Der Beherrscher eines Kleinstaates

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Autor: unbekannt
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Titel: Der Beherrscher eines Kleinstaates
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 591–595
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Heinrich LXXII. von Reuß-Ebersdorf
vergleiche dazu: Der Beherrscher eines Kleinstaates/2.
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Der Beherrscher eines Kleinstaates.


Seine Durchlaucht war am Morgen des 24. September 1840 in einer sehr heitern Stimmung. Der Kammerdiener hatte das für ihn immer bedenkliche Geschäft des Ankleidens vollzogen, ohne einige fühlbare Anzeichen des allerhöchsten Mißfallens erhalten zu haben. Dem Ordonnanz-Unterofficier, der das für den Fürsten bestimmte Postpaket aus der Stadt gebracht, waren auf besonderen Befehl Serenissimi sein Frühstück und ein Laubthaler verabreicht und den übrigen Bedientenschaaren war nicht nur gestattet worden, an einem im „Gasthof zum Mohren“ stattfindenden Ballfest Theil zu nehmen, sondern der Durchlauchtigste hatte dieser Erlaubniß auch noch einige Ducaten beigefügt, damit ihm seine Leute keine Schande machten und etwas aufgehen lassen könnten …

Und wer oder was hatte diese glückliche Laune hervorgezaubert? Hatte der das schöne Geschlecht leidenschaftlich liebende Herr eine neue Eroberung gemacht? Oder hatte man einen Wilddieb lebendig eingebracht? Nein, weder das Eine, noch das Andere hatte sich fangen lassen. Wohl aber war aus Hanau im Hessenlande heute ein Brief in rosenrothem Couvert eingelaufen und dieser Brief hatte des Fürsten rosenfarbene Laune hervorgerufen.

Auf dem Kaffeetisch am Fenster, von wo aus man eine reizende Aussicht auf das romantische Elsterthal und die freundliche Stadt Gera hatte, lag der Inhalt des Briefes: das Exemplar einer hessischen Zeitung. Der Absender hatte jedenfalls dem Fürsten eine Aufmerksamkeit erweisen wollen und deshalb einen Separatabdruck auf feinem Velinpapier veranstaltet. Die erste Seite der Zeitung enthielt ein mit Goldschrift gedrucktes Gedicht, welches die Ueberschrift führte: „Volkswohl ist Fürstenlust“ und lautete:

„Im deutsch-treu-biederen Sachsenland
Wird uns ein edler Fürst genannt,
Der, wie es wörtlich die Zeitung enthält,
Als er in Gera ‘nen Kanzler bestellt,
Mit Gottesstimme, wie folget, sprach;
Von Pol zu Pol man es hören mag:
‚Unabhängig und frei der Richter soll walten,
Stets nur am Rechte fest sich halten;
Ja könnt’ ich, der Fürst, mich selbst vergessen
Und wollen mit anderem Maße messen,
Dann bitte, ja befehle ich, dann trete der Richter
Frei vor mich und spreche:
„„Fürst, kennst Du diese Schranken?““
Ich werde mich fügen, belobend ihm danken.
Denn, mir wohlbewußt,
Ist Volkeswohl Fürstenlust.
Und könnt’ man alles Herzblutes mich entbinden,
Den letzten Tropfen dem Volke würde geweiht man finden.‘[1]
– – – – – –
Und nun frag’ ich zum guten End’,
Ob ‘nen Kaiserthron nicht zieren könnt’
Der, welcher sich also hat bekannt,
Der edle Fürst im Sachsenland?
Drum, deutsche Brüder, im deutschen Wein
Ein dreifach Hoch dem Fürst von Lobenstein!

Die gute Gesinnung des Gedichts ließ den Fürsten das schlechte und holperige Versmaß vergessen und überdies waren derartige Anerkennungen in der Presse für ihn etwas so Ungewohntes, daß sich seine glückliche Stimmung leicht erklären ließ. Er zündete sich eine Cigarre an, pfiff seinem großen ungarischen Wolfshund und stieg hinab in den Wald, der den Fuß des Schlosses umsäumte. Er hatte in diesem Augenblick schwerlich eine Ahnung, daß er nur acht Jahre später in demselben Schloßhof, den er jetzt durchschritt, eine lärmende, drohende Volksmenge vor sich sehen und dreizehn Jahre später, fern von diesem Stammsitz seines Geschlechts, als abgedankter Fürst im freiwilligen Exil, im Hotel de Paris, einem Dresdner Gasthof zweiten Ranges, sterben sollte …

Der Mann, von welchem wir sprechen, hieß, als er noch unter den Lebendigen weilte, Heinrich der Zweiundsiebenzigste, Fürst von Reuß-Lobenstein-Ebersdorf, Mitregent von Gera.

Unser Geschlecht hat leider noch zu wenig Ruhe und Muße gehabt, den originellen Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts jene allseitige Betrachtung zu gönnen, die den merkwürdigen Personen des achtzehnten Säculums zu Theil geworden ist. Denn wäre das der Fall, so würde es nicht möglich sein, daß sich eine so interessante Erscheinung der Culturgeschichtsschreibung bis jetzt hätte entziehen können, wie es dieser Heinrich der Zweiundsiebenzigste von Lobenstein-Ebersdorf war.

