinem Reiche eine Verfassung vorenthalten. Aber war es wohl für ihn eine Ermuthigung, in seinem mit Eifer begonnenen Reformwerk fortzufahren, wenn eine der freisinnigsten und – in Anbetracht des Bildungsstandes Rußlands – vielleicht kühnsten seiner Reformen, die Einrichtung öffentlicher Gerichte mit Geschworenen, unter dem Drucke des Nihilismus zu solchen Ergebnissen führte, wie die Freisprechung der ihrer That offen geständigen Meuchelmörderin Sassulitsch?

[236] Nein! So wenig die Proclamirung der Republik in Frankreich im Jahre 1870 mit ihren doch wahrhaftig hinlänglich ausgedehnten Freiheiten die Gräuel der Commune von 1871 und die noch immer fortdauernde Existenz einer auf den Umsturz der ganzen dortigen Gesellschaftsordnung speculirenden Partei hat hindern können, ebenso wenig und noch viel weniger würde die Einführung einer Reichsverfassung und parlamentarischer Einrichtungen in dem halbeuropäischen und halbasiatischen Rußland mit einem Schlage die geheimen Verschwörungen hinweggebannt und aus den Nihilisten gute Staatsbürger, aus den Verschwörern Männer einer gedeihlichen, parlamentarischen und politischen Thätigkeit gemacht haben. Daß also Alexander der Zweite durch Verleihung einer Verfassung die Nihilisten hätte versöhnen oder doch unschädlich machen können, das erscheint uns als eine optimistische Auffassung der Sachlage. Eine andere Frage ist: ob er nicht, trotz der Nihilisten, einen solchen Schritt hätte thun sollen. Ob dazu der rechte Zeitpunkt gekommen, ob der Geist des russischen Volkes dafür reif und vorbereitet genug war, um gedeihliche Wirkungen von der Einführung einer den westeuropäischen ähnlichen Verfassung hoffen zu lassen – darüber enthalten wir uns eines Urteils; denn ein solches kann nur abgeben, wer die russischen Zustände genau kennt.[2]

