Der Letzte seines Stammes

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Autor: Fanny Lewald
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Titel: Der Letzte seines Stammes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1–12, S. 1–4; 17–20; 33–36; 62–68; 94–96; 110–116; 129–132; 158–160; 173–175; 183–186
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

Der Letzte seines Stammes.

Novelle von Fanny Lewald.


Es ist, seit die Dampfwagen und Dampfschiffe die Welt durchsausen, eine ganz neue Art des Reisens unter die Menschen gekommen. Sie sind aus Maßlosigkeit sehr genügsam geworden. Sie sehen das Meer, die Gebirge, die Flüsse, die ausgedehnten Eisenbahnlinien, auf denen die lange Reihe der Wagen sich wie eine geflügelte Riesenschlange dahin bewegt, sie sehen breite Landstraßen, große Städte mit hervorragenden Monumenten, Gebäuden und Gasthöfen, und kleinere Städte und Dörfer mit etwas kleineren Gasthöfen, aber sie sehen das Alles nur wie aus der Vogelperspective. Sie behalten die Physiognomie eines Mitreisenden im Gedächtnisse, dessen Namen sie nicht wissen, lernen den Namen eines Andern kennen, von dem sie nicht viel mehr als eben den Namen erfahren, sie kennen die Einrichtung, die Preise, die Wirthe und Kellner in den Hotels, sie haben verschiedene Kirchen und Gallerien durchlaufen, verschiedene Berge und Thürme erklettert, und ist dann die Reise zurückgelegt, so haben sie Nichts gewonnen, als eine Reihe von äußeren Anschauungen und von Vorstellungen, welche sie sich vollkommen eben so gut und weit weniger beschwerlich und kostspielig in einem Panorama und durch eine illustrirte Zeitung hätten aneignen können. Sie bringen es zu [2] einer Gesammtanschauung, wie das Geographiebuch sie dem Schüler giebt, zu einigen Privatansichten, die zum großen Theile falsch sind, und der eigentliche Zweck des Reisens, ja sein eigentlicher Genuß, das Heimischwerden in Zuständen, welche von den unseren verschieden sind, das Herantreten des Menschen an den Menschen, das allein die Ferne belebt und das Dunkel aufhellt, in welches sie sich sonst für uns verbirgt, das geht ihnen verloren ein für allemal. Tausende und Tausende reisen alljährlich nach der Schweiz, aber was wissen die Meisten bei ihrer Heimkehr von dem Lande und von seinen Bewohnern?

Sie kennen von Ansehen die grünen Matten, auf welchen die Heerden weiden, und die Sennhütten des Hochgebirges, in denen der Käse bereitet wird. Sie kennen ebenso von Ansehen die gewerbfleißigen Städte, auf deren Wiesen die feuerrothen Schweizerkattune die Sonnenprobe bestehen, und sie sind durch Dörfer gefahren und haben in Häuser hineingesehen, hinter deren kleinen Fenstern der Webestuhl des Seidenwirkers klapperte oder die kunstgeübte Hand der Näherin auf dem Tambourinrahmen die Gardinen für die Prachtsäle der Königsschlösser stickte. Vor den schönen Kunstschnitzereien der großen Interlakener Magazine, vor den Schaufenstern der Uhren- und Goldwaarenfabriken von Genf haben sie eine Weile stille gestanden und sie wissen somit, daß die Schweizer ein Volk von fleißigen Bürgern sind, die Ackerbau und Industrie treiben. Man hat ihnen gesagt, daß in Basel ein sehr reicher, geldstolzer und zum Theil pietistischer Kaufmannsstand existirt, daß die südliche Schweiz einen lebhaften Handelsverkehr mit Italien treibt, und wenn sie etwa das Rheinthal hinauf fahren und ihnen auf beiden Seiten des Weges von den steilsten Felshöhen die Trümmer der Ritterburgen und tiefer hinab die zum Theil noch bewohnten Schlösser der alten Geschlechter in die Augen fallen, so stört sie das in ihrem erlernten Urtheil über das Land und seine Bewohner nicht sonderlich. Sie fragen sich nicht, woher diese Schlösser einer alten Aristokratie in der republikanischen Schweiz, sondern sie rechnen die Ruinen als zur Decoration des Weges gehörend, und sie haben ja auch schon am deutschen Rheine eben solche Burgen gesehen. Was denn aus all den alten Adelsgeschlechtern in der freien republikanischen Schweiz geworden ist, darauf lassen sie sich nicht ein, denn dazu haben sie auf der Reise, die sie ja zu ihrem Vergnügen machen, keine Zeit.

Wer aber etwas mehr Zeit hat, und wer ein anderes Vergnügen von der Reise erwartet, als das möglichst schnelle Durchziehen möglichst weiter Strecken, dem muß es, wenn er vom Bodensee aufwärts durch das Glarner Land nach Graubünden geht, sich auffallend darthun, wie mit dem sanften, lieblichen Charakter der Gegend sich auch die Gestalten und Physiognomien seiner Bewohner ändern, und welch eine Verschiedenheit den blonden Schweizer von St. Gallen und Glarus von dem dunkelhaarigen, schlanken und doch so kraftvollen Schweizer aus Graubünden trennt, über dessen Flecken und Dörfer sich die eisgekrönten Hochgebirge erheben, und in dessen Felsenthäler einzudringen und sich festzusetzen, einst den Beherrschern der Welt, den Römern, eine so schwere Aufgabe gewesen ist.

Noch steht er da, der hohe viereckige Römerthurm mit seinen altersgeschwärzten Quadern, der Ueberrest der alten Curia Rhaetorum, welche einst die kriegerischen Rhätier im Zaum halten sollte. Noch nennt das Volk von Chur, der Hauptstadt des Bündner Landes, diesen Thurm den Spinöl, die spina in oculis, den Dorn im Auge des Volkes, und wie der Zeuge jener grauen Vorzeit noch von der Höhe auf die Hauptstadt des Bündner Landes, auf Chur, hinabschaut, so ist auch das Blut der alten Rhätier noch nicht in den Adern des Volkes versiecht, denn noch heute sind die Bündner ein kriegslustiger und beharrlich ausdauernder Volksstamm.

Wenn schon die Zeiten lange vorüber sind, in welchen die alten Rhätier ihr Land mit wilder Energie gegen das Eindringen der Römer vertheidigten, und den Raubrittern, welche hier im Mittelalter eine furchtbare Tyrannei geübt haben müssen, ihr Gewerbe längst gelegt ist, so schickten doch die alten Geschlechter, die Toggenburg, die Buel, die Liechtenstein, die Salis, die Travens und viele andere, ihre Söhne immer noch in das Ausland, um sie zu Söldnern irgend einer Gewaltherrschaft zu machen und sie das heiße Blut in fremder Sache abkühlen zu lassen. Ein Theil der alten Bündner Geschlechter, der den deutschen Fürsten gedient hatte, setzte sich in Deutschland fest und half die deutsche Adelsaristokratie verstärken; ein anderer Theil aber blieb im Lande, stieg, durch den Wandel der politischen Ereignisse und durch die veränderten Lebensbedingungen gezwungen, aus seinen einsamen Burgen, aus seinen Wäldern und von seinen Felsen in die Thäler und in die Städte hinab, um nach dem Anschluß des Graubündner Landes an die Eidgenossenschaft unter den freien Bürgern der freien Schweiz wenigstens äußerlich ein bürgerliches Leben zu führen.

Trotzdem sind die Spuren der einstigen Adelsherrschaft noch in dem ganzen Bündnerlande sichtbar. Im Rheinthal und an der Via Mala, im Prätigau, im Domleschthal, im Engadin und an den Quellen des Inn, im Bergagliathal und hinab bis zu den italienischen Seen liegen sie weit verstreut, die zahlreichen Schlösser des Adels mit ihren Thürmen und mit ihren mauerumgebenen Gärten, und selbst in Chur und in seiner nächsten Umgebung sprechen die Stadtwohnungen des Adels, die Häuser mit der alten steinernen Wappenzier auch heute noch von dem Reichthum, welchen die Geschlechter einst besessen, als sie noch das Veltlin beherrschten und, römischen Proconsuln gleich, das Land aussogen, das sie erobert hatten.

Ein Zufall hatte uns in Chur zu Bewohnern eines solchen alten adligen Herrenhauses gemacht. Es war von außen eben nicht mehr viel Besonderes daran zu sehen. Unterhalb des Berges, welcher den Dom, den Bischofssitz, das Seminar und das Cantonsgymnasium trägt, war es in einem Garten am Rande der Plessur, des wild rauschenden Bergwassers, gelegen, das, hier aus engem Felsenthale hervorbrechend, sich später in den Rhein ergießt. Hohe Pappeln bezeichneten stattlich des Gartens Eingang, und der räumige Flur, die steinerne breite Treppe im Innern des Hauses, die schönen sich aneinanderreihenden Zimmer der drei Stockwerke mußten selbst einer zahlreichen Familie eine angemessene Wohnung dargeboten haben, als die Grafen von Rottenbuel das Haus noch inne hatten.

Jetzt waren die Grafen von Rottenbuel ausgestorben. Ihre Erben, die Herren von Rottenbuel, besaßen das Haus. Die einzelnen Stockwerke waren schon seit geraumer Zeit an verschiedene Familien vermiethet, und die nicht eben vermögenden Eigenthümer nahmen nur eines derselben in Beschlag. Wenn ihnen aber auch der alte, einstige Reichthum nicht mehr geblieben war, und wenn das im Jahre 1848 im Canton Graubünden erlassene Gesetz ihnen auch das letzte Vorrecht ihres Standes, die Erwähnung ihres Adels in öffentlichen Verhandlungen und Documenten, genommen hatte, so war ihnen doch noch die schöne und würdige Gestalt ihres Geschlechtes als ein letzter und großer Vorzug zu eigen geblieben. Der Typus der Köpfe war noch derselbe, welchen die Ahnenbilder des Hauses aufzeigten, und die Herren von Rottenbuel fühlten sich noch als Bevorzugte und Vornehme, obgleich einzelne Glieder der Familie, gegen die frühere Sitte des Geschlechtes, in bürgerliche Gewerbe überzutreten und Handel und Industrie zu treiben begonnen hatten.

Bei meiner Vorliebe für alles Physiognomische hatte ich mir oftmals die Bilder betrachtet, welche in der Wohnung unserer Gastfreunde und selbst auf den Fluren und Treppenwänden umherhingen, weil die Zimmer sie nicht alle zu fassen vermochten. Ich hatte sie mir dadurch fest in das Gedächtniß eingeprägt. Es waren zum Theil sehr schöne Köpfe, sowohl die der Männer als die der Frauen, und sie waren, namentlich die aus dem fünfzehnten und achtzehnten Jahrhundert, auch von guten Meistern gemalt. Der Zug der Familienähnlichkeit ließ sich durch das ganze Geschlecht hindurch verfolgen. Das dunkle Haar, die breite Stirne über den großen, weitgeöffneten Augen, die starke gradlinig vorspringende Nase und das feste rhätische Kinn mit dem kräftig geschnittenen Munde und den stolz geschwellten Lippen war fast Allen gemeinsam. Nur der Kopf des letzten Grafen von Rottenbuel, welcher nach der Inschrift, die keinem der Bilder fehlte, zu Paris im Jahre 1757 geboren war, wich von dem Familientypus ab.

Das Bild zeigte einen schönen, etwa dreißigjährigen Mann in der Uniform der französischen Schweizergarden und war ebenfalls gut gemalt. Die Grundformen des Kopfes waren freilich die des ganzen Geschlechtes, nur kleiner und weniger scharf ausgeprägt, aber der Graf war blond, und der Ausdruck der großen dunkelblauen Augen und die feinen Züge um die weichen Lippen hatten etwas so Schwärmerisches und so Melancholisches, daß man sich unwillkürlich fragte: was hat der Mann gethan und erlebt?

Wir blieben einige Wochen in dem Rottenbuel’schen Hause und verließen es dann, um einen Besuch auf einem Schlosse im Prätigau zu machen, dessen gegenwärtiger Besitzer, der hochbetagte Herr von Thuris, mit seiner ebenso bejahrten Schwester in dem [3] einsamen Edelhofe Haus hielt. Mitten in der wilden, großartigen Natur machte das zehn Fenster breite dreistöckige Gebäude mit den vier Thürmen an seinen Seiten, mit der starken Gartenmauer, durch deren Gitterthore man schon von außen die hohen Pyramiden und Wände des glattgeschorenen Buchsbaum und Taxus erblickte, einen äußerst wohnlichen Eindruck, und wir hatten daher erst wenige Tage in dem Schlosse gelebt, als wir uns in demselben auch bereits heimisch und bei unseren Wirthen, die wir erst neuerdings kennen gelernt hatten, wie bei alten Freunden eingebürgert fühlten.

Eines Abends, als ein Gewitterregen uns in dem Hause festhielt, hatte Fräulein Ursula die ganze Zimmerreihe des ersten Stockwerks öffnen lassen, und in derselben auf- und niedergehend, kamen wir auch an das Zimmer, das sie selbst bewohnte, und das wir bis dahin noch nicht betreten hatten. Mit jener Zurückhaltung, die an allen Mädchen, je nach ihrem sonstigen Charakter, rührend oder lächerlich sein kann, nöthigte die liebenswürdige Person nur mich allein, ihre Stube in Augenschein zu nehmen, und während die Männer rauchend und plaudernd ihren Wandelgang durch die geöffneten Säle fortsetzten, sah ich mir das kleine, in einem der Thürme gelegene Gemach an, das Fräulein Ursula seit ihrem fünfzehnten Geburtstage, an welchem die Eltern ihr ein eigenes Zimmer gegeben, das heißt seit vollen fünfzig Jahren, inne hatte.

Das Stübchen war traulich und sehr schön gelegen. Aus den mit blendend weißen Gardinen verhängten Fenstern sah man auf die großartige Natur, auf die hohen, wilden Felsenmassen hinaus, welche sich von allen Ecken um das Thal emporhoben, und auf das schwere, düstere Gewölk, das sich bis in das Thal herniedersenkend von dem Sturme hin- und hergetrieben wurde. In dem Stübchen selbst war ein Gegensatz bemerklich zwischen der wohlerhaltenen ursprünglichen Einrichtung des kleinen Gemaches und den einzelnen Möbeln, welche in neuerer Zeit hinzugeschafft worden waren. Neben der schmalen, für ein junges Mädchen berechneten Bettstelle mit den weißen, rosagefütterten Gardinen sahen der bequeme Lehnstuhl und das große Sopha der Matrone befremdlich aus, und doch machte das Zimmer einen guten Eindruck, weil es mit so viel Liebe gehalten war.

„Ich habe hier Alles so belassen,“ sagte Jungfer Ursula, als errathe sie, was mir auffalle, „wie meine gute Mutter es mir eingerichtet. Das sind noch die Tische und Stühle, die sie für mich gekauft; und das Bett, das sie mir hingestellt und geschichtet, soll auch einmal mein Sterbebette sein. Sehen Sie, das Schränkchen dort“ – sie wies auf einen jener altmodigen ausgebauchten und reich mit Messingbeschlägen verzierten Schränke, in welchen man im vorigen Jahrhundert seine Tassen und sonstiges Porzellangeräth aufzubewahren pflegte – „das Schränkchen ist noch von der ersten Pariser Einrichtung meiner Mutter, und ich benutze es wie sie. Es ist eine ganze Sammlung, eine ganze Gallerie von Andenken in dem Schränkchen enthalten. Ich brauche deshalb auch nur darauf hinzublicken, um mich im Geiste von einer Menge von Menschen umgeben zu sehen, die alle schon dahingegangen sind und vorübergezogen, wie dort die Wolken am Berge vorüberziehen.“

Während sie mich auf die ihr werthen Angedenken aufmerksam machte, war mein Auge, von den zierlichen Kleinigkeiten abschweifend, an denen man die Geschmacksveränderung der letzten sechszig Jahre in ununterbrochener Reihenfolge studiren konnte, auf drei in dem Zimmer befindliche, mit grüner Gaze überzogene Oelbilder gefallen; denn auch dem Schlosse Thuris fehlte es nicht an Bildern, und meinem Blicke folgend, sagte Jungfer Ursula, indem sie von dem mittelsten der Bilder den Vorhang fortzog: „das ist meine Mutter!“ Es war ein merkwürdiges Gesicht, das aus der tiefen schwarzen Spitzenhaube hervorsah! Uralt, wie die Frau gewesen sein mußte, als sie zu diesem Bilde gesessen, denn die dunkelbraune Haut war von unzähligen Falten und Zügen wie durchfurcht und die Hände sahen trocken und runzlig wie die Rinde eines Baumes aus, wurde man noch durch den großartigen Schnitt des Profiles und durch den Ausdruck ernster Gradheit überrascht, der aus demselben sprach.

„Die Frau muß ein Charakter gewesen sein,“ rief ich unwillkürlich aus, „und eine Schönheit obenein! Sie sehen ihr auffallend ähnlich, Jungfer Ursula!“

Das gute Mädchen lächelte. „Ja, man hat das immer gefunden, und es ist wahr, meine Mutter muß sehr schön gewesen sein. Ihr aber hat ihre Schönheit, als sie jung war, keinen großen Segen gebracht, und sie hat damals ihren ganzen Charakter nöthig gehabt, um nur mit dem Leben fertig zu werden. Man sollte nicht denken, daß man, wie die Mutter, achtundachtzig Jahre alt werden könnte, wenn man soviel erlebt und getragen hat als sie. Wären Sie vor zwei Jahren hergekommen, so hätten sie meine Mutter noch am Leben gefunden, und Sie hätten an ihr eine ganz andere Gesellschaft gehabt, als an mir. Sie wußte so viel zu erzählen, und sie erzählte so schön!“

„Das gute Erzählen haben Sie auch von Ihrer Mutter geerbt!“ bemerkte ich.

„Ich habe nur nicht so viel und so Verschiedenes erfahren, ich bin immer hier in unsern Bergen geblieben, und so lange die Mutter gelebt hat, habe ich auch nie daran gedacht, daß es hätte anders sein können, denn es kam mir immer vor, als sei ich nur um ihretwillen auf der Welt. Seit sie aber todt ist, fällt es mir wohl bisweilen ein, daß ich gar nicht für mich gelebt habe. Indeß, Gott hat das eben nicht gewollt, und mein Dasein ist dafür auch ein sehr sanftes und ruhiges gewesen.“

So friedlich sie diese Worte sprach, dünkte mich doch, als höre ich sie einen leisen Seufzer unterdrücken und als glänze ein feuchter Schimmer in ihren schönen Augen. Sie hatte sich aber von mir abgewendet, und von den beiden Portraits, welche zur Rechten und zur Linken von dem Bilde ihrer Mutter hingen, die Vorhänge fortziehend, sagte sie: „das ist mein Vater, und das ist der erste Mann meiner Mutter.“

„Graf Joseph von Rottenbuel?“ rief ich mit Ueberraschung, „Ihre Mutter war mit dem letzten Grafen Rottenbuel verheirathet?“

„Sie kennen das Bild?“ fragte mich Fräulein Ursula sichtlich erstaunt.

„Ich habe das Original desselben, denn dieses scheint mir nur eine Copie zu sein, in dem Rottenbuel’schen Hause gesehen,“ versetzte ich, „und das schöne, schwermüthige Gesicht des Grafen hat mich immer wieder angezogen. Ich habe mich oft gefragt, welche Schicksale dieser Mann gehabt, welche Erfahrungen ihm jenen Zug des Seelenleidens in das ursprünglich so glücklich angelegte Gesicht gezeichnet haben mögen. Und diese ernste, streng blickende Matrone zwischen den beiden jungen und schönen Männern hat nun vollends etwas so Besonderes, daß man ein Verlangen fühlt, mehr von diesen drei Personen zu erfahren.“

Jungfer Ursula nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Ja,“ sagte sie, „die haben viel zusammen erlebt, und das ist nachher Alles hier bei uns zur Ruhe gekommen und hier bestattet worden. Und nicht die Drei allein ruhen hier auf unserm Kirchhof in unserm Erbgewölbe. Die Mutter hat das Herz gehabt, auch die Marquise hier bei uns bestatten zu lassen. Sie war groß in allen diesen Dingen, unsere Mutter. Sie sagte: „die Marquise gehört zu mir, wie Leid zur Freude, wie Schatten zum Licht!“ Sie war groß in all den Dingen! Ich hätt’ es nicht gekonnt, denn die Marquise war ihr böser Dämon!“

Die gute Ursula hatte, wie alle Menschen, welche sich stets in engem Kreise bewegen, die Eigenheit, ihr Wissen von den Dingen auch bei den Andern vorauszusetzen; und ihre Aeußerungen und Bemerkungen über den Charakter ihrer Mutter und über deren Schicksale waren dadurch doppelt geeignet, meinen Antheil und meine Neugierde zu erregen. Ich mochte jedoch an dem Abende ihr mit weiteren Fragen nicht beschwerlich fallen, und erst nach längerem Verweilen in Schloß Thuris, erst nachdem Ursula mich lieb gewonnen und ich sie in ihrer ganzen einfachen Güte hatte schätzen lernen, bat ich sie einmal, mir von der Geschichte ihrer Mutter, von dem Schicksal des Grafen von Rottenbuel und von dem Leben ihres Vaters dasjenige zu erzählen, was sie für die Mittheilung geeignet halte.

Sie zeigte sich augenblicklich dazu geneigt. „Das ist Alles so lange her,“ sagte sie, „daß es mir selbst fast wie ein Stück aus der Historie erscheint. Die Zeiten, das Leben, die Menschen und die Sitten sind hier anders geworden. Damals, als Graf Joseph in französischen Diensten stand, war hier im Lande der Adel noch mächtig und Graubünden noch selbstständig für sich, es hatte damals noch die Herrschaft über das Veltlin und großen Einfluß und Besitz bis an die Seen. Jetzt ist das vorbei. Wir gehören zur Eidgenossenschaft, wir sind hier im Lande nur noch Gutsbesitzer, das Veltlin ist nicht mehr unser, und das Dienen in fremden Ländern ist unsern jungen Männern nun endlich auch verboten.“ Sie hielt inne und meinte dann: „Vielleicht ist das Alles recht und gut! Die Mutter blieb immer dabei, daß es sich für einen Edelmann [4] nicht schicke, außer Landes für eine fremde Sache fechten zu gehen, und sie kannte im Grunde das Alles besser als ich, denn sie hatte es mit erlebt, wozu es führte; und als mein Bruder dann auf Reisen ging und in Neapel Dienste nehmen wollte, hat sie ihm die längsten Briefe dagegen geschrieben, bis er es unterließ.“

„Sind denn überhaupt viel Briefe von Ihrer Mutter erhalten?“ fragte ich.

„Ja freilich! Briefe von der Mutter und von den Andern auch, und Tagebücher ebenfalls. Sie hat sie mir sammt und sonders vermacht, und wenn ich einmal darüber komme, liest es sich wie ein Roman.“

Ich bat sie, mir die Briefe zur Durchsicht zu geben, sie willigte ohne Weiteres ein und schickte erzählend alle die Erklärungen voraus, deren ich nach ihrer Meinung zum Verständniß des Zusammenhanges unter den in den Briefschaften genannten Personen benöthigt war.

„Ich weiß,“ sagte sie, „wenn Sie das Alles gelesen haben werden, so machen Sie gewiß eine Geschichte daraus.“

Ich erkundigte mich, ob sie etwas dagegen einzuwenden haben würde.

„O nein!“ versetzte sie, „meine Mutter kann nur dabei gewinnen, auch meinem Vater und dem Grafen Rottenbuel geschieht keine Unehre damit; und zuletzt ist’s wie mit einem Leichensteine, den man ja auch nur aufrichtet, damit die Todten nicht vergessen werden, wenn Niemand mehr lebt, der sie kannte und der sich ihrer antheilvoll annimmt. Machen Sie mit den Papieren, was Sie wollen. Es liegt der Art hier im Schlosse noch viel mehr aufgespeichert, und es ist bisweilen recht erstaunlich, es zu lesen, auf wie wunderbare Weise die Menschen aus unsern Bergen von jeher mit den Menschen außerhalb in Berührung gekommen sind, und wie mancher Sturm von außen hier den Frieden stören kann. Hier bei uns im Bündner Lande sind oft ganz besondere Dinge vorgegangen!“

Sie ging bei diesen Worten in das Zimmer neben ihrer Stube, in das ehemalige Wohnzimmer ihrer Mutter, dessen Möbel offenbar einer weit zurückliegenden Zeit angehörten. Die Hälfte der einen Wand wurde von einem altersgeschwärzten, unpolirten Eichenschranke eingenommen, von einer Zusammensetzung und innern Abtheilung, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Die Mitte der oberen Hälfte war offen und mit Borden versehen, wie bei einem Schenktisch, und es standen auch verschiedene altmodische Silber- und Porzellangefäße darauf zur Schau. Unten war der Schrank, gleich den beiden Seitenflügeln, mit Thüren verschlossen, und Jungfer Ursula zeigte mir, wie tief der Schrank sei und wie viel Wäsche und Vorräthe allein in der linken Seite desselben aufgestapelt lägen. Die rechte Seite aber hatte in der Mitte einen verzierten Griff von Eisen, von welchem eine etwa drei und ein halb Fuß hohe Stange beweglich herabhing, und ich hatte gleich, als wir in das Zimmer kamen, diese Eisenstange mit Neugierde betrachtet. Nun schloß Jungfer Ursula ein über dem Griffe durch das Schnitzwerk fast verstecktes Schloß auf, und die Eisenstange fiel klappernd herab, um die Stütze für einen kleinen Schreibtisch zu machen, über dessen Platte sich ein ganzer Thurmbau von kleinen Fächern und verborgenen Schiebladen, ein wahres Wunderwerk alter, ausgelegter Schreinerarbeit, aufthat.

„Der Schrank muß zwei-, dreihundert Jahre alt sein!“ rief ich mit Verwunderung aus.

„O gewiß!“ meinte unsere Wirthin. „Es ist ein altes Erbstück aus der Familie meiner Mutter. Sie hat es aus dem Engadin, von Schloß Gunta, wo sie zu Hause war, hierher schaffen lassen, als sie aus Frankreich gekommen ist, um hier meinen Vater zu heirathen, und sie erzählte oftmals, welche Schwierigkeiten es gemacht habe, diesen Schrank über die Berge zu bringen. Er stand sonst immer in dem großen Saale. Als mein Bruder aber das Erbe antrat und die Mutter und ich uns nun ganz auf diesem Seitenflügel des Schlosses einrichteten, ließ sie ihren Schrank und die drei Bilder hier herüber schaffen.“

Jungfer Ursula hatte, während sie also sprach, die betreffenden Papiere aus den verschiedenen Fächern hervorgesucht und händigte sie mir sammt und sonders ein. Es waren Briefe, Notizen, Tagebücher von verschiedener Hand. Dazwischen fanden sich Tauf- und Trauscheine, auch verschiedene Diplome und Officierspatente lagen dabei. Das gute alte Mädchen war sehr gerührt, als sie die Papiere und die Andenken an vergangene Tage und an ein vergangenes Geschlecht vor meinen Blicken auseinander legte.

„Ich habe oft in den Blättern gelesen, und ihr Inhalt ist mir wie ein eigen Erlebtes geworden,“ sagte sie freundlich. „Es soll mich wundern, wie Sie, die Sie gewohnt sind, die Menschen zu beobachten und zu beurtheilen, diese Ereignisse und die Charaktere auffassen werden. Manches, was die Mutter erzählte, steht mir so lebendig vor der Seele, daß ich selbst, wenn die Winterzeit uns nicht zum Hause herausläßt und wir hier in unserm Thale von aller Welt abgeschieden, in Schnee und Eis vergraben sind, versucht habe, die einzelnen Scenen und Vorgänge aufzuschreiben und –“

„Das geben Sie mir!“ fiel ich ihr in das Wort, „denn was eine so einfache und wahrhaftige Seele nach mündlichen Berichten niedergeschrieben hat, das muß Natürlichkeit besitzen, welche unsere Reflexionsbildung kaum nachzumachen im Stande ist.“

Die gute Ursula zögerte eine Weile, ließ sich aber denn endlich doch erbitten, und aus ihren Skizzen, wie aus den Tagebüchern des letzten Grafen von Rottenbuel habe ich die folgenden Thatsachen zusammengestellt, nur ergänzend, was die vorhandenen Briefe unklar ließen.

[17] Es war im Sommer des Jahres 1787 und die Sonne hatte sich noch nicht aus dem Frühnebel eines heißen Julitages emporgerungen, als zwei Reiter in einem der entlegensten Theile des Bois de Boulogne Halt machten.

„Es ist noch Niemand hier!“ sagte Deutsch sprechend der Jüngere von ihnen, indem er vom Pferde stieg und dieses dem Reitknecht übergab, welcher ihnen auf dem Fuße gefolgt war.

„Um so besser,“ entgegnete der andere Herr, „so hat man Zeit sich abzukühlen, und die Hand wird ruhig.“ Er knöpfte dabei den Reitrock von dunkelm Tuche auf, den er über der rothen Uniform der königlichen Schweizergarden trug, nahm den kleinen dreieckigen Hut vom Kopfe und trocknete sich mit dem seinen, von Spitzen geränderten Taschentuche leicht die Stirne. Dann legte er die Hände auf dem Rücken zusammen und fing an, langsam einen kleinen Raum in regelmäßigen Wendungen auf und nieder zu schreiten, als wenn ihn keine Sorge drückte und keine Gefahr ihm drohte.

Er war ein großer, breitbrustiger und auffallend schöner Mann von gerade dreißig Jahren; weil er aber schlank war und leichte Bewegungen hatte, sah er noch jünger aus. Sein schwarzes Haar, welches in natürlichen Locken seine Schläfen umgab, und die großen, dunkelblauen Augen machten ihn sehr anziehend. Seine äußerst sorgfältige Kleidung verrieth, daß er sich seiner Vorzüge wohl bewußt war und ihnen durch keine Vernachlässigung Abbruch thun mochte. Seine Uniform zeigte, wie gut er gewachsen sei, und sein Jabot und seine Manschetten machten durch die Sorgfalt, welche offenbar auf dieselben verwendet worden war, seinem Geschmacke Ehre.

„Ich habe Noth gehabt, gestern in den wenigen Stunden noch meinen Urlaub zu erhalten!“ sagte er nach einer Weile. „Man schien Etwas zu vermuthen, man meinte, es wären eben jetzt schon so Viele beurlaubt, ich solle warten.“

„Und wie erlangten Sie ihn endlich?“ fragte der Jüngere.

„Ich sagte die einfache Wahrheit, die aber für mich freilich keine Wahrheit in sich schloß. Ich gab Familienangelegenheiten vor und sprach von der Heirath, zu welcher Deine Mutter mich zu überreden wünscht. Das zerstreute die Muthmaßungen und Zweifel in doppeltem Betrachte, und der Urlaub ward mir dann sogar, wie ich es wünschte, auf unbestimmte Zeit bewilligt.“

Inzwischen hatte er seinen Degen losgemacht und ihn seinem Gefährten übergeben. Dieser zog ihn aus der Scheide, prüfte seine Schärfe, stemmte die Spitze gegen den Boden und freute sich der Biegsamkeit der feinen, unterhalb des Griffes reich mit Gold ausgelegten Klinge.