Ich werde mich bestreben, das Charakterbild dieses deutschen Fürsten wahr, treu und unparteiisch darzustellen, ohne Haß und ohne Liebe; in den Hauptzügen gestützt entweder auf authentische Documente, die aus der Feder des Mannes selbst geflossen, oder auf Thatsachen und Vorkommnisse, deren Notorietät von keinem seiner Zeit- und Landesgenossen bezweifelt wurde. Sollte aber bei dieser Schilderung dennoch manche Partie des Bildes zu skizzenhaft erscheinen oder in nebensächlichen Momenten ein unerheblicher [592] Irrthum vorkommen, so möge zur Entschuldigung auf die Zeit hingedeutet werden, in welche die Regierungsperiode dieses deutschen Kleinfürsten fällt. Die Jahre von 1822 bis 1848 gehören zu den düstersten der neueren deutschen Geschichte. In ihnen kam jenes System, welches nach seinem Urheber, dem k. k. Haus-, Hof- und Staatskanzler Fürsten Clemens Metternich benannt wird, zur höchsten Entwickelung. In jenen Zeiten der geistlosesten und brutalsten Polizeiwirthschaft war schon die einfache, kritiklose Mittheilung gewisser Thatsachen bedenklich, ja sogar zuweilen unmöglich. Eine Presse in den Kleinstaaten gab es nicht; die der Mittelstaaten mußte sehr vorsichtig sein.

Es war am 8. Mai 1824, als Fürst Heinrich der Zweiundsiebenzigste die Regierung über das Fürstenthum Lobenstein-Ebersdorf und die Mitregentschaft über das Fürstenthum Gera antrat. Das Fürstenthum Reuß-Lobenstein-Ebersdorf, welches heute einen Landrathsbezirk des Fürstenthums Reuß j. L. bildet, war damals und bis zum Jahre 1848 ein selbstständiges, souveränes deutsches Fürstenthum mit einem Flächenraum von sechs Quadratmeilen und vierundzwanzigtausend Einwohnern, deren unumschränkter Gebieter Heinrich der Zweiundsiebenzigste war. Er war bei seinem Regierungsantritt siebenundzwanzig Jahre alt, von schöner Gestalt, lebhaften Geistes und einem Temperament, dessen heißen Wallungen sein Erzieher niemals die geringste Beschränkung auferlegt hatte. In einem Augenblicke richtiger Selbsterkenntniß hat der Fürst an öffentlicher Tafel dies seinem Erzieher, er hieß Heinemann, in bitteren Worten vorgeworfen. Trotz der Kleinheit seines Fürstenthums fühlte sich Heinrich der Zweiundsiebenzigste, ebenso wie der mächtigste Alleinherrscher, durchdrungen von dem Bewußtsein seiner Souveränetät, und der Unumschränktheit seines Willens sollte sich Alles beugen. Dies sollte, kaum zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt, sein Völkchen in so furchtbarer Weise erfahren, daß noch bis zum heutigen Tage die Erinnerung daran nicht aus dem Gedächtniß der dortigen Bevölkerung geschwunden ist, aber noch in keinem deutschen Geschichtswerk ist das folgende Ereigniß ausgezeichnet.

Im Jahre 1826 erschien eines Tages eine fürstliche Verordnung, in welcher der Landesbevölkerung befohlen wurde, ihre sämmtlichen ländlichen Gebäude in der als Landfeuersocietät privilegirten Magdeburger Feuerversicherungsgesellschaft zu versichern. An und für sich betrachtet, war dies eine sehr zweckmäßige Anordnung. Denn zu jener Zeit waren die Bauern mit ihren Immobilien noch gar nicht assecurirt und deshalb Brandunglück für die Betroffenen ein großes Mißgeschick. Indessen das Landvolk begriff das Wohlthätige der Verordnung nicht; die bureaukratische Barschheit und Ungeschicktheit, die damals womöglich noch größer in Deutschland waren, als heute, verstanden es auch nicht, das Gute der Verordnung den Leuten begreiflich zu machen; sie hielten es auch wohl unter ihrer Würde. Der Fürst wollte es, das Volk hatte einfach zu gehorchen. Verschiedene an die Landesdirection wie an den Fürsten selbst abgesendete Deputationen kamen unverrichteter Sache zurück. Die verweigerten Versicherungsbeiträge wurden mittels Execution beigetrieben. Da rottete sich die gesammte Bauernschaft des Fürstenthums in dem Dorfe Harra bei Lobenstein zusammen. Auf die Nachricht davon schickte Heinrich der Zweiundsiebenzigste sofort alle seine Militärmacht von Lobenstein-Ebersdorf und Schleiz, zwei Compagnien, mit einem gewissen Herrn von Flotow als Civilcommissar nach Harra. Es war am 6. October des genannten Jahres. Die Truppen stellten sich in Schlachtlinie auf einem freien Platze inmitten des Dorfes auf. Ihnen standen die Bauern gegenüber, lärmend, aufgeregt, aber ohne Waffen. Eine kurze Aufforderung an die Bauern, auseinander zu gehen, verhallte in dem Tumult. Plötzlich wirbelt die Trommel; es fällt ein einzelner Schuß, dem ein wohlgenährtes Heckenfeuer auf der ganzen Linie der Militäraufstellung folgt. Ein Lieutenant, Zenker hieß der Ehrenmann, springt vor die Fronte und schlägt mit dem Degen die Gewehre der Soldaten in die Höhe, um die Schüsse in die Luft zu leiten, aber schon liegen siebenzehn Todte und eine Menge Schwerverwundete, darunter ein hübsches, junges Bauernmädchen, das ihren beim Militär stehenden Bruder hatte bewillkommnen wollen, blutend am Boden. Ein gräßliches Entsetzen befällt die Menge, laut jammernd stäubt sie auseinander.

Eine Stunde später erschien der Fürst auf dem mit dem Blute und dem Gehirn seiner Unterthanen bespritzten Platze. Er sah bleich aus, wie der Tod. Verzweifelte Frauen, weinende Kinder umringten sein Pferd.