Daß Kaiser Alexander der Zweite schon zu Anfang der sechsziger Jahre den Gedanken einer Verfassung und Vertretung für das große russische Reich ernstlich in Erwägung gezogen, dafür liegen ganz bestimmte Anzeichen vor.[3] Leider wurde er nur zu bald davon abgelenkt, zuerst durch den Polen-Aufstand, dann durch die mehr und mehr, zuerst in den planmäßigen Brandstiftungen in den großen Städten, hervortretenden Symptome jener im russischen Volke weitverbreiteten revolutionären Strömung. Doch hat er im letzten Jahrzehnt seiner Regierung sich dem Gedanken einer Verfassung insofern wieder genähert, als er Vertretungen der einzelnen Gouvernements einrichtete, zunächst allerdings mehr für die Zwecke der wirthschaftlichen Selbstverwaltung, aber doch wohl auch im Hinblick auf eine daraus später zu bildende gemeinsame Vertretung. Allein die beklagenswerte Theilnahmlosigkeit, welche dieser Einrichtung gegenüber der wichtigste Stand im Reiche, der Adel, zeigte, konnte ihn leider kaum ermuthigen, auf diesem rühmlichen Wege weiter zu gehen. Und so blieb der Gedanke einer Krönung der anderen von Alexander dem Zweiten vollzogenen politischen und socialen Reformen unausgeführt. Noch dringender und wirksamer übrigens, wenn auch wohl nicht minder schwierig, als die Einführung moderner Repräsentativformen, wäre – nach den eigentümlichen Verhältnissen Rußlands – eine durchgreifende Reform der tief schadhaften Verwaltungszustände des Reichs gewesen. Wenn man an Friedrich’s des Großen „aufgeklärten Despotismus“ erinnert hat, der sich darin so segensreich erwiesen, daß des Königs überallhin reichender scharfer Blick und starker Arm die Ausschreitungen des Beamtenthums, Bestechlichkeit, Ausbeutung des Volks, Ungerechtigkeit, Parteilichkeit, Willkür, so erfolgreich zu verhüten gewußt, so ist freilich zu bedenken, daß, was in einem Staate von 5 bis 7 Millionen Einwohnern und auch da vielleicht nur einem Friedrich dem Großen möglich war (selbst ein Joseph der Zweite scheiterte an dem gleichen Beginnen), in einem so ungeheuren Reiche wie Rußland mit einer Bevölkerung von 70 bis 80 Millionen und einer an Sitten und Bildung so ungleichartigen Gesellschaft ganz andern Schwierigkeiten begegnen mußte. „Der Himmel ist hoch und der Czar weit“ heißt ein altes russisches Sprüchwort. Das Auge des Selbstherrschers in Petersburg reicht nicht so leicht in alle die weiten Räume seines Reichs, und selbst der kräftigste Wille des scheinbar Allmächtigen mag erlahmen in dem Versuche, seine noch so wohlmeinenden Absichten (und gewiß waren dies die des ermordeten Kaisers) auch den vielen tausend höheren und niederen Vollziehern seiner Befehle einzuhauchen. Möglich, daß die hierhin zielenden, so dringend nöthigen Reformversuche Kaiser Alexander’s des Zweiten nicht energisch genug unternommen wurden, oder daß er durch die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen in dieser Richtung muthlos geworden ist – doch überlassen wir die nähere Ausführung dieser Frage den Organen der Tagespresse! Wenden wir uns hier greifbaren und durch die Geschichte anerkannten Erfolgen der Regierungsthätigkeit Alexander’s des Zweiten zu, die recht eigentlich im Bereiche der Aufgabe dieses Blattes liegen, weil sie einen vorzugsweise humanitären und culturellen Charakter hatten: seinen unvergänglichen Verdiensten um die Befreiung eines mannhaften Theils seiner Untertanen von einer erdrückenden und entwürdigenden Knechtschaft, seinen Verdiensten um die Aufhebung der Leibeigenschaft! „Czar-Befreier“ – so nannte der niedere Theil der Bevölkerung, das eigentliche „Volk“ in Rußland, bei Lebzeiten den Kaiser Alexander den Zweiten; dem „Czar-Befreier“ weinte es bei dessen gewaltsamem Tode in aufrichtigem Schmerze nach. Und dieser Schmerz war gerechtfertigte denn eine große, wahrhaft weltgeschichtliche That war es, welche Alexander der Zweite mit kluger Ueberlegung plante, mit großer Einsicht durchführte. Was Alexander der Erste nicht gewagt, woran selbst der eiserne Nikolaus nur zaghaft Hand angelegt, das vollführte der viel weichere, aber in diesem Punkte unnachgiebige Alexander der Zweite.

Es war ein eigentümliches Zusammentreffen, daß fast genau zu derselben Zeit die große Republik jenseits des Oceans und das ungeheure Despotenreich Rußland sich von einem Krebsschaden befreiten, der an ihrem innersten Marke zehrte, einen moralisch-politischen Makel austilgten, der so lange auf ihnen gelastet. Aber drüben, in dem freien, in aller sonstigen Cultur so weit fortgeschrittenen Nordamerika bedurfte es eines vierjährigen blutigen Krieges, um mit der Sclaverei zu brechen, und wenig fehlte, so wäre die glorreiche Union darüber aus einander gefallen; in dem noch halbwilden Rußland vermochte der Wille eines Einzigen die auch hier nicht wenig starken und nicht wenig zähen Kräfte des Widerstandes zu überwinden und ohne eine Erschütterung des Staatswesens im Ganzen, wenn auch nicht ohne manche krampfhafte Bewegungen im Einzelnen, eine so tiefeinschneidende Maßregel, wie die Aufhebung der Leibeigenschaft, durchzuführen.

