Das Wesen des Christentums/Elfte Vorlesung

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Elfte Vorlesung.




Das apostolische Zeitalter liegt hinter uns. Wir haben gesehen, daß das Evangelium in demselben von dem mütterlichen Boden des Judentums losgelöst und auf den weiten Plan des griechisch-römischen Reichs gestellt worden ist. Der Apostel Paulus ist es vornehmlich gewesen, der dies vollzogen und damit das Christentum in die Weltgeschichte übergeführt hat. Die neue Verbindung, die es empfing, bedeutete an sich keine Hemmung; im Gegenteil, die christliche Religion war darauf angelegt, sich in der Menschheit – und diese stellte sich damals im orbis Romanus dar – zu verwirklichen. Aber neue Formen mußten sich nun entwickeln, und sie bedeuteten auch eine Beschränkung und Belastung. Wir werden dieser Erkenntnis näher treten, wenn wir nun

Die christliche Religion in ihrer Entwicklung zum Katholizismus

betrachten.

Das Evangelium ist nicht als statutarische Religion in die Welt getreten, und es kann daher auch in keiner Form seiner intellektuellen und gesellschaftlichen Ausprägung, auch nicht in der ersten, seine klassische und bleibende Erscheinung haben. Diesen Hauptgedanken muß sich der Historiker stets gegenwärtig halten, der es unternimmt, den Gang der christlichen Religion vom apostolischen Zeitalter durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen. Weil diese Religion über den Gegensätzen von Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Arbeit und Weltflucht, Vernunft und Ekstase, Judentum und Griechentum steht, so vermag sie auch unter den[120] verschiedensten Bedingungen zu existieren, wie sie ursprünglich ihre Kraft unter dem Schutz der jüdischen Religion entfaltet hat. Aber sie kann es nicht nur – sie muß es, wenn anders sie die Religion der Lebendigen sein will und selbst lebendig ist. Sie hat, als Evangelium, nur ein Ziel, daß der lebendige Gott gefunden werde, daß jeder einzelne ihn finde als seinen Gott und an ihm Stärke und Freude und Friede gewinne. Wie es dieses Ziel durch die Jahrhunderte fortschreitend erreicht, ob mit dem Koeffizienten des Jüdischen oder des Griechischen, der Weltflucht oder der Kultur, des Gnosticismus oder des Agnosticismus, einer Kirchenanstalt oder eines ganz freien Vereins oder was es sonst noch für Rinden geben mag, die den Kern schützen und in denen der Saft aufsteigt, das alles ist Nebensache, ist dem Wechsel unterworfen, gehört den Jahrhunderten an, kommt mit ihnen und geht mit ihnen.

Die größte Wandlung nun, welche die neue Religion je erlebt hat, beinahe noch größer als die, durch welche die heidenchristliche Kirche entstand und die palästinensischen Gemeinden in den Hintergrund rückten – die größte Wandlung fällt in das zweite Jahrhundert unserer Zeitrechnung und somit in den Kreis unserer heutigen Betrachtung.

Nehmen wir unseren Standort um das Jahr 200, etwa 100–120 Jahre nach dem apostolischen Zeitalter. Drei oder vier Generationen waren seit seinem Ablauf vergangen, nicht mehr – welchen Anblick gewährt die christliche Religion nun?

