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Arbeitsmarkt und Strafvollzug

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Textdaten
Autor: Georg Rusche
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Titel: Arbeitsmarkt und Strafvollzug
Untertitel: Gedanken zur Soziologie der Strafjustiz
aus: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 2, S. 63–78
Herausgeber: Max Horkheimer
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Erscheinungsdatum: 1933
Verlag: Librairie Felix Alcan
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Erscheinungsort: Paris
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Quelle: Commons
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[63]
Arbeitsmarkt und Strafvollzug.
Gedanken zur Soziologie der Strafjustiz[1].
Von
Georg Rusche (Frankfurt a. M.).
I.

Für die Sozialforschung ist das Studium des Verbrechens und seiner Bekämpfung ein fruchtbares Gebiet. Es liegen hier Erscheinungen vor, die in so weitem Ausmaß von gesellschafttichen Kräften bestimmt sind, daß sie auf der einen Seite nach Erklärung aus sozialen Gesetzmäßigkeiten geradezu drängen, auf der anderen Seite ganz besonders geeignet sind, diese Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen ihrerseits zu erhellen. Das hat seinen Grund darin, daß die Komplizierungen und Verhüllungen, die die Erforschung anderer sozialer Beziehungen so sehr erschweren, hier weitgehend von der Brutalität der Tatsachen und der Notwendigkeiten eines Kampfes zuruckgedrängt werden, der offen geführt werden muß.

Erstaunlicherweise hat sich die Forschung die hier gebotenen Möglichkeiten nur in verhältnismäßig geringem Maße zunutze gemacht.

Zwar sind soziologische Gesichtspunkte bei der Untersuchung der kriminalistischen Probleme weitgehend herangezogen worden, aber sie sind keineswegs zu ihrem Recht gekommen. Denn wenn sich auch jedem, der die Probleme des Verbrechens und seiner Bekämpfung untersucht, Zusammenhänge mit sozialen und ökonomischen Schichtungen aufdrängen, so ist es doch ein weiter Schritt von dem naiven Erkennen dieser Tatsache bis zu einer ihrer systematischen Bedeutung entsprechenden Auswertung mit den hierfür zu Gebote stehenden Mitteln der Theorie.

Dieses Versagen wird dadurch erklärlich, daß im allgemeinen die Forscher, die sich den kriminalistischen Problemen widmen, nicht mit den Grundlagen der Gesellschaftswissenschaften vertraut [64] sind, sondern mehr von außen an sie herankommen. Es sind meistens Juristen oder Ärzte. Wenn sie, durch den Gegenstand veranlaßt, soziologische Kategorien bei ihrer Arbeit verwenden, sind diese der naiven Erfahrung entnommen oder bestenfalls, wenn sie wissenschaftlich fundiert sind, ausschließlich sozialpsychologischer Natur.

Sicherlich hat die neuere Kriminologie, z. T. angeregt durch die Psychoanalyse, wertvolle Erkenntnisse namentlich über die individuellen und sozialen Ursachen des Verbrechens und über die sozialpsychologischen Funktionen der Strafe geliefert. Aber es fehlt diesen Forschungen die Fundierung in den Grundprinzipien aller gesellschaftlichen Erkenntnis. Sie stehen weder mit der ökonomischen Theorie in Verbindung, gehen also nicht auf die materiellen Grundlagen der Gesellschaft zurück, noch sind sie historisch orientiert. Das heißt, sie implizieren eine Konstanz der sozialen Struktur, wie sie in der Wirklichkeit nicht vorhanden ist, und verabsolutieren unbewußt die dem Beobachter gegenwärtigen sozialen Zustande. Sie begeben sich dadurch der vielseitigen Erkenntnismöglichkeiten, welche darin liegen, daß man den Wandel dieser Zustände untersucht und die davon ausgehenden Wirkungen historisch ableitet. So läßt sich etwa die gesellschaftliche Funktion des Verbrechens und der Strafjustiz weit über das bisher Geleistete aufhellen, wenn man einige einfache Sätze der ökonomischen Theorie anwendet und nicht einen mehr oder weniger stationären Zustand der Klassenverhältnisse voraussetzt, sondern deren säkulare Umwälzungen zugrunde legt. Einige Grundgedanken einer solchen Untersuchung sollen an dieser Stelle der Beurteilung zugänglich gemacht und damit ihre Diskussion vorbereitet werden.

Obwohl in der Kriminologie höchst komplizierte Verhältnisse vorliegen, insbesondere biologische und psychologische Differenzierungen, von deren Erkenntnis wir noch weit entfernt sind, vermag unabhängig davon die ökonomische Theorie und die historische Betrachtung doch wohl Beiträge zur Klärung vieler Fragen zu liefern. Man darf nur die durch ökonomische und historische Argumentation aufweisbare Abhängigkeit der Phänomene des Verbrechens und der Verbrechensbekämpfung nicht für ihre vollständige Erklärung halten. Die durch eine solche Analyse als wirksam erkannten Kräfte bestimmen nicht allein den Gegenstand unserer Untersuchung, und sie ist daher nach mehreren Richtungen beschränkt und vnvollkommen. [65] Denn es sind in der Ausgestaltung des Strafwesens so mannigfaltige außerökonomische Kräfte wirksam, etwa sakraler und sexueller Natur, wie das Ritual des Strafverfahrens zu allen Zeiten ergibt, daß die Untersuchung in dieser Richtung einer Ergänzung dringend bedarf. Auf der anderen Seite ist sie auch nicht hinreichend, um das individuelle Schicksal des einzelnen, der zum Verbrecher wird, und gerade seine Bestrafung zu erklären. Aber innerhalb dieser Grenzen lassen sich gewisse Mechanismen ökonomisch-historisch mit zureichender Exaktheit aufdecken.


