Das Bevölkerungsproblem (1914)

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Autor: Julius Wolf
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Titel: Das Bevölkerungsproblem
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 415–423
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[863]
Das Bevölkerungsproblem
Von Geh. Reg.-Rat Dr. Julius Wolf, Prof. an der Techn. Hochschule Charlottenburg


Seit Kaiser Wilhelm II. regiert, fesseln immer neu zwei Tendenzen der Bevölkerungsbewegung die allgemeine Aufmerksamteit: der Rückgang der Sterblichkeit und der Rückgang der Geburten.

Rückgang der Sterblichkeit.

Es gibt keine Erscheinung, die für das zunehmende materielle Gedeihen unseres Volkes so beredtes Zeugnis ablegt, wie die Größe des Rückgangs der Sterblichkeit. Insgesamt starben 1871/80 jährlich 28,8 von 1000 Menschen, 1901/10 waren es nur mehr 19,7. Dementsprechend hat sich die mittlere Lebensdauer bei dem männlichen Geschlecht in dieser Zeit von 35,6 auf 44,8, bei dem weiblichen von 38,45 auf 48,3 Jahre erhöht. Hier und dort hat sie also binnen verhältnismäßig kurzer Frist um nicht weniger als ein volles Viertel (genau 26 und 25,7 %) zugenommen. Das ist eine Errungenschaft, die sich nur schwer gebührend würdigen läßt. Sie bedeutet ein ganz beträchtliches Seltnerwerden von Krankheit, Kummer und Elend, einen ungeheuren individuellen und sozialen Gewinn, der allerdings der Masse nicht bewußt geworden ist.

An dem Rückgang der Sterblichkeit haben alle Altersklassen ihren Anteil. Die Wahrscheinlichkeit, im ersten Lebensjahre zu sterben, hat um etwa 20% abgenommen, die 1 bis 9 Jahre alten Kinder hatten 1901/10 eine um rund 50% geringere Sterblichkeit als 30 Jahre zuvor, in den höheren Altersstufen hat sich die Sterbenswahrscheinlichkeit für das männliche und weibliche Geschlecht folgendermaßen vermindert:

Männl. Geschlecht       Weibl. Geschlecht
Alter: Jahre um Prozente
10 bis unter 20 34,1 32,9
20 bis unter 30 39,2 34,6
30 bis unter 40 24,7 38,2
40 bis unter 50 26,5 33,0
50 bis unter 60 16,7 25,5
60 bis unter 70 14,4 20,6
70 bis unter 80 11,6 14,9
80 bis unter 90 4,8 7,7

Die Sterbenswahrscheinlichkeit ist also, soweit die Altersstufen über 10 Jahre in Betracht kommen, beim männlichen Geschlecht, zumal im Alter von 20–30 Jahren, [864] beim weiblichen im Alter von 30–40 Jahren außerordentlich gesunken, aber auch darüber hinaus hat sie eine phänomenal zu nennende, in der Geschichte des deutschen Volkes sicher ähnlich nie vorher zu registrieren gewesene Abnahme erfahren. Insgesamt rücken heute sehr viel größere Massen als früher in das sogenannte mittlere Alter ein. Jenseits des sechzigsten, und zumal siebzigsten Jahres ist die Sterbewahrscheinlichkeit nicht in dem Maße wie in den jüngeren Altersklassen zurückgegangen, was sich aus dem Zuzug erklären dürfte, den die mittleren Altersstufen heute durch Personen erfahren, die früher in jüngerem Alter abgegangen wären und die die Durchschnittsqualität der in das mittlere Alter Gelangenden herabsetzen.

Die Zahl der Sterbefälle war im Jahre 1910:1 103 722. Es ist die niedrigste Ziffer seit der Gründung des Reichs, trotzdem die Bevölkerung seitdem um 58% gewachsen ist.

Absturz der Geburtlichkeit.

Ohne diesen Rückgang der Sterblichkeit hätte das Deutsche Reich heute keine Bevölkerungsvermehrung mehr! Bei der Sterblichkeitsquote von 1872 wären im Jahre 1910 1 986 000 Menschen gestorben, wogegen nur 1 983 000 geboren wurden. In diesen Mißverhältnissen offenbart sich der gleichzeitig mit dem Rückgang der Sterblichkeit erfolgte Absturz der Geburtlichkeit, das „Bevölkerungsproblem“ unserer Tage.