Wir sehen ein großes kirchlich-politisches Gemeinwesen, daneben zahlreiche „Sekten“, die sich christlich nennen, denen aber dieser Name abgesprochen wird und die bitter bekämpft werden. Jenes große kirchlich-politische Gemeinwesen stellt sich als ein das Reich umspannender Verband von einzelnen Gemeinden dar. Jede ist selbständig, aber sie sind wesentlich gleichartig verfaßt und miteinander durch ein und dasselbe Lehrgesetz und durch feste Regeln für die Interkommunion verbunden. Das Lehrgesetz scheint auf den ersten Blick wenig umfangreich zu sein, aber jeder seiner Sätze ist von weittragendster Bedeutung; zusammen umschließen sie eine Fülle metaphysischer, kosmologischer und geschichtlicher Fragen, beantworten sie bestimmt und geben Aufschluß über die Entwicklung der Menschheit von der Schöpfung bis zu ihrer zukünftigen Existenzform. Die Anweisungen Jesu für die Lebensführung sind nicht in dies Lehrgesetz aufgenommen; sie werden als „Regel der Dis-[121] ziplin“ von der „Glaubensregel“ scharf unterschieden. Jede Kirche stellt sich aber auch als eine Kultusanstalt dar, in welcher Gott nach einem feierlichen Ritual verehrt wird. Charakteristisch tritt in dieser Kultusanstalt bereits der Unterschied von Priestern und Laien hervor; gewisse gottesdienstliche Akte kann überhaupt nur der Priester vollziehen; seine Vermittlung ist durchaus notwendig. Aber überhaupt – nur durch Vermittlungen soll man sich Gott nahen, durch Vermittlung der rechten Lehre, der rechten Ordnungen und eines heiligen Buches. Der lebendige Glaube scheint sich in ein zu glaubendes Bekenntnis verwandelt zu haben, die Hingabe an Christus in Christologie, die brennende Hoffnung auf das „Reich“ in Unsterblichkeits- und Vergottungslehre, die Prophetie in gelehrte Exegese und theologische Wissenschaft, die Geistesträger in Kleriker, die Brüder in bevormundete Laien, die Wunder und Heilungen in nichts oder in Priesterkunststücke, die heißen Gebete in feierliche Hymnen und Litaneien, der „Geist“ in Recht und Zwang. Dabei stehen die einzelnen Christen mitten im weltlichen Leben, und die brennendste Frage lautet: Wieviel von diesem Leben darf man „mitmachen“, ohne seinen Christenstand einzubüßen? In 120 Jahren hat sich diese ungeheure Wandlung vollzogen! Wir fragen erstlich: Wie ist das geworden? sodann: Hat sich das Evangelium unter diesem Wechsel der Dinge zu behaupten vermocht, und wie hat es sich behauptet?