„Das kommt davon,“ so redete er zu dem Volke, „wenn die Leute nicht folgen. Und wenn es nun noch nicht ruhig im Lande wird, dann lasse ich die böhmischen Schnauzbärte kommen. Er meinte damit die in Böhmen stehenden österreichischen Truppen.

Einige bei der Zusammenrottung betheiligt gewesene baierische Bauern wandten sich mit einer Beschwerde an den Bischof von Bamberg, dessen Bruder damals königlich baierischer Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M. war. So kam die Sache vor die Bundesversammlung. Im Gasthof zu Harra wurde mir auch erzählt, eine Bauerndeputation sei nach Wien zum Kaiser gegangen, im guten Glauben, daß der österreichische Kaiser noch Kaiser des heiligen römischen Reichs deutscher Nation, der allein Hülfe und Sühne gegen die Unbilden der Vasallen des Reichs gewähren könne. Ob daran etwas Wahres ist, weiß ich nicht. Aber von Seiten des Bundes wurde eine Untersuchungscommission nach Lobenstein-Ebersdorf abgeordnet, deren Vorstand der weimarische Criminalrath Hickethier aus Weida war. Ein Resultat dieser Untersuchung ist nie bekannt geworden, ebensowenig aufgeklärt, von wem der Befehl zum Feuern ausgegangen. Jener Herr von Flotow, welcher als Civilcommissar bei der Expedition fungirt, wurde entlassen und starb als preußischer Landrath. Ein Hauptmann Mondorf aber, der in jener Harraer Schlacht, wie die Metzelei genannt wird, einem Bauer, der sich bückte, um seine Schuhriemen zu binden, mit einem Säbelhieb den Kopf gespalten, erschoß sich später. Ich habe noch eine alte Bauernfrau gekannt, die sich blind geweint um ihren einzigen Sohn, der an jenem Schreckenstage erschossen wurde.

Indessen hinderten derartige absolutistische Gelüste Heinrich den Zweiundsiebenzigsten nicht, sich zuweilen auch mit constitutionellen Ideen zu tragen … Man muß die traurigen öffentlichen Zustände eines deutschen Kleinstaates jener Zeit gekannt haben, um das Erstaunen gerechtfertigt zu finden, welches die Bewohner der guten Stadt Lobenstein und ihres Umkreises ergriff, als sie eines Tages – im Februar 1838 – im Amts- und Nachrichtsblatt für das Fürstenthum Reuß-Lobenstein-Ebersdorf unter der Rubrik „Vermischte Nachrichten“ folgenden Artikel lasen:

„(† Eingesandt. Europa 1838.) Es existirt in einem Lande ein Fürst, welcher aus eigener freier Ueberzeugung und eigenem freien Vorsatz beabsichtigte, eine neue verbesserte, auf Erweiterung der landständischen Rechte, Volksvertretung und allgemeine Staatsbürgerrechte gegründete landständische Verfassung einzuführen. Er arbeitete sie selbst aus, theilte sie seinen Landständen zur Begutachtung mit … Was geschah? Die Landstände, d. h. die alten, verrotteten (deren Zahl sich zum ganzen Volke wie 7: 20,000 verhält), machten die Ausführung der Absicht des Fürsten dadurch unmöglich, daß sie – in einer zu ihrer Kleinzahl unangemessenen Anzahl Mitglieder der neuen Landstände sein wollten und erklärten, ‚sie könnten sich nicht eher über den verbesserten Entwurf der landständischen Ordnung aussprechen, als bis die Vettern des Fürsten in einigen nahegelegenen Ländern auch dasselbe gethan hätten.‘ Dadurch ward aber die Ausführung der landesväterlichen Absicht unmöglich. Aehnliches Gutachten erstattete ein im Nimbus der Gemeinschaftlichkeit sich sonnendes Collegium. Die Sache ward aufgegeben … Die Verrotteten blieben … Der Fürst – nicht wie jener verrätherische Landpfleger, sondern als ehrlicher Mann – wusch seine Hände in Unschuld.“

Dieser Artikel in einem officiellen kleinstaatlichen Blatte erregte damals allgemeines Aufsehen. „Ueberall,“ rief ein sächsisches Blatt aus, „herrscht die Censur, nur im Fürstenthum Lobenstein-Ebersdorf ist Preßfreiheit.“ Die Redaction des sächsischen Blattes ahnte nicht, daß Serenissimus, Heinrich der Zweiundsiebenzigste selbst, der Verfasser dieses „Eingesandt. Europa 1838“ war.

Man sagt, daß ein Mensch, der einmal einen gelungenen Vers gedichtet, unlösbar an den Pegasus gefesselt sei. Vielleicht war das Aufsehen, welches dieser kleine Artikel in der Presse machte, die Ursache jener fruchtbaren schriftstellerischen Thätigkeit Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten, die sich zwar nicht in umfangreichen Werken äußerte, aber ihm dennoch einen Namen machen sollte. Es würde die Grenzen, welche diesem Artikel räumlich gezogen sind, weit überschreiten, wenn wir alle die originellen Erlasse des Fürsten in ihrem vollen Wortlaute hier wiedergeben wollten. Nur Einiges sei davon angeführt.

Er hatte die Beobachtung gemacht, daß seine Unterthanen seine Beamten nicht gehörig titulirten. Dies schien ihm bedenklich [593] und jedenfalls demagogisch. Und die Demagogen haßte er bitter. Er setzt sich, rasch entschlossen, diesem Unwesen zu steuern, an seinen Arbeitstisch und erläßt jenes berühmte Decret, welches der deutschen Sprache einen neuen Ausdruck erworben hat. „Seit zwanzig Jahren reite ich auf einem Principe herum: nämlich, daß jeder Beamte bei seinem richtigen Titel genannt werde.“ Wie gesagt, die deutsche Sprache verdankt den Eingangsworten dieses Erlasses Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten den Principienreiter, welches Wort sicherlich noch fortleben wird, wenn selbst die leiseste Erinnerung an seinen Autor verblaßt ist.