Es kamen auf 1000 Einwohner des Deutschen Reichs im Jahresdurchschnitt Geborene:

1871/80       40,7
1881/90 38,2
1911 29,5

In der Hauptsache entfällt danach der Rückgang der Geburtlichkeit auf die Regierungszeit unseres Kaisers. Der Rückgang vorher war verhältnismäßig unbedeutend. Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man die Zahl der Geborenen statt zu der gesamten Bevölkerung zu der Zahl der 16 bis 60 Jahre alten weiblichen Personen in Beziehung setzt. Etwas stärker als diese sog. allgemeine Fruchtbarkeitsziffer ist hingegen die sog. „eheliche Fruchtbarkeitsziffer“ gesunken, d. h. die auf je 1000 Ehefrauen im Alter unter 60 Jahren entfallene Geburtenziffer. Betrachtet man die Regierungszeit Kaiser Wilhelms II. wieder für sich, so bestätigt sich, daß dem letzten Jahrzehnt vorbehalten war, mehr zu „leisten“ als der ganzen Zeit vorher. Im vorigen Jahrhundert langsam in gleitende Bewegung gekommen, wird die Raschheit, mit der die Kugel abwärts rollt, in dem unseren (fürs erste) immer größer. Es hängt das mit der Klassenschichtung in unserer Gesellschaft und dem Aufbau der Massen als Pyramide zusammen. Infolgedessen traf die Übung der Beschränkung der Kinderzahl, indem sie von oben nach unten sickerte, immer breitere Schichten und ließ, auf die gesamte Volkszahl aufgetragen, den Rückgang immer größer werden. Trotz des ungestümen Tempos der letzten Zeit stehen wir erst im Beginn des Prozesses. Der zu durchmessende Weg liegt aller Wahrscheinlichkeit nach erst zum kleinsten Teile hinter uns.

Das Maß des bisherigen Rückgangs ist in den einzelnen Reichsteilen ein sehr verschiedenes. In Preußen war der Absturz am größten in Berlin, im Deutschen Reich am [865] größten in Hamburg, Bremen und dem Königreich Sachsen. Auf 1000 Ehefrauen im Alter bis zu 50 Jahren kamen ehelich Geborene:

  1872       1910/11
im Deutschen Reich 298 301
in Preußen 301 209
in Berlin 281 111
in Hamburg 278 131
in Bremen 299 160
in Sachsen 286 156

Insgesamt also im Reiche ein Rückgang um rund ein Drittel, in Sachsen, Bremen und Hamburg um ungefähr die Hälfte, in Berlin um nicht viel weniger als zwei Drittel. Die bisher gebotenen Daten seien noch durch folgende ergänzt: Auf 1000 Ehefrauen im Alter bis zu 50 Jahren kamen ehelich Geborene:

  1872       1910/11      
Anhalt 263,4 149,3 –114,1
Lübeck 244,8 152,2 –92,6
Braunschweig 243,6 152,8 –90,8
Mecklenburg-Schwerin 226,4 157,9 –68,5
Hessen 285,1 176,7 –108,4
Baden 314,6 205,1 –109,5
Württemberg 334,3 214,6 –122,7
Bayern 305,2 219,9 –85,3

Was die Zukunft betrifft, so ist es selbstverständlich physiologisch nicht unmöglich, daß der Geburtenrückgang durch einen Geburtenaufstieg abgelöst wird. Es ist aber ebensowohl möglich, daß der Rückgang sich fortsetzt und zu einer Kalamität und weiterhin zu einer Katastrophe wird. Was wird voraussichtlich die kommende Entwicklung sein?

Ursachen des Geburtenrückgangs.

Stehen wir wirklich einer Gefahr gegenüber oder existiert sie, wie gelegentlich behauptet wird, nur in den Köpfen einiger „Überängstlicher“? Ob das eine oder das andere wahrscheinlicher ist, läßt sich nur aus der Kenntnis der Ursachen des Geburtenrückgangs heraus entscheiden.