II.

Ohne Widerspruch darf wohl so viel gesagt werden, daß Verbrechen Handlungen sind, die in einer Gesellschaft verboten sind. Von Erörterungen über den Sinn der Strafe sei abgesehen. Es mag dahingestellt bleiben, ob sie Vergeltung der Tat, Abschreckung oder Besserung des Verbrechers, Sicherung der Gesellschaft oder was immer bedeute. Eines kann sicherlich keine Gesellschaft mit ihrem Strafvollzug bezwecken: daß er zur Begehung von Verbrechen anreizt.

Das heißt, der Strafvollzug muß so beschaffen sein, daß Menschen, die kriminell gefährdet erscheinen, von denen man annehmen kann, daß sie geneigt seien, solche der Gesellschaft unerwünschten Handlungen zu begehen, dazu durch die Aussicht, entdeckt und bestraft zu werden, zumindest nicht ermutigt werden dürfen. Im Gegenteil, man hofft sogar durch die Aussicht auf Strafe wenn schon nicht alle Angehörigen dieser Schicht, so doch einen wesentlichen Teil davon abzuhalten.

In der Tat wird der Gedanke an zukünftiges Leid und schmerzhafte Vergeltung, die weit den möglichen Lustgewinn aus der Tat übersteigen, ein wirksames Gegengewicht für denjenigen bilden, der überhaupt diesen Gedanken festhalten kann.

Nun lehrt die Erfahrung, daß die meisten Verbrechen von Angehörigen solcher Schichten begangen werden, auf denen ein starker sozialer Druck lastet, die also ohnehin in der Befriedigung ihrer Interessen gegenüber anderen Schichten benachteiligt sind. Daher muß ein Strafvollzug, wenn er seiner Funktion nicht zuwider handeln soll, so beschaffen sein, daß gerade die kriminell am meisten gefährdeten Schichten bei rationaler Abwägung immer noch vorziehen, die verbotenen Handlungen nicht zu begehen, als der Strafe zum Opfer zu fallen. [66] Man könnte vielleicht einwenden, daß eine solche Betrachtung die Wirksamkeit des Ehrgefühls und die Furcht vor der Schande des Bestraftwerdens nicht hinreichend berücksichtige. Tatsächlich hängt auch die Festigkeit des Gefüges der gesellschaftlichen Struktur keineswegs nur von der Stärke der äußeren Machtmittel ab, die für den Bestand der Gesellschaft sorgen sollen. Es muß die psychische Bereitschaft der großen Mehrheit hinzukommen, sich in die bestehende Gesellschaft einzufügen, sich den in ihr herrschenden Mächten unterzuordnen, den Staat als ihren Staat, das Recht als ihr Recht zu empfinden. Aber erfahrungsgemäß gibt es Schichten, bei denen diese Anpassungs- und Identifizierungstendenzen versagen.

Gewiß kommen Straffälle in alien gesellschaftlichen Kreisen vor. Sieht man aber von Personen ab, bei denen gesellschaftliche Hemmungen wirkungslos sind, oder von einigen Delikten, die die gesellschaftliche Stellung nicht berühren, wie Beleidigungen, politische Vergehen o. dgl, sieht man nicht auf vereinzelte Fälle von Sensationsprozessen, sondern auf die große Masse des Tagewerkes, das die Strafgerichte verrichten, so wird es klar, daß sich das Strafrecht fast ausschließlich gegen diejenigen richtet, die ihre Abkunft, wirtschaftliche Not, vernachlässigte Erziehung oder sittliche Verwahrlosung zum Verbrechen trieb. Daß der einzelne allein schuld an seinem Verbrechen sei, wird heute kaum mehr behauptet. Auf der anderen Seite wird auch unter stärkstem sozialem Druck nicht jedermann notwendig zum Verbrecher. Es besteht also die Möglichkeit, sich auf der Skala: unschuldige Menschen, elendes Milieu bis zum anderen Ende: ideales Milieu, aber absolute Verbrecher, in beliebigen Theorien zu ergehen, und in der Tat kann im einzelnen Falle die Widerstandsfähigkeit abnorm gering oder der Reiz übergroß sein. Jedenfalls wird von den unteren Schichten eine übermaBige soziale Widerstandskraft verlangt. Namentlich Verschiebungen in den Lebensbedingungen der breiten Volksmassen, die große Teile der Bevölkerung aus ihrer Existenz herausdrängen — lange schwere Winter, Teuerungen, Krisen —, werfen die geistig und körperlich Schwächsten in hohem Maße auf die Bahn des Verbrechens. Soll der Strafvollzug geeignet sein, diese Schichten vom Verbrechen in wirksamer Weise abzuhalten, so muB er ihnen noch als ein Absturz gegenüber ihren bisherigen Bedingungen erscheinen. Man kann diese Überlegung allgemein auch so formulieren, daß alle Bemühungen um die Reform der Behandlung der Verbrecher ihre Grenze finden an der Lage der [67] untersten sozial bedeutsamen proletarischen Schicht, die die Gesellschaft von kriminellen Handlungen abhalten will. Alle darüber hinausgehenden, noch so human gemeinten Reformen sind notwendig zu einem bloßen Scheindasein verurteilt. Sollten sie etwa von einer an dem Los der Verbrecher interessierten öffentlichen Meinung gefordert und durchgesetzt werden, so müßten sie durch weniger offensichtliche Verschlechterungen kompensiert werden. Denn eine wahrhafte Besserung der Lage der Verbrecher über diese Grenze hinaus würde so weite Schichten nicht mehr vom Verbrechen zurückhalten, daß dadurch jeder mögliche Rahmen eines Strafvollzuges gesprengt wäre.