Trotzdem war eine gewisse Unruhe an ihm zu erkennen. Er sah öfters auf den Weg zurück, von welchem sie gekommen waren, blickte darauf in das stolze Antlitz seines Gefährten und die Allee hinabschauend, an deren Ende ein Wagen sichtbar wurde, sagte er: „Ich wollte, Onkel, Sie hätten auch für einen Wagen und für einen Arzt gesorgt!“

Der Angeredete lächelte, und seinem jungen Gefährten auf die Schulter klopfend, entgegnete er: „Sei unbesorgt, Ulrich! wenn ich des Wagens oder des Doctors bedürfen sollte, wird der Chevalier sich ohne Frage ein besonderes Vergnügen daraus machen, mir den seinigen zu überlassen.“ Er zog dabei die Uhr heraus und bemerkte mit einem Anfluge von Spott: „Er hat’s nicht eilig, wie Du siehst!“

Während dessen war der Wagen aber näher gekommen, und man konnte dem jüngern der beiden Männer ansehen, daß er mit sich kämpfte, daß er eine Frage thun wollte und sie unterdrückte. Endlich sagte er: „Haben Sie mir Etwas aufzutragen? Habe ich Etwas zu besorgen, Onkel?“

Der Andere lächelte. „Man ruft dem Jäger, wenn er auf die Jagd geht, dem Bergmann, wenn er in den Schacht fährt, ein Glück auf! zu, und Du krächzest Unglücksahnungen, wie ein Rabe! Das ist nicht Manier, mein Junge!“ Und mit einem Ausdruck von selbstgefälligem Stolze, der ihm aber ganz vortrefflich anstand, sagte er: „Als ich Dir die Ehre anthat, Dich in dem Duell zwischen mir, dem Grafen Joseph von Rottenbuel, und dem Chevalier von Lagnac zu meinem Secundanten zu machen, dachte ich, daß es an der Zeit sei, Dir durch diese meine Wahl einen bemerkenswerthen Eintritt in die große Welt zu sichern. Auf Deine Rührung war es dabei nicht abgesehen, mein lieber Freund!“

Der junge Mann wurde roth, seine hellen Augen glänzten, man hätte nicht sagen können, ob vor Wehmuth oder vor Zorn. „Sie wissen es, mein Onkel,“ sprach er im Tone der Erklärung, „wie sehr meine Mutter Sie liebt! wie sehr –“

„Ich weiß,“ fiel Graf Joseph ihm in die Rede, „ich weiß! Und ich denke sie ja auch wieder zu sehen, vielleicht in wenigen Tagen sie wieder zu sehen!“ fügte er begütigend hinzu. „Im Uebrigen sei ohne Sorge! Das Fleuret eines Chevalier von Lagnac tödtet keinen Mann wie mich! Er hatte eine Lection nöthig, die soll er bekommen und damit basta!“

Der Graf hatte diese letzten Worte noch nicht vollendet, als der Wagen des Chevalier auf dem Platze hielt. Der Diener öffnete den Schlag, und dem aussteigenden Arzt und Secundanten folgte der Chevalier. Er konnte etwa zweiundzwanzig Jahre zählen, [18] und auch er sah auf den ersten Blick noch jünger aus, denn er war klein, von feinem Gliederbau, und die kecken, schwarzen Augen und das kleine Schnurrbärtchen auf der Oberlippe ließen seine helle und frische Gesichtsfarbe fast weiblich erscheinen. Trotz des warmen Wetters hatte er einen weiten weißen Tuchmantel übergeworfen, und die weißen Casimirbeinkleider, die weißseidenen Strümpfe und der braunrothe, mit Schnurenwerk reich besetzte Rock, den er über der weißen Weste trug, stachen in ihrer Hellfarbigkeit und Leichtigkeit gegen den dunkeln Reitrock des Grafen ebenso wie das Aeußere der beiden Gegner von einander ab.

Man begrüßte sich in aller Form, die männliche Haltung des Grafen, die leichte Grazie des Chevaliers verleugneten sich dabei nicht, und nachdem die üblichen Verständigungsversuche von den beiden Secundanten gemacht, von den beiden Kämpfern zurückgewiesen, das Terrain gewählt, die Waffen ausgeglichen, Licht und Sonne Beiden gleich zugemessen worden waren, legten der Graf und der Chevalier die Röcke ab, und das Duell begann.

Es war ein Vergnügen, diese Männer einander gegenüber zu sehen, zu sehen, mit welch ruhigem Lächeln der Graf sich auslegte, mit welch strahlender Heiterkeit der Chevalier ihm entgegentrat. Wie spielend that der Graf die ersten Stöße, aber die sichere Gewandtheit, mit welcher der Chevalier sie parirte und erwiderte, belehrte den Grafen bald, daß er keinen ihm unangemessenen Gegner vor sich habe, und daß die kleine zarte Hand des jungen Mannes eben so sicher die Klinge zu führen wußte, als sie geschickt eine Schleife zu entwenden, einer Dame ein Billet zuzustecken und eine Rose zu überreichen verstand.

Schon nach wenig Augenblicken hatte der Kampf eine andere Gestalt gewonnen. Graf Joseph warf sich fester in seine Stellung zurück, sein Gesicht war ernsthafter geworden, und je unverkennbarer die helle Zuversicht in dem schönen Antlitz seines Gegners hervortrat, je schneller Stoß auf Stoß einander folgten, je mehr verdüsterten sich des Grafen Züge. Die Lection, auf die er es für den Chevalier abgesehen hatte, war nicht so leicht zu geben, als Jener erwartet. Aus der Rolle eines spielenden Angreifers sah er sich, da er anfangs offenbar seinen jugendlichen Gegner zu schonen gedacht, in die Lage eines Angegriffenen versetzt, und plötzlich von seiner Lebhaftigkeit übermannt, that er einen Stoß, der bestimmt war, den Arm des Chevalier zu treffen und ihn kampfunfähig zu machen; indeß eine zu heftige Wendung desselben machte es seinem Secundanten unmöglich, ihn in der rechten Weise zu decken, der Degen entfiel der Hand des Fechtenden, und krampfhaft nach der Brust greifend, sank der junge Mann lautlos zu Boden.

Eine halbe Stunde später fuhr der Wagen des Chevalier langsamen Schrittes über die weichen Sandwege des Boulogner Gehölzes dem Faubourg Saint-Germain zu, während die beiden Schweizer auf raschen Pferden die entgegengesetzte Straße einschlugen, um ihre Garnison in Versailles zu erreichen, wo der Hof sich aufhielt.




In dem Boudoir der Königin waren die Portièren herabgelassen, welche es von dem Nebenzimmer trennten. Zwei Hofdamen saßen in dem letzteren. Die Eine derselben hatte ein Billet in den Händen, das sie eben gelesen und dessen Inhalt auf beide Damen eine erschreckende Wirkung ausgeübt hatte. Sie sprachen leise mit einander, und ihre Unterhaltung mußte irgend einen Bezug auf ihre Herrin haben, denn sie blickten während derselben bisweilen unwillkürlich nach dem Cabinete, als ob von dorther irgend ein Aufschluß oder eine Entscheidung zu erwarten stände.

Es verging aber eine geraume Zeit, ohne daß ein Laut sich aus dem Cabinete hören ließ. Draußen in den langen Taxushecken, zwischen den geschorenen Bosquets von Buchsbaum und Erlen sangen die Vögel. Die Wasser rauschten an allen Ecken und Enden aus den Fontainen hernieder, die Sonne schien hell und warm durch die bis zum Boden herabgehenden Fenster herein und leuchtete bis auf die violetten Vorhänge des Boudoirs, deren goldene Quasten sich in ihrem Lichte prächtig von dem dunkeln Hintergrunde abhoben.

Die Stille fing offenbar an, auf die diensthabenden Damen ihren Einfluß auszuüben, denn sie verstummten allmählich, und die Eine und die Andere hatten sich müde in die hohen Lehnen der niedrigen Sessel zurückgelegt, als die Portière des Boudoirs plötzlich zurückgeschlagen wurde und die damals zweiunddreißigjährige Königin Marie Antoinette in der Thüre sichtbar wurde. Sie war noch im Morgenkleide, aber ihrer zugleich frischen und gebietenden Schönheit stand eine leichtere und zwanglose Kleidung so wohl an, daß die Königin sie vorzugsweise liebte. Ihr Gewand von weißem Mousselin war mit rosa Bändern à la Watteau aufgeschürzt, so daß man ihr Unterkleid von weißem Gros de Tours, die mit rosa Pompons aufgenommenen Falbalas desselben und die weißseidenen Absatzschuhe mit den großen blaßrothen Schleifen sehen konnte. Ein Kantentuch à la paysanne mit rosa Bändern durchzogen umgab ihren Nacken und ihren Busen, und ein ähnliches Spitzentuch mit rothen Rosen verziert, wie die Königin es auch in einem der letzten Schäferspiele in Trianon getragen, war über ihrer hohen, aber bereits durch die Mode gelockerten Frisur befestigt, so daß die Rosen gerade über ihrer Stirne zu liegen kamen und die langen, durchsichtig gepuderten Locken hinter den Ohren der Königin bis tief auf ihre Schulter hernieder fielen.

Die Damen erhoben sich bei ihrem Anblick, und im Zimmer umherschauend fragte die Königin: „Ist die Herzogin noch nicht hier? Ein Uhr ist vorüber.“

Da trat eine der Damen an einen Seitentisch heran, auf welchem sich auf silbernem Teller ein versiegeltes Billet befand, und indem sie es der Königin überreichte, berichtete sie, daß der Läufer der Herzogin vor einer halben Stunde dieses Schreiben überbracht habe.

„Und weshalb erhielt ich es nicht gleich?“ rief die Königin, indem sie das Billet in Empfang nahm.

„Majestät hatten den Befehl gegeben, Sie unter keiner Bedingung zu unterbrechen!“ entschuldigte die Hofdame.

Die Königin hatte währenddem das Blatt eröffnet. Es enthielt nur die wenigen Worte: „Von der Gnade Ihrer Königlichen Majestät, auf die zu bauen Ihre huldvolle Güte mich bereits gewöhnt hat, erbitte ich mir die Erlaubniß, mich eine halbe Stunde später bei Ihrer Majestät einfinden zu dürfen, da ein Unglücksfall in meiner Familie mich schwer getroffen hat und ich, nicht fassungslos vor den Augen meiner allergnädigsten Königin zu erscheinen wage.“

Die Königin war betroffen, sie liebte die Herzogin, und obschon Königin, war sie eine Frau und der Neugier nicht unzugänglich. Sie wendete sich daher an die ältere ihrer Damen und sagte: „Die Herzogin schreibt mir von einem Unglücksfall, welcher sich in ihrer Familie zugetragen und sie schwer getroffen habe. Wissen Sie, Marquise, was Ihrer Cousine begegnet ist?“

Die Hofdame verneinte es, indessen ein flüchtiger Wechsel ihrer Farbe strafte ihre Worte Lüge, und der Königin, früh gewöhnt, die Menschen zu beobachten, und scharfsinnig, wenn sie sich nicht absichtlich verblenden wollte, entging die Bewegung der stolzen Schönheit nicht. Ihr großes, hellblaues Auge fest auf sie heftend, wollte sie daher eben eine zweite Frage an Frau von Vieillemarin richten, als zu deren Glücke die Ankunft der Herzogin von Polignac gemeldet wurde und diese, nach erhaltener Erlaubniß, vor der Königin erschien.

Mit jener persönlichen Ungezwungenheit, welche auch bei Hochgeborenen das sicherste Zeichen ihres Selbstgefühls und ihrer Selbstherrlichkeit ist, ging Marie Antoinette der Herzogin entgegen, und ohne ihr Zeit zu dem ceremoniellen, vorschriftsmäßigen Eintritt zu lassen, sagte sie mit gütiger Lebhaftigkeit: „Sie haben mich mit Ihrem Brief erschreckt! was hat sich in Ihrem Hause Unglückliches ereignet, meine theuere Herzogin?“

Die Königin reichte dabei derselben ihre Hand, welche die Herzogin sich tief niederbeugend küßte, dann richtete diese sich auf, und weil sie wohl wußte, daß fürstliche Herrschaften selbst von liebsten Freunden Auseinandersetzungen ihrer Leiden nicht zu hören lieben, antwortete sie: „Mein Neffe, der Chevalier von Lagnac, ist diesen Morgen tödtlich im Duell verwundet.“

„O, hoffen Sie, er wird genesen!“ rief die Königin, welcher schon die traurige Miene ihrer Freundin peinlich und beschwerlich war.

„Der Ausspruch der Aerzte giebt dieser Hoffnung wenig Raum,“ wendete die Herzogin ein, welche Gründe hatte, die Unterhaltung nicht so kurz abbrechen zu lassen.

„Und wer war sein Gegner?“ forschte die Königin weiter, um nur zunächst von dem Verwundeten nicht mehr zu hören und des Beklagens ledig zu werden.

„Graf Joseph von Rottenbuel, Ew. Majestät!“

„Graf Rottenbuel?“ wiederholte die Königin, „der Major [19] Rottenbuel? Wie hängt das zusammen? Kennt man die Veranlassung des Zwistes?“

„Ich wenigstens kenne sie, Majestät!“ antwortete die Herzogin, indem ein flüchtiger, aber finsterer Blick an Frau von Vieillemarin vorüberstreifte.

„So lassen Sie mich hören,“ gebot die Königin, indem sie in ihr Cabinet zurücktrat und der Herzogin ein Zeichen gab, ihr zu folgen. Dann wurden von innen die Flügelthüren des Cabinetes zugemacht, und die beiden Hofdamen blieben wieder allein in dem Empfangssaale zurück.




Am Abende war ein Gewitter aufgezogen und es regnete stark. Die Nacht brach früh herein, weil die Sonne hinter schweren Wolken versteckt war, und da man des üblen Wetters wegen die Lustpartie hatte aufgeben müssen, welche man am Hofe für diesen Tag festgesetzt, war ein Concert in den Gemächern der Königin angeordnet worden. Der Anfang desselben war nicht mehr fern, als ein Mann, tief in seinen Regenmantel eingehüllt, über einen der Seitenhöfe des Schlosses schritt und seinen Weg nach dem Flügel einschlug, den die dienstthuenden Hofdamen in Versailles bewohnten. Als er sich dem Portale näherte, rief die schweizer Schildwache ihn an. Er gab die Parole als Antwort, und die Schildwache schien ihn auch zu erkennen, sobald der Strahl der Laterne ihn beleuchtete. Sie präsentirte, als er vorüberging.

Auf den Gallerien und Gängen im Schlosse war es still und leer. Männer und Frauen waren in den Toilettenzimmern beschäftigt, die Kammerdiener und Kammerfrauen hatten alle Hände voll zu thun, die Lakaien besorgten die Ordnung und Beleuchtung in den Sälen. Der Mann im dunklen Mantel mußte aber bekannt im Schlosse sein, denn er gelangte, ohne darum fragen zu müssen, an ein Zimmer in dem letzten Pavillon, und nachdem er, die Hände zusammenlegend, leise den nächtlichen Schrei der Eule nachgeahmt hatte, öffnete sich eine Thüre zur Linken, in welcher er verschwand.

Das Zimmer, in welches er eintrat, war fast dunkel. Die Läden waren gegen den Garten hin geschlossen, in der Ecke auf einem dreifüßigen Marmortische brannten die Kerzen auf einem Armleuchter. Sie gaben eben nur Licht genug, die prächtige Einrichtung des großen Raumes zu gewahren, aber der Cavalier beachtete sie nicht, er schien den Saal zu kennen, und er kannte auch die Dame, welche ihn dort erwartete, und deren reiches Hofcostüm einen sonderbaren Gegensatz zu der Dunkelheit und der Einsamkeit des Saales bildete. Ihre Haltung verrieth ihre Unruhe und ihre Aufregung; die Gelassenheit des Mannes, der ihr gegenüber stand, war anscheinend um so größer.

„Sie haben mich gerufen, Frau Marquise,“ sagte er, „und noch einmal bin ich Ihrer Einladung gefolgt, obschon ich nach der Weise, in welcher Sie gestern meine Fragen, meine bittenden Vorstellungen aufgenommen, kaum noch darauf gerechnet hatte, der Gunst einer solchen Einladung theilhaftig zu werden. Darf ich Sie fragen, welchem Ereigniß oder welcher glücklichen Stimmung ich den Vorzug verdanke, Sie, und eben hier an diesem Orte wieder zu sehen? –“ Er sprach diese Worte mit der Gemessenheit eines Menschen aus, der sie vorher überlegt und sich überhaupt die Rolle vorgezeichnet hat, welche er aufrecht zu halten gedenkt; indeß ein Ton von Gereiztheit und von Erregung drang wider seiner Willen daraus hervor. Die Dame empfand das, aber sie wollte es nicht bemerken.

„Ich würde die Freiheit, die ich mir genommen,“ versetzte sie, „allerdings zu entschuldigen haben, Herr Graf, hätte ich Sie nicht sprechen müssen, um Ihnen zu sagen, was ich Ihnen zu schreiben nicht für sicher hielt. Der Zustand des Chevalier von Lagnac ist hoffnungslos. Ich weiß, daß Sie beurlaubt sind. Säumen Sie nicht, Herr Graf, Ihren Urlaub zu benutzen. Der König, Sie wissen es, ist dem Duell entgegen, seit der Graf von Artois selbst in dem Zweikampf mit dem Herzog von Bourbon sein Leben exponirte, und der Graf von Artois ist in Verzweiflung darüber, daß er Lagnac, daß er seinen Günstling und Genossen verlieren soll. Die Herzogin aber schürt das Feuer des königlichen Zornes. Es handelt sich um Ihre Freiheit, um Ihre Zukunft, Graf! Man spricht davon, ein Beispiel zu statuiren, eine lettre de cachet –“ Der Graf lachte spöttisch. „Sparen Sie die Mühe, Marquise,“ sagte er, „mir zu beweisen, wie sehr Sie mich zu entfernen wünschen.“

Die scharfgezeichneten Augenbrauen der Marquise zuckten leise zusammen, ihre Lippen öffneten sich, aber sie unterdrückte ihre Bewegung, unterdrückte auch die Antwort, welche sie zu geben beabsichtigt hatte, und sagte mit wiedergewonnener Fassung: „Es steht bei Ihnen, Graf Rottenbuel, es zu verkennen, daß ich gut zu machen, vergessen zu machen wünschte, was ich gegen Sie verschuldet.“

Und wieder unterbrach sie der Graf. „Gut machen? vergessen machen?“ rief er. „Kannst Du es mich vergessen machen, Franziska, daß ich in Dir einst die höchste Liebe meines Herzens niedergelegt und daß Du sie verrathen hast? Kannst Du sie mich vergessen machen, Franziska, die Stunde, in welcher Du hier, eben hier in diesem Pavillon, mir Treue geschworen, mir Deine Hand, Dich selbst für immer angelobt, wenn ich die Zustimmung Deiner Eltern für unsere Verbindung zu erlangen wüßte? Denkst Du des Abends, es sind fünf Jahre her, als Du, das kaum dem Vaterhause entnommene Mädchen, mir hier die Art und Weise Deines Vaters und Deiner Mutter schildertest, als Du mir die Anweisung gabst, wie ich es zu machen hätte, Deine Eltern umzustimmen, die sich große Vortheile für sich und Deine Brüder von Deiner eben angetretenen Stellung neben der Königin erwarteten? Erinnerst Du Dich“ – er vollendete den Satz nicht, und mit ganz verändertem Tone fügte er hinzu: „Ich ging in die Touraine, ich sah Deine Eltern, ich erlangte ihre Zustimmung; und als ich wiederkehrte, als ich das Herz voll Hoffnung vor Dir erschien, als ich es mir vorstellte, welches Glückes wir fern von hier in meiner Heimath genießen würden, da – hatte die Herzogin Dich unter ihren ganz besondern Schutz genommen. Die Nachricht von Deiner beabsichtigten Verlobung mit ihrem Vetter war die erste Kunde, die ich hier empfing, Deine Zustimmung zu derselben die Freude, die Du mir zum Willkomm zugedacht!“

Der Marquise kam diese Scene ungelegen, aber ihre Gefallsucht konnte es nicht ertragen, selbst den einst verschmähten und seitdem von ihr in koketter Selbstsucht neben sich festgehaltenen Mann in Zorn und Unmuth von sich scheiden zu sehen. Sie war nur der Huldigungen, nicht der Vorwürfe von ihm gewohnt, und doppelt in ihrer Eitelkeit verletzt, rief sie, schnell mit sich darüber einig, wie sie sich diesem Manne gegenüber zu verhalten hätte: „Nun ja! sei es darum, ich fehlte. Ich fehlte gegen Sie, ich brach mein Wort – aber muß ich Ihnen denn noch heute, nach fünf Jahren voll heimlich getragenen Unglücks, es wiederholen – ich wußte nicht, was ich damit that, ich ahnte es nicht, daß ich damit aller Hoffnung, allem Glücke meines Lebens ein für allemal den Stab brach?“

Ihre Stimme sagte noch mehr als ihre Worte, und vor dem vollen, schmelzenden Blicke ihres Auges, den sie fest auf den Grafen richtete, verstummte er. Mehr hatte sie für den Augenblick gar nicht gewollt, und schnell und schneller sprechend, je weiter sie in ihrer Erklärung fortschritt, sagte sie: „Ich hoffe, Sie endlich von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen; um Ihretwillen, Graf, hoffe ich, Sie werden mir vertrauen. Sie müssen Paris verlassen, ehe es zu spät wird, aber grade darum sollen Sie auch hören, mich noch einmal hören, ehe wir für immer scheiden.“ Sie machte eine Pause und setzte sich nieder. „Es ist wahr,“ sagte sie dann, „ich habe Sie geliebt, ich habe Ihnen Treue geschworen und ich habe diese Treue verrathen. Ehrgeiz und Eitelkeit rissen mich hin; aber ich war siebenzehn Jahr alt, ich hatte noch nicht den Muth, mir ein Leben, eine Zukunft für mich selbst zuzuerkennen. Ich wurde die Gattin des Marquis, die Cousine der Herzogin. Man beneidete mein Loos, man lobte meine Fügsamkeit, die erhöhte Liebe meiner verehrten Eltern, die größte Zärtlichkeit meiner Brüder lohnte mir das Opfer, das ich gebracht hatte, und ich war zufrieden. Ich glaubte damals, man könne die Liebe vergessen; es schmeichelte mir, einen der großen Namen Frankreichs zu tragen und die nahe Verwandte der allmächtigen Herzogin zu werden. Da traten Sie auf’s Neue an mich heran, und Ihr Schmerz machte mir klar, was ich verloren hatte, er erweckte mein eigenes Herz. Aber es war zu spät. Unter Ihren und meinen Thränen schwur ich, Ihnen –“

„Franziska, nur daran erinnere mich nicht!“ rief Graf Joseph, „sprich es nicht aus, daß du mir angelobt, mein Ideal zu bleiben, da Du mein Weib nicht werden konntest! denn auch dies, auch dies Versprechen hast Du schlecht gehalten!“ – Sie schwiegen Beide, dann sagte der Graf: „Die [20] Tage der Jugend, der Täuschungen liegen hinter mir. Ich bin nicht mehr der glückliche Jüngling, der einst zu dem Weibe wie zu einer Gottheit empor schaute, ich habe das Weib kennen gelernt in seiner Schwäche – aber ich vermag mich dessen nicht zu freuen. Dich zu sehen, Dir zu folgen, stürzte ich mich in den Kreis des Hofes, für dessen Glanz und Schimmer Du mich aufgeopfert. Ich sah, wie Du verarmten Herzens nach Zerstreuung suchtest, ich sah, wie Du, hineingezogen in den Ehrgeiz Deiner neuen Familie, Dir selbst nur noch ein Mittel zur Erreichung Deiner Zwecke warst – und doch wollte ich mich darüber täuschen, doch wollte ich Anderm verbergen, was ich mir selber nicht verhehlen konnte, daß Du der Liebe nicht mehr werth warst, die ich für Dich in meinem Herzen nicht ertödten konnte.“ Er hielt abermals inne, und abermals entstand eine Pause. Die Marquise hatte sich in zorniger Bewegung erhoben und sich wieder niedergesetzt, als wolle sie sich zur Geduld zwingen, indeß ihr Auge fing an, sich spähend auf die Thüre zu richten, durch welche der Graf gekommen, und die leise, aber schnelle Bewegung, mit welcher sie den geschlossenen Fächer öffnete und wieder zusammenfaltete, zeigte, wie wenig ihre Gedanken bei der Unterredung waren, wie antheillos ihr Herz sich dabei verhielt, und wie ungeduldig sie den Schluß derselben ersehnte.

„Wir müssen ein Ende finden, Graf!“ sagte sie plötzlich, indem sie wieder aufstand, „und Sie sollen deutlich in meiner Seele lesen. Sie selbst haben es ausgesprochen, ich bin nicht glücklich. Sie haben auch darin Recht! Die Zerstreuung, nach der ich hasche, die Galanterie, in die ich mich verstricke, sie befriedigen mich nicht, sie erfüllen den Zweck nicht, mich vergessen zu machen, daß ich mein wahres, mein einziges Glück mit dem hochfahrenden Leichtsinn der Jugend, mit der schwachen Abhängigkeit des unerfahrenen Mädchens unwiederbringlich verscherzt habe. Wenn dies Gefühl mich bisweilen überwältigte, wenn ich Ihnen zu Zeiten nicht genug verbarg, wie ich noch immer an Sie gefesselt war: wollen Sie, eben Sie mich dafür tadeln? Und wenn die Scheu, dies Geheimniß dem Auge meines Gatten, dem Auge der Welt verrathen zu sehen, mich dazu antrieb, mich irgend einer Bewerbung, einer Galanterie geneigt zu zeigen, von der meine Gedanken fern, wer weiß wie fern waren, wollen Sie mir daraus ein Verbrechen machen? Sollte ich es preisgeben, das stille, unselige Geheimniß meines Herzens? Und war es an Ihnen, mir den Trost Ihrer Nähe durch dies traurige Duell mit jenem Knaben zu entziehen, der keinen andern Werth in meinen Augen hatte, als den, meinem Gatten ein angenehmer Gesellschafter zu sein, ihm keinen Argwohn einzuflößen und mich mit der Herzogin in gutem Einvernehmen zu erhalten, während er unserm Hause und unseren Interessen zugleich die Gunst des Grafen von Artois sicherte, dessen erklärter Liebling er fast seit seiner Kindheit gewesen ist?“

Graf Joseph lächelte bitter. „So klar raisonniren, so geschickt combiniren zu können, muß man sehr freien Herzens sein!“ entgegnete er ihr.

„Muß man ein Sclave seiner Verhältnisse sein!“ gab sie ihm zur Antwort. „Sie kennen, Sie beurtheilen meine, unsere Lage nicht richtig, Graf! Sie sind unabhängig, sind ein freier Mann, Sie dienen dem Könige, weil Ihr Vater ihm diente, weil es Ihnen so gefällt; aber Ihre Zukunft liegt nicht ausschließlich in der Hand des Königes. Jenseits der Alpen ist Ihnen eine Heimath, ist Ihnen ein freier, reicher Besitz unverlierbar gewiß. Ich hingegen bin hier festgebannt, ich und die Meinen sind an den Hof, sind an den guten Willen der Herzogin gekettet, sind einzig auf die königliche Gnade angewiesen, denn der unerläßliche Aufwand unseres Standes und die prachtliebenden Neigungen meines Gatten haben mein Erbe schnell verschlungen, und ich stehe nicht allein. Ich habe Kinder. Jung wie diese Kinder jetzt noch sind, werden sie doch einst eine Zukunft, eine Stellung von mir fordern. Die Herzogin kann ihnen dieselbe leicht ermitteln, wird sie ihnen schaffen; aber sie ist stolz auf ihren Namen, stolz auf die Ehre der Frauen in ihrer Familie. Scharfsichtig ahnt sie, daß unter allen Männern dieses Hofes Sie der Einzige sind, dessen Nähe meinen Frieden stört, dessen Nähe mir gefährlich ist. Wie sehr ich mich bemühte, diesem Argwohn zu begegnen, es gelang mir niemals, ihn völlig zu zerstreuen – und Ihr Duell an diesem Morgen hat mit einem Schlage vernichtet, was jahrelange Zurückhaltung und Vorsicht mir gewonnen.“

Sie näherte sich dem Grafen, legte ihre Hand leise auf seine Schulter und sagte, indem sie ernst und bittend in sein Auge blickte: „Ich habe Sie und mich um Glück betrogen; müssen Sie mich deshalb ganz verderben? Soll zu dem Schweren, das mein eigenes Verschulden mir auferlegt, mich noch die Angst um Sie belasten? Ich muß es Ihnen wiederholen, der Graf von Artois ist auf das Aeußerste erzürnt über die Verwundung seines Günstlings; die Herzogin, welche diesen Neffen, den einzigen Sohn ihrer früh verstorbenen Schwester, mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit liebt und die weitgehendsten Pläne für ihn und seine Zukunft geschmiedet hat, besitzt das Ohr des Königs durch die Königin. Schon heute früh erfuhr die Königin durch sie, was sich ereignet, und als die Herzogin dann die Majestät verließ, als ich vor dieser zu erscheinen hatte, da fühlte ich, daß die Königin Alles wußte, daß die Herzogin meinen Namen genannt. Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen nicht mehr sicher, ich empfand es, daß der Sturm, der sich gegen Sie, mein Freund, erhebt, nicht Sie allein vernichten wird, wenn Sie sich nicht entfernen.“

Der Graf hatte ihr schweigend zugehört, und ihre Worte verfehlten die beabsichtigte Wirkung nicht. Von den wechselndsten Empfindungen umhergeworfen, von der Schönheit des immer noch geliebten Weibes wie von ihren Geständnissen gerührt, so oft sie ihn auch schon getäuscht hatte, und vertraut genug mit den Verhältnissen des Hofes, um zu wissen, daß Franziska’s Schicksal sich wirklich in den Händen der Herzogin befand, fragte er sich überwindend endlich: „Was soll ich thun? was fordern Sie von mir, Franziska?“

Die Marquise athmete auf. Es war hohe Zeit! rief es in ihrem Innern, aber sie faßte sich, sie wurde ruhiger, nun sie sich ihrem Ziele nahe glaubte. „Fliehen Sie, Joseph, fliehen Sie noch diese Nacht!“ beschwor sie ihn im weichsten Tone ihrer melodischen Stimme. „Gönnen Sie Ihren Freunden Zeit, für Sie zu wirken. Der König schätzt Sie, der Graf von Artois ist nicht unversöhnlich. Bleiben Sie fort, bis der Zustand des Chevalier de Lagnac sich entscheidet, bis die Gefahr vorüber, bis er genesen ist; und er selbst – ich bürge Ihnen dafür – er selbst –“

Der Graf trat plötzlich zurück, und mit einer Kälte, welche schneidend gegen seine bisherige Stimmung contrastirte, sagte er: „O ja! der Chevalier von Lagnac wird, ich bin deß sicher, auf Ihre Bitte, meine gnädige Frau, mir vom Könige die Verzeihung für die Lection zu schaffen wissen, die er heut von mir erhalten hat. Dann aber, gnädige Frau, dann lehren Sie ihn auch die Ehre der Frauen, die sich ihm anvertrauen, besser zu bewahren, heiliger zu halten, als er es bisher gethan hat.“

Er verneigte sich und wendete sich der Thüre zu. Die Marquise fuhr bei seinen letzten Worten zusammen. Das Gefühl des nahen Triumphes, das auf ihrer stolzen Stirne geleuchtet, die Röthe der Aufregung, welche ihre Wangen bedeckt, wichen plötzlich von ihr. Sie verlor die Fassung. Sie wollte sprechen, das rechte Wort aber bot sich ihr nicht dar, und doch wollte sie ihn so nicht scheiden lassen. Schon that sie den Schritt, ihm zu folgen, ihn zu halten, schon öffneten sich ihre Lippen, ihn noch einmal zurückzurufen, als eine plötzliche Ueberlegung sie davon abstehen ließ. Die Hand fest auf den Tisch gestützt, das Auge fest auf den Scheidenden gerichtet, so verweilte sie an ihrem Platze. Sie kannte das Herz des Grafen aus langer Erfahrung, sie wußte, daß er nicht gehen werde, ohne sein Auge noch einmal auf sie zu richten, und sie hatte sich darin nicht betrogen.

Als unter der Thüre seine Blicke noch einmal zu dem geliebten Weibe zurückkehrten, sah er, wie ihre starre Gestalt zusammenbrach. Der Anblick vernichtete seinen Entschluß. Seiner selbst nicht mächtig, stürzte er zurück und warf sich vor ihr nieder. Sie hatte ihr Gesicht in ihr Tuch verhüllt. Er ergriff ihre Hände und bedeckte sie mit seinen Küssen. Da neigte sie ihr Antlitz auf sein Haupt herab, als wolle sie ihm den Anblick ihrer Bewegung entziehen, und mit den Worten: „Fliehe, damit ich Dich wiederkehren sehe!“ entließ sie ihn.

[33] Kaum aber hatte sich die Thüre hinter dem Grafen geschlossen, als die Marquise den Kopf empor hob, wie Einer, der eine mühevolle Arbeit abgethan, und mit erleichtertem Herzen Athem schöpfend, sagte sie: „Wohl mir, er geht!“

Im Schloßhof schlug es die neunte Stunde. Die Marquise nahm den Leuchter vom Tische und trat an einen der Spiegel heran, ihre Frisur, ihren Anzug zu mustern. Mit eiliger Hand rückte sie das Brillantschloß an ihrem Perlenhalsbande zurecht und bog den Esprit von Diamanten, der die dunkelrothen Federn auf ihrem Toupet zusammenhielt, ein wenig tiefer nach der Stirne nieder. Ihr Gesicht strahlte ihr in aller seiner klaren, gebieterischen Schönheit aus dem Spiegel wieder. Und als das Rauschen ihres Schleppkleides nicht mehr in dem Pavillon zu hören war, als das Licht ihn nicht mehr erleuchtete, da schwebten nur die Geister des Schmerzes darin umher, den ein edles Männerherz jetzt eben in dem einsamen Raume erduldet hatte.