Über die Ursachen des Geburtenrückgangs herrscht seit längerer Zeit heftiger Streit. Es stehen sich vier oder fünf Deutungsversuche gegenüber.

Einige Statistiker und Bevölkerungstheoretiker (Würzburger, Budge) leiten ihn ganz oder doch im wesentlichen aus dem Rückgang der Sterblichkeit her und sehen voraus, daß, wenn der Rückgang der Sterblichkeit eine Verminderung erfährt, gleiches sich für den Geburtenrückgang ergeben werde. Zweifellos ist eine gewisse Anpassung der Zeugungsfrequenz an die Sterblichkeit der Kinder vorhanden. Ebenso zweifellos ist aber, daß wir in letzter Zeit eine „Überanpassung“ hatten. So hatten wir von 1901 – dem Jahre, das die größte absolute Geburtenziffer in Deutschland gebracht hat – bis 1911 einen Rückgang der relativen Geburtlichkeit von 36,9 auf 25,5 pro Tausend, einen Rückgang [866] dagegen der relativen Sterblichkeit von nur 21,8 auf 18,2, bei den Geburten also binnen einer Dekade ein Minus von 7,4, bei den Sterbefällen ein solches von nur 3,8 auf 1000. Der Geburtenrückgang gewinnt also, nachdem es früher umgekehrt war, jetzt über den Rückgang der Sterblichkeit die Oberhand, d. h. die Geburten erfahren eine viel weitergehende Einschränkung, als durch den Rückgang der Sterblichkeit geboten wäre. Das Sinken der Sterblichkeit kann also schon darnach den Geburtenrückgang nur zum Teile erklären. Dazu kommt aber, daß von der verringerten Sterblichkeit der Erwachsenen ceteris paribus die gegenteilige Wirkung ausgehen muß, und daß auch die verringerte Sterblichkeit der Kinder nicht unter allen Umständen der Geburtenziffer gefährlich werden muß.

Eine andere, von Adolf Wagner und Prinzing versuchte Erklärung geht dahin, daß wir augenblicklich hinsichtlich der Geburten uns in einem Wellentale befinden, das gemäß des Rhythmus geschichtlichen Geschehens über kurz oder lang von einem Wellenberg abgelöst werden dürfte. Für die Prüfung dieser Annahme bedarf es längerer statistischer Reihen. Wir haben regelmäßige statistische Aufnahmen für ganze Länder seit etwa 100 Jahren. In Preußen reichen sie bis 1816 zurück. Aber niemals in dem Auf und Ab der Geburten in dieser Zeit haben wir einen Geburtenrückgang von gleicher Beständigkeit erlebt wie den der letzten zwei Jahrzehnte. Wenn wir, um Ausnahmejahre auszugleichen, immer zwei Jahr zusammenfassen, haben wir in Preußen (und übrigens auch in Deutschland) seit 1890 einen ununterbrochenen Rückgang der Geburtenfrequenz. Niemals vorher hat man in der statistisch kontrollierten Zeit in Preußen Ähnliches erfahren. Wohl ist, wenn man die zwei Jahre 1819 und 1848 einander gegenüberstellt, die Geburtenziffer von 45,2 auf 35,8 pro tausend der Bevölkerung zurückgegangen. Von einer Stetigkeit des Rückgangs in dieser Zeit kann aber keine Rede sein. Vielmehr oszilliert, wenn wir von den Jahren der volkwirtschaftlichen Erholung Preußens in den Jahren 1816/26 absehen, wo die Geburtenziffer infolgedessen ausnahmsweise hoch war (zwischen 46,2 und 42,3), die Geburtenziffer immer um 40 auf 1000 der Bevölkerung und fällt nur ein oder zwei Jahre lang unter dieses Maß oder erhebt sich darüber. Diese Konstanz kommt der Geburtenziffer die ganze Zeit bis 1880 zu. Erst im vorletzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, von 1880 bis 1890, gerät sie erstmalig ins Schwanken. 1890 ist dann die abwärtsgehende Bewegung besiegelt und kennt keine Unterbrechung mehr.