"When we get down to the poorest and most oppressed of our population we find the conditions of their life so wretched that it would be impossible to conduct a prison humanely without making the lot of the criminal more eligible than that of many free citizens. If the prison does not underbid the slum in human misery, the slum will empty and the prison will fill," sagt Bernard Shaw einmal[2].


III.

Die angestellte Überlegung ist rein formaler Natur. Sie ist zwar oft genug ausgesprochen worden[3], namentlich wenn es darum ging, vorgeschlagene Reformen des Strafvollzuges zu verhindern oder geschehene rückgangig zu machen, aber sie ist doch eine bloße Abstraktion. Natürlich ist nicht anzunehmen, daß sie so, wie sie hier ausgesprochen wurde, in der Gesellschaft unmittelbar wirksam wird. Es ist vielmehr nur eine Maxime unserer Untersuchung, mit der wir zweckmäßigerweise an die Dinge herangehen. Wir werden dann finden, daß es sehr individuelle und a priori gar nicht voraussehbare Ursachen sind, die ihren Lauf bestimmen, oft merkwürdig verschlungen und von ihren Urhebern ganz anders gedacht, als sie sich endgültig auswirken.

Wollen wir die Überlegung, daß ein wirksamer Strafvollzug die kriminell am meisten gefährdeten unteren sozialen Schichten abschrecken muß, konkretisieren, müssen wir uns klar machen, von welchen ökonomischen Kategorien das Schicksal dieser Schichten [68] bestimmt ist. Es ist ohne weiteres einzusehen, daß diese Schichten über andere Güter als ihre Arbeitskraft nicht verfügen und daß daher der Arbeitsmarkt diese entscheidende Kategorie ist. Anders wird sich die Lage der arbeitenden Klasse darstellen in einer Wirtschaft, in der eine große Reservearmee hungernden Proletariats den Arbeitgebern nachläuft und den Lohn für jede angebotene Arbeitsgelegenheit auf ein Minimum herabkonkurriert, anders in einer Wirtschaft, in der die Arbeiter knapp sind, etwa weil freier Boden vorhanden und daher niemand gezwungen ist, durch abhängige Arbeit seinen Lebensunterhalt zu fristen, wo die Arbeitgeber um die wenigen zur Verfügung stehenden Arbeiter konkurrieren und den Lohn in die Hohe treiben.

Natürlich ist durch Arbeiterknappheit oder Menschenüberfluß noch nicht eindeutig die Lage auf dem Arbeitsmarkt bestimmt. Politische Eingriffe können das Spiel von Angebot und Nachfrage korrigieren. Bei Arbeitermangel können z. B. die Arbeitgeber versuchen, durch rechtlichen Druck den fehlenden wirtschaftlichen Druck zu ersetzen, etwa Sklaverei einzuführen oder sonstige Formen der Zwangsarbeit, Maximallöhne festzusetzen oder ähnliche arbeits rechtliche Maßnahmen zu treffen; bei Arbeiterüberfluß können die Gewerkschaften durch Zurückhaltung des Angebotes oder der Staat durch sozialpolitische Maßnahmen, insbesondere durch Zahlung von Unterstützung an die Arbeitslosen, den Lohn vor dem Absinken in das Bodenlose schützen. Je nachdem, welcher dieser Fälle vorliegt, wird der Strafvollzug andere Aufgaben zu erfüllen haben.

Arbeitslose Massen, die vor Hunger und Not zu Verzweiflungsdelikten neigen, wird man davon nur durch grausame Strafen abhalten können. Am praktikabelsten erscheint in solchen Fällen schwere körperliche Züchtigung der Verbrecher, wenn nicht ihre rücksichtslose Vernichtung. In China, mit seiner großen Reservearmee elenden und hungernden Proletariats, das teils in die Städte flutend seine Arbeitskraft um jeden Preis zu verkaufen gezwungen ist, wenn es überhaupt Arbeit findet, teils in großen, ewig einander befehdenden Söldnerbanden zusammengelaufen ist, würde die bloße Tatsache, daß man ihnen zu essen gibt, den Verbrechern das Gefängnis zum Anreiz, nicht zur Abschreckung machen. Freiheitsstrafen gibt es daher dort nur, wo sich europäischer Einfluß geltend macht, und sie sind von einer unbeschreiblichen Grausamkeit im Vollzuge. "Jeder sozial denkende Mensch, der nach China kommt", schreibt Agnes Smedley in einem lesenswerten Bericht über "Gefängnisse [69] in China"[4], "empfängt einen überaus traurigen, niederschlagenden Eindruck, wenn er sehen muß, wie gering ein gewöhnliches Menschenleben wiegt. — Besonders kraß wird man sich dieser Mißachtung bewußt, wenn man bedenkt, wie hier erwischte Übeltäter jedweder Art erschossen, gehängt oder geköpft werden, ohne daß diese Hinrichtungen kaum mehr als flüchtige Beachtung fänden."