Als der Graf seine Wohnung erreichte, fand er in derselben seinen Neffen, den Junker Ulrich von Thuris, der ihn erwartete. Er fragte, ob der Onkel reisen werde; der Graf bejahte es. „Ich werde auf diese Weise endlich einmal in meine Heimath kommen!“ sagte er, gleichsam um sich eine angenehme Aussicht aus der Verdüsterung zu eröffnen, die ihn umfangen hielt, aber diese Aussicht hatte bis jetzt wenig Verlockendes für ihn, denn er kannte seine Heimath nicht.

Schon sein Vater hatte in Diensten der französischen Königsdynastie gestanden, war zum Range eines Generals emporgestiegen und hatte sich mit einer Deutschen verheirathet, deren Vater von einem der kleinen deutschen Höfe als Gesandter in Paris accreditirt war. Graf Joseph und dessen einzige bedeutend ältere Schwester waren Beide in Frankreich geboren und erzogen worden, und als der General mit Frau und Sohn einmal die Reise nach der Schweiz gemacht, um die eben vermählte Tochter auf ihrem Schlosse unfern der italienischen Grenze zu besuchen, war Graf Joseph noch ein Knabe gewesen. Dunkle Bilder von hohen, schneebedeckten Bergen, von rauschenden Wasserstürzen, von engen, schwindelnden Alpenpässen, von kleinen, freundlichen Städten, von lachenden Dörfern und von stolzen Burgen auf einsamen Höhen tauchten hie und da in seiner Erinnerung auf, aber er hatte bisher keine Sehnsucht danach getragen, diese bleichen Erinnerungen neu zu beleben.

Bald nach jener Schweizerreise war sein Vater gestorben, und da die Wohlgeneigtheit des Königs der Gräfin mannigfache Vortheile für die Zukunft ihres Sohnes versprach, so hatte die an das Hofleben gewöhnte Frau ohne Noth Paris nicht verlassen und noch weniger an einen dauernden Aufenthalt in den stillen Gebirgen von Graubünden denken mögen. Paris war für sie allmählich der Mittelpunkt der Welt geworden, und der Hof die Sonne, von welcher Licht und Leben für sie ausging.

In diesen Ueberzeugungen hatte sie ihren einzigen Sohn erzogen, aber mit ihrer Vorliebe für Frankreich, mit ihrer Hingebung für die herrschende Dynastie hatte sie ihm auch ihre feste Anhänglichkeit an den Protestantismus und den Ernst und die Sittenstrenge eingeflößt, welche seit den Tagen der Reformation das schöne Erbtheil ihrer im wahren Sinne adligen Familie gewesen waren.

Auch die Gräfin war nicht alt geworden, und mit achtzehn Jahren hatte Graf Joseph sich verwaist, im Besitze einer Officiersstelle in den Schweizergarden und als Herr eines bedeutenden Grundbesitzes sich selber überlassen gefunden. Der Name seines Vaters hatte ihm früh eine Geltung in dem Regimente verschafft, welches derselbe befehligt, seine Geburt verband ihn mit den ältesten Geschlechtern, und die Gunst, welcher seine Eltern sich von dem Königspaare zu erfreuen gehabt, hatte auch ihm einen gnädigen Empfang bei seiner ersten Erscheinung am Hofe gesichert. Seine Wohlgestalt und ein gewisser Zug von schwärmerischer Ritterlichkeit nahmen die Frauen für ihn ein, die Männer nannten ihn einen Mann von Muth und Ehre, einen vollkommenen Cavalier und gestanden ihm alle Vorzüge einer sorgfältig geleiteten Erziehung zu. Das Glück hatte Alles für ihn gethan, nur Eines hatte es ihm versagt: die Fähigkeit dasselbe zu genießen, oder vielmehr die innere Einheit des Wesens, ohne welche es dem Menschen nie gelingt, seines Lebens dauernd froh zu werden.

Der Graf wußte die Vorzüge, welche ihm zu Theil geworden waren, wohl zu schätzen, aber er hatte einen Ehrgeiz, der nach Befriedigung verlangte, und es eröffnete sich für denselben nicht das Feld. Er fühlte in sich Kräfte, die er auszubilden, die er zu gebrauchen wünschte, indeß die glorreichen Tage Frankreichs schienen damals vorüber zu sein. Die Regierung des sechzehnten Ludwig war keine kriegerische, es gab keine Lorbeeren mehr auf dem Schlachtfelde zu pflücken, die große Epoche der Literatur lag ebenfalls schon weit zurück, ja sogar die alte französische Fröhlichkeit belebte die Geister nicht mehr. Die besondere Gemüthsart des Königs, die Zerwürfnisse zwischen dem Volke und der Regierung, welche immer unverkennbarer hervortraten, übten, ohne daß man es sich eingestehen mochte, einen bedrückenden Einfluß auf die Stimmung des Hofes aus, und man hätte wohl sagen können, man amüsire sich aus Unbehagen, man sei so heiter, weil man anfange Sorgen zu haben. Das leichtsinnig verwegene Wort: nach [34] uns die Sündfluth! war in der Erinnerung der Menschen unvergessen, wenn schon man es nicht mehr nachzusprechen wagte; denn selbst am Hofe gab es Personen genug, welche die Wetterwolken deutlich genug emporsteigen sahen, aus denen der vernichtende Blitz auf die Dynastie und ihre Anhänger hernieder fahren sollte.

Zu diesen Fernsehenden, Scharfblickenden hatte der jugendliche Graf allerdings nicht gehört, aber man hatte ihn zu jenen edlen Unzufriedenen rechnen können, die von dem Tage mehr verlangten, als daß er vorübergehe, und von dem Leben mehr als flüchtigen Genuß. Unruhig umhergetrieben von einer lebhaften und doch eigentlich unbestimmten Sehnsucht, Ideale im Herzen, wie der Dichter der Heloise sie in den Menschen wach gerufen, von der Herzensschwärmerei berührt, welche in der Gestalt des Goetheschen Werther ihren höchsten Ausdruck gefunden, so hatte Graf Joseph seit ein paar Jahren in der Gesellschaft des Hofes gelebt, als die siebzehnjährige Tochter der Familie de la Roche, zu einer der Hoffräulein der Königin ernannt, am Hofe erschien.

Franziska de la Roche war eine blendende Schönheit und ebenso klug als schön, ebenso kalt und berechnend als klug. Da sie die jüngste Tochter einer zahlreichen Familie war, hatte man sie von Jugend auf angehalten, ihre eigene Zukunft und die Förderung ihrer Familie im Auge zu haben. Ihre Schönheit war nach der Ansicht ihrer Eltern ein Theil des Familiencapitales, und früh gewiegt in Träumen von Reichthum und Pracht, die nur um so verlockender wirkten, je mehr sie von der ländlichen Zurückgezogenheit abstachen, in welcher die junge Franziska erwuchs, war sie bei dem Eintritt in ihren Hofdienst fest entschlossen gewesen, ihre persönlichen Vorzüge zu nutzen und den größtmöglichen Gewinn von ihnen zu ziehen. Heiter, zuversichtlich, beobachtend und achtsam wie ein junger Jäger auf dem Anstand, lebhaft genug, um schnell erregt zu werden, und doch nicht so phantasievoll und sinnlich, daß es leicht gewesen wäre, sie wider ihren Willen zu beschäftigen und hinzureißen, ohne Gemüth und ohne Grundsätze, welche ihrer Selbstsucht und ihrem Ehrgeize hätten Schranken setzen können, würde sie unschwer zu beurtheilen und nicht eben einnehmend gewesen sein, wenn nicht die ihr anerzogene äußere Zurückhaltung ihr den Anstrich von Jungfräulichkeit verliehen hätte, von der man sich keines Bösen und keiner Täuschung versah. Sie galt nach ihrer strengen häuslichen Erziehung für sittsam und religiös, und sie bewies gleich anfangs, wie klug sie sei, indem sie sich den Beichtvater der Herzogin zu ihrem Seelsorger erwählte. Der Beichtvater empfahl sie der Herzogin, und diese, welcher es wichtig war, in der Nähe der Königin nur Personen zu haben, auf welche die herrschsüchtige Familie der Polignac’s einen bestimmenden Einfluß ausübte, nahm das junge Hoffräulein in ihren besonderen Schutz.

Fräulein de la Roche war das sehr wohl zufrieden. Sie fand es bequem, eine Weile am Fuße der Leiter zu sitzen, auf welcher sie empor zu steigen dachte. Sie war ganz Ergebenheit, ganz kindliche Fügsamkeit gegen ihre Beschützerin, was sie jedoch gar nicht hinderte, ihr Auge offen zu behalten und sich nach einer guten Heirath für sich selber umzusehen.

Der schöne Graf von Rottenbuel dünkte sie dazu der rechte Mann. Sie sah, daß die Mütter heirathbarer Töchter ihn auszeichneten und daß er am Hofe wohl gelitten war. Das genügte ihr, ihn anzuziehen, und ihre Schönheit, ihre Jugend erleichterten ihr die Aufgabe um so mehr, als dem Grafen jener berechnende und selbstische Sinn, welcher Franziska eigen war, völlig fehlte. Er hatte sich, seinen Neigungen, seinen Träumen gelebt, er war ein glaubensvoller Schwärmer inmitten einer Gesellschaft, die nicht glaubte und schwärmte. Er hatte nur eine Befriedigung für sein Herz, nicht wie Fräulein de la Roche eine Stellung und eine gesicherte Zukunft für sich zu suchen. Er war Majoratsherr, sie die jüngste Tochter einer adelstolzen Familie, deren Grundbesitz gleichfalls ein Majorat war, und deren übriges Vermögen eben nur hinreichte, den jüngeren Söhnen ein standesgemäßes Auftreten und für die Töchter eine anständige Mitgift zu ermöglichen. Graf Joseph gab sich Franziska’s Bewerbung arglos hin, er fühlte sich von ihr gefesselt, und bald liebte er sie mit der vollen Hingebung, mit dem schrankenlosen Vertrauen der ersten Liebe. Aber gerade das idyllische, das romantische Element in seinem Herzen, die Pläne, welche er für seine Zukunft an der Seite eines geliebten Weibes entworfen hatten, trennten Franziska von ihm. Sie fand sich zu jung und zu schön, um ihr Leben in dem einsamen Schlosse eines unwirthlichen Gebirgslandes hinzubringen, und kaum eröffnete die Galanterie des Marquis von Vieillemarin ihr die Aussicht, als Cousine der Herzogin in ihrer eben angetretenen Stellung neben der Königin bleiben zu können, als sie ihre Absicht auf den Grafen aufgab und sich nur noch demüthiger und fester an die Herzogin anschloß.

Franziska de la Roche wurde Marquise von Vieillemarin. Sie hatte den Grafen getäuscht und ihn ihrem Ehrgeiz geopfert, sie täuschte auch ihren Gatten und die Herzogin, und wußte es doch allen Dreien unmöglich zu machen, daß man sie aufgeben, sich von ihr frei machen und sie bloßstellen konnte. Sie nannte sich gegen den Grafen ein Werkzeug in den Händen ihrer Familie, sie betheuerte ihm, daß seine Liebe ihr Glück gewesen wäre, daß seine Freundschaft ihr einziger Trost in dem Unglück ihrer Ehe, daß er ihr unentbehrlich sei. Sie reizte heute seine Liebe und morgen seine Eifersucht auf, sie nahm sein Mitleid, seine Großmuth, seinen männlichen Freundesschutz in Anspruch; sie wußte, um es mit einem Worte zu bezeichnen, Herr über seine Gedanken und Empfindungen zu bleiben, sie nahm ihm Ruhe, Frieden und Zukunft, sie gönnte ihm die Freiheit nicht, nach welcher sie ihn oft verlangen sah. Die Liebe, die ausdauernde Treue und Freundschaft eines Mannes von fleckenloser Ehre waren schon nach wenig Jahren für die Marquise ein fester Anhalt und ein schützendes Panier, die sie nicht entbehren wollte und nicht wohl entbehren konnte, da ihre Stellung am Hofe allmählich eine bedenkliche geworden war.

Die Herzogin haßte Franziska, denn sie hatte sich in allen den Voraussetzungen betrogen, unter denen sie dieselbe zur Gattin für ihren Vetter ausersehen. Sie war der Zuversicht gewesen, das kluge, einfach erzogene Fräulein werde den leichtsinnigen Marquis an Ordnung gewöhnen und ihn von seinen verschwenderischen Neigungen zurückzubringen verstehen. Sie hatte darauf gerechnet, in ihrer jungen Verwandten auch künftig die fügsame Ergebenheit wieder zu finden und von ihrer feinen Beobachtung nach wie vor Vortheil zu ziehen. Indeß die Marquise hatte nur eben erst den Boden unter ihren Füßen gewonnen, auf welchem sie stehen konnte, als sie auch bereits für eigene Rechnung zu arbeiten begann. Sie ließ ihren Gatten ruhig gewähren, denn die Freiheit, welche sie ihm zugestand, wünschte sie auch für sich selber in Anspruch zu nehmen, und statt ein Werkzeug der Herzogin zu werden, ward sie bald dreist genug, an eine Nebenbuhlerschaft mit ihrer hoch in Gunsten stehenden Verwandten zu denken.

Auf diese Weise war zwischen den beiden Frauen ein heimlicher Kampf entbrannt, dessen Erfolg nicht lange zweifelhaft geblieben sein würde, hätte die Herzogin nicht bei Allem, was sie gegen die Marquise unternahm, die Rücksicht auf ihres Neffen Ehre, auf die Ehre ihres eigenen Hauses zu nehmen gehabt. Indeß Franziska mißbrauchte mit der ihr eigenen Keckheit die Schonung, welche die Herzogin ihr angedeihen ließ, bis diese endlich, mehr und mehr gereizt, ein Ende zu machen beschloß, bei welchem Franziska eben der Familienehre geopfert werden sollte.

Wen man in eine Falle zu verlocken wünscht, den muß man vor allen Dingen den Weg verfolgen lassen, welcher ihn zu derselben führt, und die Schranken und Stützen forträumen, die ihn zurückhalten und an welche er sich lehnen könnte. So hatte denn auch die Herzogin bald leichthin ermahnend, bald entschuldigend der Verschwendung und den galanten Abenteuern ihrer jungen Cousine zugesehen, ja sie hatte derselben stets das Wort geredet, wenn hier und da eine mißbilligende Bemerkung gegen die schöne Marquise laut geworden war; denn wer konnte an Franziska glauben, wer konnte nach dieser von der Herzogin befolgten Vorsicht Franziska in Schutz zu nehmen denken, wenn die Frau, welche sich stets als ihre Freundin und Gönnerin gezeigt hatte, sich einst gegen sie erhob? Wer konnte sich der Marquise annehmen, als der Graf von Rottenbuel in seiner schwärmerischen Ritterlichkeit – und eben diese beschloß die Herzogin jetzt zu gebrauchen, um Franziska zu verderben, denn die verwegene Eitelkeit der jungen Frau war bereits zu einer für die Herzogin bedrohlichen Höhe emporgewachsen.

Die Herzogin genoß außer dem vollen Vertrauen der Königin auch die Freundschaft des Grafen von Artois. Sie hatte ihren Vetter, den Marquis von Vieillemarin, durch die Heirath mit Franziska an den Hofstaat der Königin attachirt, und ihren Neffen, den Chevalier von Lagnac, früh in die unmittelbare Nähe des Grafen von Artois gebracht, um ihres Einflusses und ihrer Herrschaft an beiden Hofstaaten sicher zu bleiben. Aber Franziska’s [35] Ehrgeiz verfolgte ein gleiches Ziel, und die Hoffnung, durch ihre Jugend und Schönheit die Herzogin überflügeln und sie in der Freundschaft des Grafen von Artois ersetzen zu können, hatten Franziska bewogen, einen Liebeshandel mit dem Chevalier von Lagnac anzuknüpfen, den sie aufzugeben fest entschlossen war, sobald sich ihr die Möglichkeit eröffnen würde, den Gebieter statt des Dieners an sich zu fesseln. Aus dem Punkte, dieses Ziel zu erreichen, nöthigte das Duell zwischen dem Grafen von Rottenbuel und dem Chevalier sie, wider ihr Erwarten stille zu stehen; denn was die beiden Männer zu demselben veranlaßt hatte, darüber war man eben nicht zweifelhaft, und die Herzogin beschloß, die Gelegenheit zu einer Demüthigung ihrer hochfahrenden Verwandten zu benutzen.

Der Marquis von Vieillemarin war von jeher ein biegsames Wachs in den Händen seiner vielvermögenden Cousine gewesen. Er hatte geliebt und geheirathet, geschwiegen und verziehen, wie die Herzogin es für gut befunden, und es bedurfte nur ihrer Anmahnung, daß es ihm nicht gezieme, den Galanterien der Marquise länger zuzusehen, um seinen Zorn gegen dieselbe zu entflammen und ihn die Rolle des beleidigten Gatten übernehmen zu lassen. Aber auch jetzt wieder war es die Herzogin, die dem Ausbruche seines Zornes Schranken setzte. Eine Verwandte ihres Hauses sollte nicht vom Hofe entfernt, nicht etwa in Ungnaden entlassen werden. Sie sollte nur wissen, welche Gefahr ihr drohte und wessen Willen ihr Schicksal lenkte; sie sollte wo möglich von einer Nebenbuhlerin wieder zu einer willfährigen Gehülfin herabgedrückt werden und einen neuen Beweis davon erhalten, daß die Herzogin das Ruder noch in festen Händen führe, daß die strenge Hand derselben noch über ihrem Haupte schwebe.

Gegen den Bruder des Königs, gegen den Grafen von Artois, vermochte die Herzogin nichts zu unternehmen, und der Günstling desselben, ihr eigner Neffe, lag auf den Tod verwundet. Sollte Franziska also die Macht der Herzogin empfinden, so mußte derjenige büßen, auf den die Marquise am sichersten vertraute, und den die Herzogin eben deshalb mit Uebelwollen ansah.

Es war kein Zweifel, Graf Joseph mußte geopfert, mußte verhaftet und womöglich gänzlich entfernt werden. Der König handelte dann nach seiner Ansicht über das Duell, der Graf von Artois empfing eine Genugthuung für die Verwundung seines Günstlings, der Marquis genoß eine Befriedigung gegenüber seiner Frau, diese selbst mußte, während sie in der Gunst der Königin verlor, ihre eigene Ohnmacht erkennen, und die Herzogin zweifelte nicht daran, daß die Marquise auch in den Augen des Grafen von Artois verloren sein werde, wenn sie demselben die Beweise für Franziska’s Liebeshandel mit dem Chevalier zu bieten im Stande sei, in deren Besitz sie sich befand.

Der Plan war gut überlegt und konnte nicht leicht fehlschlagen, nur einen Umstand hatte die Herzogin nicht erwogen, nur Eines hatte sie nicht in Betracht gezogen – die Scharfsicht und schnelle und kluge Berechnung, deren auch Franziska fähig war.

Wie schnell die Herzogin auch handelte, so hatte sie doch Rücksichten zu nehmen und ihre äußere Stellung würdig zu bewahren, wo für Franziska wenig zu verlieren und Alles zu gewinnen stand; und noch war der Verhaftbefehl gegen den Grafen von Rottenbuel nicht unterzeichnet, als der Graf von Artois schon das folgende Billet Franziska’s in seinen Händen hielt:

„Eure Königliche Hoheit! An wen sollte eine Frau sich wenden, welche das hohe Glück hat, Sie zu kennen und Ihre ritterlichen Eigenschaften zu verehren, sich in ihrer Verwirrung um Hülfe und um Beistand wenden, als an Sie, der Sie der ganzen Jugend Frankreichs das hochherzige Beispiel jener großmüthigen Galanterie geben, welche so vorzugsweise das Eigenthum unseres Vaterlandes ist? – Die eifersüchtige Freundschaft des unglücklichen Chevalier von Lagnac, dessen leidenschaftliche Ergebenheit für Ihre Königliche Hoheit sich schon durch die Zeichen des huldvollen Antheils beunruhigt fühlte, mit dem Ihre Königliche Hoheit mich zu begnadigen geruhten, hat sich in einer Aeußerung Luft gemacht, welche das Uebelwollen zu mißdeuten im Stande gewesen wäre, hätte nicht ein Freund, ein Freund, den ich wie einen Bruder liebe, seit der Wille meiner Familie und das unumschränkte Machtgebot der Frau Herzogin mich hinderten, ihm einen zärtlicheren Namen zu geben, sich meiner angenommen. Sie wissen, Königliche Hoheit, was geschehen ist. Man glaubt sich Ihnen wohlgefällig zu machen in Ihrem Sinne zu handeln, wenn man den Grafen von Rottenbuel seiner Freiheit beraubt. Erklären Sie, mein gnädigster Herr, ich beschwöre Sie darum, daß Sie seine Bestrafung nicht begehren; oder besser noch, lassen Sie ihn wissen, daß Sie ihm die Verwundung des Chevaliers verzeihen, und befehlen Sie ihm, Königliche Hoheit, daß er den Urlaub, den er bereits gestern gefordert, zu seiner Sicherung durch die Flucht benutze. Freilich werde ich dann ganz einsam, ohne Stütze, ohne den Beistand eines Freundes mich dem Uebelwollen meiner Familie preisgegeben finden; aber ist mein Vertrauen zu kühn, ist meine Hoffnung auf die Gnade Ihrer Königlichen Hoheit trügerisch, wenn ich mir damit schmeichle, Sie würden es nicht verschmähen, einer Frau Ihre Theilnahme und Ihren Schutz angedeihen zu lassen, die kein heißeres Verlangen hat, als Ihnen zu beweisen, Monseigneur, wie sehr sie Ihnen ergeben und in Bewunderung zu eigen ist?“


Als Graf Joseph nach seiner Unterredung mit Franziska in seine Wohnung zurückkehrte, fand er in derselben ein Schreiben vor, welches von einem königlichen Läufer eben erst für den Grafen abgegeben worden war. Es trug nur einen Buchstaben, nur ein C. als Namensunterschrift, aber Graf Joseph kannte diesen Buchstaben mit dem kühnen Zuge, und seine Wange erbleichte, während er die Zeilen las:

„Man meldet mir soeben den Tod meines Kammerherrn, des armen Chevalier von Lagnac, und das Herz noch blutend von dem Kummer über diesen Verlust, will ich mich überwindend in dem großmüthigen Sinne des jungen Freundes handeln, den ich verloren habe. Ich gehöre nicht zu Ihren Gegnern, ich verlange nicht, Sie bestraft zu sehen. Verlassen Sie Frankreich, Herr Graf! – Ihre Anwesenheit würde Ihre Freunde verhindern, für Sie eintreten zu können, wie das liebenswürdige Herz Ihrer Freundin es für Sie wünscht. Reisen Sie, Herr Graf, und überlassen Sie uns die Sorge für Ihre Sicherheit.“

Ein bitteres Lachen, ein Lachen, das ihm wehe that, tönte von Graf Joseph’s Munde an das Ohr seines Neffen, der gekommen war, die Befehle seines Onkels zu vernehmen. Er fragte nicht, was der Brief enthalten habe, der Graf erwähnte desselben mit keinem Worte.

Der Wagen des Grafen stand vor seiner Thüre, und als in dem Concertsaal des Königsschlosses zu Versailles die mächtigen Klänge der Gluck’schen Iphigenia ertönten, als der galante Graf von Artois die schöne Marquise von Vieillemarin seines Schutzes und seiner guten Dienste auf das Feurigste versicherte, rollte der Wagen des Grafen von Rottenbuel zu dem Thore der Stadt hinaus in das Dunkel der schwülen Sommernacht, die kein Stern erhellte.


Es war seit Jahren zwischen dem Grafen und seiner Schwester, der Freifrau von Thuris, die Rede davon gewesen, daß der Graf die Schweiz besuchen, seine Heimath, seine Besitzungen, seine Familie kennen lernen sollte; aber eben der Grund, welcher die Freifrau die Entfernung ihres Bruders von dem Hofe so lebhaft hatte wünschen lassen, hatte diesen dort gefesselt; und nun, da ein Zusammentreffen von Ereignissen ihn nach der Schweiz zu gehen bewogen, war es so plötzlich geschehen, daß Niemand von des Grafen Familie davon Kunde erhalten konnte und Niemand von den Seinen ihn erwartete. Nicht einmal in seinem eigenen Hause wußte man, daß der Herr es zu besuchen denke, und er selber erinnerte sich dieses Hauses eben nur wie eines Gebildes aus irgend einem Traume.

Die Sonne war im Sinken, als ihm plötzlich bei dem Blick auf die Ruinen der Burg Liechtenstein das Bewußtsein kam, daß er diese Ruine schon gesehen, und an dem einen Anhaltepunkte stieg die ganze Gegend in seinem Gedächtniß als eine bekannte und ihm vertraute empor. Hier war er als Kind in dem großen Reisewagen seiner Eltern gefahren, aus dem er hinabgesehen auf die grünen, weißschäumenden Fluthen des Rheines. Das war der Sessaplana, das der Callanda, auf dessen scharfgezeichnetem Gipfel der Schnee erglänzte, obschon das Land zu seinen Füßen sich in die volle Pracht des Sommers gekleidet hatte; und dort, wo das Thal sich verengte, dort ragten sie empor aus der Höhe, der mächtige Dom und der breit hingelagerte Bischofsitz der alten rhätischen [36] Stadt, dort erhob sich noch immer der viereckige, uralte Thurm der einstigen Römerfeste, der Curia Rhaetorum, die, wie ihm sein Vater damals erklärt hatte, mit weiser Berechnung auf diesem Flecke angelegt, die drei Thäler zu gleicher Zeit beherrscht und so dem Angriff von allen Seiten zu trotzen vermocht hatte.

Die fernste Vergangenheit, der Gedanke an seine Jugend, an seine Eltern und an das Jüngsterlebte schmolzen in der Seele des Grafen in eine wehmüthige Empfindung zusammen. Er fühlte es, welch ein Atom der Mensch sei, und sehnte sich doch mehr als je zuvor nach einem festen Anhalt für sein flüchtig hinschwindendes Dasein. Es schmerzte ihn, daß er den Weg nach seiner Heimath, nach seinem Hause gar nicht kannte, und es war eine schmerzliche Neugier, mit welcher er aus seiner Reisekalesche in die Gegend hinaussah, die Straße verfolgend, welche man ihn führte, und nach dem kleinen Thurme an seinem Hause spähend, dessen er sich wie eines Wahrzeichens zu entsinnen meinte. Der Bursche, der ihn mit fröhlichem Peitschenknalle die lange Pappelallee von dem Flecken Malsanz nach der Stadt hinauffuhr, der so sicher seine Pferde durch das mit Thürmen flankirte alte Stadtthor und durch die engen, gewundenen Straßen leitete, der kannte das gräflich Rottenbuel’sche Haus, der wußte es zu finden. Der Besitzer des Hauses hätte das kaum vermocht.

In der Stadt war Lebens genug. Die Bürger standen vor ihren Thüren, die letzte Abendstunde mit einander zu verplaudern, an den Brunnen tränkten italienische und romanische Kärrner ihre müden Thiere, welche morgen den Weg über das Gebirge wieder zurücklegen sollten, und schäkernde Burschen mit dunkel glänzenden Augen, die bräunliche Sammetjacke auf gut Italienisch über die Schulter geworfen, hielten sich zu den Mägden und Weibern, die ebenfalls an den Brunnen beschäftigt waren oder mit den vollen Körben auf dem Kopfe von den Wiesen und Gärten in die Stadt zurückkehrten.

Nun bog der Wagen um eine Ecke, nun fuhr man über die Brücke, und nun erblickte Graf Joseph auch das wilde Bergwasser, das lärmend und brausend seine weißen Gischtmassen zwischen den schmalen Ufern herniederrauschen ließ zum nahen Rhein. Das war die Plessur, die von den Bergen herabkam, und dort am andern Ufer, das war es, das war sein Vaterhaus, seiner Väter Haus zu Chur.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, sie waren ihm feucht geworden. Er hatte sich das Haus größer, höher, den Thurm so mächtig gedacht. Er seufzte unwillkürlich. Auch das Haus war zusammengeschrumpft wie alle seine Ideale, es war nicht das, was er davon erwartet hatte.

Je mehr sie sich aber dem Hause nahten, je deutlicher er es unterscheiden konnte, um so besser fing es ihm zu gefallen an. Die grünen Läden an den hohen Fenstern der sauber gehaltenen weißen Wände, die schönen Pappeln am Eingange des Gartens, die wohlgeschorene Hecke und die zugespitzten Buchsbaum-Pyramiden verriethen, daß hier treulich Sorge für ihn getragen worden sei, und da er fühlte, wie Liebe hier für ihn gewaltet, spann sich leise ein Faden von seinem Herzen zu seiner Heimath hinüber.

Der überraschte Hauswart hatte Thor und Thüren seinem fremden Gebieter geöffnet, und Graf Joseph fand sich am Abende einsam in dem Hause, das er zum ersten Male als das seine betrat. Er hatte sich das Zimmer seines Vaters zum Aufenthalte ausgewählt, sein Kammerdiener sorgte für seines Herrn Bedürfnisse und Bequemlichkeit; indeß die leeren Räume ließen sich nicht beleben, und der Graf kannte Niemand in Chur, den er hätte auffordern mögen, ihn zu besuchen. Seine Blutsverwandten waren in dieser Zeit schon lange auf ihren Besitzungen in den Bergen und in den hochgelegenen Thälern; und die einzelnen Personen aus seiner Vaterstadt, mit welchen er bei ihren gelegentlichen Besuchen in Frankreich in flüchtige Berührung gekommen war, fühlte er sich nicht gestimmt zu sehen.

Als es Nacht geworden war, brachte sein Kammerdiener ihm das Licht in’s Zimmer. Er setzte den schweren Armleuchter auf den Tisch, daneben eine Flasche des alten Weines, der seit fast einem Menschenalter ungenutzt in dem gräflichen Keller gelagert hatte, und verließ dann das Gemach.

Der Graf warf einen flüchtigen Blick nach dem Tische, und der alte Leuchter hellte die ganze Vergangenheit für ihn auf. Er hatte ihn als Kind oftmals betrachtet, den emporschwebenden Genius, der, aus schwerem Silber gearbeitet, die Fackel mit den drei Lichtern emporhielt. Sein Vater hatte dem Grafen erzählt, daß dieser Leuchter ein altes Besitzstück seines Hauses sei, ein Werk von Benvenuto Cellini’s kunstgeübter Hand. Einer seiner Ahnen, Graf Ubald von Rottenbuel, der lange in päpstlichen Diensten gestanden, hatte es aus Italien mitgebracht, als er sich in die Heimath zurückgezogen und sich ein Weib genommen hatte. Er hob den Leuchter empor, er besah prüfend die schöne Arbeit, aber es war nicht das Kunstwerk, das ihn beschäftigte. Er hätte Jemand haben mögen, dem er die Geschichte dieses Leuchters, die Geschichte des Grafen Ubald und die ganze Herkunft und Abstammung seines Hauses hätte erzählen können, wie sein Vater sie ihm hier in diesem Zimmer einst vorerzählt. Das alte Erbstück der Familie, der alte Besitz machten ihn sehnsüchtig, denselben weiter fortzuvererben, gaben ihm ein Verlangen nach Weib und Kind.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn, über die Augen. Er wollte die Gedanken bannen, er wollte vielleicht auch ein Bild verscheuchen, das sich ihm vor die Augen drängte; aber was er auch beginnen mochte, er wurde seiner Stimmung nicht Meister, er konnte in dem einsamen Hause kein Behagen finden, und die Sehnsucht nach einem Menschen, dem er sein Herz erschließen, an den er sich lehnen könne, brachte ihn zu dem Entschlusse, sich schon am folgenden Morgen in aller Frühe auf den Weg zu machen, um sein Stammschloß in den Bergen noch am Abende zu erreichen, seiner Schwester von dort einen Boten zu senden und sie von seiner Ankunft zu benachrichtigen.

Am Abende war er als ein Fremder in sein Haus gekommen, am Morgen erwachte er in demselben mit der Empfindung des Besitzers. Er glaubte hier eine Vernachlässigung, dort die Möglichkeit zu einer Verbesserung zu bemerken. Obschon er sich gleich auf den Weg zu machen beabsichtigte, ließ er den Hauswart kommen und gab die Anweisung zu einigen Veränderungen, die er sogleich ausgeführt zu haben wünschte. Als er seine Befehle aussprach, dünkte es ihn nicht, als habe er damit etwas Besonderes gethan; da aber der Hauswart in die Details des zu Beschaffenden einging, fiel es dem Grafen auf, daß er sich darum gekümmert habe, und obschon diese Art der Vorsorge ihm in dem Augenblicke als etwas Lästiges erschien, knüpfte es ihn bereits, ohne daß er es gewahrte, an die Reihen seiner Vorfahren an, daß er für die Stätte Sorge trug, welche sie begründet hatten.