Auf die statistische Erfahrung früherer – statistisch kontrollierbarer – Zeiten kann man sich also für die Erklärung der Erfahrung unserer Frage nicht berufen.

Wieder eine andere Erklärung benutzt die „schlechten Zeiten“, die als solche der Masse des Volkes nicht gestatten, so viel Kinder wie früher in die Welt zu setzen. Diese Erklärung wird von oppositionellen Politikern und von Theoretikern, die politisch jenen nahestehen, begünstigt. So hat ihr beispielsweise jüngst der freisinnige Abgeordnete Georg Gothein, weiter zurück der Sozialtheoretiker Tönnies Worte geliehen.

Gothein macht für den Rückgang den „Bülow-Tarif“ und die Verteuerung verantwortlich, welche die Lebenshaltung des deutschen Volkes seit seiner Annahme erfahren [867] habe. „Früher“, so meint er, „fanden Teuerungsjahre ihren Ausdruck in vermehrter Sterblichkeit und zahlreicheren Eigentumsdelikten, heute im Rückgang der Geburtenziffer.“ Dem ist entgegengehalten worden, daß der Rückgang der Geburten international ist, d. h. für alle Kulturvölker der europäischen Mitte und des europäischen Westens und auch für die Angelsachsen in Amerika und Australien gilt, der Hinweis auf den „Bülow-Tarif“ als den Hauptschuldigen also kaum das Richtige treffen dürfte. Richtig ist an dieser Erklärung jedoch, daß eine Verteuerung des Lebens ganz unabhängig von der Gestaltung der Einkommen aus psychologischen Gründen geeignet ist, manche der auf eine Herabsetzung der Geburtenziffer gehenden Tendenzen zu unterstützen. Ebenso ist sicher, daß eine solche Verteuerung des Lebens mit der Zeit des stärksten Geburtenrückgangs zusammengefallen ist. Die preußischen Verhältnisse veranschaulicht die folgende Tabelle:

Geburten Todesfälle Weizenmehl Kartoffeln Rindfleisch Schweinefleisch
auf 1000 Lebende Preis in Pfg. pro kg
1900/01 37,3 22,3 30 5 127 134
1910/11 30,8 17,5 37 9 161 156

Die Zahl der Todesfälle ist also in dieser Zeit der Verteuerung der Lebensführung nicht gestiegen, vielmehr zurückgegangen, eigentliches Elend hat die Teuerung nicht geschaffen, aber der Geburtenrückgang fällt mindestens zeitlich mit ihr zusammen, und auch eine gewisse ursächliche Verknüpfung ist zweifellos da.

Der bereits genannte Kieler Volkswirt Tönnies hat neben der Teuerung die Heiratsziffer zur Erklärung des Sinkens der Geburtenrate herangezogen. Indes ist in der Gestaltung der Heiratsziffer nichts Auffälliges zu verzeichnen. Die Jahre 1901 bis 1910 hatten mit genau 8 Eheschließungen auf 1000 Menschen eine Heiratsfrequenz, die größer als jene der Dekade 1881/90 und selbst die der Dekade 1851/60 war, die beide jährlich 7,8 aufwiesen. Die Heiratsziffer ist letzthin allerdings etwas zurückgegangen. Aber bei den Eheschließungen erfolgt noch heute ganz regelmäßig ein Auf und Ab in längeren Perioden, wie es irrigerweise von einigen Nationalökonomen auch für die Geburten angenommen wird. Seit Gründung des Reichs schwankte die Heiratsziffer, wenn wir von den ersten Jahren, die Ausnahmecharakter tragen (weil es die durch den Krieg gerissenen Lücken auszufüllen galt), absehen wollen, regelmäßig zwischen 8,5 und 7,5. Dieses Minimum wird auch in unseren Tagen nicht unterboten. Die Eheschließungsfrequenz der Jahre 1904/08 weist noch durchweg Durchschnittsziffern oder überdurchschnittliche Ziffern aus, und insgesamt war die Heiratsfrequenz unsrer Jahre als eine gute zu bezeichnen. Der Erklärung aus der Abnahme der Eheziffer steht auch entgegen, daß die Eheschließungsziffer für die 20–25 Jahre alten Frauen in letzter Zeit sogar gewachsen ist. Dieses Alter ist aber besonders fruchtbar, so daß die Gestaltung der Heiratsverhältnisse eher einer Steigerung, als einer Verminderung der Geburten günstig gewesen wäre.