In einer Gesellschaft, in der die Arbeiter knapp sind, wird der Strafvollzug ganz andere Funktionen haben. Er braucht dort nicht hungernde Massen von der Befriedigung elementarer Bedürfnisse abzuhalten. Wenn jeder, der arbeiten will, auch Arbeit findet, die unterste soziale Schicht aus unqualifizierten Arbeitern und nicht aus in Not befindlichen Arbeitslosen besteht, kann der Strafvollzug sich damit genug sein lassen, Arbeitsunwillige zur Arbeit zu bringen und sonstige Verbrecher zu lehren, daß sie zufrieden zu sein haben mit dem Auskommen eines ehrlichen Arbeiters. Noch mehr: wenn die Arbeiter knapp sind, wird der Lohn hoch sein. Dann aber wird es sich rentieren, Verbrecher einzusperren und für ihre bloße Nahrung arbeiten zu lassen. Denn die Kosten der Bewachung und des Zwanges werden immer noch weniger betragen als die Differenz zum normalen Lohn. Daher besteht in allen Gesellschaften, in denen Arbeitermangel herrscht, eine Tendenz zur Abkehr von Körperstrafen und von der Vernichtung der Verbrecher. Auch der Verbrecher ist als Arbeitskraft noch wertvoll, man tötet ihn nicht gerne, sondern verwertet ihn, wenn es geht. Zwangsarbeit ist das geeignete Strafmittel.


IV.

Diese in rohen Umrissen entwickelte ökonomische Theorie des Strafvollzuges scheint mir der Schlüssel zur Lage des Strafwesens zu sein. Es wäre aber ganz verfehlt, sie unmittelbar so, wie sie hier vorgetragen wurde, auf die Gegenwart anzuwenden.

Wichtige Eigentümlichkeiten des heutigen Strafwesens lassen sich nämlich nicht aus der heutigen sozialen Situation erklären. Ginge man von der Interessenlage der gegenwärtigen Gesellschaft aus. so ließen sich ganz andere Möglichkeiten angeben,um die durch die Tatsachen des Verbrechens gestellten Aufgaben rational zu bewältigen. Daß unser Strafwesen in seinen heutigen Formen vorliegt, ist zu einem großen Teil nur aus der Interessenlage vergangener Epochen verständlich, in denen es seine erste Prägung fand. Es [70] ragt gewissermaßen als ein Überbleibsel in die Gegenwart herein. Durch den Wechsel des sozialen Geschehens ist es aber nicht etwa bedeutungslos geworden, sondern übt, obwohl es sich weitgehend den heutigen Aufgaben angepaßt hat, in seiner aus der Vergangenheit stammenden Gestalt tiefgreifende Wirkungen aus. Das muß demjenigen verschlossen bleiben, der das Strafwesen nur vom Standpunkt der Gegenwart zu begreifen versucht. Er wird Absichten in seine Institutionen hineindeuten müssen, die ihm unverständliche Einrichtungen rationell erklären sollen, aber in der Lage der Dinge nicht begründet sind. Das heißt aber, daß unsere ökonomische Theorie durch eine historische Analyse ergänzt werden muß, ohne die das gegenwärtige System der Verbrechensbekämpfung unverständlich ist. Diese Arbeit ist von den Rechtshistorikern bisher nicht geleistet worden. Die Rechtsgeschichte, wie sie im Augenblick betrieben wird, ist viel zu sehr ein Zweig der positiven Jurisprudenz, als daß sie imstande wäre, sie gesellschaftlich-historisch zu analysieren.

Die Geschichte des Strafwesens ist mehr als eine Geschichte der vermeintlichen Eigenentwicklung irgendwelcher rechtlichen "Institutionen". Sie ist die Geschichte der Beziehungen der "zwei Nationen", wie sie Disraeli nannte, aus denen sich die Völker zusammensetzen, der Reichen und der Armen. Die Beschränkung auf das unfruchtbare Einerlei der meist von den Rechtshistorikern gehüteten Schulbegriffe hemmt eine wahrhaft wissenschaftliche Erklärung aus der Verursachung der historisch wirksamen Kräfte oft mehr, als sie sie fördert. Und wenn sich Juristen über den juristischen Horizont erheben, so bearbeiten sie oft ihren Gegenstand in der Art eines sorgfältigen Kuriositätensammlers, ohne Kriterien zur Auswahl des Bedeutungsvollen, weil sie den uns überlieferten Aufzeichnungen folgen, die Chronisten aber Dinge aufgeschrieben haben, die ihnen wichtig und seltsam erschienen, also sicher nicht alltäglich waren, während uns gerade die alltägliche Lebensgewohnheit interessiert. Es ist wie mit den Berichten über Sensationsprozesse, die alle Zeitungen füllen, während sie doch wenig über die wirkliche Kriminalität der Massen sagen.

Häufig auch lassen sich die Rechtshistoriker statt von einer vorurteilslosen Anwendung sozialer Gesetze von der problematischen Konzeption eines kontinuierlichen Fortschritts in der Entwicklung der rechtlichen Institutionen leiten: von der barbarischen Grausamkeit zur Humanität jener relativ vollkommenen Rechtsordnung, [71] deren wir uns heute erfreuen sollen. Sie übersehen, daß eine sehr lange, bald stockende, bald rückläufige Bewegung vorliegt. Dementsprechend sind sie oft recht freigiebig mit Lob fur die Zeiten, die ihre Theorie bestätigen, geizen aber auch nicht mit Tadel für Jahrhunderte, die sich nicht danach richten — ein Verfahren, durch das die Erkenntnis der Tatsachen nicht immer gefördert wird.

