Der „arme Reisende“
Der „arme Reisende“.
Die unheimliche Vermehrung des Geschlechts der „armen Reisenden“, das zur ungewöhnlichen Höhe emporgestiegene Vagabondenthum bildet schon längst das vielfach erörterte Thema in den Leitartikeln unserer Tagesblätter, hat eine große Anzahl von Flugblättern und Broschüren auf den Markt gebracht, die Tagesordnung socialpolitischer Versammlungen ausgefüllt und hält die Energie und Erfindungskraft der Verwaltungsbehörden beständig in Athem. Auch die „Gartenlaube“ ist dem Thema bereits mannigfach nahe getreten (vergl. die Artikel: „Die Ordensbrüder der Klopfer“, Jahrgang 1866, „Der Vagabondenrichter“, Jahrgang 1877, „Almosenschleuderei und verständige Armenpflege“, Jahrgang 1879).
Schon einige statistische Ziffern vermögen die Größe der Gefahr zu bezeugen, die hier heranwächst, sowie daß die Furcht vor derselben keine blos illusorische ist. Die Zahl der im deutschen Reiche arbeitslos umherziehenden Vagabonden beträgt nach amtlichen Ermittelungen mehr als 200,000. Im Jahre 1880 erfolgten im Königreiche Sachsen nach einer Zusammenstellung des statistischen Bureaus in Dresden 22,337 Bestrafungen von Bettlern und Landstreichern, in Baiern im Jahre 1879 108,911, doppelt so viel als im Jahre 1872; im Landgerichtsbezirk Schwerin erfolgten vom 4. October 1879 bis zum 31. December 1880 6210 Verurtheilungen. In der Stadt Bielefeld reisten im Jahre 1880 allein 12,315 Gewerbsgehülfen durch. In der Stadt Köln wurden im Jahre 1880 bis 1881 zusammen 1084 Landstreicher bestraft, in Aachen 432, in Trier 407, in Düsseldorf 947 etc.
Nach angestellten Beobachtungen fällt es aber einem einigermaßen gewandten Fechtbruder nicht schwer, in größeren Städten täglich 3 bis 4 Mark zusammenzubetteln. Ein Schmied in einem oberrheinischen Dorfe bot einem durchreisenden Fachgenossen Arbeit an, worauf dieser höhnisch entgegnete:
„Heute Morgen bin ich von M. weggegangen; es ist jetzt fünf Uhr und ich habe unterwegs schon fünf Mark ‚verdient‘. Das können Sie doch keinem Gesellen auslegen!“ Sprach’s und verschwand.
Bei einem in ein Düsseldorfer Gefängniß eingelieferten Stromer fand man einen Beutel mit 906 einzelnen Geldstücken, welche zusammen einen Werth von 16 Mark 98 Pfennig repräsentirten. Diese Summe hatte der Mann in drei Tagen zusammengefochten, abzüglich dessen, was er bereits verbraucht hatte.
Auf dem platten Lande beträgt der tägliche Erlös des „Geschäfts“ immer noch 2 bis 3 Mark. Schon das Abbetteln von ein oder zwei größeren Orten erzielt meist einen Gewinn von 1,30 bis 1,50 Mark. Das macht nach jetzigen Arbeitsverhältnissen beinahe den Tageslohn eines rechtschaffenen Arbeiters aus, der dabei im Durchschnitt täglich zehn Stunden arbeiten muß, während das Abbetteln kaum drei bis vier Stunden beansprucht. Demnach beläuft sich die Summe dessen, was jährlich im lieben Vaterlande zusammengefochten wird, auf nahezu eine halbe Million Mark. So viel wird also der redlichen Arbeit entzogen, um damit das Nichtsthun zu prämiiren! Dazu tritt dann noch der Betrag der Kosten, welche dem Staate, den Gemeinden, den Armenverbänden aus der Detention, Strafverfügung, Verpflegung in Krankheitsfällen und an Almosen erwachsen. Sie stiegen z. B. in der Provinz Hannover von 1872 bis 1880 von 18,759 Mark auf 234,585 Mark, in der Rheinprovinz auf dieselbe Zeit um 139 Procent, in Westfalen um 135 Procent.
An sich ist das Vagabondenthum kein Product der Neuzeit, es ist so alt wie die menschliche Gesellschaft, so alt wie der in derselben bestehende Gegensatz von Arm und Reich, von Arbeit und Nichtsthun.
Das Vagantenwesen hat sogar, wie Alles, was in der Geschichte fortlebt, eine gewisse typische Physiognomie, einen corporativen Charakter, eine gegliederte Organisation angenommen und sich erhalten. Es schließt sich dabei eng an das Gaunerthum an und geht viel in dasselbe über. So wird der reisende Handwerksbursche im zweiten Stadium zum Stromer und Vagabonden und im dritten zum Gauner und Dieb. Beide, Gaunerthum und Vagabondenthum, leihen sich denn auch gegenseitig ihre Handwerksregeln, ihre Kniffe und Schliche, Zeichen und Sprache.
Die „fahrenden Leute“ des Mittelalters, die Herren der Landstraße, setzten sich zusammen aus Bettlern, Gauklern, Spielleuten und Hausirern. Anfangs genossen sie noch das Gastrecht auf Burgen und Höfen. Mit steigender Vermehrung verfielen sie [460] der Entartung und wurden zur verheerenden Landplage. Am ärgsten war dies der Fall in der Zeit nach dem demoralisierenden Dreißigjährigen Kriege. Dann war es besonders die Menge der vielen Territorialgrenzen, welche das freie Umherziehen ungemein begünstigte, weil es die Verfolgung erschwerte und unter Umständen den Uebertritt in’s andere Land sogar amtlich begünstigte.