Damals war der Weg, der von Chur aus über den Paß des Julier nach den Quellen des Inn in das Engadin führte, noch ein sehr beschwerlicher. Schmale, steile Pfade, nur dem sicheren Schritte des vorsichtigen Bergpferdes und dem festen Fuß des rüstigen Wanderers zugänglich, stiegen über die Felsen hinauf, leiteten an tiefen Abhängen vorüber, in die Thäler hinunter und verloren sich bisweilen ganz, so daß der Wanderer selbst die Stelle zu suchen hatte, von der aus er weiter vorwärts kommen konnte.

[62] Die Erde lag noch im Schatten, der Nebel erfüllte noch die Thäler, als Graf Joseph, von seinem Diener gefolgt, langsam die Höhe emporritt. Je höher er stieg, um so tiefer sank der Nebel. Durch Wälder von Wallnußbäumen, an Weingärten vorbei, deren große Blätter thautriefend der Sonne warteten, ging es hinauf, und ein leises kühles Wehen erfrischte ihm die Brust. Er athmete leichter und voller als je zuvor, und das Emporsteigen, das Vorwärtskommen erfreuten ihn, denn in Beidem liegt ein Gelingen. Er sah hinab, ein Meer von Nebel schwamm zu seinen Füßen, bewegte sich langsam hin und her, ließ hie und da eine Stätte in unklaren Umrissen erkennen, und zog sich dann wieder wirbelnd und schwebend zusammen. Er sah empor, und es traf ihn wie eine Verklärung. In einem Schimmer, für dessen Farbe und Pracht es keinen Namen gab, leuchteten die schneeigen Grate des Gebirges auf dem unsäglich klaren Himmelsblau, und als habe das Licht noch die Gewalt, welche es in den Tagen besessen, da die Wasser des Himmels sich von den Wassern auf der Erde schieden, so zerriß vor der Sonne ersten Strahlen das schwebende Gewölk zu seinen Füßen, und tief geborgen unten im Thale, wo die schäumende Plessur aus ihrer engen Felsenwiege hervorbrach, lag die Stadt noch schlummernd da.

Er hielt sein Pferd an, um hinabzuschauen. Da lagen sie wieder, der Dom, der Bischofssitz, die Wege, welche von demselben nach der Stadt hinunterleiteten! Er sah die Bäume, welche sein Haus umgaben, sah das Haus mit seinen geschlossenen grünen Fensterladen, und auch das Zimmer, dessen Fenster offen waren, sein Zimmer, in dem er die Nacht geschlafen. Es heimelte ihn Alles an. Die Stadt, so klein sie war, erschien ihm schön und war ihm plötzlich lieb. Er wußte sich die Empfindung nicht zu deuten. Er hatte oft genug von den Höhen des Montmartre auf Paris hinabgesehen, ohne ein Gefühl der Liebe für den Ort zu haben, obschon er sein ganzes Leben dort gelebt, obschon er durch alle seine Erinnerungen mit demselben verwachsen war, und doch war es eine natürliche Erfahrung, die er an sich zu machen hatte.

Große Städte, unübersehbare Häusermassen erregen nur Erstaunen, erregen höchstens Verwunderung, und sprechen durch die historischen Thatsachen, welche sich an ihre Mauern knüpfen, zu unserm Geiste; lieb gewinnen, lieben kann man nur Städte, die man in ihren Einzelnheiten erkennen, die man als ein Einiges, als ein Individuum mit einem Blicke übersehen kann; und wenn der Großstädter ein Weltbürger wird und der Kleinstädter mit unwandelbarer Neigung an seiner Heimath hängt, so ist das, wo es geschieht, nicht nur Folge der geistigen Atmosphäre, welche sie in ihren Aufenthaltsorten athmen, sondern es beruht auf einem physischen Gesetz, das auf bestimmte Naturen seinen unabweislichen Einfluß ausübt.

Steigend und steigend ritt er in den Tag hinein. Hier rauschte die Rabiosa durch das Thal, dort rieselten kleine Bäche aus dem Gestein hervor oder fielen schäumende Fluthen von Absatz zu Absatz an den Felsen hernieder, um sich mit den wilden Gletscherwassern der Rabiosa zu mischen und ihre gemeinsame Fülle in den Rhein zu ergießen, der sich fern ab von den Schweizerbergen in das Meer ergießt. Dann wieder sah er auf den grünen Matten die Hütten der Senner, wie sie vom Thal bis zum Bergesgipfel, sich in Entfernungen an einander reihend, eine Kette bilden durch das ganze Land, und worauf er seinen Sinn auch richtete, die Natur und das Leben des Menschen in ihr, Alles war auf Gliederung und Zusammenwirkung begründet. Die Flüsse und die Menschengeschlechter, sie hatten dieselbe Bestimmung und dasselbe Schicksal: zusammenwirken für die größtmögliche Kraftentfaltung und sich auflösen in das Allgemeine.

Er war sich neu in diesen Betrachtungen, denn in dem wechselnden und vielbewegten Leben von Paris, das in jenen Tagen nicht nur die Hauptstadt Frankreichs war, hatte er in den letzten Jahren mehr mit Andern als mit sich selbst verkehrt, und wenn manch Einer in der Zurückgezogenheit an sich die unangenehme Erfahrung machen muß, daß er nur den Geist seiner Umgebung gehabt habe, so wurde Graf Joseph es nun gewahr, wie viel von seinem Geiste er Andern geliehen, wie viel Empfindung er in Andere hineingelegt, und wie er allermeist der Schöpfer der Gedanken und der Gefühle gewesen sei, die er durch Andere zu empfangen geglaubt hatte. Er begegnete auf seinem einsamen Wege keinem fröhlichen Genossen, keinem Reisegefährten, aber er fand sich selbst in dieser Stille, in dieser erhabenen Natur, und wo man sich [63] selber findet, da ist man in seiner wahren Heimath, in seinem eigentlichen Vaterlande. Noch am vorigen Abende waren alle seine Gedanken an Paris, an Versailles, an Franziska gebannt gewesen; heute däuchte es ihn, als lägen eine unermeßbare Ferne und eine unübersehbare Zeit zwischen ihm und jener Frau.

Man war über die Mittagshöhe hinaus, als er den Rottenbuel, sein Stammschloß, zuerst erblickte. Auf einem steilen Felskegel lag es da, weit in die Ferne sichtbar, wie ein Adlernest sicher durch seine Einsamkeit. Das Schloß stützte sich in seiner ganzen Mächtigkeit auf den Steinblock, der es trug, es hatte kein Fundament als das naturerschaffene, ja es sah aus, als sei es die Blüthe dieses Steines, als habe der Stein es mit diesen festen trotzigen Mauern und Thürmen aus sich selbst erzeugt. Kein Reitweg führte zu der Burg hinauf. Die Stallungen waren am Fuße des Felsens gelegen, die Pferde mußten dort zurückbleiben, und feierlich und in sich gekehrt ging der Graf die Windungen des Schloßpfades hinauf, trat er, ein einsamer Wanderer, der Einzige seines Namens, unter das Portal seines Stammschlosses ein.

Altersgraue Diener (Männer sowie Frauen) umgaben ihn unten in der Halle, und segneten ihn und schauten voll freudiger Ergebenheit zu ihm empor, der jetzt ihr Herr war; altersgraue Bilder, so Männer wie Frauen, umgaben ihn oben in dem Saale und schauten mit ihren ernsten Mienen zu ihm herab und schienen ihn zu segnen, der ihr Sohn, der jetzt ihr einziger Erbe war.

Da hing das Bild des Grafen Ruprecht von Rottenbuel, des Ersten seines Stammes, da hing Graf Ubald’s Bild, von dem sein Vater ihm erzählt. Die großen schwarzen Augen unter den ergrauenden Brauen, die weit zurückspringende Stirne und die gewaltige Adlernase hatten etwas Finsteres und Wildes. Finster sah auch die schwarze, eiserne Rüstung aus und die blutrothe Schärpe, die er trug, und finster klang auch die Devise des Geschlechtes: „Einer muß der Letzte sein!“ – Graf Ruprecht hatte diese Worte gerufen, als er in dem Kreuzzuge des Jahres 1228 bei einem Ausfall aus der Festung Jaffa der Letzte gewesen war, welcher, den Rückzug deckend, außerhalb der Thore Stand hielt, und als Kaiser Friedrich II. den Tapferen in den Grafenstand erhoben, hatte er ihm jene Worte als Devise in sein neues Wappenschild zu setzen geboten.

Graf Joseph wiederholte die Devise unwillkürlich, und wie er sie laut vor sich hin sprach, daß sie durch den Saal tönte, dünkte es ihn, als höre er dabei einen Seufzer, und sie klang ihm unheimlich, wie eine böse Vorbedeutung. Aber er war jung und in einer Welt erwachsen, die dem Aberglauben und den Ahnungen nicht viel Raum gab; und von den Männern seines Geschlechtes sich zu den Bildern der Frauen wendend, erheiterte sich sein Sinn, blieb sein Auge endlich an den sanften Zügen seiner Mutter hängen, deren gütevoller Blick, deren mild lächelnde Lippen ihn willkommen zu heißen schienen. Auch das Bild seines Vaters sprach freundlich zu ihm. Er trug in demselben nicht wie in Frankreich die Uniform, nicht den Rock und die Farben des Königs, aber er sah nur noch vornehmer aus in dem reichgestickten bürgerlichen Kleide, wie er dastand, die Rechte auf den Tisch gestützt, auf welchem neben verschiedenen alten Pergamenten die Grafenkrone lag. Er hatte sich darstellen lassen wie ein regierender Herr, und regierende Herren waren die Grafen von Rottenbuel hier auf ihrem Grund und Boden, hier im Bündner Lande, welches das Veltlin beherrschte und seiner Macht bis jenseits der Berge Geltung zu verschaffen wußte.

Die Brust des Grafen hob sich bei dieser Vorstellung, denn Herrschaft, auch die kleinste, ist etwas Verlockendes. Er hatte in seiner Dienstbarkeit unter dem Könige von Frankreich es fast vergessen, daß er Herr auf seinem Grund und Boden sei, und die Grafenkrone, welche er von seiner frühsten Jugend auf in seinem Wappen betrachtet und geführt, sah ihm ganz anders aus, wie sie da auf dem Bilde neben den alten Pergamenten an seines Vaters Seite lag.

In Chur hatte er sich zwischen den andern Häusern, deren Bewohner er nicht kannte, in seinem Hause einsam gefühlt. Hier auf dem Rottenbuel fand er sich frei und gehoben durch sein Alleinsein. Er schaute von der Höhe hinab, und das Land, auf das er blickte, war sein eigen. Er öffnete die Thüren des Saales und trat auf die Altane hinaus. Die Wohnungen der Dienstleute, die Scheuern mit ihren großen Bogenfenstern, der Garten mit seinen weithin schattenden Bäumen, der geräumige Hof, die großen Stallungen machten ihm Freude. Er ließ sich den Castellan kommen, um die Grenze seines Besitzes kennen zu lernen, um mit dem erfahrenen Diener die Documente durchzugehen und Einsicht in seine eigenen Verhältnisse zu gewinnen.

Der Abend, der nächste Tag vergingen ihm bei der ungewohnten Beschäftigung in der angenehmsten Weise. Je mehr er sich in die alten Chroniken versenkte, um so heimischer begann er sich auf seinem Erbe zu fühlen, und je weiter er mit seinen Gedanken in die Vergangenheit seines Geschlechts zurückging, um so ferner trat ihm, was er selbst, was er eben erst erlebt. Es ging in seinem Innern eine Wandlung vor, die er sich nicht zu erklären wußte. Er fand sich plötzlich jener Vergangenheit auf das Festeste verknüpft und angehörend, und von ihr in die Zukunft gewiesen. Ein Geschlecht, das auf seine Ahnenreihe zurücksehen konnte bis in das zwölfte Jahrhundert, durfte nicht untergehen, so lange ein Mann da war, es fortzupflanzen; das alte Schloß durfte nicht einsam, nicht verlassen dastehen und in keine fremden Hände fallen. Er hatte Augenblicke, in welchen er seinen Eltern zürnte, daß sie ihn von dieser Heimath fern gehalten, daß sie selbst nicht hier gelebt hatten, und der vielfach ausgesprochene Wunsch seiner Schwester, daß er heimkehren, sich beweiben und seinen Stamm nicht aussterben lassen solle, däuchte ihm jetzt so sehr berechtigt, daß er ihn in einzelnen Stunden auch zu dem seinen machte.

Aber er konnte für sich nicht an die Ehe denken, ohne daß die Frau ihm wieder einfiel, deren Bild er aus seinem Herzen zu reißen beschlossen hatte; mit dem Gedanken an Franziska, mit dem einen Namen klaffte die alte Wunde, klaffte der alte Zwiespalt in seinem Herzen wieder auf.




Graf Joseph hatte vorgehabt, am nächsten Tage seine Schwester aufzusuchen, aber es war noch früh am Morgen, als man ihm meldete, daß die Freifrau von Thuris nach dem Schlosse komme.

Der Graf trat an das Fenster, und der Anblick, welcher sich ihm darbot, überraschte ihn. Hinter einem vorreitenden Diener ritt die Freifrau, stolz und ruhig auf ihrem Sessel sitzend, auf einem starken Pferde den Fuß des Berges hinauf. Ihre Kammerfrau und noch zwei andere Diener folgten ihr ebenfalls zu Pferde.

Konradine von Thuris war sechszehn Jahre älter als ihr Bruder, und jetzt in der Mitte der vierziger Jahre noch eine Achtung gebietende Schönheit. Sie war groß und stark wie das ganze Rottenbuel’sche Geschlecht, dessen Züge sie vollständig trug. Die starke Nase und die dunkeln Augen, die frische Farbe der Bergbewohnerin und der feste feurige Blick nahmen sich seltsam aus gegen ihr früh ergrautes, fast weißes Haar, das unter der schwarzen Schneppe der Wittwenhaube, über welcher sie den schwarzen breitkrämpigen Reithut aufgesetzt hatte, nach der Mode der Zeit in langen Locken zu beiden Seiten ihres Kopfes herabfiel.

Der Graf eilte hinunter, die Schwester, die ihm fast eine Fremde war, zu empfangen, und Freude und Rührung in den ernsten Zügen, stieg sie an seiner Seite den letzten Theil des Berges und die Treppe des Schlosses hinauf. Als sie mit ihm in den großen Saal des oberen Stockwerks eintrat, blieb sie unwillkürlich stehen, schaute umher und blickte den Bruder an, als wolle sie den Bildern ihrer Ahnen sagen, daß der Erbe und Herr des Hauses da sei.

Dann, als der Diener, welcher ihnen vorangegangen war und ihnen die Thüren geöffnet, sich entfernt hatte, trat sie dem Bruder gegenüber, dessen volle Größe sie hatte, nahm seine Hände in die ihren und sagte mit fester Stimme, während sie ihm, wie Mann dem Manne, die Hände schüttelte: „Willkommen, mein Bruder, willkommen in Deiner Heimath! Ich bin früh ausgeritten, um, wie es sich gebührt, das Oberhaupt meines väterlichen Stammes in seinem Schlosse begrüßen zu kommen. Es hat lange genug leer gestanden, dieses gute Haus, denn Du hattest es fast vergessen, daß die Grafen von Rottenbuel hieher gehören. Laß mich denn gleich in der Stunde des Wiedersehens die Hoffnung aussprechen, daß es Dir gefallen möge, bei uns zu bleiben, auf Deinem Grund und Boden, und als ein guter Bündner und Nachbar unter uns leben.“

Wer sich selbst beherrscht und, wie er sich zu gebieten versteht, auch seiner Umgebung zu gebieten gelernt hat, dessen Ausdruck gewinnt allmählich einen Ton, welcher auf Andere unwillkürlich bestimmend einwirkt, und als die schöne, stolze, hochaufgerichtete Frau jetzt mit ihrem ernsten Worte vor dem Bruder dastand, schloß sich [64] ihre Erscheinung so ebenbürtig an die Reihen ihrer weiblichen Ahnen an, daß er sich davon ergriffen fühlte. Sie erschien ihm wie die Verkörperung seines Familiengeistes, und eingenommen von dem Zauber, welchen die ganze Umgebung auf ihn ausübte, fühlte er neben der Neigung, welche sich bei dem Aublick der Schwester für dieselbe in seinem Innern regte, eine scheue Ehrfurcht vor ihr, gegen welche sich ein Etwas in ihm sträubte, so sehr er wünschte, ihr wohlzugefallen und ihr lieb zu werden.

Man blieb die ersten Stunden ungestört beisammen, denn man hatte sich einander anzueignen. Graf Joseph wußte nur wenig von den Tagen, in welchen Conradine das einzige Kind der Eltern, und der Stamm der Grafen von Rottenbuel seinem Erlöschen nahe gewesen war. Sie erzählte ihm von der Freude, mit welcher der Vater die Geburt seines Sohnes begrüßt, von dem holden Lächeln, mit welchem der Blick der Mutter an ihm gehangen, und von der Rührung, mit welcher sie selbst ihn über die Taufe gehalten hatte. Von ihrem Leben redete sie zu ihm, das hieß für sie, von dem Gatten, welchen sie verloren, und von dem Sohne, den sie in seinem Andenken erzogen hatte. Sie rühmte es mit freudiger Erhebung, daß kein Thuris jemals einem fremden Herrn gedient, und lobte es, daß auch ihr Ulrich dem Zureden widerstanden, in Paris in die Schweizerregimenter einzutreten; „denn,“ sagte sie, „es ist das Einzige, was ich unserm Vater nicht vergeben kann, daß er Dienste nahm. Und auch von Dir, mein Bruder, war es nicht wohlgethan: Man soll nicht dienen, wenn man frei sein kann!“

„Schau um Dich!“ rief sie aus, indem sie ihres Bruders Hand ergriff und mit ihm in das Freie hinaustrat. „Soweit Dein Auge dieses Thal umfaßt, giebt’s keinen Herrn außer Dir. Droben in dem Dorfe, dessen schlanker Kirchthurm jetzt so hell im Sonnenlichte wiederleuchtet, betet der Pfarrer, den Du eingesetzt, in der Kirche Sonntags für Dein Wohl. Drüben in der Mühle, deren Räder das weiße Wasser der Albula in raschen Schwingungen dreht, arbeitet der Müller für Dich; auf den Matten und Triften, welche hinaufsteigen bis an die Regionen, in denen das Leben nicht mehr gedeiht, wohnen in zahlreichen Dörfern Deine Leute, weilen in noch zahlreichern Scharmen die Sennen, welche Deine Heerden bewachen. Unten tief im Thale liegt der Niederstein, die Burg, welche Graf Emanuel dem Geschlecht erbaut; hoch über dem Arvenwald zu Deiner Rechten hebt sich Schloß Felseck hervor, in dessen Mauern die flügelschnellen Falken nisten, über dessen Thürmen der helläugige Adler seine mächtigen Kreise zieht. Das Alles ist Dein! Dein ist dies Herrenhaus, Dein ist ein Name, dem sich an Alter und Adel nur wenige vergleichen können, die auf Europas Thronen sitzen; Dein ist die ganze lange Reihe des Geschlechtes, das in diesem Augenblicke auf Dich und Deine Heimkehr niederschaut, das seine Fortdauer von Dir verlangt, das Dir gebieterisch zuruft: Du darfst nicht der Letzte, Du sollst nicht der Letzte sein!“

Sie hielt inne, der Ton der Begeisterung, der Beschwörung, in welchem sie unwillkürlich gesprochen, hatte auf sie selbst zurückgewirkt, die Augen glänzten ihr feucht, sie mußte sich sammeln, und schweigend umherblickend lehnte sie endlich ihren Arm auf ihres Bruders Schulter und sagte mit mütterlich vorwurfsvollem Tone: „Und Du konntest so lange fern von Deinem Vaterlande bleiben, konntest vergessen, daß hier Dein Name eine Macht ist, der den Bund verstärken hilft? Du konntest vergessen, daß Du hier Pflichten gegen das Volk zu erfüllen hast, welches gewohnt ist, von Deinem Stamme zusammengehalten und geleitet, von Deinem Stamme geführt zu werden, wenn der Feind uns naht? Mögen diejenigen in’s Ausland gehen, die Haß gesäet in unserm Volke und Fluch geerntet. Den Grafen von Rottenbuel blüht hier Liebe, wohnt hier Verehrung und Treue. Wie konntest Du anstehen, sie zu pflegen und zu nähren, wie konntest Du, da ich Dich mahnend rief, solange in Paris in Dienstbarkeit verweilen?“

Der Graf war bis in das tiefste Herz ergriffen. Die einfache und aus starker Ueberzeugung erwachsende Ausdrucksweise seiner Schwester erhöhte den Eindruck, welchen ihr erster Anblick auf ihn hervorgebracht. Ihre Worte prägten sich ihm ein, setzten sich in ihm fort und klangen weiter wirkend nach. Er fühlte sich schuldig und doch hoch hinausgehoben über sich selbst, er war sich wie entfremdet und es dünkte ihn doch, als werde er jetzt erst sich selber zurückgegeben; und von dem Vertrauen zu der Schwester hingerissen, von seinen widersprechenden Empfindungen bedrängt, sagte er seufzend, als müsse er sich selber rechtfertigen: „Du weißt nicht, Schwester, was mich hielt!“

Er hatte sich bei den Worten von ihr abgewendet und die Hand über seine Augen gedeckt. Sie trat an ihn heran, erfaßte diese Hand und sagte leise und fest: „Ich weiß es!“

Ihre Blicke begegneten sich, und sich auflehnend gegen die Macht, welche seine Schwester über ihn gewann, versetzte er kurz und mit kaltem Tone: „Ich kam nicht hierher, ein Weib zu suchen; ich kam, um zu vergessen, daß ich vor wenig Tagen einer Frau, die mich verrathen, ein Menschenleben hingeopfert!“

Die Augenbrauen der Freifrau zogen sich kaum sichtbar zusammen, ihre Stimme aber und ihre Mienen blieben unverändert.

„Du wirst’s vergessen!“ erwiderte sie ruhig.

„Und was dann?“ fragte er, indem er sein Haupt erhob.

Sie antwortete ihm nicht, und er wiederholte die Worte: „Und was dann?“

„Dann wirst Du sehen, mein Bruder,“ sagte sie in mildem Tone, „wie gering das kurze, vergängliche Menschenleben uns erscheint, wenn wir die Natur mit ihren nach Jahrhunderten zählenden Wandlungen uns gegenüber haben; dann wirst Du sehen, mein Bruder, wie der Einzelne, sich seiner Vergänglichkeit bewußt, das Verlangen trägt, fortzuleben in der Kette und in der Reihenfolge eines Geschlechts, das vor ihm war und nach ihm sein wird, und in der Erinnerung eines Volksstammes, der seine Segnungen an den Namen dieses Geschlechtes knüpft.“

[65] Auf dem Lande und vollends in den Bergen, wo der Winter jedes Dorf und bisweilen jedes einzelne Haus im Dorfe zu einer abgeschiedenen Insel macht, bleiben, wie die Cultur rund umher auch fortgeschritten sein mag, doch theilweise noch heute jene Verhältnisse bestehen, in denen das Haus erzeugen und leisten muß, was innerhalb desselben bedurft wird. Der Hausherr und die Hausfrau müssen, wenn sie ihrer Pflicht genügen wollen, Rath wissen für jeden vorkommenden Fall und geistig und leiblich die Hülfe zu bieten verstehen, die der Augenblick erheischt. Das war aber vor sechzig bis siebzig Jahren und vollends in den Schweizer Bergen noch viel unerläßlicher, und die Freiin von Thuris galt in weitem Umkreise für eine Frau, die wohlerfahren, rasch entschlossen und auch sehr geduldig war, wo es darauf ankam, ein Leiden des Körpers zu heilen oder einem Kummer der Seele tröstend zu begegnen. Sie verstand zu reden und reden zu machen, und wußte zu schweigen und zum Schweigen zu zwingen.

So hielt sie denn auch den Bruder ab, ihr sein Herz zu enthüllen, so lange dieses Herz ihr noch von Leidenschaft bewegt und mit sich selbst im Kampfe zu sein schien. Er sollte ihr nichts vertraut haben, was ihn vor seinem eigenen Gefühl oder vor seiner Schwester binden konnte, und sie wünschte sich nicht auf eine Widerlegung einzulassen, ehe die Zeit und die Entfernung ihr als siegbringende Bundesgenossen zu Hülfe gekommen wären.

Sie sprach mit dem Bruder nur von sich und von ihrem eigenen Leben. Von der Liebe redete sie zu ihm, welche sie ihrem Gatten verbunden, und wie dieselbe stark genug gewesen sei, ihr den ganzen Lebensweg zu erhellen und ihr Herz noch zu erwärmen, da das seine erkaltet war. Sie schilderte ihm den Hingegangenen, den Graf Joseph nur gesehen, als er mit den Eltern gekommen war, die Schwester in Thuris nach ihrer Hochzeit zu besuchen, und indem sie ihm beschrieb, wie ihr Gatte hier im Lande gewaltet und gewirkt, forderte sie den Bruder, ohne es auszusprechen, zur Nachfolge auf.

Die Herren von Thuris waren ein neues Geschlecht im Vergleich zu den Grafen von Rottenbuel, und sie gehörten nicht dem hohen Adel des Landes an. Einige von ihnen hatten aber Töchter desselben geheirathet, viele sich mit den Töchtern nichtadliger freier Häuser verbunden, und gerade diese Stellung zwischen den alten Geschlechtern und dem übrigen Volke hatte den Herren von Thuris ihren Einfluß und ihr Ansehen unter dem Theile der Bündner verschafft, welchem das Uebergreifen der österreichischen oder französischen Herrschaft in Graubünden ein Dorn im Auge war, und welcher es deshalb als eine Schmach ansah, wenn die Bündner, welche freie Männer in einem freien Lande waren, sich zu Söldnern an den fremden Höfen hergaben und ihre Söhne die Schlachten fremder Fürsten mit ihrem Blute ausfechten ließen.

Conradine war in den Begriffen der alten Aristokratie erzogen worden, aber aus der Atmosphäre des Hofes in die Berge, aus ihrem Vaterhause zu Paris in das Haus ihres Gatten nach Thuris in die Stammesheimath versetzt, hatte sie sich[WS 1], eben weil sie eine unabhängige und zum Herrschen geneigte Seele war, mit warmer Ueberzeugung den Ansichten ihres Mannes angeschlossen, und der Stolz auf ihr altes Geschlecht hatte sie die Unabhängigkeit des Vaterlandes schätzen lehren, in welchem kein Fürst die Freiheit des Edelmannes beeinträchtigte und keine Schranke für denselben existirte, sofern er dem Gesetze nicht zu nahe trat, das er selbst sich mit den Theilnehmern der drei Bünde auferlegt hatte.

Geehrt von dem alten hohen Adel, dem sie durch ihre Geburt verbunden war, und dessen Ansprüche sie aufrecht erhalten zu sehen wünschte, geliebt von den neuen Geschlechtern, denen sie sich freiwillig angeschlossen hatte, genoß die Freifrau eines ungemeinen Ansehens in dem ganzen Engadin, und Schloß Thuris war der Vereinigungspunkt für alle diejenigen, welchen die Suprematie der fremden Fürsten und die Tyrannei der Mächtigen gegen die Geringen im Lande gleich verhaßt waren. Nach Thuris ging man, um sein Herz zu entlasten, nach Thuris, um Rath und Trost für seine Sorgen und Mitgefühl für seine Freuden zu finden, und wer die Freifrau in ihrem Hause beobachten konnte, wenn Leute aus den entlegensten Thälern und von den höchsten Bergen sie aufzusuchen kamen, oder wer sie gesehen hätte, wenn sie bei irgend einer Reise durch das Land in den Schlössern und in den Hütten vorsprach, der hätte eingestehen müssen, daß manche Königin die Freifrau um die Herrschaft zu beneiden habe, welche sie durch ihre ernste Güte gewonnen hatte, und um die Liebe und Verehrung, mit welcher man ihr lohnte.

Was Frau Conradinen geschah und sie betraf, war an und für sich ein Ereigniß im ganzen Engadin, und man hatte daher kaum erfahren, daß ihr Bruder, der Graf von Rottenbuel, heimgekehrt sei, so wurde Schloß Thuris von Gästen nicht leer, und Graf Joseph sah allmählich vor seinen Augen sich Menschen und Zustände entfalten, so verschieden von Allem, was er bisher gekannt, daß er ein Bedürfniß fühlte, fest zu halten, was er erlebte und was er bei diesem Erleben dachte. Die Tagebuch-Hefte, welche Jungfer Ursula mir überließ, geben davon Kunde.


Schloß Rottenbuel den 16. August 1787. Man erzählt von einem Manne, der so lange im Gefängniß gesessen, daß er, der reinen Luft und des hellen Tageslichtes entwöhnt, sie nicht ertragen [66] konnte und bei der Berührung durch sie todt zu Boden fiel. Aehnlich ergeht es mir. Die reine Luft, welche ich hier athme, regt mir das Blut auf und macht meine Gedanken so unruhig durcheinander wogen, daß ich kaum weiß, was ich fühle und was ich wünsche. Die Natur um mich her ist groß und ernst, die Menschen sind ihr ähnlich. Hier geboren und erzogen zu sein, hier zu leben, wenn man hier erzogen ward, ist vielleicht ein neidenswerthes Glück, aber nicht Jeder ist für jedes Glück geschaffen. Die Sprache klingt rauh an mein Ohr, die Wahrheit des Ausdrucks ist oft zu nackt, und erscheint doppelt so, wenn sie neben der Verfeinerung auftritt, welche eine große Anzahl meiner Landsleute sich im Auslande erworben haben. In keinem Gesichte sehe ich jenes Lächeln, Franziska’s Lächeln, welches mein Herz erwärmte, und keiner Lippe entquillt ihr süßer Ton!

Den 25. August. Die Nähe meiner Schwester thut mir wohl. Ihre Heimath freilich ist in diesen Bergen. Ihr Sinn ist hoch, ihr Verstand klar wie diese Luft, ihr Herz tief und still wie die ruhenden Seen dieses Landes, und ihr Auge sieht auf Jeden und auf Alles so sanft herab wie die Sonne am Mittag. Jeder Tag erschließt mir deutlicher, was meine Schwester ist, jeder Tag macht mir es klarer, was sie aus mir machen möchte. Vorsorgende Liebe soll hier im Lande die Wege bahnen für eine Ausgleichung, die zu kommen nicht säumen wird. – Wie weit hin ihre Verbindungen reichen, wie gut sie unterrichtet ist! – Die Nähe täuscht den Blick bisweilen wirklich. Mich dünkt, auch ich sehe von hier aus deutlicher, was sich jenseits der Berge vorbereitet, was an dem Horizonte Frankreichs emporsteigt, und was auch hier emporsteigen könnte, ein drohendes Gespenst, wenn man’s nicht im Voraus zu bannen trachtet.

Den 29. August. Welch köstliche Tage habe ich verlebt! Es scheint mir, als hätte ich zum ersten Male, seit ich lebe, frische Luft geathmet. Die Sonne ging eben auf, als wir Thuris verließen. Es war kalt auf der Lenzer Haide, der Inn floß voll und weißschimmernd durch die Wiese hin, die hier, ein wahres Naturspiel, zwischen den Felsen ausgebreitet ist. Es muß viel Schnee geschmolzen sein, viel Wasser sich gelöst haben von den Gletschern, der Strom hat sich mächtig gehoben. Die Sonne ist schön, wenn sie über die Berge emporsteigt und warm und liebevoll das Lebendige bis in die tiefsten Gründe suchen und erquicken geht. Eine Sonne sollten die alten Geschlechter in ihr Wappen setzen – barmherzig erwärmen und beleben müßten sie die Welt mit ihrem Lichte, damit man ihnen das Bestehen gönnte, das Bestehen wünschte und auf ihr Bestehen hoffte, wie auf der Sonne unfehlbares Licht.