Um die ganze Größe dieses Unternehmens zu ermessen, muß man sich vergegenwärtigen daß die gesammte bäuerliche Bevölkerung Rußlands zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft über dreißig Millionen Köpfe betrug, von denen ungefähr ein Dritttheil aus sogenannten Kronbauern, das heißt Bauern auf kaiserlichen Domänen die andern zwei Dritttheile aus solchen auf Bauern- und Privatgütern des Adels bestanden. Freie Bauern gab es im eigentlichen Rußland nur wenig. Die Lage der Kronbauern war schon längst eine bessere. Sie waren in Gemeinden vereinigt, die nach altslavischem Recht den gesammten Grund und Boden gemeinschaftlich besaßen, und wenn dieser Besitz auch kein ganz freies Eigenthum war, so stand der Gemeinde doch ein erbliches und ewiges Nutznießungsrecht an dem Boden zu, wofür sie der Regierung ein jährliches Pachtgeld (Obrok) zahlte. Der Pacht, auf die einzelnen Köpfe vertheilt, betrug auf den Kopf zwischen zwei und drei Rubel Silber, und daneben ward noch eine Kopfsteuer von nicht ganz einem Rubel von jedem männlichen Individuum erhoben während die Gemeinde natürlich das Land an die einzelnen Familienväter, ebenfalls nur zur Nutznießung, vertheilte. Der einzelne Kronbauer war somit, wenn auch kein eigentlich freier Grundeigenthümer, so doch weder persönlich unfrei wie der Leibeigene, noch auch einer willkürlichen Entziehung seines Bodenbesitzes seitens des Herrn ausgesetzt; auch bestand ferner eine gewisse Selbstverwaltung dieser Bauerngemeinden, lediglich unter Aufsicht der kaiserlichen Behörden. Die Kronbauern durften ihren Aufenthaltsort wechseln, in die Städte ziehen, Handel und Gewerbe treiben etc. Wenigstens von [237] Seiten der Regierung ward ihnen dies nicht gewehrt, und nur die Gemeinde konnte Einspruch dagegen erheben. Genug, der Kronbauer war schon früher – social betrachtet – nicht ein Leibeigner, Höriger, sondern ein persönlich freier Erbpächter von Grund und Boden, keiner Willkür eines gebietenden Grundherrn unterworfen, aber das allgemeine Schicksal russischer Unterthanen, unter dem Druck einer oft despotischen Beamtenherrschaft sein Leben zu fristen, blieb freilich auch ihm nicht erspart.

Ungleich härter war das Loos der Bauern auf adeligen Gütern; diese waren ihren Gutsherren Gehorsam schuldig – „innerhalb der Grenzen der allgemeinen Reichsgesetze“, fügte die unter Nikolaus dem Ersten erschienene Gesetzsammlung (das sogenannte Swod) hinzu, aber was wollte das besagen hinsichtlich des Zinses, der Arbeiten und Leistungen jeder Art? Unerlaubte Klagen gegen ihren Gutsherrn sollten streng bestraft, Denunciationen gegen denselben nicht einmal angenommen werden, wenn sie nicht entweder auf Hochverrath und Versuch gegen das Leben des Monarchen oder auf Steuerhinterziehungen gerichtet wären. Das Entlaufen eines Leibeigenen von seinem Herrn wurde streng bestraft, aber die persönlichen Leistungen, welche der Herr von seinen Leibeigenen verlangen konnte, waren ihrer Gattung nach ungemessen, also in das Belieben des Herrn gestellt. Zwar schränkte das Gesetz die Zahl der Frohntage ein, damit dem Bauer noch Zeit, für sich selbst zu arbeiten, bliebe; auch diese Gesetzesbestimmung wurde jedoch öfters umgangen, indem die Grundherren ihren Leibeigenen, wenn solche nicht mehr als die gesetzliche Zahl der Tage arbeiten wollten, ein Stück des ihnen, den Leibeigenen, zum eigenen Nießbrauch überlassenen Landes einzogen. Als Inhaber und Verwalter der Polizeigerichtsbarkeit konnte der Herr Correctionsmittel und Strafen jeder Art über seine Leibeigenen verhängen; nur körperliche Verstümmelung oder Gefährdung des Lebens derselben war ihm untersagt; für Vergehungen gegen den Herrn und dessen Rechte wurden sie, auf seine Bitte, von der Regierung entweder einer Polizeistrafe unterzogen oder in Zucht- und Arbeitshäuser gebracht. Der Verkauf von Leibeigenen war durch das Gesetz zwar eingeschränkt, aber nicht verboten, kam daher nicht selten vor. Die Kinder eines leibeigenen Vaters waren, auch wenn die Mutter eine Freie, wieder Leibeigene. Unbewegliches Vermögen konnte ein Leibeigener nicht erwerben; selbst wenn ihm solches durch Erbschaft zufiel, wurde es verkauft und ihm der Erlös zugestellt, oder es fiel der Krone gegen eine Entschädigung zu. Die Leibeigenen konnten mit Genehmigung ihres Herrn Handarbeit treiben, einen Handel anfangen, Fabriken anlegen etc., aber sie blieben nichtsdestoweniger Leibeigene, und die ertheilte Genehmigung konnte daher auch zurückgenommen werden. Die Leistungen des Leibeigenen den Herren gegenüber waren entweder Naturalleistungen – Frohnen und Dienste jeder Art – oder sie bestanden in Geld, dem sogenannten Obrok, welcher bei den Leibeigenen der Adeligen durchschnittlich 10 Rubel Silber auf das männliche Individuum, also fünfmal so viel, als bei den Kronbauern betrug. Diejenigen, welche statt des Landbaues einen Erwerb außerhalb suchten, zahlten je nach dem Ertrage dieses Erwerbes einen höheren, oft bedeutend höheren Obrok.