So konnte man schon am Ausgange des Mittelalters von einer Bettlerzunft sprechen, die zwar keinen bestätigten Zunftbrief noch eine obrigkeitliche Matrikel besaß, gleichwohl aber in ihrer Verfassung und Gliederung dem Vorbilde der ordentlichen Handwerkszunft genau entsprach. Da gab es wie im Handwerk abgegrenzte Branchen. So unterschied man unmaskirte Bettler und maskirte oder freie Bettler. Zu diesen zählten die Steigbettler, welche mit wirklichen oder künstlich erzeugten Gebrechen auf das Mitleid zu wirken suchten. Unter diesen galten als besondere Art diejenigen, welche von Galgen und Rad die halbverwesten menschlichen Gliedmaßen stahlen und an den Kirchthüren und Stadtthoren sitzend sie als ihre eigenen vorzeigten. Die Butzschnurrer verstanden sich darauf, Unglücksfälle zu erdichten und sie mit kläglichem Antlitze von Haus zu Hans weiter zu verbreiten. Auch die Kaste der Stapler (Stabuler) war schon im fünfzehnten Jahrhunderte bekannt und hatte ihre Eintheilung in gemeine Stapler, Hochstapler und Reichsstapler. Die ersteren zogen unter der Maske von Pilgern, Wallfahrern, aus der Gefangenschaft befreiten Christensclaven umher, während die Hochstapler schon als größere Herren, asiatische Prinzen, Fürsten vom Libanon, vornehme Weltpriester, Officiere und Brandbettler auftraten. Der Besitz reichsfürstlicher Pässe machte sie zu Reichsstaplern. Sie hielten zu bestimmten Zeiten ihre Generalversammlungen, die „geistlichen“ zu Regensburg, die weltlichen zu Fürth.
Auch neuerdings noch cultivirt das Landstreicherthum gewisse Specialitäten. So haben es die Staudenbettler, deren hervorragendster sogar den Namen eines Staudenkönigs führt, darauf abgesehen, Stauden, das heißt Hemden zu betteln, indem die Vagabondensprache diesen Ausdruck für das betreffende Kleidungsstück führt. Der Staudenkönig würde es unter seither Würde halten, Geld zu betteln. Er befolgt dabei seine eigene Taktik. Will er, wie der technische Ausdruck lautet, „in’s Geschäft steigen“, so zieht er, sei es Winter oder Sommer, das Hemd aus und öffnet beim Eintritt in die Wohnung die bloße Brust. Diese drastische Berufung auf das Mitleid schlägt ihm selten fehl. Ein Mensch, der nicht einmal das Nothwendigste, nicht einmal ein Hemd auf dem Leibe trägt, wie bejammernswerth ist derselbe, meint die gutherzige Hausfrau und öffnet mitleidig die Wäschtruhe. So bringt der geübte Staudenbettler bis zum Abend leicht ein halb Dutzend zusammen, und für Hemden finden sich leicht Käufer. Lachend über die leichte Täuschung eines Frauengemüths verjubelt er den Gewinn noch an dem Tage in Branntwein.
Ein Anderer hat sich den Beinamen „Allerweltskunde“ erworben, weil er, van Haus aus den besseren Ständen angehörend und nicht ohne Intelligenz, auf alle möglichen Geschäfte dressirt ist, welche heutzutage nach ihren Fachgenossen kleine Reisegeschenke zu geben pflegen. So ist er an einem Tage Kaufmann, Mechaniker, Uhrmacher, Klempner, Gürtler, Instrumentenmacher etc. Er führt auch für jedes Metier die passende Legitimation mit, denn er versteht sich trefflich auf das Graviren von Stempeln und die Veränderung seiner Handschrift.
Wieder ein Anderer läßt sich den „Hopfenkönig“ schelten. Er war früher Kaufmann, ist aber seit Jahren ohne Beschäftigung und geht jetzt regelmäßig jedes Jahr auf weiten Umwegen zur Hopfenernte nach Spalt in Baiern. Mit der Kundgebung dieses redlichen Zweckes ködert er überall das Mitleid.
Eine besondere Kategorie versteht sich darauf, „Fallen zu machen“, das heißt allerlei falsche Vorspiegelungen, Aufträge von Verwandten und Bekannten zu singiren, angebliche Verwandtschaften zu erklügeln, und was dergleichen mehr, um sich in das Vertrauen der Leute einzuschleichen.
Der reisende Kellner, der sehr oft in den reisenden Commis überspringt, sucht besonders durch Frechheit und ein dreistes Auftreten zu imponiren. – Vagabondirende Fleischergesellen reisen namentlich in katholischen Ländern gern als Scharfrichterknechte, vor denen die Leute auf dem Lande eine abergläubische Scheu haben.
Und mit der Furcht erzielt der Vagabond oft mehr, als mit dem Mitleid; daher lieben es die Stromer, besonders auf dem Lande, in ganzen Rotten aufzutreten, wobei zugleich, wie es in einer Polizeistatistik heißt, die Raffinirten die weniger Routinirten unter ihre Flügel nehmen.
„Die schlimmsten Vagabonden,“ heißt es in einer anderen statistischen Zusammenstellung über das Bettelwesen der Rheinprovinz, „sind die sogenannten ‚deutschen Zigeuner‘ (Korbflechter), welche in Karawanen umherziehen in Begleitung einer großen Anzahl unmündiger Kinder und liederlicher Weibspersonen. Mit der größten Frechheit werden die schlechten, von ihnen fabricirten Körbe und Anderes aufgedrungen und nebenbei die Kinder zum Betteln geschickt,“
Zu ihnen gesellen sich dann noch Besenbinder, Kessel- und Regenschirmflicker. Da sie oft Gefährt haben, so bezeichnet man sie wohl als das „Vagabondenthum im Reisewagen“. Mit dem von ihnen gelösten Gewerbescheine decken sie sich der Polizei gegenüber.
Denselben breiten Deckmantel der Bettelei bildet vielfach das Hausirgewerbe. So zieht der in der Vagabondenwelt bekannte „Wurzelfried“, von Haus aus Schneider, mit allerlei Wurzeln umher, die er den Landleuten als Mittel für Zahnschmerzen, Kopfreißen und vieles andere Gebreste verkauft. Ein Anderer bietet gelbe Seife als Arcanum gegen alles Mögliche aus, welcher er durch eine parfümirte Emballage aus Silberpapier eine besondere Anziehungskraft verleiht. Dabei ist es aber weit weniger auf den Absatz der Waare, als aus den Gewinn eines Zehrpfennigs abgesehen.