Eines Tages erfuhr er, daß in der vergangenen Nacht Diebe aus der fürstlichen Steuercasse zu Lobenstein eine beträchtliche Geldsumme gestohlen hatten. Die guten Lobensteiner kannten damals das Institut der Nachtwächter nicht, und Heinrich der Zweiundsiebenzigste ahnte auch nicht im Entferntesten, daß seine Hauptstadt ohne Nachtwächter war. Noch am selbigen Morgen erschien ein Erlaß, der wörtlich so begann: „Seit zwanzig Jahren wieder zum ersten Mal an meine Regentenpflicht erinnert, erfahre ich, daß Lobenstein des Nachts unbewacht schläft, während Hirschberg nicht übel disciplinirt ist.“ Er ergeht sich nun in längeren Betrachtungen über diesen Uebelstand und giebt dem Leser zugleich eine Erklärung, warum in Lobenstein keine Nachtwächter sind. Er versetzt sich nämlich in die Denkweise eines Lobensteiner Bürgers und läßt einen solchen sagen: „Punkt fünf Uhr stehe ich auf, arbeite wie ein oberländischer Zugstier und lege mich Abends neun Uhr zu Bett, ohne daran zu denken, daß Lobenstein unbewacht schläft.“ Allein er bekümmerte sich nicht blos um die Nachtwächter, auch dem Feuerlöschwesen widmete er seine landesväterliche Aufmerksamkeit. Im Februar 1844 fand in Lobenstein ein Brand statt. Kurz darauf erschien folgender Erlaß Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten, den wir in seinen Hauptstellen wörtlich mittheilen:

„Augenzeuge des Feuers auf dem Berge in Lobenstein, spreche Ich wiederholt aus, wie sich die Thätigkeit und Entschlossenheit unseres Völkchens auch bei dieser Gelegenheit bewährt und Ruhe und Gehorsam, die bei Ausführung der Löschanstalten stattfanden. Darüber Meine Zufriedenheit! Rügen aber muß Ich, daß – wenigstens im Anfange, also da, wo Hülfe, kräftiges, allgemeines Einschreiten noth thut – viel zu wenig Leute vorhanden waren, eine Gasse zum Löschen zu bilden und dergleichen. Mein Grundsatz ist: erst löschen und dann einpacken! Nämlich so: wenn ein kleines Feuer schnell bewältigt wird, so schlafen dann die Leute ruhiger, als wenn durch Vernachlässigung desselben eine schlecht gebaute Stadt vielleicht darauf geht … Ein schnell gelöschter Vorhang! (spreche aus eigener Erfahrung), eine schnell gelöschte Asche aus der Pfeife rettet das Haus … Von einem Haus wälzt sich der Brand auf vierhundert … Der Schneeball wird zur Lawine … Sie haben dies zu veröffentlichen und diejenigen, welche dessen würdig sind, öffentlich zu beloben.

Schloß Ebersdorf, den 22. Febr. 1844.
H. 72.“

In diesen ersten vierziger Jahren war es auch, wo Schloß Ebersdorf den Besuch jener schönen Spanierin erhielt, die einige Zeit später die Ursache der baierischen Revolution und der Thronentsagung Ludwig’s des Ersten werden sollte. Heinrich der Zweiundsiebenzigste war viel auf Reisen, bald in Frankreich, bald in Italien, bald in England. Er hatte, nebenbei bemerkt, eine vollständige Sammlung aller politischen Caricaturen, die in England seit Anfang dieses Jahrhunderts erschienen waren. Die Sammlung war wirklich werthvoll und wurde mir noch 1847 gezeigt; ob sie heute noch existirt – sie war damals im Ebersdorfer Schloß – weiß ich nicht.

In England hatte nun der Fürst durch Lord Arbuthnot die Bekanntschaft der Señora gemacht. Ein englischer Pair, Mitglied des Oberhauses, Lord Sh…, mit dem ich vor Jahren in Zürich im Hotel Baur zufällig bekannt wurde und der ein Bekannter des Fürsten aus seinem Londoner Aufenthalt war, erzählte mir, daß der Fürst Lola aus sehr drückenden Verhältnissen durch eine Summe Geldes erlöst und sie dann zu sich nach Ebersdorf eingeladen habe. Die Señora stellt die Sache in ihren Denkwürdigkeiten bekanntlich anders dar, in einem für sie günstigeren Lichte …

Das excentrische Wesen der Señora behagte indessen dem Fürsten doch nicht auf die Dauer. Er hatte ihr ein paar gutmüthige Ebersdorfer Landmädchen zur Bedienung gegeben, und diese armen, harmlosen geduldigen Geschöpfe quälte die übermüthige Spanierin auf jegliche Weise. Sie biß und kratzte dieselben und die Bedienten fühlten mehr als einmal ihre Reitpeitsche. Im Schloßpark ritt sie über die schönsten Beete, schlug den seltensten Blumen mit der Gerte die Blüthen ab und hetzte sogar einmal bei einem Concert, das dem Fürsten von jungen Mädchen in Waidmannsheil – einem Jagdschlosse – gegeben wurde, die großen Fanghunde Serenissimi auf die erschrockenen Mädchen. Es ist erklärlich daß zwei so excentrische Persönlichkeiten sich nicht lange vertragen konnten.

„Schaffen Sie mir das Frauenzimmer fort … Ich kann sie nicht mehr leiden,“ sagte er zu seinem Adjutanten.