Nach alledem waren die Leibeigenen auf den adeligen Gütern zwar nicht völlig rechtlos, aber doch in einem sehr ungünstigen und namentlich einem sehr unsicheren Rechtszustande; denn das Gesetz zog höchstens gewisse äußerste Grenzen, über welche hinaus die Willkür des Gutsherrn nicht gehen durfte; innerhalb dieser Grenzen mochte sie um so fesselloser schalten und walten, da ja selbst Ueberschreitungen des gesteckten Maßes weder gehindert noch bestraft wurden, weil der Gutsherr zugleich der Gerichts-Herr seines Leibeigenen und eine Klage des Letzteren gegen seinen Herrn (bei der Staatsbehörde) ausdrücklich untersagt, ja mit Strafe bedroht wurde.

Dies waren die bäuerlichen Zustände in Rußland, welche Alexander der Zweite vorfand. Die leibeigenen Bauern auf den adeligen Gütern machten mit ihren Familien nahezu den dritten Theil der Gesammtbevölkerung des Reiches aus. Eine so ungeheuere Masse von Menschen befand sich also in einen, nahezu rechtlosen Zustande, der Willkür, den Launen, den Leidenschaften ihrer oft sehr rohen Herren preisgegeben, mit Leistungen überlastet, politisch und social in eine unfreie, kaum menschenwürdige Stellung herabgedrückt. Alle diese Unglücklichen galten als bloße „Seelen“ (wie das Gesetz sie nannte), das heißt als Ziffern in den großen Steuerregistern des Staates, der von ihnen nicht weiter Notiz nahm, als indem er sie (neben ihren Abgaben an den Grundherrn) besteuerte.

Fast unmittelbar nach seiner Thronbesteigung, im März 1855, sprach Kaiser Alexander der Zweite gegenüber einer Anzahl hervorragender Adeliger in Moskau seinen festen Entschluß aus, die Leibeigenschaft abzuschaffen. Doch setzte er hinzu, er werde nur allmählich damit vorgehen. Nach Beendigung des Krieges mit den Westmächten durch den Pariser Frieden zu Anfang des Jahres 1856 bildete Kaiser Alexander ein geheimes Comité in Petersburg, das unter seinem persönlichen Vorsitze die Angelegenheit berieth, Es ward beschlossen, die Sache mit Zuziehung des Adels selbst zu ordnen, und zu diesem Zwecke wurden den Landesmarschällen in den verschiedenen Gouvernements die Grundsätze mitgetheilt, welche der Kaiser bei der Regelung der Frage in’s Auge gefasst hatte; die Landesmarschälle wurden angewiesen, über diese Grundsätze sich mit dem Adel ihres Gouvernements zu berathen und das Resultat der Besprechungen einzusenden. Drei Jahre lang dauerten diese Vorarbeiten. Wie umfänglich dieselben waren und wie genau es damit genommen wurde, geht daraus hervor, daß die Resultate derselben mehr als vierundzwanzig Foliobände füllen.