Eine gefährliche Gattung der Vagabonden sind die sogenannten „Macher“. Sie bauen ihre Pläne auf die Vertrauensseligkeit und Unerfahrenheit der Jugend und haben es daher vornehmlich abgesehen auf die jungen Handwerksburschen, die mit den Markstücken des Vaters im Beutel und den Segenssprüchen der Mutter im Herzen ihren ersten Wandergang machen. Es sind alte ausgediente Fechtbrüder. Sie reisen meist in Gruppen. Einer unter ihnen ist der Schlepper, der die Opfer aufspürt und zuführt. Ein Anderer spielt den Unparteiischen, der, wenn das „Geschäft gemacht“, das heißt das aufgespürte Muttersöhnchen, der „Affe“, gehörig bei Zeche und Spiel gerupft ist, das Opfer fortschafft („verschiebt“). Die Macher sind äußerlich nobel, sowohl in der Kleidung als im Auftreten, tragen Uhren und Ringe, wenn auch keine echten, und wissen durch Vorzeigen pappener Goldstücke und gefälschter Markscheine. in der Gaunersprache „Blüthen“ genannt, den noch unerfahrenen Wanderburschen zu imponiren.
Sie wissen sich auch der Polizei gegenüber gut zu stellen indem sie auf gute „Flaggen“ (Reisepapiere) halten, und haben besonders unter den Herbergswirthen Freunde und Helfer, da diese von ihnen bei der Ausbeutung ihrer Opfer den besten Vortheil haben.
Das durch das Zusammenleben genährte und erzogene Standesbewußtsein, sowie das durch korporatives Zusammenwirken geförderte Geschäftsinteresse haben dem Vagabondenthume schon früh zu einer Organisation verholfen, die wenigstens von den alten Fachmeistern festgehalten wird. Wenn da so ein Trupp dem anderen auf der Landstraße begegnet, begrüßen sie sich mit einem:
„Guten Tag!“
„Kunden?“ fragt dann der eine Theil.
„Kellner,“ entgegnet der andere Theil, und die Zugehörigkeit beider Theile zur großen reisenden Bettlerzunft ist damit festgestellt.
„Welche Religion?“ fragen sie sich dann gegenseitig und meinen damit, welches Geschäft Jeder treibe.
Da ist nun der Eine ein „Sonnenschmied“ (Klempner), der Andere ein „Elementarfärber“ (Brauer), der Dritte ein „Schwarzkünstler“ (Schornsteinfeger), viele Andere sind „Galgenposamentierer“ (Seiler), „Herumtreiber“ (Böttcher), „Fekläppchen“ (Tuchmacher), „Katzhoffer“ (Fleischers, „Licht- und Dichtmacher“ (Glaser) und „Piependreher“ (Cigarrenmacher), lauter Namen, bei denen der Humor Gevatter stand.
Nun folgt eine Ausfrage nach den Dörfern („Kaffs“) bis zur nächsten Stadt. Dann werden Erfahrungen ausgetauscht über die Orte und Distrikte, wo es „heiß“ ist, das heißt wo die Polizei sehr wachsam und scharf ist; ob die Stadt gut oder „warm“ ist; ob die „Trauten“ (Meister) Geschenke geben; ob Ortsgeschenke [462] ausgetheilt werden; ob es dort Vereine gegen Hausbettelei giebt; welches die besten Herbergen sind, und was der Dinge mehr. Dann trennt sich der Haufen wieder mit Handschlag und einem „Lebe wohl, Kunde“ und seht im Einzelnen seine Wanderschaft fort. Dabei gehen aber immer zwei bis drei zusammen.
Die Wanderschaftsgenossen halten gute Cameradschaft; alles erfochtene Geld kommt in eine gemeinschaftliche Casse und wird dann redlich getheilt. Kommt der Trupp in ein Dorf, so wird zunächst möglichst unbefangen Erkundigung eingezogen, ob der „Deckel“ (Gensd’arm), auch „Klengners Karl“ genannt, da ist. Ist die Luft rein, so wird nunmehr der „Kaff mitgenommen“ (abgebettelt). Kein Bauer wird „liegen“ gelassen, nur die kleinen „Winden“ (Häuser) bleiben verschont. Vor Allem aber werden der Pfarrer („Gallach“) und Schulmeister („Schallach“) in Angriff genommen.
Das erste Augenmerk richtet sich auf das Einheimsen der Magenbedürfnisse, Brod („Hanf“), Käse („Leiche“), Kaffee. Ist der Vagabondenbeutel genügend damit versehen, so wird nun um Geld („Draht“) gefochten, um zum Frühstück den nöthigen Schnaps („Sauf“) zu haben. Ist das Dorf durchgefochten und hat eine nennenswerthe Beute geliefert, so wird nunmehr im Freien, hinter demselben, Halt gemacht und Frühstück gehalten. In den Städten wird die Taktik in so weit geändert, als da jeder allein auf die Fahrt geht, da das Doppeltgehen leicht Aufsehen erregen würde und das Terrain so auch leichter beherrscht wird. Es giebt Vaganten, welche nur in den Städten fechten und es nicht für der Mühe Werth erachten, die „Kaffs“ abzuklappen, während andere wieder ihren Wirkungskreis nur auf das platte Land beschränken.