Große Bedeutung mißt Tönnies weiter der Zunahme der Mischehen bei. Er denkt dabei nicht bloß an die konfessionellen Mischehen, sondern auch an die Ehen verschiedener Stammesangehöriger, die in den Großstädten zusammenströmen. Mit dieser [868] Auffassung steht Tönnies jedoch bisher allein. Es ist ihm jedenfalls nicht gelungen, einen ernst zu nehmenden Beweis dafür zu führen.

Mehr als bloße Vermutung ist dagegen die Erklärung des Geburtenrückgangs aus der Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Eine gewisse Zunahme wird durch die Statistik zumeist wahrscheinlich gemacht und der schädliche Einfluß der Geschlechtskrankheiten auf die Fruchtbarkeit steht außer Zweifel. Diese Zunahme der Geschlechtskrankheiten ist aber lange nicht groß genug, um sie, wie es neuerdings Theilhaber unter dem Schlagworte der sexuellen Not der Tugend getan hat, zu einer der Hauptursachen des Geburtenrückgangs zu stempeln, ganz abgesehen davon, daß sie den Rückgang der Geburtlichkeit auf dem Lande, wo eine Zunahme der Geschlechtskrankheiten sich nicht feststellen läßt, zu erklären außer stände ist.

Von einer lange hindurch gut akkreditierten Theorie wird der gestiegene Wohlstand als Ursache des Geburtenrückgangs ausgegeben, weil der Wohlstand dem Wirtschafter Erwägungen vermittle, denen zufolge eine geringere Kinderzahl vorteilhafter sei. Für diese Theorie hat noch kürzlich, in einer Abhandlung für die bayerische Akademie der Wissenschaften, Lujo Brentano, gleich seinem Schüler Mombert, eine Lanze gebrochen. Erfahrungen aus jüngerer Zeit–Beschränkung der Kinderzahl bei Lehrern und Arbeitern– widersprechen dieser Theorie. Dementsprechend ist von Julius Wolf schon 1901 nicht der Wohlstand, sondern die wachsende „Kultur“ und deutlicher und schärfer 1912 die „Rationalisierung“ unserer ganzen Lebensführung als der Schuldige bezeichnet worden. Danach ist es im wesentlichen der rechnerische Kalkül, die rein verstandesmäßige, der überkommenen Sitte nicht achtende Überlegung, wieviel Kinder dem Lebensgenuß am zuträglichsten sind, was den Rückgang der Geburtenzahl in unserer Zeit entscheidet und ihm den besonderen Charakter verleiht. Dieser rechnerische Kalkül, früher nur in den oberen Schichten üblich, dringt im Maße der „Aufklärung“, religiöser und intellektueller, in immer weitere Kreise, und da in den Schichten der Armut und des Mittelstandes die Kleinhaltung der Familie in der Tat eine nicht geringe Entlastung bedeutet, wird die Zahl der Kinder in der Ehe immer mehr beschränkt. Doppelt werden Kinder als ein Gewicht am Fuße der Eltern zu einer Zeit empfunden, in welcher die Frau eine steigende Rolle im Erwerbsleben spielt, da Schwangerschaft, Geburt und das Schonungsbedürfnis der Wöchnerin ebensoviele Erwerbshindernisse bedeuten. Das Gegenstück des rationalistischen Kalküls ist die kirchliche Gesinnung, insbesondere die katholische Weltanschauung, die ganz und gar in Tradition verankert ist, einer Tradition, die jede Einschränkung der Geburten verdammt.