Bevor wir diese beiden Fragen zu beantworten suchen, haben wir uns aber einer Anweisung zu erinnern, die der Historiker niemals vernachlässigen darf. Wer den wirklichen Wert und die Bedeutung einer großen Erscheinung, einer mächtigen Hervorbringung der Geschichte, feststellen will, der muß allem zuvor nach der Arbeit fragen, die sie geleistet, bezw. nach der Aufgabe, die sie gelöst hat. Wie jeder einzelne verlangen kann, daß er nicht nach dieser oder jener Tugend oder Untugend, nicht nach seinen Gaben oder nach seinen Schwächen beurteilt werde, sondern nach seinen Leistungen, so müssen auch die großen geschichtlichen Gebilde, die Staaten und die Kirchen, in erster Linie – man darf vielleicht sagen, ausschließlich – nach dem geschätzt werden, was sie geleistet haben. Die Arbeit entscheidet. In jedem anderen Falle kommt man zu ganz vagen, bald optimistischen, bald pessimistischen Urteilen und zu geschichtlichen Kannegießereien. So haben wir auch hier[122] in Bezug auf die zum Katholizismus entwickelte Kirche allem zuvor zu fragen, worin hat ihre Arbeit bestanden, welche Aufgabe hat sie gelöst, was hat sie geleistet? Ich stelle die Antwort an die Spitze. Sie hat ein Doppeltes geleistet: erstlich, sie hat den Naturdienst, den Polytheismus und die politische Religion bekämpft und mächtig zurückgedrängt; zweitens, sie hat die dualistische Religionsphilosophie überwunden. Die Kirche am Anfang des dritten Jahrhunderts hätte auf die vorwurfsvolle Frage: „Wie konntest du dich von deinen Anfängen so weit entfernen, was ist aus dir geworden?“ antworten können: „Ja, so bin ich geworden; vieles habe ich abwerfen müssen, vieles auf mich nehmen; ich habe kämpfen müssen, mein Leib ist voll Narben und mein Gewand ist mit Staub bedeckt; aber ich habe Siege erfochten und habe gebaut; ich habe den Polytheismus zurückgeschlagen; ich habe die politische Religion entwertet und diese Spottgeburt nahezu vernichtet; ich habe den Verlockungen einer tiefsinnigen Religionsphilosophie kein Gehör geschenkt und habe ihr den allmächtigen Schöpfergott siegreich entgegengestellt; ich habe endlich einen großen Bau gezimmert, eine Festung mit Türmen und Bollwerken; in ihr bewache ich meine Schätze und schütze die Schwachen.“ So hätte sie antworten können und hätte die Wahrheit gesprochen. Aber, wendet man ein, Kampf und Sieg gegenüber dem Naturdienst und dem Polytheismus war etwas Geringes; sie waren schon morsch und hohl geworden und besaßen nur noch wenig Kraft. Der Einwand ist nicht richtig. Gewiß, viele Ausgestaltungen dieser Art von Religion waren von der Zeit überholt und dem Untergang nahe; aber sie selbst, die Naturreligion, war ein gewaltiger Gegner. Noch heute vermag sie unsre Seelen zu berücken und mächtig die Saiten unseres Gemütes zu rühren, wenn ein begeisterter Prophet sie verkündet – wie viel mehr damals! Das hohe Lied von der Sonne, die allem lebendigen Leben giebt, hat selbst einen Goethe zeitlebens mit religiöser Gewalt ergriffen und ihn zu einem Sonnenanbeter gemacht.[WS 1] Wie hinreißend aber war dieser Hymnus in jenen Tagen, da die Wissenschaft die Natur noch nicht entgöttert hatte! Das Christentum hat die Naturreligion überwunden, überwunden nicht nur für diesen oder jenen einzelnen – das war immer geschehen –, sondern so, daß nun eine große, feste Gemeinschaft da war, die durch eindrucksvolle Lehren den Naturdienst und Polytheismus widerlegte und der tieferen religiösen Stimmung Halt und Stütze[123] bot. Und die politische Religion! Die ganze Macht des Staates stand hinter dem Kaiserkult, und es schien so leicht und ungefährlich, mit ihm zu paktieren – aber die Kirche hat keinen Schrittbreit nachgegeben; sie hat die kaiserlichen Staatsgötzen abgethan. Das Blut der Märtyrer ist geflossen, damit eine unverrückbare Grenze entstände zwischen der Religion und der Politik, zwischen Gott und dem Kaiser. Endlich, die Kirche hat sich inmitten einer religionsphilosophisch tief bewegten Zeit gegenüber allen dualistischen Spekulationen behauptet und ihnen, die oft ihren eigenen Aufstellungen scheinbar so nahe kamen, in heißem Ringen die monotheistische Betrachtung entgegengesetzt. Hier aber war der Kampf um so schwerer, als viele und zwar gerade sehr hervorragende und begabte Christen mit dem Gegner gemeinsame Sache machten und selbst Dualisten wurden. Die Kirche blieb fest. Nimmt man nun noch hinzu, daß sie trotz dieser Gegenbewegungen gegen den griechisch-römischen Geist es doch verstanden hat, eben diesen Geist an sich zu fesseln – anders als das Judentum, von dessen Wirken auf das Griechentum das Wort gilt: „Du hast die Kraft mich anzuziehn besessen, doch mich zu halten hast du keine Kraft“[WS 2] –, nimmt man ferner hinzu, daß im zweiten Jahrhundert die Grundlagen für alles „Kirchliche“ bis auf den heutigen Tag gelegt worden sind, so kann man nur staunen über die Größe der Leistung, die damals vollbracht worden ist.


Wir kehren zu den beiden Fragen zurück, die wir aufgeworfen haben: „Wie hat sich die große Wandlung vollzogen?“ und „Hat sich das Evangelium unter diesem Wechsel der Dinge behauptet, bezw. wie hat es sich behauptet?“