Es ist daher die Aufgabe gewesen, die Epochen der Kriminalgeschichte in ihrem Zusammenhang mit den Epochen der Wirtschaftsgeschichte und der Geschichte des ökonomischen Kampfes der Klassen zu studieren und die zutage geförderten Zusammenhänge fur die Analyse des gegenwärtigen Strafwesens nutzbar zu machen. An dieser Stelle kann nur ein kurzer Überblick iiber die Resultate dieser Forschung gegeben werden, soweit es erforderlich ist, um den Gedankengang dieses Aufsatzes zu Ende zu führen. Alle Einzelheiten und alle Beweise sowie eine Reihe anderer kriminalsoziologischer Ergebnisse sind der oben erwähnten ausführlicheren Arbeit vorbehalten.


V.

In der Geschichte des Strafvollzuges folgen drei Epochen aufeinander, die durch das Vorwiegen ganz verschiedener Strafarten gekennzeichnet sind: Bußen und Geldstrafen sind praktisch die einzigen Strafmittel des früheren Mittelalters, sie werden im Spätmittelalter abgelöst durch ein System grausamer Leibes- und Lebensstrafen, das seinerseits im 17. Jahrhundert der Freiheitsstrafe Platz macht. Vergleicht man mit diesen Phasen der Kriminalgeschichte die Wandlungen in der Sozialgeschichte, so finden sichüuberraschende Zusammenhänge.

In dem Bußstrafensystem des frühen Mittelalters spiegeln sich die gesellschaftlichen Verhältnisse eines dünn besiedelten Bauernlandes mit vollkommener Genauigkeit wider. Die Möglichkeit der Ansiedlung auf freiem Boden verhinderte jeden starken sozialen Druck auf die Unterklassen und führte zu einer ziemlich gleichmäßigen Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. So traten Delikte gegen das Eigentum stark in den Hintergrund, denn ein Bauer kann seinen Nachbarn schwerlich Dinge entwenden, die nicht eigene Arbeit mit viel geringerem seelischen Aufwand hätte beschaffen können. Es waren mehr die primitiven Regungen der Sexualität und des Hasses, die zu Delikten führten. Eine wirkliche Abschrekkung war in dieser Zeit nur die Furcht vor der drohenden privaten [72] Rache des Verletzten. Um zu verhüten, daß diese in Fehde, Blutrache und Anarchie ausartete, beimühte sich die Gesellschaft um Beilegung. Man betrachtete Verbrechen als eine Art Krieg, und einem Gesetzgeber mußte es vielmehr darauf ankommen, Feinde nach anerkannten Grundsätzen zu versöhnen, als Verbrechen durch ein Strafrecht im heutigen Sinne zu bekämpfen.

Im späteren Mittelalter änderte sich die Situation vollkommen. Waren, wie Schmoller sagt, bis dahin "die Menschen begehrter als die Grundstücke"[5], so kam es nunmehr mit dem Wachsen der Bevölkerung zur Besetzung des Bodens und damit Überflutung des vorhandenen Lebensraums. Es beginnt eine Klassenspaltung in Reiche und Arme, hablose Arbeiter entstehen, die den Lohn herunterkonkurrieren und erstmalig eine Art kapitalistischer Produktionsweise ermöglichen; Bettlerheere, soziale Unruhen, Aufstande, die in Deutschland im Bauernkrieg kulminieren, sind die Folge. Die Kriminalität änderte vollkommen ihr Bild. Es ergab sich ein rapides Zunehmen der Eigentumsdelikte. Die Züge der Bettler und die Rotten der Diebe und Räuber wurden zur Landplage. Dadurch mußte sich das Arbeitsfeld der Justiz völlig ändern. Hatten im Mittelalter die Vermögensstrafen den Vorzug vor den Leibesstrafen, so verfing jetzt das überkommene Geldstrafensystem nicht mehr. Bei diesen Verbrechern war nichts zu holen. Langsam trat an die Stelle der bisherigen Strafen die Geißelung, Verstümmelung und Tötung, zunächst noch ablösbar durch Geld, dann als Universalstrafmittel, das allein noch einen gewissen Schutz gegen die Kriminalitat der sich ansammelnden hablosen Massen zu gewähren schien. Die grausamste Phantasie reicht kaum aus, um sich einen Begriff von jener Justiz zu machen, die bald neben dem Banditen und Mordbrenner auch den Vagabunden ins Verderben riß und bei der Vernichtung der arbeitslosen Proletarier landete.