Die beste Zeit für den armen Reisenden ist natürlich der Sommer. Da wird bei einigermaßen günstiger Witterung „Platte gerissen“, das heißt im Freien übernachtet, um das Nachtquartier zu sparen, und der „Rauscher“ (das Strohlager) ist in dieser Zeit in den Herbergen oft besser, als das beste Bett („Sänftling“). Abends giebt es „Rundlinge“ (Kartoffeln) nebst „Schwimmling“ (Häring), und an Brod („Hanf“) ist auch kein Mangel. Ist Heu- oder Kartoffelernte, so wird wohl auch eine Zeit lang gearbeitet, schon um Arbeitsscheine zu erhalten. Da giebt es auch gewisse allgemeine Arbeitsplätze. So treffen in dem bereits erwähnten baierischen Orte Spalt, dem Centralpunkte des Hopfenbaues, die „Kunden“ aus allen Gegenden zusammen und geben sich dort ein durch die reelle Arbeit des Hopfenabblättlens geschütztes Rendezvous. Ueberhaupt gilt nach unserm Gewährsmanne, einem Cidevant-Kunden, dessen auf eigene Erfahrungen gestützten Angaben[1] wir hier folgen, der deutsche Süden, besonders Baiern und Württemberg, als das Eldorado der wandernden Reisenden, weil da der Lebensunterhalt billiger ist und die Leute gutmüthiger sind, als im deutschen Norden. Der Altbaier und der Tiroler verleugnet auch dem Vagabonden gegenüber seinen alten Zug der Gastfreundschaft nicht. Nur der Mecklenburger Landmann und der Bauer der Marschen steht mit seiner guten Kost, seinen Schinken und Eiern, bei den Herren der Landstraße noch in gutem Rufe, wobei freilich die unwirthliche Lüneburger Haide mit in den Kauf genommen werden muß.
Der Winter ist die schwerste Zeit für unseren armen Reisenden. Hier kommt der Mangel in der bittersten Gestalt zu ihm. Da geht ihm mit der Kälte auch der Humor aus, und die Noth treibt ihn dann oft der sonst so geflissentlich gemiedenen Polizei freiwillig in die Arme, und das verhaßte Gefängniß, „Kittchen“ muß ihm Obdach und Nahrung geben.
Auch der Humor fehlt dem Vagabondenleben nicht. Er prägt sich schon in der Sprache aus, ebenso in den Spitznamen, welche die einzelnen hervorragenden Kunden in den Kreisen ihrer Genossen führen. Er tritt zu Tage in den schauspielerischen Gesten und der kunstvollen Mimik, mit welchen der Einzelne seinen Bittgang begleitet. Er ruft dem zur Arretur Gekommenen ermunternd zu:
„Hat Dich auch der Putz (der Polizist) am Kragen,
Kunde, darfst doch nicht verzagen.“
Freilich kommt dieser Humor manchmal arg in’s Gedränge. So in dem Falle, als ein alter Kunde bei einem Dorfpfarrer mit frommer Miene und kläglichen Ausdrücken um ein abgelegtes Hemd bat, und ihm auf einmal die Worte entgegentönten:
„Lieber Kunde, ‚der Kohl‘ (die Rede) war gut, aber der ‚Gallach‘ (Pfarrer) hippt nicht.“
Der Pfarrer war nämlich früher Anstaltsgeistlicher gewesen und hatte dabei Gelegenheit gehabt, die Gaunersprache zu lernen und sich mit den Kniffen der Kundschaft bekannt zu machen. Der verblüffte Staudenbettler nahm hierauf schleunigst Reißaus. Der Humor prägt sich auch in der Fopplust aus, welche sich nicht blos unter den eigenen Genossen, sondern gegenüber den feindlichen Mächten der Polizei geltend macht. So erging es jenem Mecklenburger Landhusar gar eigen. Am Raine der Landstraße trifft er zwei Kunden im bequemen dolce far niente. Da sie keinen genügenden Ausweis haben, arretirt er sie, ist aber mitleidig genug, den Einen, welcher ganz contract ist und lahme Füße hat, auf sein Pferd zu heben, auf dem er gebrochen und wie eine halbe Leiche herabhängt, indeß sein Gesell mit dem Husaren nebenher geht. Als die Karawane in dir Nähe eines Waldes kommt, reckt der vermeintliche Kranke sich plötzlich auf und beginnt das Pferd in Trab zu setzen. Der überraschte Gensd’arm läuft im Galopp hinterdrein und vergißt dabei ganz den fußgängerischen Collegen des Ausreißers. Dieser läuft querfeldein in den Wald, und der Reiter schwingt sich, nachdem er einen tüchtigen Vorsprung erhalten, vom Pferde, auch er eilt mit flinkem Fuße dem schützenden Walde zu. Dahin kann der gefoppte Landhusar den wieder brüderlich Vereinten mit seinem Rosse nicht folgen. Grollend und fluchend reitet er heim, indeß die beiden Durchbrenner lachend und jodelnd davonziehen.
Dahin gehört auch die Geschichte von dem bettelnden Schornsteinfeger, der den ihn beobachtenden Gensd’arm dadurch täuscht, daß er in zehn Läden einkehrt und immer für einen Pfennig Stecknadeln kauft. Derlei lustige Vagabondenstreiche à la Robert und Bertram bilden denn Abends in den Herbergen das Hauptthema der Unterhaltung.
Die Herbergen (Pennen) haben wesentlich mit dazu beigetragen, das Vagabondenthum wach zu erhalten. Sie sind, wie es in den angeführten Berichten heißt, die Sammel- und Berathungsorte der Stromer; sie bilden die Stamm- und Hauptquartiere, von wo die ganze Gegend abgeklopft wird. Abends kehrt man mit der erworbenen Beute heim; die Victualien werden in Spirituosen umgesetzt und die baaren Pfennige verjubelt. Die Herberge, heißt es an einer anderen Stelle, ist die Hochschule des moralischen Herunterkommens und die Durchgangspforte zum Gefängniß. Dort werden namentlich junge Leute von solider Anlage mit in das Compagniegeschäft gezogen und ihnen im Fechten genauer Unterricht gegeben. Dort liegen nicht selten, oft von den Herbergsvätern selbst geführt, vollständige Orts- und Namensverzeichnisse aus, worin die Namen und Wohnungen der Geber verzeichnet sind.