1. Es sind, wenn ich recht sehe, drei Hauptmomente, die den großen Umschwung herbeigeführt und die Bildung neuer Formen bewirkt haben. Das erste entspricht einem allgemeinen Gesetze in der Religionsgeschichte; denn wir treffen es in der Entwicklung jeder Religion. Wenn die zweite und dritte Generation vorübergegangen ist, wenn hunderte ja Tausende nicht mehr durch Bekehrung, sondern durch Überlieferung und Geburt zu der neuen Religion gehören – trotz Tertullian’s Wort: fiunt, non nascuntur Christiani[WS 3] –, wenn neben die, welche den Glauben ergriffen haben wie einen Raub, in großer Zahl solche treten, die ihn festhalten wie ein äußeres Gewand, dann tritt stets ein Umschwung der Dinge[124] ein. Aus der Religion der lebendigen Empfindung und des Herzens wird die Religion der Sitte und darum der Form und des Gesetzes. Eine neue Religion mag mit der größten Kraft, dem höchsten Enthusiasmus und gewaltigen inneren Erschütterungen einsetzen, sie mag dabei die geistige Freiheit noch so sehr betonen – wo ist das alles jemals lebendiger zum Ausdruck gekommen als in der Verkündigung des Paulus? –, dennoch, selbst wenn man die Gläubigen zur Ehelosigkeit zwingt und nur Erwachsene aufnimmt, wird der Prozeß der Verdichtung und Vergesetzlichung nicht ausbleiben. Sofort erstarren dann die Formen der Religion; sie erhalten eben durch die Erstarrung erst wirkliche Bedeutung, und neue Formen treten hinzu. Sie bekommen nicht nur den Wert von Regeln und Gesetzen, sondern unvermerkt werden sie so angeschaut, als umschlössen sie den Inhalt der Religion selbst, ja wären der Inhalt. Die, welche die Religion nicht empfinden, müssen sie so anschauen; denn sonst hätten sie überhaupt nichts, und die, welche wirklich noch in der Religion leben, müssen sie so handhaben; denn sonst vermögen sie auf die andern nicht einzuwirken. Jene sind keineswegs notwendig Heuchler. Die eigentliche Religion ist ihnen freilich verschlossen; das wichtigste Element ist ausgeströmt.[AU 1] Aber man vermag, ohne in der Religion zu leben, sie doch aus verschiedenen Gesichtspunkten zu schätzen. Die Schätzung kann eine moralische sein oder eine polizeiliche, sie kann vor allem auch eine ästhetische sein. Als am Anfang dieses Jahrhunderts der Katholizismus bei uns und in Frankreich durch die Romantiker wieder zurückgeführt wurde, da war es vor allem Chateaubriand, der sich in der Verherrlichung desselben nicht genug thun konnte und sich ganz als Katholiken zu empfinden meinte. Aber ein scharfblickender Kritiker erklärte, Herr Chateaubriand irre sich in seiner Empfindung; er glaube ein wirklicher Katholik zu sein; in Wahrheit stehe er vor der alten Ruine der Kirche und rufe aus: „O, wie schön!“ Das ist eine der Formen, in denen man eine Religion schützen kann, ohne ihr innerlich anzugehören; es giebt aber noch viele andere, und unter ihnen sind auch solche, die dem wirklichen Inhalt derselben näher stehen. Sie alle aber haben das Gemeinsame, daß das eigentliche Erlebnis der Religion nicht mehr erlebt wird oder nur unsicher und gebrochen. Dagegen werden ihre abgeleiteten Erscheinungen und Wirkungen hoch gehalten und sorgsam gehütet. Das, was in den Lehren, Regeln, Ordnungen und kul-[125] tischen Ausgestaltungen zum Ausdruck kommt, wird als die Sache selbst behandelt. Dieses also ist das erste Moment in der Wandlung der Dinge: der ursprüngliche Enthusiasmus, im großen Sinn des Worts, strömt aus, und alsbald entsteht die Religion des Gesetzes und der Formen.