„Aber, Durchlaucht, Señora versteht nur Englisch und Spanisch und sehr mangelhaft Französisch … Ich werde mich ihr nicht verständlich machen können.“

„Das ist Ihre Sache …“

Der arme Adjutant war in einer fatalen Lage. Endlich kam er auf ein Auskunftsmittel. Die Señora speiste Abends in ihrem Zimmer allein. Eines Tages fand sie unter ihrem Couvert ein Billet, worin ihr vom Adjutanten des Fürsten angekündigt wurde, es sei der Wille Seiner Durchlaucht, daß Señora binnen vierundzwanzig Stunden seine Staaten verlasse. Señora war wüthend. Einen unglücklichen Secretär W., der unversehens in ihre Stube gerieth, fuchtelte sie mit der Reitpeitsche hinaus, dann verlangte sie Serenissimus zu sprechen. Aber Heinrich der Zweiundsiebenzigste war und blieb unsichtbar, sein Zimmer verschlossen und von zwei Jägern bewacht. Als Lola sah, daß ihr Wüthen umsonst, fing sie an, gelindere Saiten aufzuziehen, und mit einem Reisegeld von zweitausend Thalern aus der Casse des Fürsten verließ sie Ebersdorf, indem sie Serenissimus zum Abschied sagen ließ, zum Verlassen seiner Staaten bedürfe sie nicht vierundzwanzig Stunden, sondern nur eine Viertelstunde Zeit.

Ungestört konnte sich Heinrich der Zweiundsiebenzigste nun wieder seiner Regententhätigkeit widmen, die sich wesentlich in jenen originellen Erlassen äußerte, von welchen ich schon einige Proben gegeben habe. Die Größe seiner Staaten erlaubte es ihm, sich auch um das Geringfügigste zu kümmern. So erschien eines Tages, im October 1844, folgende Proclamation:

„Ich finde für nöthig, Folgendes hiesiger Landesdirection zur Veröffentlichung mitzutheilen, um Mißverständnisse zu vermeiden, um jedem Betreffenden einen Anhaltepunkt zu geben.

A.

Alle ‚anständigen‘ Fremden ohne Unterschied können während meines Aufenthaltes hier zu jeder Tagesstunde das Schloß und seine Umgebung besuchen.

Wollen Genannte das Innere sehen, so melden sie sich beim Thorwärter. (Es ist stets ein Thorwärter da.)

Bei dem Thorwärter erfahren die Fremden das Nöthige.

Da Ich hier von anständigen Fremden rede, so nehme Ich an, daß sie nichts Unanständiges begehen; z. B. keine schweren Stöcke, Hunde, keine schmutzigen Stiefeln, Worte, Lieder etc., Narrenhände etc.

Wünscht Jemand in den Anlagen herumgeführt zu werden, so kann er bei dem Hofgärtner darum bitten. Doch kann und soll Niemand ‚Anständiges‘ in dem Besuch der Anlagen gehindert sein.

B.

Hiesiges anständiges Publicum ‚wie ad A.

Mit dem Unterschiede, daß es die Fähnlein, die den Durchgang verbieten, zu beachten hat; daß Sonntags vorzugsweise dem Besuche gewidmet ist.

Mit der Dunkelheit hört der Besuch auf. Warum? Weil dann die Begriffe ‚Anständig‘ und ‚Unanständig‘ sich verwirren.

C.

Auf Tinz oder dessen Garten findet Obiges Beziehung, mit der Bemerkung, daß dort die Fasanerie besondere Berücksichtigung verdient.

Schloß Osterstein, den 25. Septbr. 1844.
H. 72.“

Dieser Erlaß erschien genau so, wie in Vorstehendem angegeben, in der „Geraischen Zeitung“ abgedruckt. Ich hätte Niemandem rathen mögen, auch nur ein Iota, auch nur an der Form [594] zu ändern. Der Erlaß mußte so im Druck erscheinen, wie er geschrieben war.

Eine Reise hatte mich in den ersten vierziger Jahren nach Gera geführt; es war an einem prachtvollen Herbsttag und ich trat eben, um mir die Umgebung zu besehen, aus dem Thor des Gasthofs „zum silbernen Roß“, auf dem schönen Hauptmarkte Gera’s gelegen, als ich Generalmarsch schlagen hörte.

„Feuer, Feuer …!“ riefen einige Straßenbuben. „Rebellion!“ rief ein Dritter. Soldaten rennen in Sack und Pack an mir vorüber. Ein Menschenhaufe sammelt sich, aber man sieht weder etwas von einem Feuer, noch gar von einer Rebellion. Ich folge der Menge und erfahre endlich, daß Durchlaucht von Ebersdorf, welcher eben in der Stadt anwesend war, um die Garnison auf die Probe zu stellen, an die Hauptwache herangeritten war und dem Tambour befohlen hatte, in den Straßen Alarm zum Sammeln zu schlagen. Die Truppe, vielleicht etwas über hundert Mann, war eben angetreten, als Durchlaucht vor der Fronte erschien. Es wurde „Gewehr auf“ und „Marsch“ commandirt. Ich hatte nichts Besseres zu thun und folgte der Colonne, an deren Spitze der Fürst ritt. Auf einem großen Anger, weit außerhalb der Stadt, wurde „Halt“ gemacht. In bescheidener Ferne blickte ich dem Exerciren zu. Die Uebung dauerte nicht lange. Schon nach einer halben Stunde wurde der Rückweg angetreten.