Ich meinte so viel Menschen zu kennen, so viel Freunde zu haben in Paris, hier will mir’s erscheinen, als hätte ich Niemand gekannt und keinen Freund gehabt. Was wußte ich von den Menschen, die ich täglich sah? Was wußten die Menschen von mir, die sich meine Freunde nannten? Conradine kannte Kind und Kindeskinder, wohin wir kamen. Sie wußte, was man erstrebte, was man bedurfte, was Jedem fehlte und worauf er hoffte, und Jedermann wußte von ihr. Man rief ihr entgegen, als man mich an ihrer Seite sah, man hatte mich mit ihr erwartet, und man tadelte sie, daß sie den Sohn noch immer in der Fremde lasse. – „Ich gönne ihm Zeit, es einsehen zu lernen,“ sagte sie sich vertheidigend, „wie viel besser es hier in Bünden ist!“ – Solche Gemeinsamkeit verdoppelt das eigene Leben, und wenn ich höre, welche Sorgen die Andern zu tragen haben, mit wie Wenigem sie sich zufrieden geben, wie viel und wie wenig der Einzelne leisten kann, so bewältigt mich eine Art von Resignation. Daneben kommt mir der Wunsch zu nützen und zu beglücken – damit das Leben nicht ungebraucht vergeht. Wie oft ich auch zurück denke nach Paris – was könnte ich dort erfahren, das mich freute?

Am Nachmittage langten wir bei dem alten Freunde meiner Schwester an, das bevorstehende Fest mit ihm zu feiern. Das ist ein echter Rhätier, ein echter Bündner, dieser alte Herr von Gunta; und wie vornehm er aussieht in seiner altväterischen Tracht, in der dunklen, schmucklosen Kleidung! wie schön seine Tochter aussah, als sie an ihres Vaters Seite uns auf der Schwelle ihres Hauses zu begrüßen kam! Die Falten ihres weißen Kleides flossen leicht bewegt an ihrem schönen Leibe nieder, das blaue Band, das ihr schwarzes, unfrisirtes Haar zusammenhielt, spielte im Winde auf ihrer bräunlichen Schulter, und die dunkeln Augen begrüßten mich so zutraulich, als hätte sie einen Bruder vor sich, oder als wäre die prächtige Jungfrau noch ein Kind, das noch alle Menschen liebt und von Allen sich nur Gutes erwartet.

Am folgenden Tage fand die abermalige Installation des Herrn von Gunta zum Landammann statt. Er war schon früher dreimal in diesem Amte gewesen, und weil er Vertrauen genießt, kam man von dem ganzen Gau zusammen, der Feier beizuwohnen. Schon früh am Morgen zogen die Mädchen spazierend einher, in den scharlachrothen, faltenreichen Röcken, auf welche von den schwarzsammetnen, goldverbrämten Miedern die langen Bänder bis zu den Fersen niederhingen. Wie die seidenen, vielblumigen Schürzen schimmerten, und wie keck und fröhlich die Augen blitzten unter dem straff emporgekämmten Haar, das die kleinen Käppchen und die großen Silbernadeln nicht zusammen zu halten vermochten! Auch Fräulein von Gunta hatte für den Tag die Landestracht angelegt, und half den Mägden ihres Hauses bei der Bewirthung der Gäste, als wäre das ihres Amtes. Ich machte ihr eine Bemerkung darüber. Sie sah mich mit einem gewissen Erstaunen an. „Soll ich den Menschen nicht dienen,“ sagte sie, „welche gekommen sind, meinem Vater Vertrauen und Ehre zu erweisen?“

Das Schloß füllte sich mehr und mehr, und da die Hausfrau todt ist, vertrat Veronika ihre Stelle. Ihr Anblick rührte mich, weil ihre stolze Freude über ihres Vaters Ansehen sie so demüthig machte, und alle ihre Demuth den Adel ihres Wesens nicht verbergen konnte. Mitten aus dem Kreise der sie umgebenden Mädchen sah man immer sie. Ich habe in Trianon manchmal an der Seite der Königin gestanden, wenn sie die Schäferin spielte; man konnte es vergessen, daß man eine Königin vor sich hatte, so lieblich sah sie aus. Veronika’s strenge, königliche Schönheit läßt sich nicht verhüllen, fordert in jedem Augenblick Bewunderung – Bewunderung – nicht Liebe.

Den 30. August. Das Volksfest auf Schloß Gunta liegt mir noch im Sinne, die natürliche Freude bei demselben hat mich erwärmt. Jedermann war gerührt, als von fern her der altertümliche Marsch erklang, und die drei ausgeputzten Musikanten, mit den bunten Bändern an ihren Hüten und Instrumenten, in feierlich gemessenem Schritte vor den berittenen Wahlmännern einhergingen, die, fest in ihre Mäntel gehüllt, den Degen an der Seite und eine bunte Kokarde am Hute, ihnen bis an die Pforte des Schlosses folgten. Hier stiegen die Wahlmänner ab, und während die Menge sich in dem Schloßhof und außerhalb desselben immer dichter zusammendrängte, holten die Wahlmänner mit dem bisherigen Landammann den neuen Landammann herunter. Barhäuptig und mit goldbordirten Mänteln setzten sich die beiden Landammänner nun ebenfalls zu Pferde, während die Musik und die Menge ihnen entgegen jubelten und die alte Gerichtsfahne, welche schon die Schlachten des fünfzehnten Jahrhunderts mitgemacht, vor ihnen einhergetragen wurde. Eine Weile ging der Zug durch das Land, und selbst die Frauen, selbst meine Schwester und Veronika schlossen sich ihm an. Mitten in einer Haide machte man Halt. Der bisherige Landammann bestieg einen der auf der Haide liegenden Steine und übergab mit Dank für das Zutrauen seiner Mitbürger das Amt in des alten Gunta Hände. Nun betrat dieser die natürliche Tribüne, und in einer Umgebung, die großartiger nicht leicht zu denken ist, stehend auf dem Steinblock, der vielleicht schon Jahrtausende an dieser Stelle gelegen, leistete er den Eid der Treue in der alterthümlich hergebrachten Form, empfing er das kleine, braun angestrichene Stäbchen und das mehrere hundert Jahre alte, vergilbte Statutenbuch als Insignien seines Amtes, die er dem Weibel zur Bewahrung übergab, und sprach dann in kräftig feuriger Rede zu dem Volke, von dem Glück der Freiheit, deren sie genossen, und von dem stolzen Bewußtsein, keinen Herrn über sich zu wissen, als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, der diese Berge in ihren Grundfesten aufgerichtet, der das Firmament ausgespannt über die Erde und seine Sonne daran gesetzt, und der lebendig unter ihnen sei in seinen Wundern und Zeichen.

Und als solle dieser Rede ein Schluß gegeben werden, großartig und imponirend wie der Sinn des Mannes, der sie gesprochen, so rollte in dem Augenblicke von der nächsten Bergesspitze eine mächtige Lawine hernieder, daß ihr lauter Donner über das Thal hinschallte und wieder und wieder von den Felsen nachklang, bis das letzte Echo in dem jubelnden Lebehoch und Vivat untergangen war, mit welchem die Bürger ihren Erwählten begrüßten.

Ich fühlte mich wohl in den Reihen dieser Menschen. Das Herz schwoll mir in einer großen Empfindung, und ich war gerührt. Conradine bemerkte es. „Hast Du Aehnliches erlebt an Deinem Königshofe zu Versailles?“ fragte sie. Ich bin ihr die [67] Antwort schuldig geblieben, denn ich weiß mir selber noch keine Antwort auf die Fragen zu geben, die sich in mir regen. Mein Sinn wird unwillkürlich von einer Sehnsucht, die ich mir nicht eingestehen mag, in die weite glänzende Ferne zurückgezogen, obschon meine jetzige Umgebung mich anzieht und meine Theilnahme gewinnt. Ich habe den rechten Halt verloren; und ich bildete mir doch ein, ein Mann zu sein! –

Den 4. September. Meine Schwester sendete mir gestern den Brief, den sie von ihrem Sohne erhalten. Was soll er mir? was konnte er mir bringen, das ich nicht wußte, nicht erwartet hatte, als der Prinz mir schrieb? –

Es war ja lange Franziska’s Plan gewesen, und sie hat ihren Weg mit meisterhafter Sicherheit verfolgt. Was kümmert es sie, daß sie mein Leben vergiftet? daß sie mich um Glück und Hoffnung betrogen? daß ich den Jüngling jetzt beweinen und beneiden könnte, der durch meine Hand ihrer schrankenlosen Eitelkeit zum Opfer fiel? – Und doch wollte ich, Ulrich hätte geschwiegen. Es thut mir weh, daß Conradine sie verachtet. Es brennt mir in der Seele, daß ich nicht Verehrung fordern darf für das Weib, welches ich mit nicht zu besiegender Leidenschaft geliebt, für das Weib, das ich verdamme[WS 2] und das ich nicht vergessen, nicht verschmerzen kann.

Schloß Thuris, den 14. September. Welch ein Weg, welche Nacht war das! – Conradine hat Recht, dies Land, dies Leben müssen auch der Weiber Herzen stählen!

Wir waren vorgestern hier von Thuris aus nach Schloß Gunta geritten, den Wahlschmaus zu begehen. Das Schloß, seine Höfe, seine Gärten waren voll Menschen. In der großen Halle, auf dem Hofe waren die mit Speisen und Getränken überfüllten Tische aufgestellt. Die Menschen waren meilenweit herbeigekommen, es war wie bei einer Kirchweih, das Begrüßen, das Besprechen, die Freude, die Vivats und das Schießen fanden kein Ende, bis man zum Tanze ging.

Man tanzte in der großen Hausflur des Nebengebäudes, denn nur das Volk begehrte den Tanz. Die Musikanten, welche an dem Wahltage ihre Künste geübt, spielten auf, ein paar an die Mauer befestigte Lampen, in denen große Unschlittklumpen den Docht tränkten, machten die Beleuchtung. Man begann mit dem alten romanischen Nationaltanze, mit der Scarpetta, und der Landammann hatte darein gewilligt, auch Veronika an dem Tanze theilnehmen zu lassen. In zwei langen Reihen stellten die Burschen sich wie zu einer Ecossaise auf, Veronika wieder in der Landestracht an der Jungfrauen Spitze. Als die Tänzer sich geordnet hatten, verstummte die Musik, man tanzte nach Gesang. In langen, gezogenen Tönen sangen die Männer im Chor: Chi t’a fait quella scarpetta, chi te va tan bein? (Wer hat Dir die Schuhe gemacht, die Dir so wohl anstehen?) und in gleichem Ton und Rhythmus erwiderte der Chor der Mädchen: Mi l’a fait el amore, chi mi vuol tan bein! (Mein Liebster hat sie mir gemacht, der mir so sehr wohl will!) Sie wiegten sich dabei mit den Körpern nicht unschön nach dem Takte, und so oft die Worte tan bein gesprochen wurden, schlug die ganze Gesellschaft rhythmisch in die Hände und sprang mit beiden Füßen auf dem Platze empor, den Taktschlag zu verstärken. Man setzte das eine ganze Zeit lang fort, und ich suchte in Veronika’s Zügen zu lesen, was sie in dieser Gesellschaft und was sie bei diesem Tanze empfände, der mir den Südsee-Insulanern entlehnt zu sein schien. Ihr Auge war hell, ihr Mund lächelte, sie war sehr heiter. – „Wie können Sie diesen Tanz ertragen, der kein Tanz ist?“ fragte ich sie endlich. Sie sah mich an, als falle ihr mein Aeußeres auf, und es wollte mir dünken, als erröthe sie. Aber mich gleich darauf mit ihrem hellen Auge anblickend, sagte sie: „O, der Tanz ist schön! Wir Alle haben die Worte der Scarpetta von unsern Müttern gelernt, und haben die Scarpetta getanzt, sobald wir auf den Füßen stehen konnten. Kindheit und Jugend und unsere Mütter und Gespielen – Alles lebt uns in dem Tanze, in der fröhlichen Scarpetta!“ – Und gleich darauf sang sie wieder ihr: Mi l’a fait el mi amore, chi mi vuol tan bein! und sang es mit einem so fröhlich herausfordernden Blick gegen mich, mit so viel Lust, mit so viel eigenem Behagen und so viel absichtlichem Trotze, daß ich mir eingestehen mußte, es gehöre nicht viel Kunst dazu, diesem schönen Wesen sehr wohl zu wollen!

Als man sich in dem Nationaltanze genug gethan, spielten die Musikanten den Ländler auf, und ein junger Bursche näherte sich Veronika. Ich sah, daß des alten Gunta Stirne sich runzelte, ich mußte lächeln. Die Tochter im Arme des Bauern zu sehen, stand dem aristokratischen Volksmanne doch nicht an; aber das brachte ihn mir menschlich näher, obschon es mir, falls es dessen noch bedurfte, den Beweis gab, wie es mit der allgemeinen menschlichen Gleichheit, welche Herr von Gunta und meine Schwester so zu preisen lieben, hier in diesen Bergen beschaffen ist.

Auch ich mochte jedoch Veronika dem Bauernsohne nicht überlassen. Ich kam ihm zuvor, nahm ihre Hand und führte sie ohne besondere Neigung in die Reihe. Aber es war eine Lust, sie zu heben und zu stützen, sie zu führen und zu halten, in ihr klares Auge zu sehen und die fröhlichen Worte von ihren schönen reinen Lippen zu vernehmen. Wohl dem Mann, dem es einst vergönnt sein wird, mit freiem Herzen sie die ersten Laute der Liebe stammeln zu hören, den ersten Kuß von diesem unentweihten Munde zu trinken.

Man tanzte bis in den Nachmittag hinein, dann brach man plötzlich auf, denn viele der Gäste hatten weite Strecken zurückzulegen, und auch wir dachten uns auf den Weg zu machen. Da aber Veronika, welche ihres Vaters Gäste zu entlassen hatte, uns begleiten sollte, um einige Tage in Thuris zu bleiben, wurden wir aufgehalten, und die Sonne neigte sich zum Untergange, als wir Schloß Gunta verließen.

Conradine, deren Selbstgefühl sich in jedem Zuge, in jeder Aeußerung ihres Wesens ausspricht, ritt allein gleich hinter ihrem Diener her. Ich folgte an Veronika’s Seite, die Mägde der beiden Frauen und mein Reitknecht schlossen den Zug. Veronika, die, wie meine Schwester, immer eine Beschäftigung haben muß, unterhielt sich damit, mir die Namen der Berge, der einzelnen Bergspitzen, der Schlösser, Dörfer und Weiler zu nennen, an welchen wir vorüberkamen. Aber wir waren noch nicht lange unterwegs, als es mir auffiel, wie selbst die nächsten Berge sich vor unserm Blick verschleierten, und wie es dunkler wurde, als es der Zeit auch zu erwarten stand.

Der Tag war schwül gewesen trotz seiner Helligkeit, jetzt lagerten die Wolken sich dichter und dichter zusammen. Bisweilen tauchte ein Stern auf, um schnell wieder zu verschwinden, und ein heißer, schwerer Luftstrom zog in bebenden Schwingungen dann und wann durch das Thal. Hier und da tönte es wie ein Seufzen aus den Schluchten empor, hier und da hallte es wie ein unterdrückter Angstschrei von den Bergen nieder. Die Vögel flogen trotz der beginnenden Dunkelheit noch unruhig kreisend über unsern Häuptern umher und suchten dann in banger Hast ihre Nester zu gewinnen. Veronika war still geworden, ihr Auge schaute sorglich nach der Stelle hin, an welcher die Sonne untergegangen war. Die Nacht brach vorzeitig ein, die Windstöße folgten einander in immer kürzeren Zwischenräumen, das Pfeifen, das Stöhnen, das Grollen in der Luft wurde immer stärker und vernehmlicher, und die schwüle Wärme legte sich, obschon wir uns noch hoch genug befanden, wie mit eisernen Reifen athembeklemmend um Brust und Gehirn.

Conradine wendete sich um. „Dein Vater hat Recht gehabt, Veronika!“ sagte sie, „der Föhn kommt auf!“

„Ja!“ versetzte Veronika, und beide Frauen schwiegen wieder.

Es lag etwas Achtunggebietendes in ihrer Ruhe vor dem Ausbruch einer nahen Gefahr. Und das Unheil ließ nicht lange auf sich warten, denn kaum daß sie gesprochen hatten, so zuckte ein gelber Blitz durch das untere Gewölk, ein zweiter, ein dritter flammten von der andern Seite durch die Finsterniß, und als wären alle Stimmen der Natur entfesselt, so wild brauste, pfiff und hallte es durch die Nacht. Der Schall des Donners verlor sich in dem wilden Tosen. Sich auf dem Pferde zu halten war unmöglich, auch wenn die Thiere weniger von Angst ergriffen und scheu gewesen wären. Ich hatte die Frauen herabgehoben, aber ein Obdach, ja selbst eine Zuflucht war nirgend zu finden. Der Regen begann in Strömen niederzufallen, das ganze Firmament stand in Flammen, der Sturm steigerte sich zum Orkan, wir hörten die Wasser von den Bergen niederbrausen, es wurde kalt und kälter, die Nacht grauenhaft finster, der Regen verwandelte sich in stechend scharfen Schnee, und wir standen mitten auf der Haide, ohne ein Vorwärts, ohne ein Zurück. Mir schlug das Herz in der Brust, ich bangte für die Frauen, deren Mäntel schon lange kein Schutz mehr waren gegen dieses Wetters vernichtende Gewalt.

Unkundig der hiesigen Verhältnisse hatte ich beim Ausbruch des Orkans vorgeschlagen uns unter den Schutz der Bergwand zu flüchten, die sich zur linken Seite der Straße hinzog, aber das Herabrollen der Steine, welche das niederströmende Wasser mit sich [68] führte, machte das unthulich, und ohnmächtig und schutzlos der Wuth der Elemente preisgegeben, wurden die Minuten uns zu langer Zeit. Die unthätige Sorge, die Unmöglichkeit helfen, abwehren, beschützen zu können, und das lautlose Schweigen der Frauen marterten mich. Ich hätte mich erleichtert gefühlt durch ihre Klagen; ich hätte sie zu beruhigen, zu trösten, ich hätte doch irgend Etwas zu thun, für sie zu thun gehabt; ich hätte weniger lebhaft empfunden, wie hülflos wir waren.

Endlich nach einer halben Stunde ließ der Orkan in seinem Toben nach, die Blitze wurden seltener, Schnee und Regen hörten auf, nur die Kälte blieb empfindlich. Zog noch bisweilen ein Windstoß durch die Luft, so klang es, als ob er jetzt von ferne käme, und er fegte das Gewölk und die Nebel, in denen wir uns befanden, vor sich her, daß die blaßgelbe kalte Scheibe des Mondes für Secunden aus der Finsterniß hervorbrach, um eben so schnell hinter den fliegenden, sich zusammenballenden und wieder verschwebenden Wolkenzügen zu verschwinden.

Wir athmeten auf, wir konnten daran denken, vorwärts zu kommen, wenn schon es unmöglich war, die Pferde wieder zu besteigen, denn die Verwüstung auf dem Wege war zu groß. Hier lag eine riesige Arve entwurzelt, als hätte man sie mit Hebeln aus der Erde gehoben, dort versperrten niedergerollte Steinblöcke den Weg, den an andern Stellen das Wasser des ausgetretenen Flusses durchgerissen hatte. Mit Mühe und Noth erreichten wir spät in der Nacht den nächsten Hof. An ein Weitergehen, an eine Heimkehr war nicht zu denken. Nicht nur unsere Kleidung, auch die mitgenommenen Mantelsäcke waren bis in ihren innersten Kern durchnäßt. Man half uns in dem Hofe aus, und der Eindruck des Traumhaften, dem ich hier so häufig unterliege, umfing mich lebhafter als je zuvor, da ich mich in jener Nacht unter dem schlichten Dache, an dem weißen Holztisch, in der Kleidung eines Landmanns, den bäuerlich gekleideten Frauen gegenüber befand.

Als das Feuer auf dem Heerde brannte, uns zu erwärmen, sagte meine Schwester: „Mir ist ganz bange geworden draußen!“ „Mir auch!“ fügte Veronika hinzu. „Ich dachte, wie der Vater um uns in Sorgen sein würde, ich fürchtete auch wirklich, wir würden umkommen in dem Orkan, und ich lebe doch so gern!“

„Aber Sie äußerten keine Furcht!“ wendete ich ein.

„Ich betete in meinem Herzen!“ gab sie mir zur Antwort.

Glückliches Mädchen! möge der Himmel Dir Deinen starken und schweigenden Muth, Dein frommes Gottvertrauen und Deine Freude an dem Leben stets erhalten. O, daß ich sie zu theilen vermöchte!




Die Aufzeichnungen des Grafen Joseph brachen damit ab. Es fanden sich deren auch keine aus spätern Tagen vor; es ist anzunehmen, daß nur das erste Alleinsein in der ihm fremden Natur ihn in jene lyrische Stimmung versetzt hat, in der er zu dem schriftlichen Selbstgespräch seine Zuflucht genommen. Dagegen bot eine Reihenfolge von Briefen den weiteren Einblick in die Verhältnisse des Grafen Joseph dar. Der erste derselben ist von der Freifrau von Thuris an ihren Sohn gerichtet. Ich theile ihn und die ihm folgenden Briefe ganz so mit, wie sie mir übergeben worden sind.

„Thuris, den 16. Februar 1788.

Ich habe Dir eine Trauerpost mitzutheilen, mein lieber Sohn! Unser alter, trefflicher Freund, mein treuer Gunta ist gestorben. Eine Erkältung, die er sich auf der Jagd zugezogen, ist ihm tödtlich geworden, und unsere arme Veronika ist nun verwaist. Sie hatte Dir das Unglück, das sie betroffen, den Verlust, den wir Alle erlitten haben, selber melden wollen, ich habe es ihr abgenommen, da sie viel zu schreiben hat und nebenher für die Freunde ihres Vaters Sorge tragen muß, die gekommen sind, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sie hat sich in allen diesen Tagen, am Krankenbette, bei dem Tode ihres Vaters und in den Obliegenheiten, welche jetzt auf sie fallen, durchaus bewährt, wie ich sie zu finden gehofft hatte. Ihr Schmerz ist sehr tief, aber sie bleibt Herr über sich und ihn, und zeigt sich sanft und fest zugleich.

Ich habe ihr vorgeschlagen, zu mir nach Thuris zu kommen, wenn die Bestattung ihres Vaters erfolgt sein wird; sie hat das aber abgelehnt, und ich finde das begreiflich. Sie wird sich selbst genügen, ihren Gram ausleben wollen, wenn sie ihre ersten Obliegenheiten erfüllt hat; ja ich traue ihr zu, daß sie den Vorsatz ausführt, welchen sie am Sarge ihres Vaters in den ersten Augenblicken nach seinem Tode aussprach, als ihre Leute wehklagend den Verlust ihres Gebieters beklagten. Sie scheint in Gunta bleiben und mit Hülfe ihrer treuen und erfahrenen Leute die Bewirthschaftung ihrer Güter in dem Sinne unseres verehrten Freundes fortführen zu wollen. Ich wüßte auch nicht, was sie daran hindern sollte, denn ich würde in dem gleichen Falle das Gleiche gethan haben.

Indeß hoffe ich, daß bald eine andere Hand ihr die immerhin nicht leichte Aufgabe tragen helfen wird. Vielleicht sage ich mit dem Worte „hoffen“ mehr, als ich vertreten kann. Was man aber lebhaft wünscht, das hofft man auch.

Dein Onkel lebt sich bei uns ein, und die Nachrichten, welche Du mir im vorigen Herbste gegeben, haben sicherlich nicht wenig dazu beigetragen. Schon seit Monaten spricht er nicht mehr von seiner Rückkehr nach Paris, die anfangs eine fest beschlossene Sache für ihn war. Die Stille und Einsamkeit auf Rottenbuel gewinnen einen Reiz für ihn, die Bewirthschaftung seines Erbes fängt an, ihm ein Interesse einzuflößen. Es geht ihm allmählich der Sinn dafür auf, daß der Adel nur ein Edelmann ist in seinem eigenen Schlosse, auf seinem eigenen Grund und Boden, und daß er in die Classe der abhängigen Dienerschaft hinuntersteigt, sobald er sich herbeiläßt, sich fremdem Willen unterthan zu machen, wäre es auch dem Willen eines Königs. Es überraschte ihn offenbar, als ihm Veronika dies ihr angeborene und anerzogene Empfinden einmal aussprach, und ich hoffe, ihr Einfluß wird ihn bewegen, seinen Abschied zu begehren und hier zu bleiben, wo er hingehört. Was hat er an dem Hofe Ludwig’s XVI. zu suchen? Was soll ihm diese Marquise und ihr falsches Spiel? – Sein freier Mannessinn hat Schaden gelitten in der gefährlichen Luft jenes Hofes, sein Empfinden ist verwirrt in dem trügerischen Lichtglanz einer Atmosphäre, in der auch Du, wie mich bedünken will, jetzt lange genug geweilt hast. Wer, wie ich, beständig in der freien Natur gelebt und gelernt hat, sie zu beobachten und zu verstehen, der gewinnt, so meine ich, auch ein Verständniß für die Zeichen in dem Geist der Menschen und der Zeit; und wie ich meist voraussehen kann, wenn der Sturm uns droht in unsern Bergen, so dünkt mich, fühle ich das Herannahen eines Sturmes, der vom fernen Westen, über den Ocean herüber, ein Wetter, ein befreiendes, die Luft entladendes Gewitter vor sich hertreibt. Der Marquis von Lafayette, der die Reihen seines Regiments verließ, um den Amerikanern zu Hülfe zu eilen, welche für ihre Unabhängigkeit kämpfen, war vielleicht schon der Sturmvogel, der dem Orkan vorausflog. Und wir wissen, was ein Orkan zerstören kann! Habe ich das in der Erdenwelt doch im letzten Jahre an unserm armen Walde praktisch genugsam erfahren.

Deine baldige Heimkehr würde mir in jedem Sinne lieb sein, obschon sie um meinetwillen, die ich mich gut befinde, nicht eben nöthig ist.“

[94] Veronika von Gunta an den Grafen von Rottenbuel.

„Gunta, den 5. Mai 1788. 

Haben Sie meinen aufrichtigen Dank, mein Herr Graf, für alle die gütige Zuvorkommenheit, welche Sie mir während dieses ganzen Winters bewiesen haben. Es that mir sehr wohl, mich Ihrer Theilnahme versichert halten zu dürfen, und wenn Schnee und Eis mich bisweilen für Tage und Tage von aller Welt abschieden, und mein armes Haus mir recht verödet schien, weil der Blick, der mein Leitstern durch das Leben gewesen ist, nicht mehr über demselben waltet, und die liebe Stimme, die ich jetzt nur noch in meinen Träumen vernehme, nicht mehr über mich und über unser Haus gebietet, dann haben die Bücher mir freundlich Gesellschaft geleistet, und mein Sinn hat sich daran aufgerichtet, mein Herz sich daran erwärmt.

Aber ich kannte die beiden Romane bereits, die Sie mir zuletzt gesendet haben. Sowohl die Nouvells Héloïse von Rousseau, als die Leiden des jungen Werther von Herrn Goethe hatte ich gelesen, als im vorigen Sommer unser Graubündener Dichter Herr von Salis uns besucht hatte und viel von Poesie und von den früheren und jetzt lebenden Dichtern die Rede gewesen ist. Ihre Schwester war nicht dafür, daß mein Vater mir diese Bücher zu lesen verstattete, mein Vater aber hatte kein Bedenken, mir den Genuß zu bereiten, und Genuß habe ich sehr viel davon gehabt. Es war mir, während ich las, immer zu Muthe, als stünde ich auf unsern Alpenhöhen und sähe hinab gen Süden nach Italien hin, wo Alles anders und Alles schöner ist, als bei uns; Alles so warm, so die Sehnsucht weckend, so verlockend und so überwältigend, daß man Scheu fühlt, es kennen und lieben zu lernen, aus Furcht es wieder entbehren zu sollen. Mein ernster Vater war ganz jung geworden bei den gedachten Büchern, und ich empfinde in der Erinnerung an ihn und an seine Freude noch ein ganz besonderes Glück und eine höhere Rührung, so oft ich sie wieder lese.

Nur Eines, daß ich es Ihnen bekenne, ist mir damals und jetzt wieder aufgefallen und hat mich in meinem Genusse innerlich beeinträchtigt. Ich vermisse an Werther’s Lotte die rechte Wahrhaftigkeit des Herzens, und ich meine, wem diese fehle, der könnte auch die rechte, wahrhaftige Liebe nicht empfinden, und der habe auch die einfache Herzensgüte nicht, welche Anderen kein Leid bereiten mag. Wenn ich mich der Thränen über Werther’s Leiden nicht erwehren konnte, so kränkte es mich immer um so mehr, daß Lotte ihn nicht mit offner Wahrheit von diesen Leiden heilte, [95] und in das Mitleid über seinen Tod mischte sich ein rechter Zorn gegen seine Lotte. Es muß sicherlich ein großes Unglück sein, keine Gegenliebe zu erhalten, wo man sein Herz hingegeben hat; ich meine aber, Liebe zu erregen, wo man sie nicht empfindet, und Unglück über einen guten Menschen zu verhängen, müsse die Seele zuletzt ebenfalls mit sich selbst in Unfrieden bringen, und ich weiß nicht, wie man mit seinem Gewissen fertig werden kann, wenn man sich eingestehen muß, daß man, wie Lotte, durch Nachgiebigkeit gegen sich selbst oder durch Unaufrichtigkeit gegen einen Andern das Unglück eines liebevollen Herzens verschuldet hat. Wollte ich doch lieber mein eignes Leben in dem fernsten Winkel der Erde still für mich tragen gehen, als eine Seele betrüben, die von mir ihr Glück erwartet. Ich liebe diese Lotte nicht, wie schön Herr Goethe sie auch ausgestattet hat.

Und nun verzeihen Sie mir, Herr Graf, wenn ich es wagte, Ihnen so unumwunden meine Meinung zu sagen, und Ihre Ansichten in diesem Punkte nicht zu theilen. Damit ich Ihnen aber doch meinen Dank ausdrücke, lege ich Ihnen ein Paar Gedichte des Herrn Gaudenz[WS 3] von Salis bei, welche eine liebe Freundin mir gesendet hat, und ein Gedicht des Herrn Matthison, das man im Bodmer’schen Haus für mich abzuschreiben die Güte gehabt hat. Der Frühling und das Grün und der Sonnenschein, die er so gar lieblich besingt, lassen sich bei uns leider noch erwarten. Vielleicht bringen Sie mir die Blätter wieder, lieber Herr Graf, wenn die prophetische Beschreibung des Dichters sich auch hier bei uns in Wahrheit verwandelt haben wird. Mit der aufrichtigsten Hochachtung, mein verehrter Herr Graf, Ihre ergebene
Veronika von Gunta.“ 


Graf Joseph von Nottenbuel an die Freifrau von Thuris.

„Den 6. Mai. 

Ich sende meinen Reitknecht heute nur herüber, um Dir eine Frage vorzulegen, liebe Schwester, deren genaue Beantwortung ich von Dir zu erhalten wünsche. Kennt Veronika den Namen der Marquise, und was weiß sie von mir, von meiner letzten Vergangenheit? Sie hat mir heute einige Bücher geschickt und mir in ihrem kleinen Briefe ein Urtheil über den Werther mitgetheilt, das ich durch eine Kenntniß meiner persönlichen Erlebnisse eingegeben glaube. Sei so gut mich zu benachrichtigen, was ich davon halten soll. Der Brief hat mich in doppeltem Sinne überrascht.

Ich komme in den nächsten Tagen zu Dir hinüber.“


Die Freifrau von Thuris an ihren Bruder.

„Den 6. Mai. 1788. 

Veronika weiß von der Marquise Nichts! Beruhige Dich darüber, mein lieber Bruder! – Da ich der Hoffnung nicht entsagen mochte, Dich von der Neigung zu dieser unheilvollen Frau geheilt zu sehen, und den Wunsch in mir hege, daß Du, wie die Bibel es nennt, Dir hier unter den Töchtern des Landes ein Weib nehmen solltest, so habe ich darauf gehalten, Deine Verhältnisse als ein Geheimniß zu bewahren. Was also Veronika Dir auch geschrieben haben mag, eine Nebenabsicht oder einen Hintergedanken hat sie sicherlich nicht dabei gehabt. Aber Deine Theilnahme für sie macht mir Freude und ermuthigt meine Wünsche zu schönen Hoffnungen. Komme bald zu mir, und wir wollen die liebe und schöne Einsame gemeinsam besuchen.“


Die Freifrau von Thuris an ihren Bruder.

„Thuris, den 17. Mai. 