„Ich wünschte lebhaft,“ schreibt unser Gewährsmann, „Sie könnten sich einmal eine solche Fremdenstube in den Herbergen ansehen, die oft nichts weniger ist als eine Stube. Hier sitzen auf Bänken und Stühlen umher gleichzeitig wohl an die vierzig Mann; der Eine ohne Stiefeln (‚Trittchens‘), der Andere ohne Mütze, wieder ein Anderer mit zerrissenen Beinkleidern und die meisten mit defecten Röcken (‚Wolmuth‘). Viele haben gar kein Hemd an, nur Wenige eine Weste (‚Kreuzspanne‘), aber alle wenig oder gar kein Geld. Was jedoch Keinem fehlt, das ist die Schnapsflasche.“
Der eine Theil vertreibt sich die Zeit mit Kartenspiel, der andere mit frivolen Späßen und der Mittheilung von Bettlerfahrten. Viele sind schon wochenlang hier, so lange das Fechtgeld vorhält; nur ein Theil davon hat Nachts über ein Bett zu verfügen, die meisten sind auf „Bankarbeit“ angewiesen, das heißt sie schlafen in der Wirthsstube auf Tischen und Bänken. Der Herbergswirth, von den Gästen kurzweg „Boos“ genannt, herrscht in dem Reiche wie ein König. Er versteht nicht blos die Kunden [463] gut zu unterhalten, sondern vor Allem auch ihnen das Geld aus der Tasche zu locken, sobald er nur spürt, daß solches vorhanden ist. Faule Fechter jagt er frühzeitig auf die Fahrt, das heißt zum Bettelngehen. Er weiß sich auch nöthigenfalls mit der an der Küchenwand hängenden Peitsche Respect zu verschaffen. Daneben ist er den Gästen vielfach bei dem Vertriebe erfochtener Sachen behülflich und weiß dabei für sich immer ein gutes Verdienst herauszuschlagen.
Viele dieser Herbergswirthe geben neuerdings sogar gedruckte Empfehlungskarten ihres „Hôtels“ den Reisenden zur Verbreitung mit, in denen namentlich nicht verfehlt wird, auf den „guten Nordhäuser“ aufmerksam zu machen. Auch empfehlen sich die Wirtschaften unter einander, und man hat bei verhafteten Landstreichern, außer einer Anzahl jener gedruckten Empfehlungskarten, förmliche Reiserouten aufgefunden.
In einem nächsten Artikel werden wir uns mit den Ursachen dieser modernen Landplage und den Mitteln zu deren Abwehr und Erdrückung beschäftigen.
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Wenden wir uns nun zu den Maßnahmen, welche darauf hinzielten, das Vagabondenthum zu unterdrücken, so hat der Staat es sich schon früh angelegen sein lassen, im Wege der Strafgesetzgebung und des polizeilichen Zwanges den alten Feind der gesellschaftlichen Ordnung zu bekämpfen. Seine Macht hat sich aber auf keinem Gebiete so ohnmächtig gezeigt, wie auf diesem. Gegen Betteln und Landstreichen bestanden früher die schwersten Strafen: Zuchthaus, Staupenschlag, Brandmarkung, Verweisung des Landes auf ewige Zeiten. Aber die Klagen über Ueberhandnehmen der Vagabonden nahmen nicht ab. Sie begleiteten jede neue Strafordnung.
Der Kurfürst von Mainz gebot sogar mit Patent vom 1. Juni 1723, daß „an den Zigeunern, Vagabonden und anderem liederlichen Gesind, ohne-einziges Nachsehen an den Ort, wo sie ertappet, die Todes-Straff exequiret und sie an den nächsten Baum aufgehängt werden sollten.“
Auch das half nichts. Das Bettelunwesen blieb dasselbe nach wie vor. Es wurde namentlich, wie schon gedacht, begünstigt durch die Zerstückelung Deutschlands in eine Menge Herrschaften.
Neuerer Zeit sind die Strafgesetze gegen Bettler und Landstreicher immer milder geworden. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch hat auch noch die früheren Strafschärfungen – Dunkelarrest, hartes Lager, Entziehung der Kost – beseitigt und setzt auf Betteln und Landstreichen nur eine Strafe bis zu sechs Wochen Haft. Diese Strafe wird für die Stromer, besonders zur Winterzeit, geradezu eine ersehnte Wohlthat. Eine Arbeit ist mit dieser Strafe gewöhnlich nicht verbunden, da die Amtsgerichtslocale darauf nicht eingerichtet sind; sie ist somit eine Zeit des Nichtsthuns und der bequemen zeitlichen Versorgung. „Hafttage sind Ruhetage“. Es ist daher nicht selten vorgekommen, daß Vagabonden den Richter, statt um eine Herabsetzung, um eine Verdoppelung der vom Amtsanwalt beantragten Strafe gebeten haben.
Weit mehr gefürchtet ist die durch die Landespolizeibehörden verfügte Unterbringung in Strafarbeits- (Corrections-) Anstalten, auf welche nach Umständen zugleich mit erkannt werden kann, denn hier herrscht der Arbeitszwang. Nach einer ziemlich allgemeinen Erfahrung ist der Erfolg, der in diesen Anstalten erzielt wird, indeß ein nur wenig segensreicher. Der durch die gemeinsame Arbeit geförderte Verkehr der guten mit den schlechten Elementen wirkt entsittlichend; die oft harte Behandlung stumpft ab oder erbittert. Die religiöse Einwirkung erzieht schlechte Naturen leicht zu Heuchlern. Das Brandmal, das der Sträfling von dort mitnimmt, erschwert ihm beim Wiedereintritt in die bürgerliche Gesellschaft wesentlich das Fortkommen.
Eine Ausnahme bilden hier nur die wahrhaft musterhaften Anstalten im Königreich Belgien. Bei denselben ist eine möglichste Gliederung der verschiedenen Arbeiterclassen und eine Berücksichtigung der individualen Anlage in’s Auge gefaßt. Es giebt dort besondere Anstalten für die Jugend, für jedes Geschlecht, für die Erwachsenen und unter ihnen wieder für die Gesunden wie für die Kranken und Gebrechlichen.
In den Anstalten für jugendliche Vagabonden steht das erziehende Element im Vordergrunde, dessen Grundsatz die Gewöhnung an ein bedürfnißloses Leben mit harter Arbeit ist. Es sind keine Gefangenanstalten, sondern landwirthschaftliche Colonien, welche durch ihre Lage abseits der großen Städte die Zöglinge von der Berührung mit schlechten Elementen der Außenwelt schützen, ihre körperliche und geistige Entwickelung fördern.