Um 1600 änderten sich die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt abermals grundlegend. Das Arbeitsangebot verknappte sich, sei es infolge der Ausweitung der Märkte durch die Entdeckungen, den Edelmetallzustrom aus der neuen Welt, sei es durch die Kriege und Seuchen, namentlich den 30jährigen Krieg, und die in ihrem Gefolge eintretende Verminderung der Bevölkerung. Es entstand dadurch eine Periode fühlbaren Arbeitermangels. Die Löhne der Arbeiter stiegen, und die Lebenshaltung der unteren Klassen besserte sich erheblich. [73] Die Menschen wurden wertvoll und faul, d. h. sie überlegten es sich lange, ehe sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Die Gewinne der Unternehmer gingen zurück, die "Wirtschaft" verfiel. Man versuchte, den fehlenden ökonomischen Druck weitgehend durch Zwang zu ersetzen. Die ganze gesellschaftliche Struktur wird von diesem Bemühen aus bestimmt; es ergibt sich als Konsequenz das System des Merkantilismus. Leicht in diesem Sinne zu deuten ist z. B. die allgemein bekannte Tatsache, daß man bis dahin Soldaten in genügender Anzahl einfach durch die Werbetrommel zusammenbringen konnte, denn arbeitslose Proletarier strömten in hellen Haufen zusammen, wo sie eine Möglichkeit zur Fristung ihrer Existenz sahen. Nunmehr aber mußte man sie mit Gewalt und List pressen, weil sie überall anderwärts günstigere Bedingungen finden konnten als beim Militar. In dieser Situation dauernden Menschenmangels, wo jede Arbeitskraft kostbar war, ware es eineöOkonomisch "sinnlose" Grausamkeit gewesen, Verbrecher weiterhin zu vernichten. Die Freiheitsstrafe nimmt die Stelle der Leibes- und Lebensstrafen ein, "Humanitat" tritt an die Stelle der Grausamkeit; wo immer Richtstätten waren , werden jetzt Zuchthäuser errichtet . Diese Humanität war durchaus rentabel: "Was nutzet ein Dieb, der um 50 Gulden ist gehenket worden, sich oder diesem, dem er gestohlen, da er doch im Werkhaus in einem Jahr wohl viermal soviel verdienen kann?", fragt ein hervorragender Nationalökonom jener Zeit, der alte J. J. Becher[6].

Der humane Strafvollzug verlor seine Funktion in dem Augenblick, als die industrielle Revolution, die Freisetzung des Arbeiters durch die Maschine um die Wende des 18. Jahrhunderts den Arbeitermangel behob und die industrielle Reservearmee entstand. Die unteren Klassen verelendeten, sie unterboten sich auf dem Arbeitsmarkt, und Zwangsmaßnahmen verloren ihren Sinn. Die Zuchthäuser hörten auf zu rentieren. Bei hohen Löhnen hatten sie große Gewinne gebracht; wenn sich Arbeiter freiwillig für ein Existenzminimum anboten, lohnte es sich nicht mehr, die Kosten für Einsperrung und Bewachung aufzubringen. Nicht einmal für den einfachen Betrieb, die Erhaltung der Gebäude, den Unterhalt der Wärter und Gefangenen langte der Ertrag der Arbeit mehr aus. Das Zuchthaus versagte doppelt: wieder wie im Mittelalter schwoll [74] die Kriminalität der verelendenden Massen an, das Zuchthaus bedeutete keinen Schrecken mehr für sie. Es lag nahe, in der Behandlung der Verbrecher zu den mittelaltertichen Methoden zurückzukehren. Laut genug ist die Forderung ertönt, doch es kam nicht so weit, sei es, daß die mühsam erworbenen Ideale der Humanität es verhinderten, sei es, daß politische Klugheit die Herrschenden davor zurückschrecken ließ, durch eine so offene Provokation die ohnehin revolutionäre Situation zu überspannen. Die Freiheitsstrafe blieb erhalten, ein Überrest aus einer Epoche ganz anderer sozialer Konstellation, nicht zu verstehen aus der Interessenlage der Gegenwart, aber sie wandelte ihre Funktion, paßte sich zwangsläufig den geänderten Bedürfnissen an. Aus sinnvollen Zwangsarbeitsanstalten wurden die Zuchthauser zu Orten bloßer Quälerei, geeignet, auch noch den Elendesten abzuschrecken. Die Kost wurde schlecht — oft geflissentlich auf Brot und Wasser gesetzt —, so daß die Gefangenen haufenweise starben. Sie wurden unzulänglich gekleidet, in Massen zusammengepfercht, die unrentabel gewordene Arbeit trat in den Dienst der Peinigung. Es mußten von den Gefangenen. Steinlasten nutzlos von einer Stelle zur anderen geschleppt werden, sie mußten irgendwelche Wasserpumpen bewegen, die das gepumpte Wasser wieder zurückfließen ließen, oder Tretmühlen bedienen, die keinerlei Zwecken nutzbar gemacht wurden. Prügel als "Willkomm" und "Abschied" und als Disziplinarmittel zu jeder Zeit ergänzten die abschreckende Wirkung.

Die Einführung der Einzelhaft war nur eine Scheinreform. Auch sie war ein Strafmittel, das noch bei Hungernden Furcht erregen und abschreckend wirken konnte bei Menschen, die nicht wußten, wie sie ihr Dasein fristen sollten; denn es gibt kaum eine größere Qual als das durch die einsame Einsperrung hervorgerufene Gefühl der vollständigen Abhängigkeit und Hilflosigkeit, der Absperrung von allen Reizen und Zerstreuungen. Nur der Form nach gestaltete sich der Abschreckungsgedanke hier anders als in den Körperstrafen des Mittelalters, aber das Gewissen der Reformer konnte sich beruhigen. Sie wollten in der Einzelhaft nicht die Tortur, sondern den Fortschritt über die Zuchthäuser sehen.