Gegen die Erklärung des Geburtenrückganges aus der Änderung der psychischen Struktur der Massen ist von Teilhaber der Einwand erhoben worden, dieser Erklärung liege die „irre“ Voraussetzung zugrunde, daß die Menschheit noch vor 20 Jahren „voll und ganz von der Orthodoxie beherrscht gewesen wäre, während sie jetzt durchaus antireligiös sein soll.“ Diese Superlative sind, zumal der zweite, unangebracht. In Wahrheit war aber vor 20 Jahren nur eine geringfügige Minderheit der Religion entfremdet und jetzt ist es eine immer noch wachsende Mehrheit.

In die Erklärung des Geburtenrückgangs aus der „Rationalisierung des Geistes- [869] und Gesellschaftslebens" fügt sich als Teilerklärung Oldenbergs Hinweis auf die Bedeutung der prozentualen Zunahme der städtischen Bevölkerung, denn die Stadt ist der Ort, wo der Prozeß die Rationalisierung am frühesten und intensivsten einsetzt.

Der Geburtenüberschuß in Gegenwart und Zukunft.

Es ist von durchschlagender Wichtigkeit für die Prognose und für die weitere Behandlung des Problems, ob die von uns gegebene Erklärung des Geburtenrückgangs, die übrigens die daneben wirkenden Momente nicht übersehen und in ihrer Bedeutung nicht verkleinern will, im Kern das Richtige trifft. Ist das der Fall, so ist nämlich ein Ende des Geburtenrückgangs noch auf lange hinaus nicht abzusehen. Da aber der Rückgang der Sterblichkeit, der ja heute schon hinter dem Rückgang der Geburten zurückbleibt, letzterem auch weiterhin nicht ebenmäßig folgen kann, so muß allmählich der Geburtenüberschuß kleiner und kleiner werden, ähnlich wie seit längerem in Frankeich. In Frankreich haben das katholische Bekenntnis der Bevölkerung – die katholische Religion bezeichnet den Gebrauch von Präventivmitteln als Todsünde – und die starke Quote ländlicher Bevölkerung dem Rückgang der Geburten entgegengewirkt, trotzdem ist Frankreich jetzt bereits bei einer Geburtenziffer angekommen, welche die durch die Sterblichkeit gerissenen Lücken nur knapp und nicht jedes Jahr mehr auszufüllen vermag. Und nach der Voraussage eines so berufenen Mannes wie Paul Leroy-Beaulieu geht Frankreich nunmehr Zeiten entgegen, wo die Zahl der Sterbefälle über die der Geburten immer stärker hinauswachsen dürfte. Die große Frage ist nun, ob Frankreich damit der kommenden Entwicklung in Deutschland den Spiegel vorhält. Darauf ist zu antworten, daß in Deutschland einer so weitgehenden Beschränkung der Kinderzahl wie in Frankreich der expansive Charakter der Volkswirtschaft, d. h. die reichlichere und wachsende Verwendungsgelegenheit für Arbeitskräfte, wie weiterhin der Umstand entgegenwirkt, daß die Religion, welche Kinder als göttlichen Segen betrachtet, bei uns mehr wirkliche Bekenner als in dem seit langem atheistischen Frankreich hat. Ob diese Kräfte sich aber auf die Dauer als stark genug erweisen werden, dem Rückgang der Geburten zu steuern, muß mindestens als zweifelhaft bezeichnet werden. Es will beachtet sein, daß es auch in den katholischen Bezirken kaum ein „Halten“ mehr gibt. Das besagen beispielsweise die folgenden Daten, in denen einige spezifisch katholische Provinzen einigen spezifisch protestantischen mit z. T. verwandten wirtschaftlichen Verhältnissen gegenübergestellt werden:

vorwiegend katholische Provinzen Preußens
Fruchtbarkeit 1901/1905 1906/1910
Westpreußen 192,7 180,9 –11,8
Posen 191,1 180,1 –11,0
Rheinprovinz 163,9 149,7 –14,2
vorwiegend protestantische Provinzen Preußens
Fruchtbarkeit 1901/1905 1906/1910
Ostpreußen 165,6 153,8 –11,8
Pommern 157,8 142,7 –15,1
Hessen-Nassau 129,7 119,1 –10,6