Du hast nicht Wort gehalten, lieber Bruder, und ich habe Dich seit zehn Tagen vergeblich erwartet. Man sagte mir, Du seist ohne Begleitung auf die Jagd gegangen, als ich am letzten Montag bei Dir war. Woran liegt es, daß Du der Bitte, mich zu besuchen, die ich Deinen Leuten auszurichten auftrug, nicht nachgekommen bist? Ich hoffe nicht, daß Dir ein Unfall zugestoßen ist, oder daß Du sonst ein übles Hinderniß gehabt hast. Beruhige mich darüber, lieber Bruder.“


Graf Joseph an die Freifrau von Thuris.

„Rottenbuel, den 18. Mai. 

Weshalb ich nicht gekommen bin? Frage die Seligen, weshalb sie sich nicht losreißen aus ihrer trunkenen Anbetung des Göttlichen, um auf die Erde zurückzukehren. Frage – – o! aber was sollen die Worte, was soll die Mittheilung, da Du ja doch Alles schon weißt, wenn Dir diese Worte die Wonne meines entzückten Herzens verrathen haben.

Vor einer Stunde bin ich von Gunta heimgekehrt, heimgekehrt in mein Haus, das mir wie verwandelt erscheint, seit ich weiß, daß sie es mit mir bewohnen, daß Veronika hier schalten und walten wird, daß ich mit ihr von diesen Erkern hinabsehen werde auf die Bäume, welche unsere Altvordern mir hier gepflanzt, und unter deren Schatten meine und Veronika’s Kinder einst spielen werden.

Gesegnet sei die Stunde, in welcher Du mich zur Heimkehr mahntest – ja ich möchte sagen, gesegnet sei das Unheil, das mich von Paris entfernte. Ich fühle mich wie ein verklärter, wie ein neugeborner Mensch, ich denke mit anderen Gedanken, ich empfinde mit anderen Sinnen; und das Alles ist ihr Werk, Veronika’s Werk, der Liebe Werk, die mir die Seele befreit von allen bösen Erinnerungen, und mir mit dem Glauben an die Reinheit des Weibes auch die Fähigkeit zu neuer Liebe und, daß ich es Dir gestehe, eigentlich erst das Verständniß der Liebe gegeben hat; denn was mich zu Franziska hingezogen, verdiente diesen Namen nicht.

Wie das gekommen ist? Ich brauchte es Dir nicht zu sagen, wenn es mich nicht so glücklich machte, es mir selbst zu wiederholen. Daß Veronika schön sei, wer hätte das nicht beim ersten Blicke sehen sollen? Aber es war nicht diese Schönheit, die mich an sie fesselte, so sehr sie mich entzückt. Es war die reine, unverfälschte Wahrheit ihrer einfachen Natur, die schöne Seele, der alles Edle und Erhabene angeboren ist, die nur sich selber nachzugeben braucht, um immer das Richtige zu finden und das Rechte zu thun, die mich sie lieben machten. Ich sah sie als die gehorsame und gefügige Tochter ihres Vaters, als die gastliche Wirthin ihres Hauses, als das Kind des Volkes, in dem sie geboren worden. Im fröhlichen Tanze, im wilden Orkan der Nacht, am Krankenlager und an der Leiche ihres Vaters, einsam in ihrem Schlosse sich und ihrem Grame überlassen, eine kluge Verwalterin, eine milde Herrin, eine sanfte Helferin der Leidenden – immer, immer war sie sich gleich; und ich konnte sie nicht mehr sehen, ohne mich in ihrer Nähe vor den Stunden zu fürchten, die ich fern von ihr zuzubringen hatte.

Es hätte Deiner Mahnung, daß ich Veronika nicht eben oft besuchen möge, nicht bedurft; war sie mir doch heilig wie meine Ehre, wie das Andenken an meine Mutter, wie hätte ich sie auch nur dem Schatten einer Mißbilligung preiszugeben vermocht! Aber ich konnte den Trost nicht entbehren, daß sie meiner dachte, und wie die Schrecken unseres Winters sich auch zwischen uns aufthürmten, so fand der treue alte Bernhard doch stets den Weg von mir zu ihr, und unsere Gedanken traten einander näher, unsere Empfindungen wurden zu einem einzigen allmächtigen Gefühl.

Im Zweifel an mir selbst hatte ich mir stets mißtraut; endlich litt es mich nicht länger. Die heiße Sehnsucht, die mich zu ihr zog, die mich mir selbst entfremdete, konnte mich nicht täuschen; und an der Wonne, mit welcher ich den erwachenden Frühling in meine Seele leuchten fühlte, ermaß ich, daß mein Herz frei geworden sei und rein genug, die Geliebte in dasselbe aufzunehmen.

In guter Stunde ritt ich nach Gunta. Daß ich Dir sie beschreiben könnte, diese seligen Augenblicke hoffnungsvoll bangender Zuversicht! daß ich Dir sie schildern könnte, die freudige Inbrunst, mit welcher ich meine Jugend mir wiedergegeben fühlte!

Es war schon Mittag, als ich ihr Haus sich vor mir erheben sah, und nun ich es erblickte, wankte mein Herz. Ich hatte ihr nie von meiner Liebe für sie geschrieben, sie hatte Nichts gesagt, was mich zu hoffen berechtigte, Nichts, was ich nur auf mich allein zu beziehen gehabt hätte, so bereitwillig meine verlangende Seele es sich zu meinen Gunsten auszulegen wußte.

Ich wollte mich sammeln, noch eine letzte Viertelstunde mit mir allein sein. Ich stieg an der hintern Seite des Gartens vom Pferde, das ich einem Buben zur Führung überließ, öffnete die kleine Pforte neben der Gärtnerwohnung, und trat in das kleine Gehölz ein, das dieselbe von dem Garten abtrennt. Niemand hatte mein Kommen bemerkt, die Leute waren bei der Arbeit, und ungesehen ging ich den Weg nach dem Schlosse hinauf.

Die Sonne schien warm hernieder, die jungen Blätter zitterten leise, als ob sie sich zu entfalten strebten, das Gras duftete, wo mein Fuß es betrat, und funkelnd in seinem weißen Gischte schoß blitzschnell das Wasser des Baches an mir vorüber, zum Thal [96] hinab. Ich setzte mich auf der Bank unter dem großen Wallnußbaume nieder und sah nach ihrem Fenster hin, vor dem die Vorhänge sich leise im Luftzug bewegten, und sah zu dem schneeigen Gipfel des Berges empor, und nun ich mich ihr so nahe wußte, kam eine friedensvolle Ruhe über mich, und ich fühlte, daß Veronika der Friede für mich sei.

Mit einem Male hörte ich mir gegenüber die Zweige des Gebüsches sich bewegen, und mitten in dem jungen Grün, wie eine Lichtgestalt schön, in ihrem weißen Gewande, stand Veronika vor mir. Ich sprang empor, sie trat erschrocken zurück, aber schnell wieder Herr über sich selbst, sagte sie freundlich: „Ach, Graf Joseph! ich dachte an Sie, darum überraschte es mich so, Sie vor mir zu sehen!“ – Und da ich stumm vor ihrem Anblick stehen blieb und ihre Hände ergriff und in ihr Auge blickte, da füllten diese sanften Augen sich mit Thränen, eine heiße Röthe, die glückverkündende Morgenröthe meiner Zukunft, überzog ihre Wangen, und trunken und verwirrt ihr liebeseliges Antlitz an meiner Brust verbergend, sagte sie: „Ach Bester! ich kam von meines Vaters Grabe, und – –“

Sie vollendete nicht, sie weinte. Ich hielt mich nicht länger und schloß sie in meine Arme. „Was bekümmert Dich, Veronika?“ fragte ich sie.

„Ich dachte an meines Vaters Grabe nur an Dich!“ seufzte sie und hob die schönen thränenschweren Augen zärtlich zu mir empor.

Und nun ich es Dir schreibe, überfluthet sie mich wieder, die ganze Fülle meines Glückes, daß ich die Brust im Freien kühlen muß. Sage Dir selbst, was mich bewegt!

Morgen kommt Veronika zu Dir; an Dein Herz, das mir dieses Kleinod herangebildet, lege ich meine Braut, bis ich sie als mein Weib in das Haus unserer Väter geleiten kann. Sie bei uns mit dem Segen Deiner Liebe!“


Die Freifrau von Thuris an ihren Sohn.
„Thuris, den 20. Mai 1788. 

„Mein Lieblingswunsch hat sich erfüllt, geliebter Sohn! Der Onkel hat sich mit unserer Veronika verlobt. Eine bessere Wahl konnte der Onkel nicht treffen, ein würdigeres Mädchen konnte der Reihe unserer Ahnen nicht einverleibt werden. In wenig Wochen soll ihre Verbindung gefeiert, werden, und ich würde mit freudiger Zuversicht dem Tage entgegen sehen, wenn nicht die allzu lebhafte Empfindung meines Bruders mir es deutlich zeugte, wie sehr die Leidenschaft seines Herzens über ihn Gewalt hat. Indeß ich vertraue der liebevollen Klarheit unserer Veronika, daß sie ihn zu beruhigen, zu fesseln und zu beglücken wissen wird. Sie grüßt Dich schwesterlich und hofft, Du werdest heimkommen, sie als ein Bruder zum Altare zu geleiten. Auf nahes Wiedersehen also, für das es ohnehin bald Zeit ist.“ –


Ulrich von Thuris an seine Mutter.
„Paris, den 12. Juni 1788. 

„Vergieb mir, theuere Mutter, wenn ich Deinem Wunsche mit nächstem heimzukehren, noch nicht Folge leiste, und vergönne mir vielmehr, meine Reisezeit noch auszudehnen. Ich möchte England kennen lernen, Schottland besuchen, ehe ich nach Hause komme.

Du wirst ja ohnehin jetzt weniger einsam sein, geliebte Mutter, da der Onkel und Veronika künftig in Deiner Nähe wohnen werden.

Veronika des Onkels Braut! Veronika meine Tante! Wie mir das auffällt! Ich hatte von jeher Deinen Plan gekannt und mit dem Onkel selbst davon gesprochen; nun er sich verwirklicht hat, befremdet mich das Vorhergesehene, das Erwünschte, ja, es kommt mir unbegreiflich vor. Kann man denn Mißgunst fühlen gegen einen Freund? und eifersüchtig sein auf seine Schwester? Wie wunderlich ist unser Sinn, wie eigensinnig unser Herz!

Grüße das Brautpaar von mir und sage ihm meine besten Wünsche. Wenn ich mich zu wundern aufhöre, will ich selbst ihnen schreiben.

Lebe wohl, theuere Mutter, und laß mich reisen. Ist mir’s heute doch, als hätten Du und ich Veronika verloren, als hätten wir – mein Herz nicht recht gekannt. Sage ihr nicht, daß ihr Glück mich heute noch nicht freut. Lebe wohl, theuere Mutter! Wenn ich wiederkehre, sollst Du Deinen alten Ulrich in mir finden.“

[110] Die Papiere, welche sich in meinen Händen befanden, enthielten, wie gesagt, keine fortlaufende Briefsammlung. Es scheinen gelegentlich große Zwischenräume in der Correspondenz eingetreten zu sein. Graf Rottenbuel und seine Frau wohnten der Freifrau von Thuris so nahe, daß man sich häufig sehen und deshalb des Briefwechsels entrathen konnte, und die späteren Vorgänge machen es wahrscheinlich, daß Conradine die Briefe ihres Sohnes aus jener Zeit nicht aufzubewahren für gut befand. Der erste Brief, welcher sich nach dem Schreiben Ulrich’s wieder vorfindet, ist der Brief der Gräfin an die Freifrau, aus dem Sommer 1790, welcher hier folgt.

Die Gräfin von Rottenbuel an die Freifrau von Thuris.

„Sie thun mir wirklich Unrecht, meine theuere Schwester, meine geliebte mütterliche Freundin, wenn Sie mich einer schwachen Nachgiebigkeit gegen meines Mannes Wünsche anklagen; und weil ich Ihnen dies gern auseinander setzen möchte, beste Conradine, so benutze ich die Abwesenheit Joseph’s, der nach Chur hinunter gefahren ist, um Ihnen in aller Ruhe zu erklären, was mir selbst die von meinem Manne beabsichtigte Rückkehr nach Frankreich wünschenswerth) und als etwas Zweckmäßiges erscheinen läßt.

Sie selbst, theuere Schwester, haben mich, ebenso wie mein lieber verstorbener Vater, dazu angehalten, mich bei den Ereignissen nicht zu beunruhigen, sondern ihren Ursachen nachzuforschen.

Das habe ich denn auch in unserm Falle gethan, und ich finde es seitdem sehr natürlich, daß mein Mann sich in ein bewegteres Leben, in eine angeregte Geselligkeit und in den Wirkungskreis zurücksehnt, in welchem er sich bis zu seiner Heimkehr in die Schweiz stets wohl befunden hat.

Sehen Sie, liebe Conradine! Joseph ist als Militair erzogen, ist in Paris in der glänzenden Gesellschaft des Hofes aufgewachsen, und Sie wissen das ja selbst, er hat niemals aus freiem Antriebe daran gedacht, das Dasein eines Landedelmannes zu führen.

Es waren Ihre Vorstellungen – und auch nicht einmal diese – es war das Duell und die Herzzerrissenheit, die ihn zu uns nach Graubünden brachten, und ich segne für mein Theil die Stunde, in welcher sein Fuß unser Land betrat, von ganzem Herzen und an jedem Tage.

Meines Mannes Seele ist aber jetzt längst genesen von seinem Zweifel an den Frauen, seine Liebe ist mir ein heiliger, unverlierbarer Besitz. Indeß unsere Ehe ist kinderlos, wir sind allein, und der Graf, an die Pariser Geselligkeit gewöhnt, findet keinen Geschmack, keine Befriedigung an dem ausschließlichen Umgang mit unsern Nachbarn und Verwandten. Die Landwirthschaft, die Jagd, der Gelderwerb, ja selbst der verhältnißmäßige Einfluß und die Macht, welche unser Besitz ihm gewährt, haben keinen Reiz für ihn, haben denselben auch nie für ihn gehabt. Er hat ja von Anfang an nicht daran gedacht, sich dauernd bei uns niederzulassen, und deshalb seinen Abschied nicht gefordert, sondern bisher nur von dem ihm bewilligten Urlaub Gebrauch gemacht.

Hätte ich, wie der Graf, meine Jugend in der großen Welt zugebracht, so würde er sich vielleicht mit mir zusammen leichter an diese Zurückgezogenheit gewöhnen. Gemeinschaftliche Erinnerungen würden den Stoff unserer Unterhaltungen vermehren, ich selbst würde besser im Stande sein, zu beurtheilen und zu ersetzen, was mein Mann entbehrt, und ist für uns in der Zukunft ein dauernder Aufenthalt in Bünden möglich, so wird er das nur dann sein, wenn wir eine Weile in Frankreich gelebt haben, und der Graf Gelegenheit gefunden haben wird, sich zu überzeugen, ob Paris und die Pariser Gesellschaft ihm jetzt noch so reizend erscheinen, als vor unserer Verheirathung, als in den Tagen, in welchen die herzlose Gesellschaft einer eiteln Frau ihn in beständiger Aufregung erhielt.

Gewiß, meine theure Conradine! Sie machen sich unnöthige Sorge um mich, um uns, und könnten mit dieser vielleicht grade dasjenige hervorrufen, was Sie zu vermeiden wünschen; Sie könnten Joseph und mich an der Liebe zweifeln machen, die uns zu unserm Glücke verbindet.

Sehe ich aber ganz von mir und ihm, von unserer Liebe und unseren häuslichen und ehelichen Verhältnissen ab, so muß ich meinem Manne darin beipflichten, daß es, wie die Lage der Dinge sich in Frankreich gestaltet, jetzt für ihn eine Ehrensache ist, seinen Dienst wieder anzutreten und auf seinen Posten zurückzukehren. Die Angelegenheiten werden in Paris immer verwickelter, der König hat sicherlich die Nähe seiner Treuen nöthig; wenn ich daher vielleicht auch wünschen könnte, daß Joseph niemals unter den Schweizern gedient hätte, so vermag ich jetzt doch nicht, ihn von der Erfüllung einer doppelten Ehrenpflicht zurückzuhalten, und es freut ihn, daß wir auch in diesem Punkte uns so ganz in Uebereinstimmung befinden.

Kurz, meine theure Freundin, Sie sehen, ich bin entschlossen, und Sie werden sich hoffentlich in nicht zu ferner Zeit überzeugen, [111] daß ich diesmal das Richtige für uns treffe. Beruhigt sich die Aufregung in Frankreich, so werde ich dann selbst den Grafen bitten, seinen Abschied zu fordern.

Meine Neugier und meine Lust, doch auch ein wenig von der Welt zu sehen, werden übrigens sicher Befriedigung durch unsere Reise erhalten. Ich werde, wie ich hoffe, auch eine sehr elegante Dame werden, und wenn ich das zufällige Glück haben sollte, dem Grafen mit meiner Person in der Gesellschaft einigermaßen Ehre zu machen, so wird das – ich kenne ihn darauf – meinen Werth in seinen Augen nicht verringern. Da können Sie an diesen letzten Aeußerungen gleich gewahren, wie schon der bloße Gedanke an Paris den Menschen umgestaltet. Es muß etwas Bezauberndes in sich schließen, dieses Paris! – Hat doch auch der gute Ulrich mit all’ seiner Liebe für sein Vaterland es bei uns nur wenig Monate ausgehalten, und sich schnell wieder nach dem blendenden Lichte der Hauptstadt hingewendet, an dem ich nun auch – mir die Flügel verbrennen gehen will.

Ich umarme Sie und küsse Ihnen die Hand! Glauben Sie mir, meine theure Schwägerin, daß ich es nie vergesse, welche liebevolle Erzieherin und Führerin Sie mir gewesen sind, und nun fassen Sie guten Muth, wie ich selbst ihn habe. Joseph muß durchaus wieder froh und heiter werden. Hier bleiben und ihn so oft niedergeschlagen und mißmuthig sehen, das geht über meine Kraft. – Von Herzen Ihre Ihnen ganz ergebene
Veronika, Gräfin von Rottenbuel.“ 


Die Gräfin von Rottenbuel an die Freifrau von Thuris.
„Paris, den 20. October 1790. 

„Meine verehrte Schwägerin! Wir sind vor drei Wochen grade an dem Tage hier angekommen, an welchem unser verehrter Landsmann Herr Necker, müde der Leitung eines Schiffes, das vom wilden Strudel erfaßt ist, abermals sein Amt niederlegte, um sich auf seine Besitzungen in seine und unsere Heimath zurückzuziehen; und ich habe Ihnen noch nicht geschrieben, meine Freundin, weil ich Mühe habe, mich und meine Gedanken in dem Sturme zurecht zu finden, der mich umgiebt.

Ich komme zum ersten Male in eine große Stadt und finde ihre sämmtlichen Verhältnisse wie aufgelöst, ich komme an den Hof, in dessen Sonnenstrahlen Alles sich drängte, und finde, daß seine treuesten Anhänger sich von demselben zurückziehen, ich sehe zum ersten Male einen König, einen edeln, sanften, guten König, und er steht fruchtlos kämpfend einer Gewalt gegenüber, die stärker ist, als er, und die mit jedem Erfolge, den sie erringt, und mit jeder Niederlage, welche das Königthum erleidet, sich ihrer Macht deutlicher bewußt wird. Eine Reihe von Vorstellungen drängten sich mir hier bei meiner Ankunft auf, die eben so schnell durch die Erfahrung weniger Wochen als Truggebilde vor meinen Augen in ihr Nichts versanken.

Ich hatte geglaubt, hier in Paris die Verehrung des Königthums verstehen und theilen zu lernen, und denke jetzt nur mit um so größerer Liebe an die Verfassung in der Heimath. Wie schön war es, wenn das Vertrauen seiner Mitbürger meinem Vater die Verwaltung und Leitung der gemeinsamen Angelegenheiten übertrug! Wie anders erscheint uns die Herrschaft der freien Uebereinkunft, wenn man sie mit der Alleinherrschaft vergleicht, gegen welche hier ein ganzes Volk in Waffen steht, und die zu vertheidigen und aufrecht zu erhalten, grade dem gütigsten und schuldlosesten der Könige auferlegt wird. Während ein König meine ganze Neigung und Verehrung gewinnt, lerne ich die Bürde der Krone und die Verantwortlichkeit ihres Trägers als eine schwere Last erkennen, und während Sie mit Recht erwarten, daß ich Ihnen Kunde gebe von dem Eindruck, welchen Paris auf mich macht, und Nachricht von unserm persönlichen Ergehen, spreche ich Ihnen von dem Allgemeinen. Aber die Aufregung ist hier so groß, die Gefahr für Alle so drohend, daß man es verlernt, an sich selbst und an seine eigenen Angelegenheiten wie an etwas besonders Wichtiges zu denken.

Nach dem, was ich Ihnen bisher gesagt, werden Sie sich denken können, wie gnädig mein Mann von den Majestäten aufgenommen worden ist. Die Herrschaften haben so viel Untreue und Verrath zu dulden, daß die Treue und Anhänglichkeit ihnen schätzenswerther als vielleicht zuvor erscheinen, und der König hat dem Grafen gleich nach dessen Ankunft die Stelle eines Obristen verliehen, welche eben durch den plötzlichen Tod ihres Inhabers erledigt worden war.

Joseph sieht schön aus in seiner Uniform und noch schöner in der sichtlichen Zufriedenheit, die ihn erfüllt. Seine Züge sind wieder fest, sein Auge hell, sein Mund hat das stolze Lächeln wieder gefunden, und da ein Theil der Gnade, welche die Majestäten ihm beweisen, auch auf mich zurückfällt und man ihn versichert, daß ich – – nun, lachen Sie mich immer aus, liebe Conradine, daß ich schön sei, so scheint er sich auch wieder darauf zu besinnen, daß er mich selbst einst schön genannt hat, und das abgespannte, melancholische Lächeln, das nur in Rottenbuel so oft das Herz beschwerte, ist wie aus seinem Antlitze entschwunden. Er hat Vergnügen daran, mich zu schmücken, und ich selbst finde hier am Hofe den Schmuck ein heiteres Ding. Er hat Behagen daran, seine Freunde in seinem schönen Hause zu empfangen, und der Reichthum erscheint mir hier, wo man ihn so angenehm verwerthen kann, ein weit größerer Vorzug als in Rottenbuel oder in meinem lieben stillen Gunta. Kurz, ich bin sehr zufrieden mit Paris und mit meinem Eintritt in die mir neue Welt, wenn schon mir dabei das schöne Wort einfällt, das unser Ahn in Gunta über unser Portal hat meißeln lassen: „Herr, segne meinen Eingang und meinen Ausgang!“

Was nun, um Ihnen, theure Freundin, Alles zu beichten, die schöne Marquise anbetrifft, so habe ich sie schon zum öftern gesehen, und sehr schön ist sie wirklich; aber sie hat jetzt Anderes zu thun, als einen treuen Obristen der Schweizergarden in ihr Liebesnetz zu locken, da derselbe auch gar keine Neigung zeigt, sich wieder einfangen zu lassen. Sie hat jetzt, wie mir scheint, höhere Ziele und eine schwerere und lohnendere Aufgabe für sich gefunden.

Sie genießt das Vertrauen und die Gunst der Königin und ist, aus Ergebenheit für diese und für das Königthum, auf das Eifrigste bestrebt, den glänzenden und flatterhaften Grafen von Mirabeau zu fesseln. Es muß eine gar beneidenswerthe Aufgabe für die ehrgeizige Schöne sein, dem allgemeinen Besten und den eigenen Wünschen so gleichzeitig dienen zu können – und damit ich’s Ihnen gestehe, es ist mir nicht eben unlieb, daß mein Mann es sieht, wie sehr die Marquise sich selbst nur ein Mittel für ihre Zwecke ist.

Ehe noch Joseph mich ihr vorstellen konnte, kam sie an dem ersten Abende, an welchem ich bei Hofe präsentirt ward, mit lebhafter Freundlichkeit mir entgegen. „Ich bin Ihnen sicherlich keine Fremde,“ sagte sie, „und ich will hoffen, Frau Gräfin, daß der Graf Ihnen von mir im Sinne der vieljährigen Freundschaft gesprochen hat, die uns verbunden, ehe ein schmerzlicher Mißklang sie zu stören kam. Aber das liegt fern hinter uns, und mich dünkt, wir Alle, die wir das Blut des wahren Adels in uns fühlen, haben jetzt nur die eine Aufgabe, Freunde zu sein und uns als solche um das geliebte, so schwer gekränkte Königspaar zu schaaren. Ihre Hand darauf, meine theure Gräfin!“

Es kam mir vor, als habe sie sich diese Anrede im Voraus überlegt, und die Marquise erschien mir nicht eben wahrhaft oder edel, während sie dieselbe sprach; auch dem Grafen mißfiel sie, und als sie diesem mit den Worten: soyons amis, Cinna! lächelnd die Hand zum Kusse reichte, sah ich, daß er eine Art von Scham empfand, sie nicht würdiger vor mir dastehen zu sehen – und – nun, nennen Sie es immer eine Anwandlung beruhigter Eifersucht – ich wußte es der Marquise Dank, daß sie sich selbst entthronte. – Joseph war sehr kalt gegen sie, und trotz der Schminke, die sie trug, bemerkte ich, daß sie die Farbe wechselte. Sie verließ uns dann auch bald, und meines Mannes Blick und Händedruck verriethen mir, daß – ich wohl gethan, hierher zu gehen.

So viel von uns, theuere Schwägerin! Ulrich ist wohl und ist ein gar schöner, schöner Mann geworden, stark und kräftig, wie es Ihrem Sohne zukommt! Ich sage ihm täglich, daß er nach Hause gehen müsse, daß er Sie nicht allein lassen dürfe, und ich bringe Ihnen damit ein großes Opfer, denn Joseph ist durch seinen Dienst so vielfach hingenommen, und wenn ich einsam bin, kommt mir die Stadt mit ihren langen Straßen, mit ihren hohen Häusern unheimlich vor. Ich sehne mich nach einem Blick in’s Freie, und das Herz wird mir schwer, wenn ich in die Stille unseres Hofes und Gartens den Wiederhall eines jener Volksaufläufe zu mir dringen höre, von denen kaum ein Tag oder eine Nacht ganz frei ist. Ulrich’s Nähe ist mir dann ein großer Trost.

Er schafft mir sichere Kunde von dem, was draußen vorgeht, er sagt mir die Wahrheit, wo Andere mich nur zu beruhigen streben; und ich habe hier fast an jedem Tage die Gelegenheit, es an der Todesangst meines Herzens zu ermessen, wie mein Leben an dem [112] Leben meines Gatten hängt. O! mich dünkt, wer noch nicht für seine Liebe gezittert hat, weiß noch nicht, wie sehr er lieben kann, und wie sehr er liebt.

Die Schweizergarden haben jetzt einen schweren Dienst, sie üben ihn mit grenzenloser Hingebung; aber ich werde den innern Zwiespalt darüber nicht los, daß Joseph einer Sache dient, die nicht die seine ist, daß er sein Leben daran setzt, eine Verfassung und Zustände aufrecht erhalten und vertheidigen zu helfen, die er in seinem Vaterlande nicht eingeführt zu sehen wünschen würde. Ich bewundere, ich ehre sein starkes Pflichtgefühl, und beklage doch den Tag, an welchem der erste Schweizer jemals fremde Dienste nahm. O! Sie haben sehr wohl daran gethan, theuere Conradine, daß Sie Ulrich vor diesem Dilemma bewahrten, daß Sie ihn einen freien Mann bleiben ließen – denn seine Freiheit ist jetzt ein Glück für ihn, für Sie und, so lange er noch hier bei uns bleibt, auch für mich.

Indeß ich versichere Ihnen und verspreche Ihnen, daß ich nicht egoistisch sein und ihn nicht halten werde.“


Die Freifrau von Thuris an ihren Sohn.
„Thuris, den 30. Mai 1791. 

„Dein Brief, mein Sohn, hat mich bekümmert, ohne mich zu überraschen. Da Du meiner Bitte nicht Gehör gabst, Paris vor Ankunft Deines Onkels und Deiner Tante zu verlassen, war ich sicher, daß Du für’s Erste überhaupt nicht nach Hause kommen würdest, und ich mache die Erfahrung, daß das Alter und seine Einsamkeit und seine Sorgen sich mir nähern und früher an mich herantreten, als ich es naturgemäß erwarten müßte.

Da beschleicht dann wohl der Zweifel an dem eigenen Thun und an der Nichtigkeit meines Handelns gelegentlich mein Herz, und ich habe mich in den letzten Monaten je bisweilen gefragt, was ich für mein eigenes Glück und für das Glück der Menschen, die ich liebe, mit meinem Festhalten an meinen Ueberzeugungen und an den Principien Deines Vaters gewonnen habe.

Ich komme mir denn in meiner Zurückgezogenheit wie eine jener unglücklichen Sibyllen vor, die in einsamem Felsgebirg, den Blick auf ihren geheimnißvollen Krystall gerichtet, das Nahe und das Ferne, das Gegenwärtige und das Zukünftige an ihrem Auge vorüberziehen sehen, und die trotz der vollen Erkenntniß des Unheils, das heraufsteigt, mit ihren Warnungen und Beschwörungen das Unglück nicht verhindern können, sich zu vollziehen.

Du schreibst nicht, Ulrich! Wie soll ich mir das deuten? Auch Dein Onkel und Deine Tante schweigen, und doch müßt Ihr mir nachempfinden können, wie jede Kunde, die aus Frankreich, aus Paris hieher zu mir gelangt, meine Sorge um Euch Alle steigert. Ihr müßt mit Euch selbst gar sehr beschäftigt, Ihr müßt von den Ereignissen, die Euch umgeben, sehr hingenommen und verwirrt sein, daß Ihr meiner ganz vergessen und meine Unruhe als ein Unwesentliches betrachten könnt.

Ulrich, höre mich, wie fern ich Dir auch sein möge! Du stehst an einem Abgrund, der Dich zu verschlingen droht – wende ihm den Rücken. Was hast Du, der freie Mann, zu suchen in dem tobenden Kampfe, der in Frankreichs Hauptstadt die Parteien wild und maßlos an einander hetzt? Hier ist Dein Platz, denn hieher ruft Dich Deine Pflicht. Oder glaubst Du, der Kampf der Parteien klinge hier nicht nach, bedrohe nicht auch uns, unsere Herrschaft, unseren Besitz? – Auch hier ist Unzufriedenheit, auch hier droht uns wilde Forderung und Umsturz; und es ist vielleicht jetzt noch an der Zeit, durch maßvolles Gewähren ungemessenem Verlangen entgegen zu treten. Kehre heim! Die Aristokratie muß sich verbinden, sich einigen und gemeinsam handeln, ehe das Volk sich geeinigt ihr entgegen stellt. O, daß Dein Vater, und daß der kluge Gunta noch am Leben wären! daß Du den Sinn hättest, mir zu folgen, und den Ehrgeiz, versöhnend ihre Stelle einzunehmen!

Was willst Du in Paris? was willst Du in der Nähe Deiner Tante? – Deiner Tante, die Du liebst!

Kehre heim, Ulrich! Arbeit wird Dir zu Hülfe kommen. Ich will versuchen, Dir die Heimath lieb zu machen – leide ich doch genug durch den Kummer unserer Veronika, den sie mir vergebens zu verbergen sucht. Veronika ist unglücklich – und wie fest hatte ich ihr und meines Bruders Glück durch die Verbindung dieser Beiden zu sichern gewähnt! Der kurzsichtige Mensch sollte darauf verzichten, das Schicksal seiner Geliebtesten leiten zu wollen, und doch kann mein Mutterherz es sich nicht versagen, dem einzigen Sohne zuzurufen: mißtraue Dir und kehre zu mir zurück!“

[113]
Graf Rottenbuel an seine Schwester.
„Paris, den 26. Juni 1791. 

„Theure Conradine! gieb Ordre, daß man in Rottenbuel die Zimmer Veronika’s zu ihrem Empfange in Bereitschaft halte, denn ich stehe auf dem Punkte, meine Frau nach Hause zu schicken. Paris ist jetzt kein Aufenthalt für Frauen. Die letzten Tage haben es mir furchtbar klar gemacht, welchen Irrthum ich begangen, als ich Veronika’s Bitten nachgegeben und sie mit mir nach Frankreich genommen habe.

Der König hat am zwanzigsten mit seiner Familie einen Fluchtversuch gemacht, der nicht gelungen ist. Die Wuth des Volkes droht alle Schranken zu übersteigen. Nur durch ein Wunder entging der Marquis von Lafayette an dem Tage, an welchem man die Flucht des Königs in Paris erfuhr, dem Tode, als er zur Beruhigung des Volkes auf dem Greveplatz erschien.