Nachdem endlich sämmtliche Beschlüsse der für diesen Zweck besonders gebildeten Gouvernementcomités adliger Grundbesitzer dem Kaiser zur Kenntnißnahme vorgelegt und von ebenfalls dazu ausdrücklich bestellten Centralbehörden sorgfältig geprüft worden waren, ordnete der Kaiser die Ausarbeitung der darauf zu gründenden socialen Gesetze an. An, 10. Februar 1861 erschien sodann ein kaiserliches Manifest nebst einer allgemeinen und einer ganzen Anzahl besonderer Verordnungen, wodurch die ganze ländliche Verfassung Rußlands neu geordnet ward. Das Manifest ist charakteristisch für die Denk- und Sinnesweise seines Urhebers, des nun dahingeschiedenen Kaisers. Es beginnt:

„Durch die göttliche Vorsehung und das heilige Gesetz der Thronfolge“ auf den angestammten Thron aller Reußen berufen, haben Wir, diesem Berufe gemäß, in Unserem Herzen des Gelübde treuen Unterthanen jeglichen Berufs und Standes zu umfassen – von dem, der für die Vertheidigung des Vaterlandes edel das Schwert führt, bis zu dem herab, der bescheiden mit dem Handwerkszeug arbeitet, von dem, der im höchsten Staatsdienste steht, bis zu dem, der mit der Pflugschar das Feld durchfurcht. Bei genauerem Eindringen in die Lage der Stände und Classen Unseres Kaiserreichs haben Wir wahrgenommen, daß die Reichsgesetzgebung, während sie die hohen und mittleren Stände thätigst organisirt, deren Pflichten, Rechte und Prärogative regelt, eine gleiche Thätigkeit nicht erreicht hat in Bezug auf die Leibeigenen. Die Rechte der Gutsherren hatten bisher eine weite Ausdehnung und waren nicht gesetzlich genau normirt. Die Stelle des Gesetzes vertraten Ueberlieferung, Herkommen und der gute Wille des Gutsherrn. In den besten Fällen ging daraus ein gutes patriarchalisches Verhältniß aufrichtiger und redlicher Fürsorge und Wohlthätigkeit seitens des Gutsherrn und gutmüthigen Gehorsams seitens der Bauern hervor. Aber vielfach lockerte sich dieses gute Verhältniß, und es wurde einer für die Bauern drückenden, deren Wohlfahrt ungünstigen Willkür der Weg geöffnet, welchem Zustande seitens der Bauern Unbeweglichkeit in Bezug auf Verbesserungen in ihren eigenen Lebens-Verhältnissen entsprach.“

Schon seine Vorgänger – fährt der Kaiser fort – hätten dies erkannt und daran, Maßregeln zur Verbesserung der Lage der Bauern ergriffen. Allein diese Maßregeln seien nur in sehr beschränktem Maße zur Ausführung gebracht worden. So sei er, der Kaiser, zu der Ueberzeugung gelangt, daß das Werk einer Verbesserung des Zustandes der Leibeigenen für ihn ein Vermächtniß seiner Vorgänger und eine durch den Gang der Ereignisse ihm zugetheilte Mission sei. Er habe das Werk begonnen mit einem Act des Vertrauens gegenüber dem russischen Adel; er habe den, Adel, auf dessen eigenes Anerbieten, überlassen, Vorschläge über eine neue Organisation der Bauernverhältnisse zu machen. Dieses Vertrauen sei gerechtfertigt worden. Der Adel habe den Rechten an die Person des Leibeigenen freiwillig entsagt. Ueber die künftigen Beziehungen der jetzigen Leibeigenen zu ihren Gutsherren seien Vorschläge gemacht und diese zu einer förmlichen Gesetzgebung über die agrarischen Verhältnisse verarbeitet worden.