2. Aber es strömte im Laufe des 2. Jahrhunderts nicht nur ein ursprüngliches Element aus; es strömte auch ein anderes ein. Wenn diese jugendliche Religion das Band nicht zerschnitten hätte, das sie mit dem Judentum verband, auch dann hätte sie, da sie sich dauernd auf dem Boden der griechisch-römischen Welt niederließ, affiziert werden müssen von dem Geist und der Kultur derselben. In wieviel höherem Grade aber stand sie diesem Geiste offen, nachdem sie sich mit scharfem Schnitt von der jüdischen Religion und dem jüdischen Volke getrennt hatte! Körperlos wie ein luftiges Wesen schwebte sie über der Erde, körperlos und einen Körper suchend. Der Geist baut sich den Leib, gewiß – aber er baut ihn, indem er sich das assimiliert, was um ihn ist. Das Einströmen des Griechentums, des griechischen Geistes, und die Verbindung des Evangeliums mit ihm ist die größte Thatsache in der Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts, und sie setzte sich, grundlegend vollzogen, in den folgenden Jahrhunderten fort. Man kann drei Stufen unterscheiden, in denen das Griechische auf die christliche Religion eingewirkt hat, und dazu eine Vorstufe. Die Vorstufe haben wir in einer früheren Vorlesung bereits erwähnt. Sie liegt in den Ursprüngen des Evangeliums und ist geradezu eine Bedingung seiner Entstehung gewesen. Erst unter den ganz neuen Verhältnissen, die Alexander der Große geschaffen hatte, erst nachdem die Zäune niedergerissen waren, welche die Völker des Orients voneinander und von dem Griechentum trennten, erst damals konnte sich das Judentum entschränken und der Entwicklung zur Weltreligion zustreben. Die Zeit war erfüllt, als man auch im Orient griechische Luft atmen konnte und der geistige Horizont sich über das eigene Volk hinaus ausdehnte. Doch kann man nicht sagen, daß in den ältesten christlichen Schriften, geschweige im Evangelium, ein griechisches Element in irgend erheblichem Maße zu finden ist. Will man es suchen, so muß man es – von einigen bei Paulus, Lukas[AU 2] und Johannes hervortretenden Spuren abgesehen – in der Möglichkeit der Erscheinung der neuen Religion selbst suchen. Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Die erste[126] Stufe eines wirklichen Einströmens bestimmter griechischer Gedanken und griechischen Lebens ist auf die Zeit um das Jahr 130 anzusetzen. Damals begann die griechische Religionsphilosophie einzuströmen und erreichte sofort das Centrum der Religion. Sie suchte den innern Kontakt mit ihr, und umgekehrt streckte sich auch die christliche Religion selbst nach dieser Bundesgenossin aus. Von der griechischen Philosophie ist die Rede; nichts von Mythologie, griechischem Kultus u. s. w. ist noch zu spüren;[AU 3] nur das große Kapital, welches seit Sokrates von der Philosophie erarbeitet worden war, wird vorsichtig und unter Kautelen von der Kirche aufgenommen. Etwa ein Jahrhundert später, um die Jahre 220/30 tritt die zweite Stufe ein: jetzt wirken griechische Mysterien und griechische Zivilisation in der Breite ihrer Entwicklung auf die Kirche ein, jedoch noch immer nicht die Mythologie und der Polytheismus. Aber, wiederum ein Jahrhundert später, da etabliert sich das ganze Griechentum mit allem, was es in sich ausgebildet hat und besitzt, in der Kirche. Natürlich fehlen auch hier die Kautelen nicht, aber sie bestehen vielfach nur in einem Wechsel der Etiketten; die Sache selbst wird unverändert recipiert, und im Heiligendienst entsteht geradezu eine christliche Religion niederer Ordnung. Mit der zweiten und dritten Stufe haben wir es an dieser Stelle nicht zu thun, sondern nur mit jenem Einströmen des griechischen Geistes, welches durch die Aufnahme der griechischen Philosophie, vornehmlich des Platonismus, bezeichnet ist. Wer kann leugnen, daß sich hier wohlverwandte Elemente zusammengeschlossen haben! In der religiösen Ethik der Griechen, wie sie in heißer Arbeit auf Grund von inneren Erfahrungen und metaphysischen Spekulationen gewonnen war, sprach sich soviel Tiefe und Zartheit der Empfindung, soviel Ernst und Würde und – vor allem – eine so starke monotheistische Frömmigkeit aus, daß die christliche Religion an diesem Schatze nicht teilnahmlos vorübergehen konnte. Zwar fehlte und befremdete in ihm manches: es fehlte eine Persönlichkeit, an welcher diese Ethik als wirkliches Leben angeschaut werden konnte, und es befremdete der noch immer bestehende Zusammenhang mit dem „Dämonendienst“, dem Polytheismus; aber im ganzen und im einzelnen empfand man doch Verwandtes und nahm es auf.