In dem Augenblicke, da der Fürst an mir, der ich ehrfurchtsvoll grüßend am Wege stand, vorüberritt, hörte ich ihn mit seiner eigenthümlich gedehnten und etwas quäkend klingenden Stimme zum Compagniechef sagen: „Aber, Hauptmann, lassen Sie die Leute doch das Nationallied singen …“ „Das Nationallied?“ dachte ich und erwartete nichts Anderes, als Arndt’s: „Was ist des Deutschen Vaterland?“, nicht wenig im Stillen mich wundernd über den nationalen Sinn dieses Reußenfürsten, den man allgemein für einen der größten Demagogenhasser hielt. Ich bat dem Fürsten heimlich das an ihm begangene Unrecht ab. Aber wie erstaunte ich, als aus den Kehlen dieser braven Krieger ein Lied hervorbrauste, dessen Melodie nur durch den Text an Merkwürdigkeit übertroffen wurde. Ich schrieb mir den Text dieser reußischen Nationalhymne, der übrigens nur aus einem Vers bestand, was das einzig Gute an ihr war, auf. Er lautete:

„Es leb’ das reußische Haus
Und Alle, die daraus
Fürst Reußen nennen sich.
Absonderlich Reuß Heinrich, Hurrah!
Absonderlich Reuß Heinrich, Hurrah!
Der Lobenstein führt
Und Ebersdorf ziert –
Zu aller Reußen Lust!“

Schade, daß ich nie den Namen des reußischen Tyrtäus, des Dichters dieser Hymne, erfahren konnte. Mir wurde nur versichert, daß sie auf allerhöchsten Befehl gedichtet und componirt worden sei. Im März des Jahres 1848 hörte ich sie zum letzten Male. Seit dieser Zeit ist sie auch auf immer verstummt.

Die Reiselust des Fürsten habe ich schon erwähnt. Aber eine Episode aus seiner ersten italienischen Reise verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Es war in Neapel. König Bomba, welcher damals regierte, hatte zu Ehren Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten eine Fête veranstaltet. Damals war es beim Hofe von Neapel Sitte, Sammetröcke zu tragen. Heinrich der Zweiundsiebenzigste wußte dies und erschien in einem grünen, sehr elegant gearbeiteten Sammetrocke, welcher die Aufmerksamkeit des Prinzen von Capua erregte.

„Der Rock kleidet Ew. Durchlaucht vortrefflich,“ meinte der geistreiche Bourbonenprinz.

„Ich habe einen in Ebersdorf, der mir noch besser gefällt,“ entgegnete der Fürst. Damit endete die Unterhaltung.

Zehn bis zwölf Tage später kommt ein Courier Serenissimi mit einem allerhöchsten Handschreiben an den Archivsecretär v. W. in Ebersdorf an. Der Secretär, der, nebenbei bemerkt, ein einfacher Bürgerlicher war, wundert sich ebenso sehr über seine Standeserhöhung, wie über das allerhöchste Handschreiben, das er mit ehrfurchtsvoller Miene betrachtet, bevor er das Siegel löst … Und was stand in dem Schreiben, das der Courier aus Neapel gebracht? Der Secretär möge ihm, Serenissimo, sofort den grünen Sammetrock, den er neulich aus Paris erhalten, schicken! Acht Tage darauf kommt der Courier wieder in Neapel an – und mit ihm der Sammetrock! Am nächsten Tag erschien Durchlaucht in dem Rocke und bewies dem Prinzen von Capua, daß dieser ihn in der That noch besser kleide, eine Genugthuung, gegen welche die zweihundert Thaler, die ihm der Courier gekostet, nicht in Betracht kamen …

So verflossen in Glanz und Herrlichkeit die Tage dieses deutschen Souverains, bis endlich auch sein Verhängniß sich erfüllen sollte … Wenn den Fürsten nicht Schmeichler und Heuchler der gemeinsten Art umgeben hätten, so hatte er schon vor dem März 1848 es wissen können, daß trotz aller Schweifwedeleien in den officiellen Blättern seines Ländchens und der gemachten Loyalitätsbezeigungen, die der Mann in unbegreiflicher Selbsttäuschung für echt hielt, daß trotz alledem er auf einem unterhöhlten Boden stand. Eine schrankenlose Bureaukratie lastete auf der Bevölkerung. Der Fürst behandelte zwar, wenn es ihm eben einfiel, seine Beamten in der rücksichtslosesten Weise, aber diese rächten sich dafür, wie das immer der Fall, an den Unterthanen. Es war nur eine der vielen Selbsttäuschungen dieses Mannes, wenn er in seinen späteren Abdankungserlässen davon sprach, daß er den Beamtendruck vernichtet habe … Es war eine grenzenlose Selbsttäuschung, wenn er von der Liebe seines Volkes sprach. Die Bauernschaft im Lobenstein-Ebersdorf’schen seufzte unter Feudallasten und einem übermäßigen Wildstand … In den großen Waldungen des Fürsten gab es viele Hunderte von Hirschen, die oft in einer Nacht die Ernte des Landmannes vernichteten. Der Kampf der Jäger und des zum Forstschutz commandirten Militärs mit den Wildschützen war in dieser Gegend ein Krieg auf Tod und Leben. Die nahe baierische Grenze bot den Wildschützen immer eine sichere Rückzugslinie. Es verging kaum ein Jahr, in welchem nicht Wilddiebe oder Jäger und Soldaten in diesem Kriege blieben … Dazu kamen die natürlichen Folgen solcher Kleinstaaterei. Der Staatssinn war todt in der Bevölkerung. Wo der Staat mehr einem großen Rittergut gleicht, wo die staatlichen Einrichtungen der Kleinheit der Verhältnisse wegen leicht zu Zerrbildern werden – eine Erscheinung, die ja heute noch in vielen deutschen Kleinstaaten sich zeigt – da fällt der Nimbus der Souverainetät vor dem leisesten Sturmeswehen.