Seit gestern, seit man den König, der sonst so jubelnd in Paris empfangen wurde, wie einen Missethäter auf Umwegen in die Hauptstadt zurückgebracht hat, herrscht ein Schweigen, das mir furchtbarer erscheint, als selbst das Tosen der Volkswuth. Eine doppelte Reihe von Nationalgarden, nicht wir, die Schweizerregimenter, mußten den Weg des Königs von den elyseischen Feldern nach den Tuilerien beschützen. Der König ist in den Händen des ihm feindlichen Volkes und darf sich kaum mehr seinen bisherigen Dienern und Vertheidigern anvertrauen, ohne die Volkswuth wach zu rufen. Kein glückwünschender Zuruf begrüßte den König, kein Hut wurde vor ihm abgenommen – die treuen Gardes du Corps, welche auf dem Wagen des Königs saßen, sind von dem Volke in das Gefängniß geführt. – Die Sache des Königs ist abgeurtheilt und verloren in Paris, und der Haß gegen das Königshaus und gegen seine Anhänger wächst mit jedem Tage.

Es erhebt mich, der Volkswuth mich entgegenzustellen, mich der Aristokratie auf das Engste anzuschließen und in ihren Rechten nicht nur die legitime Herrschaft in Frankreich, sondern auch unsere eigene Herrschaft in Bünden zu vertheidigen und aufrecht erhalten zu helfen. Das Königthum und die Aristokratie sind solidarisch unter einander verbunden durch die ganze Welt, und in der Verfassung von Graubünden, die dem Niedriggebornen ungebührlich viel Raum ließ, ist es mir nie wohl gewesen. Ist der Adel des Blutes ein Vorzug, was Du selbst nicht bestreiten kannst, so muß er nicht nur rein erhalten werden, sondern mit seinem angestammten Blute auch seine angestammten Rechte zu erhalten wissen, und so lange mein Blut in meinen Adern fließt, werde ich dies thun. Ich fühle mich wohl in der Aussicht des Kampfes, der uns hier sicherlich bevorsteht, aber ich mag Veronika, welche diese Ansichten nicht mit mir theilt, nicht in mein Schicksal verflechten, und Du hast Recht, meine Schwester, daß Du auch Deinen Sohn zurückrufst. Ulrich wird, ich hoffe es, Veronika begleiten, und Ihr werdet es vielleicht über Euch vermögen, einst die Rechte, die uns von unsern Vätern überkommen sind, mit dem Bauer und dem Bürger friedlich zu theilen. Ihr werdet es vielleicht erlernen, ehrbar bescheidene Bürger zu werden und es zu vergessen, daß Ihr Edelleute seid und welches Blut in Euren Adern fließt. Ich kann und werde das nicht.

Mein Platz ist hier unter denen, die meine Gesinnung theilen, die eines Herzens und eines Sinnes mit mir sind, so Mann wie Weib. Ich lebe und sterbe mit der Sache, die die meine ist – und die ich vertheidigen werde bis zum letzten Athemzuge, wenn schon der Sohn und der Erbe mir versagt ist, für den ich die Prärogative unseres Standes zu erhalten wünschte. – Es sind schwere Tage, Conradine, in denen wir leben, und es ist ein Schmerz für mich, daß meine Frau nicht empfindet wie ich, daß ich allein stehe in meinem Hause und in meiner Blutsverwandtschaft. Ich empfinde das tief und habe dem Schicksal zu danken, daß ich wenigstens meine alten Freunde hier unverändert wiedergefunden habe.“




Die Briefe, welche sich der Zeitfolge nach diesem Schreiben des Grafen Joseph anschließen mußten, fanden sich nicht vor, indeß die Mittheilungen, welche Jungfer Ursula von ihrer Mutter erhalten hatte[WS 4], ergänzten das Fehlende und hatten den Vorzug, im Zusammenhange darzubieten, was die Schreiber jener Briefe in denselben, als sie sie schrieben, noch zu verschweigen nothwendig gefunden hatten. Nur der Anfang eines Briefes von der Gräfin von Rottenbuel an ihre Schwägerin lag noch in der Sammlung, und er hatte offenbar eine schmerzliche Herzensergießung beginnen sollen, welche die Gräfin dann bereut und aufgegeben hatte. Sie klagte sich in den ersten Zeilen der Verblendung an, mit welcher sie sich dem Rathe ihrer erfahrenen und weisen Schwägerin widersetzt und in die Uebersiedelung nach Frankreich gewilligt hatte, und bekannte, daß jene Heiterkeit, in der sie der Freifrau von Thuris nach dem ersten Begegnen mit der Marquise von Vieillemarin geschrieben, ihr nicht natürlich gewesen sei, daß sie vielmehr gleich damals das Herz voll böser Ahnungen gehabt habe, die sie sich nicht eingestehen mögen, weil es ihr unwürdig gedäucht, an dem [114] Worte und an der Treue ihres Gatten, oder gar an seiner Liebe für sie zu zweifeln.

Die Gräfin hatte eine innere Wahrhaftigkeit, welche es ihr fast unmöglich machte, an den Selbstbetrug in dem Herzen eines Anderen zu glauben. Solche Naturen sind edel, aber meist auch einseitig und streng, und ihre ernste Pflichterfüllung erschreckt und drückt denjenigen, welcher sich derselben nicht in gleichem Grade fähig fühlt.

Veronika war in dem festen Glauben an die Liebe ihres Gemahls, an eine unauflösliche Zusammengehörigkeit mit ihr nach Frankreich gekommen, aber es fiel ihr gleich Anfangs auf, wie sehr der bloße Eintritt in die alten Lebenskreise den Grafen veränderte, und wie das Leben in einem andern Lande und unter einem andern, ihr fremden Volke sich unmerklich und doch störend zwischen sie und ihren Gatten stellte. Veronika war des Französischen, wie damals jeder Wohlerzogene, völlig mächtig, indeß man hatte in ihrem Vaterhause nur deutsch gesprochen, sie hatte diese Gewohnheit auch in ihr eigenes Haus übertragen, und sie liebte ihre Muttersprache. Daß sie in der Gesellschaft französisch reden müsse, verstand sich von selbst; aber es that ihr leid, daß Graf Joseph sich des Deutschen völlig entäußerte, sobald sie den Boden Frankreichs betreten hatten, ja daß er ihr eingestand, er fühle sich mehr er selbst, er fühle sich freier und belebter, wenn er französisch reden könne. Daß dies der Fall sei, konnte sie gewahren, aber wer verzichtet gern auf den Klang der Sprache, in welcher er von geliebtem Munde die ersten Liebesworte sprechen hörte, und wer giebt es gern auf, sein volles Herz in die ihm angeborene Muttersprache zu ergießen?

Es war der Gräfin, als habe sich plötzlich eine unsichtbare Schranke zwischen ihr und ihrem Gatten aufgebaut, und selbst das Wohlgefallen, das Graf Joseph an den Huldigungen zu haben schien, mit denen man seine junge Frau empfing, vermochten ihr jene peinliche Empfindung nicht zu nehmen. Dazu hatte gleich das erste Zusammentreffen mit der Marquise die Gräfin erschreckt, denn dem aufmerksamen Auge Veronika’s war der böse und spöttische Blick nicht entgangen, mit welchem die Marquise sie betrachtete, und die Zuvorkommenheit derselben hatte das Gepräge einer so stolzen und sichern Zuversicht in sich getragen, daß Veronika erkannte, welche Macht Franziska in der freien Sicherheit der Weltgewandtheit vor ihr voraus hatte.

Veronika’s ruhige Seelenfreiheit hatte in des Grafen Augen stets ihren größten Reiz gebildet, und diese Freiheit ging ihr bald verloren. Sie war nicht eitel, sondern sehr bescheiden, und aufzufallen war ihr kein Genuß. Die gute Laune, mit welcher sie sich vor der Freifrau von Thuns ihrer Erfolge am Hofe gerühmt, war daher nur wie das laute Singen gewesen, mit welchem ein furchtsames Kind sich auf unbekanntem und einsamem Wege Muth zu machen sucht. Sie hielt sich selbst geflissentlich die Mittel vor, welche ihr zu Gebote standen, aber damit sie sich dazu entschloß, mußte ihr schon die Befürchtung gekommen sein, daß sie in die Lage gerathen könne, diese Mittel zu ihrer Vertheidigung zu gebrauchen.

Leider betrog diese Ahnung ihres Herzens sie nicht. Die Marquise hatte die eitle Unersättlichkeit der Herrschsucht. Je mehr sie erlangt hatte, um so mehr wollte sie erlangen, und die Umstände waren ihrem Ehrgeiz auf das Unerwartetste entgegengekommen.

Trotz aller Bitten der Königin hatte die Herzogin sich bei dem Beginne der Adelsauswanderung derselben angeschlossen und gleichzeitig mit dem Grafen von Artois Frankreich verlassen. Die Königin, welche sich auf diese Weise ihres nächsten Umgangskreises und ihrer eigentlichen Vertrauten und Rathgeber beraubt gefunden, hatte sich eine neue Umgebung bilden müssen, und die Marquise, welche weniger zu verlieren und mehr zu gewinnen hatte, als ihr Verehrer, der Graf von Artois, und ihre Cousine, die Herzogin, hatte es mit kluger Berechnung vorgezogen, auf einem Posten zu bleiben, der ihr, wie immer die Verhältnisse sich auch gestalten mochten, nur Vortheile zu versprechen schien. Triumphire das Königthum, so mußte das treue Ausharren der Marquise in den Augen der Königin den Sieg über die Herzogin davontragen, und sollte, was man damals in der Nähe der Königin noch für unmöglich hielt, die Macht des Volkes das Uebergewicht erlangen und das Königspaar selbst zu einer zeitweiligen Entfernung aus seinem Reiche genöthigt werden, das mit Hülfe der befreundeten Mächte wieder erobern zu können, man sich gewiß glaubte, so konnte die Marquise selbst gegen den Grafen von Artois, dem zu folgen sie sich geweigert hatte, ihre Treue an das Herrscherhaus als ein Zeichen ihrer allgemeinen Herzenstreue geltend machen.

Marie Antoinette hatte, so lange die Herzogin in ihrer Nähe gewesen war, wenig Neigung für die Marquise gehabt und sie richtig und streng beurtheilt. Jetzt glaubte sie ein Unrecht vergüten, eine verkannte Treue belohnen zu müssen, und die demüthige Bescheidenheit, mit welcher die Marquise die ersten Zeichen der königlichen Gunst und Zuneigung empfing, nahmen die Königin, welche Anhänglichkeit und Ergebenheit in diesen Zeiten höher noch als früher schätzen gelernt hatte, zu Gunsten der Marquise ein. Ja selbst jene Eigenschaften, welche ihr an Franziska bis dahin mißfällig gewesen waren, ließen sich jetzt mit anscheinendem Vortheil verwerthen. Die allgemeine Gefallsucht der Marquise, ihr Hang zu Intriguen brauchten nur in der zweckmäßigen Richtung geleitet zu werden, um hie und da Nutzen bringen und der Partei, welcher sie durch ihre Geburt und Stellung angehörte, vielleicht Anhänger aus den Reihen der Opposition oder doch mindestens Nachricht von den Absichten und Plänen derselben zuführen zu können. Und wann waren absolute Herrscher und deren Anhänger jemals schwierig in der Wahl der Mittel, wo es die Erreichung ihrer Zwecke galt?

Mitten in dem drohenden Umsturz, nahe vor dem Abgrunde, welcher die Monarchie zu verschlingen drohte, genoß die Marquise Selbstbefriedigungen, wie sie solcher nie zuvor theilhaftig geworden war, und da ihre Schönheit eine herausfordernde war, so machte jeder neue Erfolg sie glänzender und kühner. Mit einer Freiheit, welche sich zuzuerkennen die Herzogin zu stolz und zu sehr in ihren Vorurtheilen befangen gewesen war, bewegte die Marquise sich aus einem Gesellschaftskreise in den andern. Ueberall hatte sie Verbindungen, suchte sie sich geltend zu machen. Sie hatte es dem Hofe als ein Zeichen ihrer Treue auszulegen gewußt, daß sie sich der Auswanderung nicht angeschlossen, sie verstand es in der Gesellschaft der oppositionellen Kreise, ihr Verweilen in Frankreich als einen Beweis ihrer Zuversicht in die Möglichkeit einer friedlichen Ausgleichung der Parteien und als Zeichen der Hoffnung auf eine beruhigte Zukunft darzustellen, welche der energische Edelsinn des dritten Standes und seiner Führer über das Vaterland herauszuführen nicht ermangeln könne.

Ihr Selbstgefühl war zu der Zeit, in welcher Graf Joseph seine Gemahlin zum ersten Male bei Hofe vorstellte, auf das Höchste gestiegen. Trunken von befriedigter Eitelkeit, wie die Marquise es war, hatten die Schönheit der Gräfin und die sichtliche Genugthuung, welche die Anerkennung derselben dem Grafen bereitete, dazu hingereicht, Franziska’s Abneigung gegen die Gräfin in eine entschiedene Feindschaft zu verwandeln und ihr die Wiedereroberung des Grafen als eine Ehrensache erscheinen zu lassen. Die Gelegenheit, sich beiden Gatten zu nähern, war eine der günstigsten. Veronika war fremd in Paris, fremd in den Sitten und in der Etiquette des Hofes. Eine Frau, welche sich, wie Franziska, schon lange auf dem glatten und gefährlichen Boden desselben bewegt, konnte der Gräfin leicht nützlich werden, ihr manche Dienste leisten, manche Unbequemlichkeiten ersparen; auch Graf Joseph hatte durch seine längere Entfernung von dem Hofe und mehr noch durch die gewaltsamen Umwandlungen, welche sich in seiner Abwesenheit vollzogen, nicht mehr die alte Kenntniß der Zustände und der Personen, die ihm sonst ein sicheres Bewegen möglich gemacht, und es war mit dem Anschein offensten Freimuths, daß Franziska sich den Ankömmlingen näherte, ihnen ihre Dienste anzubieten.

Nur wenige Tage nach ihrer Vorstellung bei der Königin saß die Gräfin eines Mittags in ihrem Boudoir, als man ihr die Marquise meldete, und noch ehe sie Zeit gehabt hatte, dem Diener eine Antwort zu ertheilen, trat dieselbe bei der Gräfin ein.

„Verzeihen Sie mir, meine theuere Gräfin!“ sagte sie, „daß ich so ohne Umstände bei Ihnen erscheine. Wir, die wir unsern Gebietern treu geblieben sind, haben uns eben hier, sehr wider unsern Willen, wie ich Sie versichern kann, von denjenigen unserer Sitten lossagen müssen, welche das sogenannte Volk in seiner sogenannten Gesellschaft nicht anzuerkennen für gut befindet.“ – Sie lachte und fügte mit erkünsteltem Uebermuthe hinzu: „Kommt und geht man doch jetzt auch in den Zimmern der Majestäten mit liebenswürdiger, bürgerlicher Freiheit und Ungezwungenheit. Also Vergebung, liebe Gräfin, und sehen Sie einen Beweis der Freundschaft [115] darin, daß ich Ihnen heute gleich ganz neidlos mein neuestes Promenadencostüme vorzuführen komme.“

Sie bot Veronika dabei die Hand und warf sich dann nachlässig in eine der Bergeren, so daß ihre hübschen Füße mit den hohen Hackenschuhen sichtbar wurden, die unter dem engen Ueberrock, welcher nach der neuesten Mode einen männlichen Zuschnitt hatte und den Pelerinen-Röcken der englischen Stutzer nachgebildet war, hervorguckten. Der kleine Hut mit der stehenden und von einem Bouquet gehaltenen Feder saß ihr dabei leicht auf einer Seite des Kopfes, und sie spielte, während sie sprach, mit dem hohen Spazierstock, den auch die Damen zu tragen begonnen hatten, seit sie sich häufiger als bisher auf den öffentlichen Promenaden zu zeigen pflegten.

Die Gräfin, welche auf ihren Landsitzen in Graubünden nicht Gelegenheit gehabt hatte, das allmähliche Entstehen dieser Moden zu beobachten, fand sie in ihrer ganzen Zusammenhangslosigkeit sehr abgeschmackt, und sie mißfielen ihr doppelt durch die herausfordernde und absichtliche Uebertreibung, in welcher die Marquise sie zur Schau trug. Sie dankte derselben indeß, wie sie es mußte, für ihren Besuch, aber Franziska bemerkte es, daß sie der Gräfin nicht gefiel, und mit aller der Keckheit, welche bei ihr das Zeichen mangelnden Ehrgefühls und eines öden Herzens war, richtete sie sich ein wenig aus ihrer halb liegenden Stellung auf, faßte ihren Spazierstock in beide Hände, stellte ihn vor sich hin, und den Kopf daran lehnend, sah sie plötzlich gedankenvoll vor sich nieder, so daß die Gräfin, an das gleichmäßige Betragen würdiger Frauen gewöhnt, sich in die Weise der Marquise kaum zu finden wußte.

Als diese ihr Haupt dann erhob und ihre Augen auf die Gräfin richtete, dünkte es dieselbe, als habe sie nicht mehr jene glänzende Erscheinung vor sich, welche eben so geräuschvoll und zuversichtlich bei ihr eingetreten war. Franziska’s Stirn hatte sich verdüstert, ihr Auge bewölkt, ihre Miene drückte Trauer aus. Und sich von ihrem Platze erhebend, machte sie Anstalt sich zu entfernen.

Die Gräfin fühlte ein inneres entschiedenes Abmahnen gegen die Marquise, aber sie war in diesem Augenblick ihr Gast, und die Befürchtung, sie verletzt zu haben, gab Veronika die Frage ein, was Jene zu so eiliger Entfernung bewege. „Sie hätten nicht kommen sollen, Frau Marquise,“ sagte sie verbindlich, „wenn Sie genöthigt waren, mich augenblicklich wieder Ihre Gesellschaft entbehren zu lassen.“

Es war das eine Redeform, Franziska aber griff dieselbe auf. „Freilich, ich hätte nicht kommen sollen!“ wiederholte sie; „aber wollen Sie es mir verargen, Frau Gräfin, wenn ich des Glaubens lebte, daß die Gattin des Grafen Joseph von Rottenbuel, die Erwählte des großmüthigsten Mannes, den ich je gekannt, ihm ähnlich sein müsse in der Tugend vertrauensvoller Herzensgröße? “

Eine tiefe Röthe überzog der Gräfin Antlitz, und gelassen, wenn schon im Tone der Abwehr, entgegnete sie: „Zürnen Sie mir nicht, wenn ich diesem Anruf nicht so würdig, als ich sollte, zu begegnen vermag. Ich war –“ sie zögerte auszusprechen, was sie dachte, und während sie noch mit sich zu Rathe ging, ob sie besser thue, ihr wahres Empfinden zurück zu halten oder es kund zu geben, trat der Graf herein.

Zum ersten Male, seit Veronika ihn kannte, war seine Ankunft ihr unerwünscht. Nicht daß sie Mißtrauen oder gar Eifersucht gegen ihren Gatten in sich getragen hätte, es verdroß sie nur, der Marquise durch ihre zurückhaltende Unentschlossenheit einen Vortheil über sich eingeräumt zu haben, den Franziska mit begieriger Schnelligkeit für sich zu benutzen eilte.

„Willkommen, Graf!“ rief sie ihm entgegen, „und dreimal willkommen, obschon es eigentlich dem Gaste nicht zusteht, den Herrn des Häuser in solcher Weise zu begrüßen. Aber Sie sind mir in diesem Momente mehr als Sie selbst, Sie sind mir ein Zeichen des Himmels, denn nun bleibe ich hier!“ – Sie legte ihren Stock fort, zog ihre Handschuhe ab und setzte sich noch einmal auf ihren frühern Platz nieder, als habe sie vor, es sich für eine längere Zeit bequem zu machen. Sie beachtete dabei kaum die verbindliche Begrüßung des Grafen oder das Erstaunen seiner Frau. Sie schien nur mit sich selbst beschäftigt, von einer Gedankenreihe hingenommen, für deren Mittheilung sie die rechte Form noch nicht gefunden hatte, denn sie begann zu sprechen, hielt nach den ersten Worten inne, hub dann noch einmal an, verstummte wieder und sagte darauf schnell und lebhaft, als müsse sie sich Gewalt anthun, um nicht abermals von ihrem Unternehmen zurück zu schrecken: „Als ich vorhin zu Ihnen kam, theuere Gräfin, geschah es mit einer ganz bestimmten Absicht, die auszuführen Ihr Empfang mich hinderte; und ich war eben daran, meinen Vorsatz aufzugeben, als ich mit jenem Aberglauben, um dessenwillen Sie, Graf Joseph, mich so oft verspottet haben, den Himmel anflehte, mir ein Zeichen zu geben, das mich belehrte, wofür ich mich entscheiden solle; ob ich gehen und dies Haus für immer meiden, ob ich bleiben und versuchen müsse, auf den Trümmern einer unheilvollen Vergangenheit einen Neubau und in ihm vielleicht eine Zuflucht für uns Alle aufzurichten.“

Sie hatte das mit großer Wärme gesprochen, schöpfte Athem und fügte dann mit einer freudigen Bewegung hinzu: „Sie traten ein, Graf Joseph, nun wußte ich, was mir zu thun oblag!“ und ihre Hände dem Grafen und seiner Gattin reichend, rief sie: „Ich bleibe, ja, jetzt bleibe ich!“

Wer an ein natürliches und einfaches Handeln gewöhnt ist, kommt selten in die Lage, große Erklärungen zu machen, besonders Auftritte herbei zu führen, und hat deshalb eine Abneigung gegen die billigen Gefühlserregungen, mit denen unwahre und herzlose Menschen sich ebenso vor dem eigenen Bewußtsein als vor ihrer Umgebung auszuschminken lieben. Es war daher nur eine nothwendige Folge ihrer Natur, daß Veronika sich von der Marquise an jenem Mittage noch mehr als früher zurückgestoßen fühlte, und ihre Mißempfindung wurde durch die Bemerkung nicht verringert, daß der Graf in dem Betragen von Franziska nicht eben etwas Unangemessenes oder Auffallendes zu finden schien. Er versicherte ihr mit herkömmlicher Galanterie, daß er es ihr nicht verziehen haben würde, hätte sie ihn nicht erwarten wollen, aber sie wehrte diese Zuvorkommenheit entschieden von sich ab und sagte: „Keine Unwahrheit mehr, mein theurer Freund, wo mir gar nichts obliegt, als der Gräfin die Ueberzeugung zu geben, daß Niemand Ihr Glück, mein Freund, mit größerer Genugthuung zu würdigen weiß, als eben ich, welche es einst so leichtsinnig verschmähte, die glückliche Urheberin dieses Glückes zu werden!“ – Und die Hand der Gräfin nochmals in die ihre schließend, sagte sie sanft und ernst: „Vertrauen Sie mir, meine theuere Gräfin, glauben Sie mir, daß Sie von mir, daß Sie für Ihren Frieden, für die Liebe Ihres Gatten nichts zu fürchten haben. Das Leben hat mich über meine Irrthümer furchtbar genug aufgeklärt!“

Veronika war blaß geworden, des Grafen ganze Haltung veränderte sich, auf seiner Stirn brannte das Roth des Zornes. „Es giebt Voraussetzungen, Frau Marquise,“ sagte er mit eisiger Kälte, „welche man nicht machen darf, ohne demjenigen eine Beleidigung zuzufügen, auf den sie sich beziehen. Als ich es wagte, der Gräfin meine Hand und meinen Namen anzutragen, wußte ich, daß sie von meinen Erinnerungen an die Vergangenheit für ihren Frieden nichts zu besorgen hätte; und was einst –“

„Hören Sie mich, Joseph!“ rief die Marquise, die trotz ihrer Schminke ihre leidenschaftliche Empörung über diese Zurückweisung kaum verbergen konnte. „Hören Sie mich, Joseph! – Wir leben in Paris, nicht in den Wäldern Ihrer Heimath, und es gilt hier mehr als die Befriedigung einer Gemüthsaufwallung. – Wir stehen auf einem Punkte, auf dem wir weithin sichtbar sind. Der kühle Empfang, den die Gräfin mir neulich in den Gemächern der Königin bereitet, als ich ihr so arglos und freudig entgegenkam, ist aufgefallen. Man hat ihn besprochen, beurtheilt, man hat darüber gelächelt. Sollen wir –“

„Frau Marquise!“ fiel der Graf ihr in die Rede, „das geht zu weit!“

Aber Franziska beachtete das nicht. „Sollen wir das Gespött des Hofes werden,“ fuhr sie fort, „sollen wir den Fluch des Lächerlichen auf uns laden, wo es in unsere Hand gegeben ist, unsere Vergangenheit zu rechtfertigen, indem wir uns die Anerkennung unserer Freundschaft für alle Zukunft zu erwerben suchen?“

„Schonen Sie mich, Frau Marquise!“ rief Veronika, „oder erlauben Sie mir, daß ich mich entferne.“

„Nein, Veronika, Du bleibst!“ befahl der Graf. „Was die Frau Marquise und ich noch mit einander gemeinsam haben, das gehört auch Dir, mein theueres Weib! das sollst und mußt Du hören!“

„Gewiß, gewiß!“ stimmte Franziska ihm bei, und schnell sprechend, als wollte sie die Geduld ihrer Hörer nicht ermüden, sagte sie: „Ich weiß, daß Graf Joseph nicht der Mann ist, ein [116] Geheimniß vor der Frau zu haben, die seinen Namen trägt, der er seine Ehre anvertraut hat. Eben darum aber möchte ich nicht – es ist die einzige Vergütung, die ich Ihnen, mein theurer Joseph, für all den Kummer und die Leiden bieten kann, welche meine Verblendung und meine Irrthümer über Sie verhängten – eben darum möchte ich nicht, daß ein unbegründetes Mißtrauen der Gräfin die Welt berechtigte, uns noch jetzt für schuldig zu halten! Ich kam, um Sie zu bitten, Gräfin, vertrauen Sie mir, erkennen Sie die Freundschaft an, die ich noch heute über alles Vergangene und Vergessene hinaus für Graf Joseph in meinem Herzen fühle, und die ich Ihnen biete. Ihr Leben war einfach, Sie waren immer glücklich, Gräfin! Es ist Großmuth, die ich von Ihnen fordere –“

Veronika, die vor Zorn und Kränkung Thränen vergoß, schüttelte verneinend das Haupt, der Graf hatte sie in den Arm genommen. „Weine nicht, Veronika!“ bat er, „die Marquise kennt die Liebe, kennt das Vertrauen nicht, die uns verbinden; weine nicht!“

Aber als hätte es nur des einen Wortes bedurft, um die ganze Stimmung Franziska’s umzuwandeln, so heftig fuhr sie empor. „O!“ rief sie, indem sie beide Hände vor das Gesicht schlug, „o! also auch das Letzte mußtest Du mir rauben!“ – Sie legte das Haupt auf den kleinen Tisch, der an ihrer Seite stand, und fing leidenschaftlich zu weinen an.

Der Vorgang war für beide Gatten ein äußerst peinlicher, der Graf besonders befand sich in einer sehr widerwärtigen Lage. Er wünschte Veronika zu beruhigen, und Franziska schien Trost von ihm zu erwarten. Wie gern er seine Gattin auch vor dieser Scene behütet hätte, fühlte er doch, daß er sie nicht entfernen dürfe, ohne ihr Veranlassung zu einem Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit und Ursache zum Mißtrauen zu geben.

Er trat zu der Marquise hin und sprach ihr ernsthaft zu. Er hielt ihr ruhig vor, daß er ihr Alles verziehen habe, was er um sie gelitten, daß er sich in Frieden mit sich selbst und in einer glücklichen Ehe befinde, die er nicht stören, nicht antasten lassen werde. Er sagte, daß er gehofft hätte, auch sie verändert und beruhigt zu finden, daß die Zeit nicht danach gemacht sei, sich in eigensüchtigen Herzenserregungen zu verzehren, sondern daß man die Aufgabe habe, sich zu sammeln, um alle Kraft und Fähigkeit dem Dienste des unglücklichen Herrscherpaares zu widmen, das in seinen Rechten auch die Rechte und Vorrechte des Adels und der Besitzenden vertrete; und die einfache Würde, mit welcher er zu ihr redete, schien auf die Marquise Eindruck zu machen. Sie hörte allmählich zu weinen auf, lieh ihr Ohr schweigend seinen Worten, und nachdem ihre Züge mehr und mehr den Anstrich ernster Sammlung angenommen hatten, erhob sie sich zögernd von ihrem Sitze. Sie hatte das Ansehen eines Menschen, der, von schwerem innerem Kampfe ermattet, nur mühsam Herrschaft über sich gewinnt, und es dünkte den Grafen, obschon er in diesem Augenblick gar nicht in der Verfassung war, auf die Schönheit der Marquise zu achten, als habe er sie nie anmuthiger, nie einnehmender gesehen, als eben jetzt, da ihr Feuer gedämpft, Ihre Kraft gebrochen, ihre Selbstgewißheit vernichtet zu sein schien.

Langsam, mit erschöpfter Miene, näherte sie sich der Gräfin. „Verzeihung, Gräfin!“ sagte sie matt. „Es ist ein Irrthum meines Verstandes, kein Uebelwollen meines Herzens, für das ich hier Ihre Vergebung fordern muß. Ich vergaß, daß es ein Unrecht giebt, welches uns alle Aussicht auf seine Sühne, alle Aussicht raubt, es zu vergüten oder es durch Andere vergütet zu sehen. Sie haben nicht die Pflicht, großmüthig gegen mich zu sein! Die Liebe des Grafen ist Ihr wohlverdientes Eigenthum – was kümmert Sie die Unglückliche, welche dies kostbare Gut einst von sich stieß, welche Jahre lang die treuste Hingebung, das liebevollste Vertrauen zu täuschen vermochte, welche Jahre lang ihr frevles Spiel mit einem Herzen trieb, das ihr gehörte, ihr allein!“

„Frau Marquise, schonen Sie mich!“ bat Veronika mit flehender Stimme, und auch der Graf versuchte, den Bekenntnissen Franziska’s Einhalt zu thun, aber die Wirkung, welche sie auf ihn hervorbrachten, war doch eine andere, als diejenige, welche sie auf die Gräfin machten. Auch brach die Marquise plötzlich, auf des Grafen Mahnung, ihre begonnenen Geständnisse ab. Das melancholische Lächeln schwand aus ihren Mienen, ihr Antlitz hellte sich auf, man sah, daß sie sich Gewalt anthat. Sie schaute mit einem Blicke in dem Gemach umher, als wolle sie sich seine Einzelheiten einprägen, reichte dann dem Grafen die Hand und sagte: „Leben Sie wohl, mein Freund! ich habe jetzt die Stätte des Glückes und des Friedens gesehen, an der Sie Trost gefunden für die Leiden, welche ich über Sie verhängt. Ich weiß jetzt, daß ich diese Stätte nicht wieder betreten, daß ich Sie selbst, mein Freund, niemals anders als in den kalten Cirkeln der Gesellschaft wiedersehen darf, da es mir nicht gelingt, der Gräfin das nöthige Vertrauen zu mir und zu Ihnen einzuflößen, da die Gräfin mir ihre und ihres Gatten Freundschaft, die ich mir zu verdienen wünschte, nicht vergönnt.“

Sie verneigte sich mit erzwungener Zurückhaltung und ging hinaus. Der Graf gab ihr ebenso schweigend und zurückhaltend das Geleit, um vor der Dienerschaft kein Aufsehen zu erregen. Veronika aber warf sich mit einem unterdrückten Aufschrei in den Sessel nieder.

„O, ich hasse sie!“ rief sie bitter und schmerzlich. „Ich hasse sie, die ihn um seine Jugend betrogen hat! Und sie wird mein Glück zerstören und das seine!“

[129] Die Marquise war nie besser mit sich zufrieden gewesen, als in dem Augenblicke, in welchem sie das Hotel des Grafen von Rottenbuel verließ. Sie hatte, wie sie es selbstgefällig nannte, mit sicherer Hand ein gefährliches Experiment gewagt, und sie war überzeugt, daß es ihr gelungen sei. Heiter, wie der schöne Sommertag, wiegte sie sich in den Polstern ihres kleinen offenen Wagens, dessen Pferde sie selber führte, denn sie hatte alle jene Moden des Tages angenommen, die ihren Neigungen begegneten und ihr den Anschein geben konnten, zu den Bekennern und Anhängern der neuen Geistesrichtung und der neuen Zeit zu gehören.