Die Grundzüge der neuen Gesetzgebung, durch welche eine [238] allmähliche Hinüberführung der Leibeigenen in einen Zustand völliger Freiheit angebahnt ward, sind folgende:

Die bisherigen Leibeigenen erhalten zunächst von ihren Gutsherren gegen bestimmte Leistungen ihr Gehöftareal und ein Stück Landes zur festen Nutznießung. In diesem Stadium heißen sie „zeitweilig verpflichtete Bauern“. Sie erhalten das Recht, ihr Gehöftareal abzulösen (das heißt zu freiem Eigenthum zu erwerben): mit Einwilligung des Gutsherrn können sie sodann auch die zum Nießbrauch ihnen überlassenen Ländereien ihm abkaufen. Dadurch werden sie aller Verpflichtungen gegen den Gutsherrn ledig und treten endgültig in den Stand der „freien bäuerlichen Grundbesitzer“ über. Wegen derjenigen Leibeigenen, die bisher nicht das Land bebauten, sondern als Hofgesinde dienten oder anderwärts arbeiteten, sind besondere Bestimmungen getroffen, welche aber auch darauf hinauslaufen, alle diese Personen in den Stand der persönlichen Freiheit, des freien Selbstbestimmens über ihre Thätigkeit und der Erwerbung festen Eigenthums hinüberzuführen.

Für die Regelung der Verhältnisse zwischen Gutsherrn und Bauern während dieser Zeit des Ueberganges traf das Gesetz ebenfalls Fürsorge. Die Bauern wurden in Gemeinden vereinigt (ähnlich wie die Kronbauern); diese Gemeinden sollten vor der Hand unter der Leitung des bisherigen Gutsherrn stehen; es sollten Flurbücher angelegt werden, um die Uebertragung von Grund und Boden an die Bauern genau zu controliren; auch wurden besondere Beamte – Friedensrichter oder Friedensvermittler (aus den angesehensten Grundeigenthümern jedes Gouvernements) – zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Gutsherren und Bauern bestellt; es wurden gemeinschaftliche Sessionen der Friedensrichter eines Kreises angeordnet und endlich als oberste Instanz in solchen Angelegenheiten besondere Gouvernementsbehörden in Bauernsachen bestellt. Nach Feststellung dieser Maßregeln sagt das Manifest:

„Sie (die Leibeigenen) werden einsehen, daß, indem sie eine festere Grundlage des Eigenthums und eine größere Freiheit, über ihr Hauswesen zu disponiren, erlangen, sie dadurch vor der Gesellschaft und vor sich selbst verpflichtet werden, die Wohlthat des neuen Gesetzes durch treuen, wohlgesinnten und thätigen Gebrauch der ihnen verliehenen Rechte zu vervollständigen. Das wohlthätigste Gesetz kann die Menschen nicht glücklich machen, wenn sie sich nicht selbst bemühen, ihre Wohlfahrt unter dem Schutze des Gesetzes zu begründen. Wohlstand wird nicht anders erworben und gewahrt, als durch unablässige Arbeit, vernünftigen Gebrauch der Kräfte und Mittel, strenge Sparsamkeit und überhaupt durch ein rechtschaffenes Leben.“

Die Wirkungen dieser Gesetzgebung, die eine so ungeheure Umgestaltung in den socialen und wirthschaftlichen Verhältnissen Rußlands hervorbrachte, sind – so weit bestimmte Nachrichten vorliegen – überwiegend günstige insofern gewesen, als die früheren Leibeigenen oder doch ein großer Theil derselben durch Fleiß und Sparsamkeit sich der ihnen gebotenen Freiheit fähig und würdig gezeigt haben. Schon vier Jahre nach dem Erlaß der Gesetze über die Leibeigenschaft – 1865 – hatte etwa die Hälfte der „zeitweilig verpflichteten Bauern“ sich in „freie Grundbesitzer“ verwandelt, das heißt, sie hatte ihren früheren Gutsherren den nach dem Gesetz ihnen zum Nießbrauch überlassenen Grund und Boden abgekauft. Die Regierung hatte sie dabei durch Geldvorschüsse unterstützt. Ausnahmen von dieser vernünftigen Haltung der ehemals Leibeigenen sind sicher vorgekommen, aber im Großen und Ganzen kann nach dem Zeugniß eines genauen Beobachters dieser Vorgänge, des Baron von Haxthausen (in seinem Buche „Die ländliche Verfassung Rußlands“. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1866) das kühne Experiment Alexander’s des Zweiten, was die Befreiung der Bauern betrifft, als gelungen angesehen werden.