Es ist charakteristisch für diese kleinstaatlichen Verhältnisse, daß es eine Anzahl junger Studenten und Candidaten war, welche die alte Ordnung in den reußischen „Staaten“ über den Haufen warfen … Studenten, die in den Ferien waren, und Candidaten der Gottesgelehrsamkeit und Rechtswissenschaft, bei denen die Tinte der Censuren, die sie in der Staatsprüfung erhalten, noch nicht trocken war! … Sie tippten mit den Fingern an das morsche „Staatsgebäude“ und es fiel ein – und Heinrich der Zweiundsiebenzigste mit ihm!

Es liegt nicht in meiner Absicht, eine Geschichte der reußischen Märzrevolution von 1848 zu schreiben, nur das Abtreten Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten vom öffentlichen Schauplatze will ich erzählen.

Heinrich der Zweiundsiebenzigste glaubte durch Proclamationen den Sturm beschwören zu können. Die Bevölkerung, deren Führer, wie schon erwähnt, meistens Studenten und Candidaten waren, erhob sich überall. Das Wild wurde massenhaft unter den Augen des Fürsten todtgeschossen. Außer sich floh er nach Gera. Eine Sturmpetition vertrieb ihn auch von da. Er eilte in die Lausitz, wo seine jüngste Schwester ein Gut besaß. Von hier aus erließ er sein „Letztes Wort an sein Volk“, datirt Guteborn, Juli 1848.

„Meine Aufrufe vom 12. und 22. März,“ heißt es darin, „fußen auf dem Glück, wie Ich Mich damals ausdrückte, so gute, brave Landsleute in den Landleuten zu besitzen. In jenen Aufrufen, in allen Maßregeln seitdem ist allen Anforderungen die äußerste Rechnung getragen und sonach in Hinblick auf jenes glückliche Verhältniß der Grundsatz an die Spitze gestellt, daß wir Hand in Hand in die Umgestaltung treten wollten. Mein ganzes Leben übrigens giebt Bürgschaft, daß Volkeswohl und Fortschritt Mir nicht blos leere Worte sind. Die Verhältnisse haben sich geändert. Auf das Frechste ist jedes Band zwischen uns zerrissen. Der schändlichste Undank auf Mein, Ich darf es sagen, unschuldiges Haupt (siehe Schlacht von Harra?) gehäuft, auf einen Regenten, der treu zu seinem Volke stand und blos in dessen Wohl sein Glück fand, ein Glück, das Thaten beweisen …“ Nachdem er seine angeblichen Verdienste um das Land und die ihm angethanen Beschimpfungen [595] aufgezählt, erklärt er, daß er nach solchen Unbilden, wie sie wohl keinem Fürsten und Herrn oder Menschen angethan wurden, der das reinste Regentengewissen hat, der allen Zeitforderungen für ein großes, freies, einiges Deutschland zugejubelt, nun die Regierung niederlegen zu wollen, und schließt: „In irgend einem fernen Ort will ich über den Wechsel menschlicher Dinge nachdenken und zu Gott beten, daß die künftige Generation sich würdiger der Freiheit benehme, wie die jetzige, für die ich mein angestammtes Eigenthum geopfert und die besten Kräfte in langjähriger Regierungszeit.

Schloß Guteborn, im Juli 1848
Heinrich der Zweiundsiebenzigste Fürst Reuß.“

Also auch da noch zeigte sich jene bedauernswerthe Selbsttäuschung des Mannes, der, nur von Launen geleitet, jede Selbstständigkeit, jede freie persönliche Regung, die seinem Willen entgegentrat, mit absolutistischer Rücksichtslosigkeit unterdrückte, der nur Unterthanen haben wollte, die in jedem bescheidenen Almosen, das ihnen aus Landesmitteln zufloß, eine außerordentliche Gnade des durchlauchtigsten, gnädigsten Herrn erblicken sollten, der sich die übertriebensten Lobeserhebungen von seinen Schmeichlern als baare Münze und Ausdruck der Volksmeinung bieten ließ.

Diesem letzten Worte Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten an sein Volk folgte bald darauf nachstehende Abdankungsanzeige: „Meinen zahlreichen auswärtigen Freunden und Bekannten die Anzeige, daß ich die Regierung niedergelegt habe. Aus meiner Entsagungsurkunde für diejenigen, die mich kennen, ein deutlich Bild … Ich füge hinzu: Nicht das Auferstehen Teutschlands – ich glaube nicht, daß ein Teutscher mehr demselben huldigt, und jedes Opfer für Teutschlands Größe zu bringen bereit – sondern die Masse von Erbärmlichkeit, die in der Flachsenfingerei eines kleinen Staates mit dem März auftauchte und an die Stelle wahrhaft glücklicher Zustände (!!!) trat, hat mich vertrieben. Im Anfange gänzliche Unkunde und Schwäche der Civilbehörden, durch die die Wühlerei erst groß gezogen ward, welche, von zwei Städtchen ausgehend, nach und nach natürlich weiter fraß und Alles ansteckte. Mein im Kleinen ausgebildetes Wehrsystem … unbenutzt.“ Nachdem er wiederum seine angeblichen Verdienste um das Volk aufgezählt, fährt er fort: „Ein paar Beispiele jenes Undanks. An einem schönen Märzmorgen beendige ich eine Conferenz mit meinem Oberforstmeister mit den Worten: ‚Nun, Herr Oberforstmeister, wir haben heute das Waidwerk begraben.‘ (Das heißt auf den ruhigen und den Gesetzen der Natur folgenden Wegen.) Statt dessen raubt man mir’s mit Gewalt in acht Tagen. Ich berufe im April wiederholt die Beurlaubten der dem Bunde gehörigen Linie und die von mir geschaffene Landwehr ein, um gegen einen der vielen damaligen, kurz nach dem Schloßbrand von Waldenburg eintretenden Stürme Front machen zu können. Die Gemeinden halten auf Befehl der Wühler die bis dahin unbescholtene Mannschaft mit Gewalt zurück. Und das Alles nach schwerem Krankenlager, zum Schlusse möchte ich sagen: der Genesungsfeste!