Die Anstalten für erwachsene und arbeitsfähige Vagabonden haben zwar Gefängnißreglement, aber die Hauptbeschäftigung der Sträflinge besteht in der Bebauung des sehr umfangreichen zur Anstalt gehörigen Areals. Jeder verurtheilte Landstreicher hat dort mindestens einen Monat, beim Rückfall ein Jahr zu bleiben. Die Anstalt gestattet auch den freiwilligen Eintritt für subsistenzlos gewordene Personen, die von jenen getrennt werden. Die Anstalt in Brügge für altersschwache und arbeitsunfähige Personen trägt ganz den Charakter eines Hospitals. Daneben besteht das Gesetz, daß jede über vierzehn Jahr alte gesunde, beim Betteln oder Vagabondiren betroffene Person nach zuerkannter Strafe der Regierung überwiesen wird. Diese Einrichtungen haben sich in Belgien so segensreich erwiesen, daß schon im nächsten Jahre nach dem Erlasse des Gesetzes die Zahl der betreffenden Verurtheilten sich um fünfunddreißig Procent minderte.
An die Stelle der unzulänglichen Hülfe des Staats trat sehr bald die Selbsthülfe der Gesellschaft. Trug sie, die Gesellschaft, doch auch einen wesentlichen Antheil daran, daß das Vagabondenthum sich so üppig ausgebreitet hatte. Denn gerade der an sich so löbliche Sinn für Mildthat und Wohlthun hatte das Aufgehen und Fortwuchern der bösen Saat unfreiwillig gefördert. Man war ja weit enfernt, das Stromerthum durch die Gaben zu unterstützen, man wollte immer nur dem „armen Reisenden“ von Ehedem geben, aber im Moment, als die Bitte an den Einzelnen heran trat, konnte man das gute und schlechte Element nicht von einander unterscheiden, und um nicht das erstere durch das letztere leiden zu lassen, gab man unterschiedslos Jedem.
Zunächst ging man nur darauf aus, das Wandern von Haus zu Haus zu beseitigen. Man gründete Vereine gegen Hausbettelei durch Verabfolgung von Ortsgeschenken, und machte die letztern wohl noch abhängig von dem Besitze von Legitimationspapieren und dem Ablaufe einer Zeit seit der letzten Gabe. Eine Zeit lang wurde damit auch der Hausbettelei Einbruch gethan, aber die Sache hielt sich gewöhnlich nicht lange. Meist war es das gute Menschenherz selbst, das die vom Verstande geschaffene Satzung durchbrach. Was der Mann consequent durchführte, vereitelte in vielen Fällen die Frau, und der pfiffige Wanderbettler lernte allmählich an dem in der Hausflur hängenden Blechschilde vorübergehen, ohne es einer Beachtung zu würdigen. Er holte sich das Ortsgeschenk und bettelte noch obendrein.
Die Sache hatte sogar noch ihre sehr schlimme Seite, denn [472] man beobachtete alsbald, daß die Wandernden ihre Marschrouten nach den vorhandenen, ihnen wohl bekannten Vereinen einrichteten und oftmals einen besonderen Abstecher per Bahn machten, um sich das Ortsgeschenk zu holen. Die Unterstützung betrachteten sie als eine berechtigte Forderung. Es wurden daher Stimmen laut, welche in den Vereinen geradezu eine amtlich beglaubigte Unterstützung des Vagabondenwesens erblickten. Mit der Zeit gingen auch viele Mitglieder wieder ab und die Vereine zumeist ihrer Auflösung entgegen.
Da in den Händen der Privaten die Sache nicht einschlagen wollte, so kam man in einigen Gegenden dahin, diese Antibettelvereine in Gemeinde-Institute zu verwandeln. Die Gemeindebehörden zahlten aus dem durch freiwillige Beiträge der Einwohner erweiterten Fonds der Ortsarmencasse kleine Geldgeschenke an die armen Reisenden. Ein Ortsanschlag verkündete den letzteren gleich beim Eintritt in’s Dorf – die Einrichtung wurde namentlich von Landgemeinden angenommen (als ob die Vagabonden dies nicht längst gewußt hätten!) – daß das Betteln verboten sei. Allein auch hier trat die Unzuverlässigkeit der Privaten und der Mangel einheitlicher Durchführung störend dazwischen. Die ohnedies nicht scharfe Ortspolizei wurde lässig und „die armen Reisenden wurden bald wieder Herren der Lage und lachten bei ihren Schnapsgelagen in den Herbergen über die dummen Bauern, welche ihnen noch aus der Gemeindecasse Geld zu einem lustigen Abende gewährten“.
Man suchte nun das Institut zu seiner besseren Kräftigung auf ganze Bezirke auszudehnen. Dies geschah zuerst im Königreich Sachsen, in den Jahren 1880 und 1881. Dort nahmen einzelne Amtshauptmannschaften die Sache in die Hand und organisirten das Geschenkwesen für ihre Bezirke theils durch freie Vereinigung der Gemeinden, theils dadurch, daß sie die Unterstützung zu einer Angelegenheit des Bezirks machten. Um Mißbrauch zu verhüten, werden die Gaben an beschränkten, in einer Entfernung von etwa zwei Stunden von einander getrennten Gabestellen verabfolgt; der Aufwand wird als eine Art Bezirkssteuer aufgebracht und auf die Gemeinden repartirt. Voraussetzung für die Unterstützung ist Bedürftigkeit und der Besitz einer genügenden Legitimation. Zur Sicherstellung der Einrichtung gegen den Wankelmuth des Publicums wurde dem letzteren die Verabreichung von Gaben an Bettler verboten.
Durch diese Einrichtung wurde der Hausbettelei in den betreffenden Districten fast ganz gesteuert; die Zahl der armen Reisenden ging zwar nach einem vorliegenden Berichte vom Jahre 1882 nicht erheblich zurück, aber die Qualität derselben wurde besser, das heißt die professionirten Stromer mieden die Bezirke. Dadurch wurden diese Bezirksvereine freilich gewissermaßen zu Abwehranstalten, welche die Reisenden in andere Bezirke trieben.