Anders als in Europa entwickelte sich der Strafvollzug in Amerika. Hier herrschte im 19. Jahrhundert eine noch größere Nachfrage nach Arbeitern als je im Merkantilismus. Der freie Boden auf der einen, die beginnende industrielle Entwicklung auf der anderen Seite schufen ein Vakuum auf dem Arbeitsmarkt, das die Einwanderung nicht [75] füllen konnte. Jeder, der nur einigermaBen brauchbar war, kounnte Arbeit finden, der Lohn stand hoch, die Mtfglichkeiten des Aufstiegs waren keinem Tüchtigen verschlossen. Die unterste sozial bedeutsame Schicht waren die unqualifizierten, eben eingewanderten oder einheimischen farbigen Arbeiter. Man brauchte keine Fürsorge für Arbeitslose. Für die Kranken und Schwachen, die Erwerbsunfähigen genügte eine reiche private Wohltätigkeit. Die Zahl der Verbrechen war gering. Die Gestalt des Strafvollzuges konnte dem Rechnung tragen. Wie im Merkantilismus wurden die Gefängnisse zu gut rentierenden Produktionsstätten mit der hauptsächlichen Aufgabe, die Verbrecher durch Erziehung in brauchbare Mitglieder der Gesellschaft, d. h. fleißige Arbeiter zu verwandeln, deren man gar nicht genug haben konnte. Demzufolge konnten sich die Reformer erstaunlich weit vorwagen, zuletzt trat das ganze System in den Dienst der Besserung; Unterricht, Ausbildung in gelernten Berufen, Körperpflege, Stufenstrafvollzug, bedingte Begnadigung und Bewährungsfrist, Fürsorge nach der Entlassung, Sonderbehandlung jugendlicher und erstmalig bestrafter Verbrecher nahmen von dort ihren Ausgangspunkt, eine große wissenschaftliche Organisation trat in den Dienst der Erforschung der individuellen und sozialen Ursachen des Verbrechens und seiner zweckmäßigsten Bekämpfung durch Fürsorge und Vorbeugung.

Erst als sich in Europa die Lage zeitweilig besserte, der Druck der auf dem Arbeitsmarkt seit der industriellen Revolution lastenden Arbeitslosen langsam wich, die Arbeitslosigkeit als Dauererscheinung verschwand, die Sozialpolitik das Los der Hilflosen erleichterte und infolgedessen die Kriminalität stark zurückging, folgte man langsam und zögernd dem amerikanischen Beispiel, mehr vielleicht in der Theorie als in der Praxis. In Deutschland z. B. war eine wirksame Hilfe für die Fürsorge für Strafentlassene in der Vorkriegszeit die Leutenot der Landwirtschaft, die bereit war, alle Arbeitskräfte aufzunehmen, vorausgesetzt, daß sie sich mit hinreichend gedrückten Löhnen begnügten, und daher neben Ausländern auch Vagabunden und Verbrecher dririgend anforderte.

VI.

Als nach dem Kriege die Arbeitslosigkeit wieder chronisch wurde, hat man in den am stärksten betroffenen Ländern Europas durch Arbeitslosenfürsorge einen Zusammenbruch des Arbeitsmarktes verhindert. Die Löhne und der Lebensstandard sanken nicht so weit [76] wie es das Resultat eines unbeeinfluBten Spiels der ökonomischen Kräfte gewesen wäre. Auch denen, die aus dem Produktionsprozeß ausfielen, wurde die Befriedigung ihrer lebensnotwendigsten Bedürfnisse gewährt, und sie brauchten im allgemeinen nicht aus Mangel daran Verbrecher zu werden. Dadurch wurde der Strafvollzug vor der Aufgabe bewahrt, die er mehrmals in seiner Geschichte zu erfüllen hatte, nämlich mit Verbrechern fertig zu werden, denen ein Gefängnis schon wegen der geregelten Verpflegung nichts Abschrekkendes mehr gewesen wäre. Die Kriminalitat stieg, abgesehen von der kurzen Zeit der Inflation, nicht über das Niveau der Vorkriegszeit hinaus, ja sie zeigte bis vor kurzem eher eine sinkende Tendenz. Demzufolge brauchten die Reformen des Strafvollzuges, die sich schon vor dem Kriege anbahnten, zunächst nicht aufgegeben zu werden, sondern man konnte sie teilweise noch weiter führen, begünstigt durch die politische Lage, die Schichten ein Mitbestimmungsrecht im Staate gab, die an dem Lose der Verbrecher interessiert waren und versuchten, die Ideologie der Strafvollzugsreformer in die Praxis überzuführen.

Dieser in den letzten Jahren unter beträchtlicher Beteiligung der Öffentlichkeit durchgeführte Versuch soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Soweit man die Resultate übersieht, kann gesagt werden, daß es nicht nötig ist, jene einfache heuristische Maxime, der wir so viele augenscheinlich richtige Ergebnisse verdanken, ohne weiteres preiszugeben.