Da ist mein Dableiben unmöglich, weil ich nichts halb sein will, und überhaupt da Teutschland eine Einheit sein soll und die kleinen Herrscher eine Unmöglichkeit. Mein Entschluß die Regierung niederzulegen wird um so eiserner, als die bekannte infame Sturmpetition bei Gera unser ältestes Schloß entwürdigte. Dort dieselbe Traurigkeit der Behörden, die Bürgerwehr, eintausendzweihundert Mann stark, läßt mich im Stich etc.

Heinrich der Zweiundsiebenzigste.“

Die letzte Proclamation Heinrich’s des Zweiundsiebzigsten aber, von der wir leider nur Bruchstücke mittheilen können, da dieselbe zu umfangreich ist, datirt vom 25. März 1849 und war an seine Ebersdorfer Residenzbewohner gerichtet, die ihn aus Nahrungsrücksichten eingeladen hatten wieder unter ihnen zu wohnen, natürlich als Abgedankter. „Ihr guten, lieben Ebersdorfer,“ sagt er, „Ihr waret mir treu, hold und gewärtig … Und wenn Alles mich vielleicht nach und nach vergaß, durch die erbärmliche Schwachheit meiner Civilbehörde dazu hingerissen … wenn kein Corps, keine Gemeinde rein blieb, dies- und jenseits verachtenswerther Undank und Dummheit mich unmöglich macht, unter Euch könnte ich unberührt schlafen; und kein 19. Juni würde meinen Schloßhof entehren. Dafür seid Ihr Ebersdorfer Männer! Treuen-Ebersdorf sollt Ihr heißen … würde es Euch in einem Diplom zugefertigt haben, umhangen von allgemeinen Ehrenzeichen, das nicht erlassen im Sturm der Zeit, oder durch die Faulheit eines Euch bekannten etc. So aber, da ich nichts mehr bei Euch zu befehlen, nehmt mein Manneswort, legt es in Eure Gemeindelade, mag es der Nachwelt Zeuge sein, daß es … zwei Gemeinden, Ihr und Köstritz gab, die noch Christen blieben! Ihr wißt, daß die Erbärmlichkeit, Rathlosigkeit, politische Feigheit, Verrätherei meiner Beamten meinen starken Arm abgehauen hat, der Euch schützte; und aus einem Bier-Crawall eine allgemeine Flamme gemacht! Ich bin auf ein erbärmliches Einkommen beschränkt, ein Drittel meines früheren! Denkt an den Brand von Schleiz, Euren Glanzpunkt! Denkt an das Jahr 1830 in Gera, meinen Glanzpunkt! Denkt an das Jahr 1806, meiner Mutter Glanzpunkt! Denkt an das Jahr 1813 (Vertrag von Frankfurt), meines Vaters Glanzpunkt! So bin ich … als Fürst Reuß in eine wahrhaft dürftige Lage gekommen, trotz Aufgabe von Allem, was mich bisher erfreut. Kinder, ich kann meine Dürftigkeit mit zwei Pferden und zwei Dienern gegen sonst nicht in Ebersdorf herumtragen … und bei den entsetzlichen Erinnerungen von 1848, wo mich jeder Blick an den Raub, den meine Gottvergessenen Unterthanen an mir verübt … Kinder, sage ich, so kann ich nicht unter Euch weilen!“ Er schließt mit der Versicherung, daß sein Motto: „Volkeswohl ist Fürstenglück“ es ewig bleiben werde …

Bis zum Ende seines am 17. Februar 1853 erlöschenden Lebens lebte Heinrich der Zweiundsiebenzigste im freiwilligen Exil zu Dresden. Reußenland hat er nie wieder betreten. Er starb in der unzerstörbaren Selbsttäuschung befangen, das Opfer einer Verrätherei seiner Beamten geworden sein, während er nur das Opfer seiner eigenen absolutistischen Launen wurde. Selten hat es wohl einen Regenten gegeben, bei welchem Worte und Handlungen in so schroffem Contrast standen, wie bei diesem Heinrich Reuß. Wir haben nicht mit zu grellen Farben gemalt; manche Partien des Bildes, die einen düsteren Schatten werfen, nur angedeutet. Aber das Bild wird eindringlicher als tausend Leitartikel die Gefahren jener kleinstaatlichen Zersplitterung in Staatskörper zeigen, die in keiner Weise der Aufgabe eines wirklichen Staates gerecht werden können; wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß namentlich die Thüringer Kleinstaaten viel zur Heraufbildung und Cultivirung des Volkes gethan haben – mehr als mancher Mittel- und Großstaat. Es versöhnt in Etwas mit dem Manne, welcher der letzte Souverän von Reuß-Lobenstein-Ebersdorf war, daß er diese Mißstände erkannte, wie aus seiner oben angeführten Proclamation hervorgeht. Einer spätern Zeit aber mag es vorbehalten bleiben, unter Benutzung mancher noch jetzt unzugänglichen, in den Archiven schlummernden Actenstücke ein ausführlicheres Charakterbild dieses deutschen Kleinfürsten zu zeigen, dessen Motto zwar „Volkeswohl ist Fürstenlust“ hieß, zu dessen Vertheidigung aber beim Sturmesandrang der Revolution sich nicht ein Arm erhob!




  1. Die eigenen Worte des Fürsten bei Einsetzung des Kanzlers von Bretschneider, am 12. September 1840 gesprochen.