Der Hauptmangel auch dieser Einrichtung ist aber der, daß die Geschenke mit wenigen Ausnahmen in Geld gegeben wurden. Geld bleibt in der Tasche des Vagabonden aber immer ein bedenklicher Besitz, denn er wird es in den meisten Fällen nicht zu Kost und Kleidung, sondern zu Trunk und Spiel verwenden. Die Erkenntniß der Gefährlichkeit der Geldunterstützung hat in einzelnen Gegenden, namentlich in Württemberg, die Einrichtung der Naturalunterstützung für die armen Reisenden hervorgerufen. Ihrer Einführung ging eine Versammlung der Bezirkswohlthätigkeitsvereine und der weltlichen und geistlichen Bezirksbehörden aller Oberämter in Cannstatt voraus. In dieser, am 24. November 1880 abgehaltenen Landesversammlung wurden auf Grund der gewonnenen Erfahrungen eine Anzahl sehr beherzigenswerther Thesen aufgestellt, von denen wir nur folgende hervorheben:
1) Die Unterstützung Durchreisender hat ausschließlich nur durch Gewährung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse und, soweit ausführbar, gegen Arbeitsleistung zu geschehen. Unmittelbare Geldspenden müssen unbedingt aufhören.
2) Diese Unterstützung soll nicht von einzelnen Einwohnern verabreicht werden, sondern in erster Linie von der Gemeinde oder einer Unterstützungsstation.
3) Kost und Nachtquartier sind zu gewähren gegen eine dem Bittenden eingehändigte Marke in einer hierzu bestimmten Speise-Anstalt und Herberge.
4) Kleidung soll nur gegen entsprechende Arbeitsleistung abgegeben werden, um den Wiederverkauf derselben zu verhüten.
5) Zur Beschaffung von Arbeit empfiehlt sich ein Nachweisbureau von offenen Arbeitsstellen.
Die Organisation der Naturalverpflegungs-Einrichtungen erfolgte nunmehr nach zwei Systemen. In einigen Bezirken wurde das Gemeindesystem, das heißt die gemeindeweise Unterstützung, in anderen das Stationssystem eingeführt, bei welchem die Naturalverpflegung in einer Anzahl im Bezirke eingerichteter Stationen erfolgte. Die Verpflegung geschieht dabei in folgender Weise:
Die durch öffentliche Anschläge vor Bettel und Umschau gewarnten Reisenden haben sich an den Ortsvorsteher oder an einen besonderen Anweisungsbeamten zu wenden, ihre Legitimationspapiere vorzuweisen und Karten oder Marken in Empfang zu nehmen, welche auf Speise oder Nachtquartier oder aus beides lauten. Die Verpflegung geschieht theilweise in den christlichen Gesellenherbergen oder Herbergen zur Heimath, meistens aber in sonstigen Wirthshäusern. Den Wirthen ist bei Conventionalstrafe verboten, für die Anweisungskarten oder Marken geistige Getränke abzugeben. Die Verrechnung mit den Wirthen geschieht auf Grund der erhaltenen Anweisungskarten, welche der Anweisungsbeamte nach seinem Verzeichnisse controlirt. Außerdem wird durch Arbeitsnachweisungsbureaus und die Karten- oder Markengeber dafür gesorgt, daß die Reisenden eine bei den Gewerbetreibenden oder Landwirthen vorhandene Arbeitsgelegenheit erfahren.
Auch diese Württemberger Einrichtung hatte die besten Erfolge. Die schlechteren Elemente der armen Reisenden wurden fern gehalten; die Schnaps- und Bierorgien in den Herbergen hörten auf; die Hausbettelei verschwand, und die öffentliche Sicherheit nahm zu.
Doch macht man auch diesem System den Vorwurf, daß es die Gewährung der Naturalunterstützung nicht von der Leistung der Arbeit abhängig macht, sondern die letztere nur anbietet. Es könne namentlich bei schlechter Lage des Arbeitsmarktes dennoch vorkommen, daß sich der Reisende ohne eine Gegenleistung längere Zeit, wandernd von Ort zu Ort, ernähren lasse. Das könne auf dessen Charakter keinesfalls günstig einwirken. Deshalb stellten neuere Versammlungen von Fachmännern den theoretisch jedenfalls richtigen Grundsatz auf, daß das rechte Mittel zur wirksamen Bekämpfung des Vagabondenthums sei: organisirte Unterstützung durch Naturalverpflegung gegen Arbeitsleistung.
Vereinzelt hatte man schon die Forderung einer Arbeitsleistung als Voraussetzung der Unterstützung aufgestellt, so namentlich in einzelnen Antibettelvereinen. Man hatte z. B. den Empfang einer Freikarte des Vereins davon abhängig gemacht, daß Jeder anderthalb Stunden lang Holz zerkleinere oder Steine klopfe. Dadurch hatte man jedoch erreicht, daß die Freikarten weniger Abnehmer fanden, ein dauernder Effect hätte nur erzielt werden können bei einer Organisation im Großen, durch Errichtung von Centralarbeitsstellen, namentlich auf dem Lande, und durch Nachweisungsbureaus in den Städten.
Ein praktisches Beispiel für die Durchführung dieses Gedankens bildet die auf Anregung des Pastors Bodelschwingh in Bielefeld in’s Leben gerufene Arbeitscolonie Wilhelmsdorf. Sie hat den Zweck, arbeitslustige und arbeitslose Männer jeden Alters, jeder Confession und jeden Standes, so weit sie wirklich noch arbeitsfähig sind, so lange in ländlichen und anderen Arbeiten zu beschäftigen, bis es möglich geworden ist, ihnen anderweitig lohnende Arbeiten zu beschaffen und ihnen so die Hand zu bieten, vom Vagabondenleben los zu kommen, und damit zugleich arbeitsscheuen Vagabonden jede Entschuldigung abzuschneiden, daß sie keine Arbeit hätten.