Die in Deutschland zur Zeit am meisten kriminell gefährdete Schicht ist die der unterstützten Erwerbslosen, namentlich die der alleinstehenden Jugendlichen, die ohne Familienhilfe nur mit ihrer Unterstützung wirtschaften und im Augenblick fur alle Lebensbedürfnisse zusammen etwa 7 — 8 Mark pro Woche erhalten mögen. Daneben steht noch eine Schicht von Nichtunterstützten, denn weitgehend ist die Wirksamkeit unserer sehr humanen Fürsorgegesetze durch die Konstruktion des zu ihrer Ausführung geschaffenen Apparates kompensiert. Ein großer Teil des in Deutschland geltenden Fürsorgerechts stellt an das persönliche Verantwortungsgefühl der Beamten besonders hohe Anforderungen. Bei der großen Ersparnis an Personal bei den Ämtern bedeutet die Anlage der Aktenstücke, das Nachsuchen der Bewilligung von Unterstützungsmitteln bei der vorgesetzten Stelle, das Ablegen von Rechenschaft über ihre Verwendung in jedem einzelnen Fall eine neue Belastung der Beamten, welche durch die einfache Abweisung der Bittsteller zu vermeiden [77] wäre. Ohnedies sind die Beamten bei den aufs äußerste beschränkten Etats der öffentlichen Körperschaften dazu gehalten, im Zweifelsfall lieber einen negativen Bescheid zu erteilen. Es bestehen daher in jedem Fall starke Motive zu ungünstigen Entscheidungen.

Die Schicht der Nichtunterstützten liefert die Bettler, Vagabunden, "Vertreter", Prostituierten, Zuhälter, Lohndrücker für Gelegenheitsarbeiten aller Art — Gäste der Herbergen und Asyle, wenn sie "Schlafgeld" haben, sonst in den Wartesälen und Hauseingängen sich herumdrückende und verzweifelt den Morgen erwartende Obdachlose[7].

Nach unserer heuristischen Maxime dürften wir annehmen, daß im Interesse seiner Wirksamkeit gegenüber diesen Schichten der Strafvollzug eine Hölle bedeuten muß, die sie gegen ihre Lebensbedingungen freiwillig nicht eintauschen. Man scheint jedoch bis jetzt die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse der Nahrung und Wärme den Strafgefangenen nicht zu sehr zu schmälern. Im Gegenteil erhalten sie "angemessene Kost", die vielleicht sogar von der Ernährung eines Erwerbslosen noch vorteilhaft absticht (der Materialpreis der Nahrungsmittel in den Anstalten schwankt um ungefähr RM. —.70 pro Tag). Die Degradation, die Sinnlosigkeit der zu verrichtenden Arbeiten, die Gefängnisdisziplin mit ihrer aufgezwungenen Ordnung, die Ausschließung von aller normalen Sexualbetätigung, dazu die Feindseligkeit des überlasteten Personals der Strafanstalten, kurz, die Entziehung der Freiheit scheint vorläufig wirksam genug zu sein. Ähnliches wird man nach den Skandalprozessen der letzten Jahre von der Fürsorgeerziehung annehmen können, die bei Jugendlichen in weitem Ausmaße an Stelle des normalen Strafvollzuges tritt. Natürlich sind die Kräfte, die diese Wirkung hervorbringen, alles andere als bewußte Absicht.

Es gibt jedoch eine außerordentliche Bestätigung der hier vorgetragenen Überlegungen: den dramatischen Zusammenbruch des "humanen" Strafvollzuges in Amerika. In den Vereinigten Staaten herrscht heute eine Arbeitslosigkeit, deren Auswirkungen nicht durch eine der unseren ähnliche Sozialpolitik kompensiert werden. Die Folgen, die sich daraus für die Kriminalität und den Strafvollzug ergeben, sind unausdenkbare Steigerung des Verbrechens, unausdenkbare [78] Brutalität der Repression, Zusammenbruch aller humanitären Reformen, Überfullung der Gefängnisse, Hunger, Schmutz, Beschäftigungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die zu jenen Zuchthausrevolten, jenen Ausbrüchen des Irrsinns führten, von denen eine Zeitlang die Öffentlichkeit der Welt erschüttert wurde[8].

Bisher ist in Deutschland die Behandlung der Gefangenen wenn schon nicht so menschlich, wie mancher annimmt, dennoch nicht so hart wie in Amerika. Aber unsere Humanität ist schwerlich wirksam genug, um den Strafvollzug aus der Sphäre jener fatalen Abhängigkeit herauszubeben, die wir unseren theoretischen Erörterungen als heuristische Maxime zugrunde legten.


  1. Die Gedankengänge dieser Studie werden in einem im Auftrag des Instituts für Sozialforschung geschriebenen und später zu veröffentlichenden Buch ausführlich begründet.
  2. Vorwort zu: Sidney and Beatrice Webb, English Prisons under Local Goverment, London 1922, S. XI.
  3. Am prägnantesten wohl bei Kriegsmann, Einführung in die Gefängniskunde, Heidelberg 1912, S. 175: "Die Fürsorge darf nicht so weit gehen, daß der Gefangene verwöhnt, die Strafanstalt zum Dorado der ärmeren Klassen der Bevölkerung werde."
  4. Frankfurter Zeitung 15. 9. 1930.
  5. Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, II, Leipzig 1901, S. 513.
  6. Becher, Johann Joachim, Politischer Discurs. Von den eigentlichen Ursachen dess Auff- und Abnehmens der Städt, Länder und Republicken. Frankfurt a. M. 1688, S. 245.
  7. Die entlassenen Gefangenen sollen nicht in diese Schichten gestoßen werden, sondern Fürsorgeunterstützung erhalten, aber dennoch geraten genug von ihnen dort hinein: solche, die ihre Rechte nicht kennen oder sie nicht in angemessener Weise zu vertreten verstehen, solche, die wegen begangener Delikte sich nicht polizeilich anmelden können, namentlich entwichene Fürsorgezöglonge.
  8. Vgl. meinen Aufsatz "Zuchthausrevolten oder Sozialpolitik", Frankfurter Zeitung vom 1. 6. 1930, Nr. 403.