Neben der Ethik aber ist es auch ein kosmologischer Begriff gewesen, den die Kirche damals recipierte, und der nach wenigen[127] Jahrzehnten in ihrer Lehre eine beherrschende Stellung erlangen sollte – der Logos. Das griechische Denken war von der Betrachtung der Welt und des Innenlebens aus zu dem Begriff einer wirksamen Centralidee gelangt – in welchen Stufen, kann hier unerörtert bleiben. In dieser Centralidee erblickte man die Einheit des obersten Prinzips der Welt, des Denkens und der Ethik, zugleich aber die Gottheit selbst als schaffende und wirkende im Unterschied von der ruhenden. Es war der wichtigste Schritt innerhalb der christlichen Lehrgeschichte, der je gethan worden ist, als am Anfang des 2. Jahrhunderts christliche Apologeten die Gleichung vollzogen: der Logos ist Jesus Christus. Schon vor ihnen hatten alte Lehrer unter den vielen Prädikaten, die sie Christus gaben, ihn auch „den Logos“ genannt; ja einer von ihnen, Johannes, hatte bereits den Satz aufgestellt: „der Logos ist Jesus Christus“[WS 4]; aber er hatte diesen Satz noch nicht zum Fundament der ganzen Spekulation über ihn gemacht; im Grunde war auch ihm „Logos“ nur ein Prädikat. Jetzt aber traten Lehrer auf, die vor ihrer Belehrung Anhänger der platonisch-stoischen Philosophie gewesen waren, und denen deshalb der Begriff „Logos“ ein unveräußerliches Stück ihrer Weltanschauung bildete. Sie verkündigten, daß Jesus Christus die leibhaftige Erscheinung des Logos gewesen sei, der sich vorher nur in Kraftwirkungen offenbart habe. Statt des ganz unverständlichen Begriffs „Messias“ war mit einem Schlage ein verständlicher gewonnen; die in der Fülle ihrer Aussagen schwankende Christologie empfing eine feste Form; die Weltbedeutung Christi war sicher gestellt, sein geheimnisvolles Verhältnis zur Gottheit geklärt, Kosmos, Vernunft und Ethik in eine Einheit gefaßt. In der That eine wundervolle Formel! und war sie nicht vorbereitet, ja gefordert durch die messianischen Spekulationen, wie sie der Apostel Paulus und andere alte Lehrer dargeboten hatten? Die Erkenntnis, man müsse das Göttliche in Christus als den Logos fassen, eröffnete eine Fülle von Problemen und gab ihnen doch zugleich ganz bestimmte Grenzlinien und Direktiven. Die Einzigartigkeit Christi allen Rivalen gegenüber schien auf die einfachste Weise sicher gestellt, und doch gewährte der Begriff dem Denken soviel Freiheit und Spielraum, daß je nach Bedarf Christus einerseits als die wirksame Gottheit selbst, andererseits noch immer als der Erstgeborene unter vielen Brüdern, und als der Anfang der Schöpfung Gottes, angeschaut werden konnte.

[128] Welch ein Beweis für den Eindruck der Predigt von Christus ist es, daß griechische Philosophen ihn mit dem Logos zu identifizieren vermochten! Durch nichts war es vorbereitet, in einer geschichtlichen Person die Inkarnation desselben zu konstatieren, niemals ist es einem spekulierenden Juden eingefallen, den Messias und den Logos zu identifizieren; niemals ist einem Philo z. B. diese Gleichsetzung in den Sinn gekommen! Sie gab einer geschichtlichen Thatsache metaphysische Bedeutung; sie zog eine in Raum und Zeit erschienene Person in die Kosmologie und Religionsphilosophie; indem sie aber eine Person so auszeichnete, führte sie die Geschichte überhaupt auf die Höhe der Weltbewegung.

Die Identifizierung des Logos mit Christus wurde der entscheidende Punkt für die Verschmelzung der griechischen Philosophie mit dem apostolischen Erbe und führte die denkenden Griechen zu diesem. Für die Mehrzahl unter uns ist jene Identifizierung unannehmbar, weil das Denken über Welt und Ethik uns überhaupt nicht auf einen wesenhaften Logos führt. Aber man müßte blind sein, um zu verkennen, daß für jenes Zeitalter der Logos die zweckmäßige Formel gewesen ist, um die christliche Religion mit dem griechischen Denken zu verbinden, und es ist auch heute noch nicht schwer, ihr einen haltbaren Sinn abzugewinnen. Aber lediglich ein Segen ist sie nicht gewesen. In noch weit höherem Grade als die älteren Christusspekulationen hat sie das Interesse absorbiert, den Sinn von der Einfalt des Evangeliums abgezogen und es in steigendem Maße in eine Religionsphilosophie verwandelt. Der Satz: der Logos ist unter uns erschienen, hatte eine berauschende Wirkung; aber der Enthusiasmus und der Aufschwung der Seele, den er hervorrief, führten nicht sicher zu dem Gott, den Jesus Christus verkündigt hat.