[870] Augenblicklich haben ja die katholischen Provinzen noch wesentlich höhere Fruchtbarkeitsziffern als die protestantischen – man vergleiche die über 180 Westpreußens und Posens mit den nur 119 Hessen-Nassaus! –, aber auf die „schiefe Ebene“ sind auch sie bereits geraten. Ebenso geht auch die Fruchtbarkeit des Landes, nicht bloß die der Städte zurück, wie wir gleichfalls der preußischen Statistik entnehmen können. Auf 1000 weibliche Personen im Alter von über 16 bis 45 Jahren entfielen durchschnittlich jährlich lebend Geborene:

in den Jahren       in den Städten       auf dem Lande
1876/80 160,6 182,9
1891/95 140,7 181,9
1901/05 129,1 178,7
1906/10 117,6 168,8

Bis 1905 „hielt“ sich also das Land einigermaßen. Seitdem ist der Rückgang der Geburten kein wesentlich geringerer mehr als in den Städten. Das Land beginnt sich offensichtlich die städtischen Sitten anzueignen, wennschon es noch immer von einer um 43,5% stärkeren Fruchtbarkeit ist.

Schließlich stellt auch die Zugehörigkeit zur slavischen Rasse in Deutschland keinen Damm gegen den Geburtenrückgang dar, wie ein Vergleich von Westpreußen und Posen mit rein deutschen Provinzen lehrt. Der Rückgang ist – absolut gesehen – in den polnischen Landesteilen nur um ein weniges geringer als in Ostpreußen und in der Rheinprovinz.

So sehen wir also die Geburten allerwärts, bei Deutschen und Polen, Katholiken und Protestanten, in Stadt und Land den Rückgang aus den bisherig innegehabten Positionen antreten. Wo der Rückgang enden wird, ist nicht zu erkennen.

Zur Würdigung der kommenden Entwicklung.

Die Frage, ob diese Aussicht als erfreulich oder unerfreulich anzusprechen ist, fällt aus dem Rahmen des Bevölkerungsproblems, wie es hier gedacht und zur Bearbeitung gestellt ist. Wenn ihr doch einige Worte gewidmet werden sollen, so mag kurz gesagt sein, daß sozial gegen den Geburtenrückgang, wenn er sich in Grenzen hält, nichts einzuwenden sein würde, national dagegen die kommende Entwicklung zweifellos Gefahren in sich birgt. Hauptsächlich ist das der Fall mit Rücksicht auf die Vermehrungstendenz der Bevölkerung Rußlands, welche der Rationalisierung noch auf längere Zeit hinaus verschlossen bleiben dürfte. Der Bevölkerungsvorsprung Rußlands gegen Deutschland, heute schon volle hundert Millionen, hat die Aussicht der Verdoppelung in absehbarer Zeit. Und wenn auch die Interessensphären Rußlands und Deutschlands vorläufig sich nicht eigentlich kreuzen, kann das doch in der Zukunft, zumal wenn die Produktivkräfte Chinas zur Entfaltung kommen, und bei anderen Gelegenheiten der Fall sein, wenn Deutschland Weltmacht bleiben will.

Durch den Geburtenrückgang erwachsen den zur Wahrung des nationalen Interesses berufenen Faktoren sonach ernste Aufgaben. Das Wichtigste hat freilich als versäumt zu gelten, denn nach dem Satz „Principiis obsta“ wäre das Mögliche vorzukehren [871] gewesen, zur Zeit wo der Geburtenrückgang begann. Immerhin entbehrt man aber auch heute nicht der Handhaben, auf seine Verlangsamung hinzuwirken[1]. Hier liegt eine der wichtigsten Aufgaben der deutschen Nation. Möchte sie endlich in Angriff genommen werden und möchte sich ihr die ganze Energie des Kaisers im zweiten Vierteljahrhundert seiner Herrschaft, nicht minder aber die der verbündeten Fürsten und der Hansastädte, zuwenden.


  1. Vgl. die Schriften von Julius Wolf, Der Geburtenrückgang, die Rationalisierung des Sexuallebens in unserer Zeit, 1912; das Zweikindersystem im Anmarsch und der Feldzug dagegen, 1912, und den Vortrag auf dem Breslauer Kongreß für Säuglingsschutz, 1913.