Zu diesem Zwecke wurden durch die Provinzialstände Westfalens zunächst drei Bauernhöfe in der Senne von circa fünfhundert Morgen angekauft. Die Arbeit besteht vorzüglich in Spatencultur und dem Anbau von Handelsculturpflanzen und Gartenfrüchten; zur Winterszeit im Urbarmachen des unbebauten Sennelandes und Aufbrechung des Ockers, sowie in Wiesenbauten; für die kurze Zeit, wo die ländliche Arbeit feiert, in Flechten von Matten und Körben. Mit jedem Eintretenden wird nach dem Maße seiner Leistungsfähigkeit ein Lohncontract gemacht. Hat der Arbeiter soviel verdient, daß er wieder eine saubere Kleidung und eigenes Arbeitszeug besitzt, so wird möglichst dafür gesorgt, daß er außer der Anstalt Arbeit bekommt, durch ein mit dieser verbundenes Arbeitsnachweisebureau.
[473] Ein wesentliches Abwehrmittel gegen die Entartung der reisenden Handwerksburschen ist die Neubegründung handwerksgenossenschaftlicher Verbände zum Ersatze des Zunftverbandes. So hat der „Verein deutscher Buchdrucker“ durch seine Unterstützungsagenturen den Genossen seines Faches wesentliche Dienste gethan. Dasselbe gilt von den vom Pfarrer Kolping gegründeten „Katholischen Gesellenvereinen“, abgesehen von ihrer confessionellen Tendenz. Im Jahre 1881 zählte man deren fünfhundert.
Einen ganz besonderen Antheil an der Fürsorge für Besserung der Verhältnisse des wandernden Arbeitspersonals darf die Innere [474] Mission in Anspruch nehmen. Sie zählt dieselben zu ihren Hauptaufgaben. Sie hat vor Allem die "Herbergen zur Heimath" in’s Leben gerufen und dadurch den verderblichen Einflüssen der Pennenwirthschaft, von welcher unser erster Artikel ein Bild zu geben bestrebt war, mit Erfolg entgegengearbeitet. In diesen „Herbergen zur Heimath“ – schon der Name ist gut gewählt – sollte den armen Reisenden in eigens geschaffenen Gasthäusern ein menschenwürdiges Unterkommen geboten werden; statt der dumpfen Löcher gute Zimmer; statt Diele und Strohlager reinliche Betten. Speise und Getränke werden controllirt und vor Allem der Branntwein ganz von der Liste der Getränke gestrichen; das Kartenspiel wurde verpönt und durch eine strenge Hausordnung alle Ungebühr unterdrückt. Die Centralleitung der ersten sogenannten christlichen „Herbergen zur Heimath“ ging vom „Rauhen Hause“ in Horn bei Hamburg aus. Dahin muß jede einen bestimmten jährlichen Beitrag abliefern. Die Direktion des „Rauhen Hauses“ ernennt die Hausväter. Jeden Monat wird über die Vorkommnisse in Haus und Familie Bericht erstattet. Dem entsprechend hat das religiöse Element einen starken Antheil an der Hausordnung. Morgens und Abends werden regelmäßige Andachten abgehalten, von denen keiner der jeweiligen Insassen sich ausschließen darf. Anfangs nahm man sowohl im Publicum, wie in den Kreisen der armen Reisenden die Einrichtung nicht ohne Mißtrauen auf, und es waren erfahrungsgemäß nicht die Besten und am wenigsten die wahrhaft kirchlich Gesinnten, welche dort Einkehr nahmen. Die Einrichtung erwies sich aber in ihren Grundgedanken als so segensreich, daß dieselbe auch außerhalb des Bannes strenger Orthodoxie Verbreitung fand, und dürfte jetzt kaum mehr eine größere protestantische Stadt zu finden sein, in welcher nicht eine solche „Herberge zur Heimath“ oder ein dem ähnliches Institut errichtet wurde. Der Besuch derselben Seitens unserer armen Reisenden ist in stetem Zunehmen begriffen, sodaß in vielen Städten schon Erweiterungsbauten haben vorgenommen werden müssen. Vielfach haben sich die oben geschilderten Unterstützungsvereine mit denselben in Verbindung gesetzt, indem sie ihre Pfleglinge dahin verwiesen. –
Aus dem Allen geht hervor, daß, so groß auch die socialen Schäden sind, an denen unsere Zeit krankt, so groß doch auch ihre Humanität und Menschenliebe, ihr Geschick und ihre Macht sind, diese Schäden zu heilen. Daß dies nicht mit einem Male geschieht, daß immer erst die Erfahrung das rechte Mittel findet, das ist das Loos alles menschlichen Thuns. Statistische Nachweise haben ergeben, daß die Krankheit bereits ihren Höhepunkt erreicht hat, und daß die Zeit nicht mehr fern sein wird, wo der arme Reisende das Vagabondenthum abstreift und zu der alten Harmlosigkeit zurückkehrt, in welcher die Hand keine Versündigung an der Gesellschaft mehr begeht, wenn sie ihm einen Zehrpfennig zusteckt.
- ↑ Im Redactionsbureau der „Gartenlaube“ erschien vor einiger Zeit ein äußerlich sehr herabgekommener junger Mann, der dringend um Errettung aus der Noth bat, in die er unverschuldet gerathen sei. Er war Kaufmann, aus guter Familie, aber durch Stellenlosigkeit so weit gebracht, daß er, um das Leben zu fristen, zum Vagabondenthum hinabsank. Mit Kleidern und Geld so weit versehen, daß er in einem anständigen Gasthause Aufnahme finden konnte, schilderte er uns in einem Aufsatze seine Erlebnisse und Erfahrungen während seiner Stromerzeit, und diese Niederschrift ist es, die wir unserem verehrten Mitarbeiter, dem Verfasser obiger Artikel, zur Verfügung stellten. Das dem jungen Manne für seine schriftlichen Mittheilungen gewährte Honorar setzte ihn in den Stand, wieder ein neues, besseres Leben anzufangen.