3. Das Ausströmen eines ursprünglichen Elements und das Einströmen eines neuen, des griechischen, erklärt den großen Wandel, den die christliche Religion im 2. Jahrhundert erlebt hat, noch nicht vollständig. Man muß sich drittens des gewaltigen Kampfes erinnern, den sie innerhalb ihrer eigenen Grenzen damals gekämpft hat. Parallel nämlich mit dem langsamen Einströmen des griechisch-philosophischen Elements gingen auf der ganzen Linie Versuche, die man kurzweg als „akute Hellenisierung“ bezeichnen kann. Sie bieten uns das großartigste geschichtliche Schauspiel; in jener Epoche[129] selbst aber waren sie die furchtbarste Gefahr. Das zweite Jahrhundert ist das Jahrhundert der Religionsmischung, der Theokrasie, wie kein anderes vor ihm. In diese sollte das Christentum als ein Element neben anderen, wenn auch als das wichtigste, hineingezogen werden. Jener „Hellenismus“, der das versuchte, hatte bereits alle Mysterien, die orientalische Kultweisheit, das Sublimste und das Absurdeste, an sich gezogen und es durch das nie versagende Mittel der philosophischen, d. h. der allegorischen Deutung in ein schimmerndes Gewebe versponnen. Nun stürzte er sich – man muß sich so ausdrücken – auf die christliche Verkündigung. Er wurde von ihrer Erhabenheit ergriffen; er beugte sich vor Jesus Christus als dem Weltheilande; er bot dieser Predigt alles zum Geschenke an, was er besaß, alle Schätze seiner Kultur und seiner Weisheit; aber gelten lassen sollte sie es. Als die Herrscherin sollte sie einziehen in eine fertige Welt- und Religionslehre, in die Mysterien, die für sie bereitet waren. Welch ein Beweis für den Eindruck, den diese Predigt gemacht hat, und welch eine Versuchung! Dieser „Gnosticismus“ – so nennt man die Bewegung –, in einer Fülle von Religionsexperimenten lebendig, etablierte sich unter dem Namen Christi, empfand auch manche christliche Gedanken kraftvoll und nachhaltig, suchte das noch Ungestaltete zu gestalten, das äußerlich Unfertige abzuschließen und den ganzen Strom der christlichen Bewegung in sein Bett zu lenken. Die Mehrzahl der Gläubigen, von ihren Bischöfen geleitet, ging auf diese Verlockungen nicht ein, sondern nahm den Kampf mit ihnen auf, überzeugt, daß hier eine dämonische Versuchung laure. Kämpfen aber hieß in diesem Falle sich abschließen, d. h. die Grenzen des Christlichen mit fester Hand ziehen und alles, was sich nicht in ihnen halten wollte, für heidnisch erklären. Der Kampf mit dem Gnosticismus hat die Kirche genötigt, ihre Lehre, ihren Kultus und ihre Disziplin in feste Formen und Gesetze zu fassen und jeden auszuschließen, der ihnen nicht Gehorsam leistete. Überzeugt, daß sie überall nur das Überlieferte konserviere und schätze, hat sie keinen Augenblick daran gezweifelt, daß der Gehorsam, den sie forderte, nichts anderes sei als die Unterwerfung unter den göttlichen Willen selbst, und daß sie in den Lehren, die sie den Gegnern gegenüber stellte, die Religion selbst ausgeprägt habe.