Wie aber steht es mit den Wirkungen der fraglichen Gesetzgebung nach Seiten der bisher Privilegirten? Daß der Adel durch die Aufhebung der Leibeigenschaft empfindliche Verluste erlitt, ist unbestreitbar, weniger noch eigentlich ökonomische (denn er konnte, wenn er nur wollte, mit dem Gelde, welches er von seinen bisherigen Leibeigenen für Abtretung von Land erhielt, den Grundstock seines Gutes verbessern und so dessen Ertrag steigern), als politische und sociale. Er hörte auf, der Gebieter von Millionen Untergebener zu sein, die ihm sclavisch gehuldigt hatten.

Wenn der Adel sein wahres Interesse verstand, so mußte er nach dieser ungeheuren Umwälzung aller wirthschaftlichen und socialen Verhältnisse neue Ziele verfolgen: er mußte durch eine der neuen Lage angepaßte Bewirthschaftung seiner Güter den Nachtheil, den er nach der einen Seite erlitt, in einen Vortheil nach der andern verwandeln, und für die verlorene Macht und Autorität als Zwingherr einer Anzahl von „Seelen“ durfte er auch einen Ersatz finden in der Erlangung einer der heutigen Zeit besser entsprechenden, gesetzlich autoritativen Stellung unter Freien. Er mußte der bisher unter dem russischen Adel nur allzuverbreiteten Sitte der Abwesenheit von seinen Gütern, des kostspieligen Lebens in den Reichshauptstädten oder im Auslande entsagen, sich auf seine Güter zurückziehen und ihrer Bewirthschaftung seine persönliche Sorgfalt widmen. Er mußte eine ähnliche sociale und politische Stellung zu gewinnen suchen, wie sie der Grundbesitzadel in England, die sogenannte gentry, zum Theil auch in Deutschland hat. Dazu war freilich erforderlich, daß die Regierung ein solches Streben förderte und ermunterte, indem sie dem Adel Gelegenheit bot, inmitten seiner natürlichen Umgebungen auf dem Lande amtliche Functionen auszuüben und so, neben dem ganz hierarchisch gegliederten Beamtenthum, eine Classe von Organen der Selbstregierung zu bilden, die zwar vom Kaiser ernannt, aber in der Ausübung ihrer Aemter möglichst unabhängig, auf die eigene Verantwortlichkeit und das Vertrauen ihrer Amtsuntergebenen gestellt wären. Die Einsetzung von Friedensrichtern aus der Mitte des Grundbesitzadels war dazu ein erster und, wie es scheint, wohlgelungener Schritt. Ob die Regierung Kaiser Alexander’s des Zweiten diesen Weg weiter verfolgt hat, oder nicht, und mit welchem Erfolge oder Mißerfolge, ist uns nicht bekannt. Eine durchgreifende Aenderung des ganzen Verwaltungssystems nach dieser Seite hin hat jedenfalls leider nicht stattgefunden.

Es scheint aber auch, daß der Adel selbst in seiner Mehrzahl dazu wenig Lust gezeigt hat. Nach wie vor mag er überwiegend an seiner früheren Lebensgewohnheit festgehalten, den Aufenthalt auf seinen Gütern verschmäht und entweder den Grand Seigneur in Petersburg oder Paris gespielt, oder, wenn ihm dazu die Mittel fehlten, in dem großen Heer der Civil- und Militärbeamten des Reichs ein Unterkommen gesucht haben. Daß bei solcher Lebensweise und Denkart der Verlust der Leibeigenen, die oft für ihn eine Quelle der Bereicherung waren, eine fühlbare Lücke in seinen Finanzen geschaffen und daß die sociale Degradirung vom gebietenden Gutsherrn zum einfachen Besitzer eines Grundstücks einen Stachel der Erbitterung in seiner Brust zurückgelassen hat, begreift sich. Es darf daher nicht Wunder nehmen, wenn neben manchen anderen in den Sitten des Volkes und den staatlichen Einrichtungen Rußlands liegenden Ursachen auch die von der Aufhebung der Leibeigenschaft her in einem Theile des Adels zurückgebliebene Verbitterung dem nihilistischen Treiben so manche geheime Anhänger zugeführt hat. Jedenfalls scheint uns das Wohl glaubhaft, was nach der furchtbaren Katastrophe vom 13. März ein Petersburger Correspondent (anscheinend aus den höheren Gesellschaftskreisen) einem angesehenen Berliner Blatte schrieb: „Die socialen Folgen der Emancipation der Leibeigenen haben sich gegen Alexander den Zweiten gekehrt. Eine Menge catilinarischer Existenzen führen ihren Zusammenbruch auf jene Maßregel zurück. Drohnen, die früher von den Arbeitsbienen, den Leibeigenen, zehrten, haben nun angefangen, ihren Stachel zu gebrauchen.