Bezeichnet man unter „katholisch“ die Lehr- und Gesetzeskirche, so ist sie damals, im Kampfe mit dem Gnosticismus, entstanden.[130] Um ihn abzuwehren und zu besiegen, hat sie einen teuren Preis zahlen müssen; fast kann man sagen: „Victi victoribus legem dederunt.“[WS 5] Den Dualismus und den akuten Hellenismus hat sie abgewehrt; aber indem sie eine Gemeinschaft mit einer ausgeführten Lehre, einem bestimmten äußeren Kultus etc. wurde, nahm sie notgedrungen Formen an, die jenen analog waren, die sie bei den Gnostikern bekämpfte. Man tritt in das Schema des Gegners über, wenn man stückweise seinen Thesen andere entgegensetzt! Und wieviel von ihrer ursprünglichen Freiheit hat sie eingebüßt! Jetzt mußte sie erklären: Du bist kein Christ, du kannst überhaupt nicht in Beziehung zu Gott treten, wenn du nicht allem zuvor diese Lehren anerkannt, jenen Ordnungen Gehorsam geleistet und bestimmte Vermittlungen aufgesucht hast. Auch soll keiner irgend ein religiöses Erlebnis für legitim halten, das nicht von der richtigen Lehre approbiert und von den Priestern gutgeheißen ist. Einen andern Weg, andere Mittel fand die Kirche nicht, um sich gegen den Gnosticismus zu behaupten, und was zum Schutze nach außen festgestellt worden war, wurde zum Palladium, ja zum Fundamente im Innern. Gewiß, diese ganze Entwicklung wäre wahrscheinlich auch ohne jenen Kampf eingetreten – die beiden von uns an erster Stelle besprochenen Elemente hatten sie auch herbeigeführt –, aber daß sie so rapid eintrat und sich so sicher, ja drakonisch ausgestaltete, ist eine Folge des Kampfes, in welchem es sich um die Existenz der überlieferten Religion gehandelt hat. Ganz abzuweisen aber ist die oberflächliche Meinung, daß der persönliche Ehrgeiz Einiger die Gesetzlichkeit und das ganze Priesterwesen begründet habe. Bereits das Ausströmen des ursprünglichen, lebendigen Elements erklärt ihr Aufkommen hinreichend. La médiocrité fonda l’autorité. Wer die Religion nur als Sitte und Gehorsam kennt, der schafft den Priester, um einen wesentlichen Teil der Verpflichtungen, die er fühlt, auf ihn abladen zu können; erschafft auch das Gesetz, denn ein Gesetz ist den Halben bequemer als ein Evangelium.


Die Momente, welche die große Wandlung herbeigeführt haben, haben wir zu skizzieren versucht. Es erübrigt uns noch, die zweite Frage zu beantworten: Hat sich das Evangelium unter diesem Wechsel der Dinge behauptet, bezw. wie hat es sich behauptet? Daß es unter ganz neue Verhältnisse getreten ist, ist bereits offenbar; wir werden sie aber noch genauer kennen lernen müssen.




Anmerkungen des Autors (1908)

  1. „das wichtigste Element ist ausgeströmt“ – besser: „aus der Religion, wie sie sie haben, ist das wichtigste Element ausgeströmt“.
  2. Bei Lukas sind es nicht nur Spuren des griechischen Elements; er ist ein Grieche, und den griechischen Geist hat er auch in seinen Schriften zum Ausdruck gebracht; aber er hat mit großer Gewissenhaftigkeit versucht, seinen Lesern den Geist des frommen Judentums nahezubringen und auch den evangelischen Sprüchen ihre ursprüngliche Farbe zu erhalten.
  3. „nichts von Mythologie, griechischem Kultus u. s. w. ist noch zu spüren“. – Dieser Satz ist bestritten worden und läßt sich auch nicht vollkommen aufrecht erhalten: in den griechischen Legenden, in den apokalyptischen Ausführungen und auch in den Sakramenten steckt doch manches Mythologische; aber der Nachweis, daß es direkt aus heidnischer Beeinflußung stammt, ist bisher nicht gelungen. Es steckte vielmehr schon im damaligen Judentum, und von dort hat es das Christentum übernommen; auch gehörte es in der großen Kirche mehr der Peripherie an und beeinflußte den „Glauben“ kaum noch.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vgl. etwa Goethes Äußerung gegenüber Johann Peter Eckermann (1792–1854), in: ders. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, S. 747f.
  2. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil, Nacht, Z. 624f.:

    Hab’ ich die Kraft dich anzuziehn besessen;
    So hatt’ ich dich zu halten keine Kraft.

  3. Tertullian (um 150–230), Apologeticus 18. Zu Deutsch: „Man wird Christ, aber man wird nicht als solcher geboren.“
  4. Vgl. Joh 1,14.
  5. Seneca, de superst. fr. 41-43.


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