Wir machten auf die bedeutsame Gleichzeitigkeit der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland und der Abschaffung der Sclaverei in den Vereinigten Staaten aufmerksam. Beide weltgeschichtliche Ereignisse sollten auch ein, wenn nicht gleichzeitiges, doch gleichartiges hochtragisches Nachspiel haben. Der edle Präsident Lincoln, dessen zäher Beharrlichkeit die siegreiche Bekämpfung der Secession und der mit ihr verschwisterten Sclavereiwirthschaft wesentlich zu danken war, ward von einem Meuchelmörder, Booth, erschossen, den man für ein Werkzeug südländischer Sclavenbarone hielt. Wer die intellectuellen Urheber des an dem „Czar-Befreier“ verübten Mordes sind, ist noch nicht ermittelt, wird vielleicht auch nicht ermittelt werden, daß aber die letzten Wurzeln der nihilistischen Gesinnungen, deren giftiger Auswuchs dieses abscheuliche Verbrechen war, theilweise auch in ähnliche Gesellschaftsregionen hineinreichen, darin dürfte jener Kenner russischer Zustände, den wir soeben citirten, wohl nicht Unrecht haben.



  1. Vergleiche jedoch „Gartenlaube“, Jahrg. 1872 , Nr. 49.
  2. Die von dem Herrn Verfasser hier offen gelassene Frage glauben wir von unserem etwas abweichenden Standpunkte aus auf das Entschiedenste mit: Ja! beantworten zu müssen. Rußlands einziges Heil liegt unseres Ermessens in dem längst gebotenen Einlenken in jene Bahnen, welche der Geist des modernen politischen und intellectuellen Fortschrittes den Nationen der Gegenwart vorschreibt. Was Alexander der Zweite – verhängnisvoll genug – versäumt hat, das wird der Erbe seines Thrones gut zu machen, er wird zur Beglückung seines Volkes das bureaukratische Willkürreich des Czaren endlich in ein constitutionelles Staatswesen zu verwandeln haben.
    D. Red.
  3. Die Großfürstin Helene, eine württembergische Prinzessin und Gemahlin des Großfürsten Michael Paulowitsch, bekanntlich eine freisinnige und gerade nach dieser Seite hin ihrem kaiserlichen Neffen, Alexander dem Zweiten, nahestehende Fürstin, hatte bereits 1863, in Voraussicht des bevorstehenden Erlasses einer Verfassung für Rußland, durch einen Vertrauten, den Baron von Haxthausen, eine Schrift herausgeben lassen („Das constitutionelle Princip.“ Leipzig, bei F. A. Brockhaus), deren Zweck war, wie Haxthausen in der Vorrede dazu es ausdrückte, „den gebildeten Russen, den Staats- und Geschäftsmännern eine richtige und klare Einsicht über das Wesen und die Principien des constitutionellen Systems, seine Geschichte und seine Wirkungen zu verschaffen“. Die Schrift enthielt in ihrem ersten Theile eine Geschichte der Repräsentativverfassungen mit Volkswahlen (von Professor Biedermann), im zweiten eine Reihe theoretischer Aufsätze über einzelne Hauptpunkte des Verfassungsrechtes (von den Professoren Gneist, Held, Waitz und Kosegarten); sie wurde, ebenfalls im Auftrage der Großfürstin auch in’s Französische übersetzt.