Die klare Luft, der Sonnenschein, die rasche Bewegung machten ihr Vergnügen. Die muthigen Apfelschimmel zu regieren, mit spielender und doch fester Hand die Zügel zu führen, mit scharfem Blick schon in der Ferne die Hindernisse zu erspähen, welche sie vermeiden mußte, mit kluger Schnelligkeit dem Unerwarteten auszubeugen, das war recht eine Beschäftigung, wie sie sich für Franziska eignete. Wer sie an jenem Morgen in ihrem Phaeton die Alleen des Boulogner Holzes durchfliegen sah, mußte sie bewundern. Sie war auf das Angenehmste erregt. Bald hielt sie ihren Wagen an, um einem vorübergehenden Bekannten ein Wort des Grußes zu sagen, bald sprach sie mit irgend einem Reiter, der Muße hatte, sein Pferd neben ihrem Wagen zu erhalten, und als ob ihr dies Alles nicht genüge, stieg sie endlich, als sie Ulrich von Thuris in einer der Alleen bemerkte, aus dem Wagen, gab ihrem Kutscher die Zügel und ging, von ihrem Diener gefolgt, dem jungen Manne entgegen, seine Begleitung für einen Spaziergang zu begehren.

Das fiel dem Freiherrn auf. Er gehörte nicht zu dem engen Kreise der Hofgesellschaft, und wenn er in jenen Zeiten, in welchen der Hof noch Feste veranstaltete, einmal zu einem solchen geladen worden war, so hatte die Marquise ihn wohl um Nachricht von seinem Onkel gefragt, ihn aber sonst nur wenig beachtet. Ulrich war damit auch ganz zufrieden gewesen, denn er dachte von Franziska, wie sie es verdiente. Zufällig, unwillkürlich, darauf kannte er sie genugsam, war in ihrem Verhalten Nichts, und sie ließ ihm denn an jenem Morgen auch nicht lange Zeit, darüber nachzusinnen, welcher Ursache er das Zeichen ihrer Gunst verdanke und was sie bewogen habe, seine Gesellschaft zu verlangen.

Mit derselben Berechnung, mit welcher sie vor dem Grafen und vor Veronika von ihrer Liebe und von ihrem Zusammenhange mit dem Ersteren gesprochen, bekannte sie Ulrich, daß sie ihn eben jetzt nur aufsuche, um sich durch Mittheilung von einem Ereigniß, von einem Vorgange zu erholen, der sie auf das Tiefste ergriffen und erschüttert habe. Sie erzählte ihm Alles, was in dem Cabinet Veronika’s geschehen war, und sie erzählte es im Ganzen wahrheitstreu; aber sie wußte die Farbe und den Ton so unmerklich und doch so geschickt zu wandeln, daß ein Mann, welcher weniger als Ulrich gegen die Marquise eingenommen und weniger von dem Seelenadel Veronika’s überzeugt gewesen wäre, sich leicht hätte versucht fühlen können, derselben jenen Mangel an Großmuth vorzuwerfen, dessen die Marquise sie beschuldigte.

Franziska wußte, daß Selbstanklage dem gerechtesten Mißtrauen und dem schwersten Vorwurf gar leicht die Spitze abbricht. Sie hatte also gar kein Hehl, daß sie aus Selbstsucht ein Unrecht begangen, daß sie mehr, als ihr zugestanden, an sich und an ihre Befriedigung gedacht und darüber die Herzens- und Weltunerfahrenheit Veronika’s nicht berücksichtigt, daß sie vergessen habe, wie die junge, in Einsamkeit erzogene Frau noch in den romanhaften Vorstellungen von einer einzigen und untheilbaren Liebe beharren möge. Bald sprach sie ernst und nachdrücklich, bald zog sie die Sache in den Bereich des Scherzes hinüber. Wie fein und gewandt sie aber auch zu Werke ging, um Ulrich zu gewinnen und ihn gegen die Gräfin einzunehmen, ihre Berechnung scheiterte an der ernsten Gradheit des jungen Edelmannes und an seiner vertrauensvollen Liebe für die Gräfin. Mit der scharfen Voraussicht eines Herzens, das sich zu besiegen und zu verleugnen, und eben darum unbeirrt in fremden Seelen lesen gelernt hat, ahnte Ulrich, welch’ ein Weh Franziska’s Arglist der Gräfin zugefügt habe. Er konnte daher den Augenblick nicht erwarten, in welchem er die Marquise zu ihrem Wagen zurückgeleiten und sich zu Veronika verfügen durfte, und er fand die Zerstörung, welche in dem Leben derselben angerichtet worden war, dann auch noch schlimmer, als er sie erwartet hatte.

Die Gräfin sprach ihm nicht von dem Besuche der Marquise, sie empfing ihn schwesterlich und gütig wie sonst, aber ihr ganzer Ausdruck, ihre Züge, ihre Stimme, ihre Haltung waren verändert. Sie war matt, als hätte sie eben eine schwere Krankheit überstanden, unsicher, als sei sie nicht in ihrem Hause, und das Lächeln, das sie ihren Lippen abnöthigte, um ihren Zustand zu verbergen, war traurig, wie der matte flüchtige Schimmer des Sonnenstrahles, der die graue Trübe eines Wintertages nicht zu durchbrechen und nicht zu erwärmen vermag.

Veronika war nicht allein, der Graf war bei ihr. Es kamen und gingen Besuche, man unterhielt sich in gewohnter Weise, aber Ulrich sah und hörte bei jedem Worte, welches sein Onkel und [130] dessen Gattin äußerten, daß sie anderweit beschäftigt waren, daß außer der allgemeinen Gefahr ein noch näheres Unheil über ihnen schwebte, daß Veronika dieses erkannte, es zu vermeiden wünschte, und daß doch bereits jene rechte Gemeinsamkeit zwischen den Eheleuten gestört war, welche es ihnen leicht gemacht haben würde, sich dem drohenden Verhängniß zu entziehen.

Es geschieht oftmals, daß Personen von den verschiedensten Charakteren, von den abweichendsten Meinungen und Ansichten in so einfache Verhältnisse versetzt werden, daß sie trotz ihrer völligen Ungleichheit das Gleiche denken und empfinden müssen. Das macht es ihnen dann möglich, sich zusammenzufinden, sie fassen Neigung für einander, gewöhnen sich dasjenige, was ihnen an dem Andern fremd erscheint, als seine Eigenheit zu ehren, als eine schöne Besonderheit zu schützen, und sie gelangen also leicht zu einer gegenseitigen Liebe, in der sie ihr Eigenstes aufgeben möchten, um sich das Fremde völlig anzueignen. Indeß solche Verbindungen sind mit ihrer Dauer nur zu häufig auch an den Ort ihres Entstehens und an die Bedingnisse geknüpft, unter welchen sie geschlossen worden sind, und die Ehe des Grafen Joseph hatte in diese Reihe gehört.

Er war bestimmbar und selbstwillig, hingebend und herrschsüchtig, rasch empfänglich und ausdauernd, je nach der Seite seines Wesens, welche von den Verhältnissen berührt ward. Seine Seele hatte Adel, er bewunderte das Schöne und Gute, aber seine Empfindsamkeit wie seine Empfindlichkeit schreckten vor jeder strengen Anforderung zurück und gaben sich willig der Einwirkung hin, die ihnen schmeichelte. Er schützte daher die Wahrheit, wenn sie ihm wohlthat, und suchte sich über dieselbe zu täuschen, sofern sie ihn unangenehm berührte. Da er in sich selber die Gegensätze stets zu vermitteln bemüht war, so oft er in einen innern Widerspruch gerieth, so strebte er auch im Leben auszugleichen, was sich irgend dazu anließ, und Hinhalten, Abwarten und Hoffen waren ihm stets natürlicher gewesen, als rasches Vorwärtsbringen zu einer gewaltsamen Entscheidung.

In der Zurückgezogenheit, in welcher er die ersten Jahre seiner Ehe auf Schloß Rottenbuel zugebracht, hatte er nicht Gelegenheit gehabt, es zu bemerken, wie vollkommen der Charakter seiner Gattin dem seinigen entgegengesetzt war. Ihr ruhiges Walten hatte von ihrem täglichen Leben jede Störung entfernt, ihre Liebe für ihn jeder seiner Neigungen unbedenklich nachgegeben, und ihr Vertrauen hatte sich lange über die Quelle der Melancholie getäuscht, die sich seiner allmählich bemächtigt. Im Uebrigen wußte die Gesellschaft des Bündner Adels sich unter einander zu schonen und zu respectiren, und Graf Joseph, der, an und für sich reich, nach seiner Heirath mit der ebenfalls sehr begüterten Erbtochter von Gunta zu einem der reichsten Besitzer des Landes geworden war, hatte innerhalb der Bündner Oligarchie, deren natürliches Interesse die Aufrechterhaltung des Einzelnen forderte, bei seiner Heimkehr in die Schweiz eine Aufnahme und einen Einfluß gefunden, die seiner Lust an persönlicher Geltung wohl entsprochen haben würden, wäre er nicht mit seinen Erinnerungen an Paris gefesselt und an Aufregungen gewöhnt gewesen, welche er in dem Frieden seiner Heimath und seiner Ehe, ohne daß er sich davon Rechenschaft gab, sehr bald vermißt hatte.

Der Graf gehörte zu der großen Anzahl der Menschen, deren Aeußeres ihrem Charakter überlegen ist und die deshalb unwillkürlich täuschen. Daß ein Mann von solch stolzer und mächtiger Gestalt, von so gebietendem Ansehen jene Eitelkeit besitze, die sich durch fremde Anerkennung Genugthuung verschaffen muß, daß er es bedurfte, sich in der Gnade eines Mächtigen zu sonnen, sich in jedem Augenblicke in einen Kampf mit einem Nebenbuhler verwickelt zu wissen, um sich womöglich seiner Ueberlegenheit über denselben zu erfreuen, das würde man ihm ebenso wenig zugetraut haben, als er selbst sich dieses eingestand.

So lange er in Paris sich in dem Glanze und dem Getreibe des Hofes befunden, so lange die Spannung und Aufregung angehalten, in welcher seine Liebesleidenschaft für die Marquise ihn versetzt, hatte er sich bald glücklich, bald unglücklich, immer aber beschäftigt gefühlt. Später waren ihm der völlige Wechsel seiner Lebensverhältnisse, seine Neigung und Liebe für Veronika und das prächtige Herrenleben auf Schloß Rottenbuel, das ihm durch die Zärtlichkeit seines jungen Weibes noch verschönt worden, zu einem Anreiz geworden; aber wer nicht in sich selbst beruhen kann, ist für eine glückliche Ehe, für die Ehe, welche auf wechselloses Vertrauen und wandelloses Zusammengehören angelegt ist, nicht geschaffen. Die immer gleiche Ergebenheit Veronika’s, ihr täglich stilles Thun, ihr ernstes Gleichmaß, ja selbst die Fügsamkeit, mit welcher sie sich dem Grafen unterzuordnen wußte, erschienen demselben bald als ein Mangel an Temperament. Veronikas sanfte Zufriedenheit dünkte ihm ein Zeichen dafür zu sein, daß ihr Sinn beschränkt, daß sie ohne Verlangen nach weitern Lebensverhältnissen und darum auch sicher nicht befähigt sei, dieselben erfolgreich zu bewältigen. Ehe sie sein Weib geworden war, hatte er sich an ihrer Begeisterung für die Poesie erfreut; als sie dann an seiner Seite es versucht, sich das idealische Glück zu schaffen, von dem sie geträumt, und das auch der Graf, ihr Verlobter, ihr in so schimmernden Farben darzustellen gewußt, da hatte er gemeint, daß die immergleiche friedensvolle Liebe den Sinn ermatte. Er fühlte sich nicht mehr als derselbe, weil er der zornigen Aufwallungen, des bittern Schmerzes, der Eifersucht, der peinvollen Erwartung und Hoffnung entbehrte; der Morgen brachte ihm keine Besorgniß, der Abend kein unerwartetes Begegnen. Er war gewohnt, durch seinen Dienst Pflichten zu haben, die er erfüllen mußte, er war ebenso gewohnt, die Auszeichnung eines Vorgesetzten, die Gunst eines Fürsten zu genießen, welche Andern nicht in gleichem Maße zu Theil ward, und ihm fehlte die Genugthuung, welche ihm dies gewährte, ebenso, als die Mißgunst der Menschen, welche ihn in Paris um sein Glück beneidet hatten.

Es war vergebens gewesen, daß die Freifrau, daß Veronika ihn an den Segen der Freiheit und der Selbstherrlichkeit mahnten. Er hatte die rechte Empfindung nicht dafür. Er war zu lange in Diensten gewesen, um des Herrn entbehren zu können, und zu lange von der willkürlichen Laune einer Kokette beherrscht worden, um die ruhige Liebe eines edlen und ehrlichen Herzens gebührend zu würdigen und zu schätzen. Wer irgend eine Art von Sclaverei mit Befriedigung zu tragen vermochte, ist ein für allemal für die Freiheit verdorben und verloren.

Veronika vor allen Andern hatte sich über den Charakter ihres Gemahls getäuscht. Sie hatte geglaubt, der Graf sehne sich nach den Vergnügungen der großen Welt, als sie ihn in ihren Bergen immer trüber und abgespannter werden sah; indeß fehlte ihm nur der Stachel eines fremden Willens, der ihn in Bewegung setzte, und kaum in Paris angelangt, kaum in seine Dienstverhältnisse eingetreten und in die Nähe des Königs zurückgekehrt, der ihm von Jugend auf die Sonne seiner Tage gewesen war, hatte er die frühere Lebendigkeit wiedergefunden. Ja, er fühlte sich mehr als früher zum Genusse des Daseins geneigt.

Die Entfernung von Paris hatte bewirkt, daß ihm die Reize, welche diese Weltstadt darbot, neu erschienen und er sie neu genoß, obschon er weder die Gesellschaft, noch die Lebensweise wiedergefunden, die er früher dort gekannt. Die Zeit hatte sich geändert, Jeder hatte mit sich selbst zu thun, der Tag verschlang den Tag noch eiliger als je zuvor. Allerdings gab es noch Stunden, welche man von der Sorge frei zu halten wußte, gab es der Zuversichtigen noch genug, die, wie Graf Joseph, zweifellos überzeugt von dem Rechte und deshalb auch von dem Siege der absoluten Monarchie, sich nicht scheuten, den Becher der Freude unter dem grollenden Donner des nahenden Orkanes an ihre Lippen zu setzen, und man scherzte und lachte, man sang und schwärmte jetzt lauter als zuvor, um die drohenden Worte, um den Spott und den Hohn, um die Anzeichen des Sturmes zu übertäuben, die sich überall vernehmen ließen, wohin man sich auch flüchtete. Der Graf hatte vor seiner Verheirathung für einen schwärmerischen Idealisten gegolten, jetzt, nach derselben, schien es, als wolle er zum Lebemann werden, und Veronika vermochte es zu ihrem Kummer nicht, ihm auf dem Wege zu folgen, den er einschlug, vermochte die Welt um sie her nicht mit seinen Augen anzusehen.

Sie hatte es dem Grafen nachgefühlt, daß es ihm eine Pflicht sei, dem Könige, dem er und sein Vater Treue gelobt und lebenslang gedient hatten, in der Stunde des Kampfes und der Noth nicht zu fehlen, indeß sie hegte weder die Verehrung ihres Gatten vor dem Königthum, noch theilte sie seinen Glauben an den Sieg desselben. Die Vorstellung, daß der Graf einer mit Recht verlorenen Sache diene, lähmte ihren Sinn. Sie konnte sich weder an der hoffenden Begeisterung der Royalisten erwärmen, noch die wachsende Energie der Volkspartei verdammen. Der Parteistreit, welcher die Außenwelt durchwogte, drohte, sich auch innerhalb der gräflichen Ehe geltend zu machen, und bange Sorgen um die Zukunft, [131] zärtliche Angst um die Gefahr, welcher ihr Gatte sich fast alltäglich auszusetzen hatte, nahmen Veronika den heitern Gleichmuth und den Frohsinn, welche Graf Joseph an ihr geliebt hatte und auf die er bei seinem Weibe nicht verzichten wollte.

Sie waren noch nicht lange in Frankreichs Hauptstadt gewesen, als Veronika zu ahnen begann, was ihr hier persönlich drohe. Aus der Aufregung durch das öffentliche Leben, aus der Ueberreizung in einer Gesellschaft, die sich verwegen zur Sorglosigkeit und zum Genusse aufstachelte, kehrte der Graf zu einer Frau zurück, die sich nicht zur Freude zu zwingen vermochte, und dieser Abstand war ihm peinlich. Er beklagte es, daß Veronika nicht den Sinn der Jugend, nicht die heitere Leichtlebigkeit der beweglichen Französin besitze; er nöthigte sie, ihre Säle zu öffnen, Gesellschaft zu sehen, um, so viel es dem einzelnen Edelmann möglich war, die Sicherheit kund zu geben, von der die Aristokratie sich noch immer getragen fühlte; und bereitwillig, wenn auch schweren Herzens, hatte Veronika sich dem Willen ihres Gatten gefügt, als die dreiste Gesellschaft der Marquise jene Scene herbeiführte, welche der Gräfin den Rest ihrer Zuversicht und ihres Friedens rauben sollte.

Freilich hatte der erste Eindruck den Erwartungen der Marquise nicht völlig ensprochen, denn ihr Auftreten hatte den Grafen beleidigt, und er hatte noch Liebe genug für seine Gattin gehabt, um in ihrer Seele zu empfinden und Schonung für sie zu verlangen. Auch hatte er sie zu beruhigen gestrebt, er hatte Franziska’s rücksichtslose Selbstsucht, wie ihren Mangel an weiblicher Würde getadelt und sich freiwillig bereit erklärt, sie zu vermeiden; aber trotz seiner Einsicht und seiner Zugeständnisse regte sich eine Stimme in ihm, welche für Franziska sprach. Es hatte ihn ergriffen, wieder einmal die Sprache der Leidenschaft zu vernehmen, an die sie ihn gewöhnt, und alle die wechselnden Scenen des Vorwurfs, des Streites und der Versöhnung, welche er mit ihr durchlebt, waren ihm plötzlich in einer einzigen Empfindung gegenwärtig geworden und hatten ihn auf’s Neue an die Vergangenheit gekettet, von der er sich für immer losgerissen geglaubt hatte. Er bedauerte das Leiden Veronika’s, er hätte lebhaft gewünscht, daß es ihr erspart geblieben wäre; und doch that es ihm heimlich wohl, daß sie eine Vorstellung von jener feurigen Leidenschaft erhalten, welche ihr nach seiner Meinung fehlte, und welche die Marquise besitzen sollte.

Von jenem Tage an war Veronika’s Frieden für immer gestört. Mit dem klaren Auge der Unschuld durchschaute sie Franziska’s absichtliches Spiel, aber sie verstand es nicht, sich dagegen zu schützen, und hätte sie den Kampf mit ihrer Nebenbuhlerin aufnehmen mögen, ihr hätten die Waffen gefehlt, derselben zu begegnen.

Die Dienstverhältnisse des Grafen und der Marquise brachten es mit sich, daß sie einander am Hofe oft begegnen mußten; und daß Franziska es durchsetzen werde, den Grafen auch im Besondern zu sehen, davon hielt die Gräfin sich überzeugt. Indeß ihr Herz war jung und kräftig, sie mochte nicht verzagen, sie konnte nicht aufhören zu lieben und zu hoffen, und mitten in ihrem Kummer tröstete sie sich doch wieder mit dem Gedanken, daß ein Mann, der seinem Könige die Treue heilig bewahre, auch seinem Weibe nicht verloren gehen könne. Bald wollte sie dem Grafen ihre Besorgnisse mittheilen, bald schreckte sie davor als vor einer Beleidigung gegen ihn und gegen die Heiligkeit ihrer Ehe zurück. Sie wollte es nicht glauben, daß man sich von dem Unwürdigen anziehen und fesseln lassen könne, wenn man es einmal als ein solches erkannt, und der Graf selbst hatte ihr in den Tagen nach ihrer Verlobung ein Bild von dem Charakter der Marquise entworfen, das nur zu treu und richtig gewesen war.

Veronika beschloß also zu schweigen und abzuwarten; aber schweigen zu müssen, wo man sich gewöhnt hat, sich offenen Herzens hinzugeben, ist ein schwerer Zwang, der alle unsere Fähigkeiten lähmt. Eine stille Angst, eine dumpfe Unfreiheit lasteten auf der jungen Frau. Ihr mangelte nicht nur die freie Luft der Heimath und die freie Bewegung in der weiten Natur, ihr fehlte vor Allem die geistig reine Atmosphäre, in welcher sie bis zu ihrer Ankunft in Paris gelebt hatte, und der schöne Glanz ihrer Jugend begann davor zu schwinden.

Jahr und Tag waren so hingegangen. In Frankreich, in Paris tobte der Parteikampf, war die Revolution zu einer vollendeten Thatsache geworden. Der König war bereits völlig in der Gewalt des Volkes, das ihn hierhin und dorthin zu gehen nöthigte, obschon er sich noch anscheinend in Freiheit befand, und wie ein zum Tode Kranker sein Dasein peinvoll und doch noch auf die Zukunft hoffend von einem Tage zu dem andern hinschleppt, so wankte die Monarchie ihrem Untergange entgegen. An die Stelle hochfahrenden Uebermuthes war allmählich verzagter Trotz getreten.

Heute baute man auf Hülfe von auswärts und sah zuversichtlich über die Grenzen des Reichs hinaus, morgen dachte man daran, diese Grenzen zu erreichen, um sich der Volksherrschaft zu entziehen und das Königreich mit Schwertesgewalt neu zu erobern, und alle diese Entwürfe wurden immer wieder aufgegeben, weil der König und die Königin, bei der Ungleichheit ihrer Naturen, keinen einstimmigen Willen hatten und keine gemeinsamen Pläne fassen konnten, so lange dafür noch Zeit und Möglichkeit vorhanden war.

Eine endlose Reihe von Heimlichkeiten und Intriguen war die nächste Folge dieser innern Uneinigkeit des Herrscherpaares. Ueberall hatte man Kundschafter, überall suchte man Verbindungen anzuknüpfen, und die Getreuen des Hofes wurden in einer beständigen Bewegung erhalten, hatten viel mit einander zu verkehren, waren bald hier, bald dort, und immer aufregend beschäftigt. Bald galt es einen sicheren Boten für eine Nachricht ausfindig zu machen, welche man außer Landes gelangen zu lassen wünschte, bald handelte es sich darum, Menschen zu ermitteln, auf welche man bei gewissen Möglichkeiten rechnen könne; und da die Marquise in alle Absichten der Königin mit eingeweiht, da man mehr und mehr auf die Treue und Verlässigkeit der Schweizergarden angewiesen war, so brauchte Franziska gar nicht erst die Anlässe zu suchen, welche sie mit dem Grafen zusammen führten.

Die großen Cirkel am Hofe hatten schon lange aufgehört, Veronika hatte also nur selten zu erscheinen und sah daher die Marquise auch nur selten. Desto häufiger traf der Graf mit ihr zusammen, und er nannte es eine billige Rücksicht für Veronika, daß er von diesen Begegnungen nicht mit ihr sprach. So lange er dieses nur aus eigenem Antriebe that, war die Gefahr für seine Gattin noch nicht dringend. Indeß den nothwendigen Begegnungen mit der Marquise folgten die freiwilligen Zusammenkünfte in nicht zu langer Zeit, und diese natürlich mußten der Gräfin verschwiegen bleiben.

Der Graf hatte, als er Franziska nach jener Scene in seinem Hause zuerst wieder gesehen, ihr Vorwürfe gemacht, und sie hatte sich zu vertheidigen gewünscht. In den Sälen der Königin war das unmöglich gewesen. Sie hatte es gefordert, sich rechtfertigen zu dürfen, sie hatte verlangt, daß der Graf sie in ihrer Dienstwohnung besuche, und sie hatte jetzt keine andere mehr. Franziska war frei, war ganz allein, man konnte frei bei ihr sprechen, frei bei ihr mit den nächsten Vertrauten der Königin verkehren, frei einander bekennen, was Jeder hoffte, was er fürchtete, was ihn drückte. Sie meinte, auch den Grafen müsse es nach solchem freien Austausch der Seele verlangen. Er lehnte das nicht ab; das hieß mit andern Worten, er gab es zu, eine Vertraute zu brauchen, und Franziska war klug genug, für’s Erste die Rolle anzunehmen, welche die Gelegenheit ihr an die Hand gab.

Der Graf rühmte seine Gattin, und auch Franziska lobte sie, aber sie bedauerte, daß die junge Frau eben zu solchem Zeitpunkte nach Paris gekommen sei. Darin stimmte der Graf ihr bei, und er ging noch weiter. Er nannte es einen Mangel an Voraussicht, daß er ein Mädchen geheirathet habe, welches fern von der großen Welt, fern vom Hofe und nicht in den rechten Begriffen der Loyalität erzogen worden sei. Franziska gab ihm darin Recht.

Sie nannte es gefährlich für ihn und für die Gräfin, und sie legte es ihm jetzt als Pflicht auf, Veronika zu schonen, sie allmählich zur Erkenntniß kommen zu lassen, sie nicht gewaltsam überreden und überzeugen zu wollen. Er sollte sie gehen, sie gewähren, sie ihr stilles, unschuldiges Pflanzenleben führen lassen und sich daran erfreuen, daß ihm mitten in der unheilvollen Verwirrung, in welcher man sich befand, durch Veronika’s kindliche Unschuld eine Oase des Friedens eröffnet werde, in die er sich flüchten, in der er sich ausruhen und erhelen könne, wenn er entmuthigt und ermüdet sei.

„O!“ rief sie, „das Leben übt seine Vergeltung aus; ihr, der stillen Kindesseele, die Ruhe und der Frieden! mir die Sorge und der Kampf! Und für die Sorge und den Kampf will ich auch Ihnen bleiben, Joseph! –“

Sie reichte ihm die Hand, er nahm sie an, und ihre feine Hand wußte eisern festzuhalten, was sie ergriffen hatte; denn es [132] gab damals mehr Stunden der Sorge und des Kampfes, als Stunden der Ruhe und des Friedens, und die Marquise hatte für sich mit kluger Wahl den größten Theil von dem Leben des Grafen beansprucht, als sie ihm jenen Vorschlag gethan hatte.

Es fiel der Marquise nicht schwer, ihm zu beweisen, daß er eine Pflicht gegen Veronika erfülle, wenn er ihr selbst die Kenntniß der Unternehmungen fern hielt, in welche die Getreuen des Hofes oft mit eigener Gefahr verwickelt. waren; und wie sie den Grafen immer leidenschaftlicher für die Sache der Königin zu begeistern wußte, so gelang es ihr, ihn ebenso wieder an sich zu fesseln, deren Hingebung an ihre Gebieterin allein schon ein Grund für ihn sein mußte, sie noch höher zu schätzen, noch feuriger zu lieben, als je zuvor.

Jedweder, der noch ein Auge dafür hatte, konnte es sehen, wie neben der großen Schicksalstragödie, welche damals in Paris ihrem letzten Acte entgegenreifte, sich das Schicksal einer schuldlosen Frau immer düsterer gestaltete; Jeder mußte es bemerken, daß die Gräfin täglich mehr von ihrem Gatten verabsäumt und die Marquise wieder die Beherrscherin des Grafen wurde; nur er selber täuschte sich darüber. Das Gewebe von Arglist und Verführung, mit welchem Franziska ihn umgarnte, war so geschickt angelegt und so fein, daß der Graf noch an Veronika zu hängen glaubte, als er schon wieder gänzlich der Marquise zu eigen war, und daß er für die Ruhe und Sicherheit seiner Gattin zu sorgen wähnte, während er sie auf den Anrath ihrer Feindin zu einer halben Gefangenschaft in ihrem Hause verurtheilte.

Die Lage einer Frau, welche nicht mehr geliebt und um einer Andern willen verlassen wird, ist doppelt rathlos, wenn sie sich sagen muß, daß die äußern Anlässe der Art sind, ihren Mann in Anspruch zu nehmen und ihm den Verkehr mit ihrer Nebenbuhlerin nothwendig zu machen. Man bedarf eines sichern Bodens, um eine feste Stellung einnehmen zu können, man muß wissen, worauf man fußen, worauf man bauen und rechnen kann, um eine Richtschnur und einen Compaß für seine Handlungen zu haben. Wo aber sollte die Gräfin diese Hülfsmittel für sich finden? Ihr Gatte war mit sich selber in Zwiespalt gerathen, seit die Marquise wieder seine Vertraute geworden war. Was er erlebte und empfand, das vertraute er ihr, und sie wußte es ihm zu deuten. Was er für Veronika bestimmte, war Franziska’s Werk, was er an dieser hoch hielt, das tadelte er an jener. Er liebte den kühnen, unternehmenden Geist, den festen Muth, die Energie des Willens an Franziska; er hatte auch an Veronika einst ihr starkes tapferes Herz geschätzt. Jetzt aber bezeichnete er es als ein Heraustreten aus des Weibes Schranken, wenn Veronika es mit flehender Bitte von ihm begehrte, eingeweiht zu werden in seine Geheimnisse und Pläne, jetzt nannte er es ihr bevorzugtes Loos, daß ihr nichts obliege, als der hingebende Gehorsam an den Willen des Mannes, der ihr seinen Namen und dieses Namens Ehre zu hüten gegeben habe.

Er hieß es gut, wenn Franziska, wo es sich für eine Dame ihres Standes thun ließ, frei in der Oeffentlichkeit erschien, er begleitete sie, wo immer es geschehen konnte, aber jeder Versuch der Gräfin, es der Marquise nachzuthun, um auf diese Weise der Gesellschaft ihres Gatten theilhaftig zu werden, wurde von dem Grafen mit der Erklärung zurückgewiesen, daß er die Gräfin von Rottenbuel nicht der Gefahr preisgeben wolle, die Beleidigungen zu erfahren, mit denen die Weiber aus dem Volke die Damen der Aristokratie zu verfolgen begonnen hatten.

Es kamen Stunden, in welchen Veronika zu glauben wünschte, was der Graf ihr sagte. Sie wollte ihre Zweifel besiegen, sich ihre richtige Erkenntniß ableugnen, sich beruhigen und trösten. Aber wie sie sich auch das Herz stärkte, um sich aufzurichten und ihrem Gatten nicht durch ihre Entmuthigung lästig zu fallen, wie sie sich auch demüthigte, ihm zu zeigen, daß sie ertragen wolle, was er über sie verhänge, wenn er ihr nur die Hoffnung seiner rückkehrenden Liebe lassen wolle: er schien das Alles bald nicht mehr zu sehen, zu empfinden, und Veronika konnte es sich endlich nicht verhehlen, daß der Graf sie nie geliebt habe, daß seine Heirath mit ihr nur die Folge eines augenblicklichen Zornes gegen die Marquise, die Folge einer augenblicklichen Herzensleere gewesen sei.

Hätte Veronika sich zu beklagen vermocht, das heißt, hätte sie den Grafen weniger geliebt und wäre sie ein weniger stolzes Herz gewesen: so hätte sie der Marquise die Möglichkeit benommen, sie der Kälte und Gleichgültigkeit zu zeihen, und dem Grafen nicht die Freiheit gelassen, diesen Anschuldigungen Franziska’s Gehör zu schenken. Aber Veronika ertrug ihr Unglück ernst und still. Sie kämpfte mit aller ihrer Macht gegen ihre Einsicht an, sie wollte sich’s nicht eingestehen, sich’s nicht bekennen, daß sie einem Manne angehörte, den sie nicht achten konnte, und daß sie ihn liebte, obschon er diese Liebe weder begehrte noch verdiente.

[158] Nur ein Mann weilte in ihrer Nähe, der es sah und wußte, was in ihr und mit ihr vorging. Einer lebte in ihrer Nähe, der ihr Leiden wie einen eigenen brennenden Schmerz empfand, und der den Mann verachtete, welcher das Unglück Veronika’s geworden war. Ulrich’s Liebe wachte über ihr und wachte über sich selbst so streng, daß nicht sein Onkel, nicht der Späherblick Franziska’s, die den Schatten eines Verdachtes mit Freuden benutzt haben würde, dem Grafen einen Zweifel gegen die tadellose Reinheit seines Weibes einzuflößen, es ahnten, was in Ulrich’s Herzen vorging.

Mit der Sorge eines Bruders, mit dem Scharfsinn der Leidenschaft, die nur stärker und tiefer geworden war, je fester er sie in sich verschlossen, war er dem ränkevollen Treiben der Marquise seit der Ankunft seines Onkels in Paris gefolgt. Vorsichtig, wie es dem jüngern Manne gegen den ältern, dem Neffen gegen den Onkel zustand, hatte er denselben daran zu erinnern gewagt, wer und was Franziska sei, und welches Spiel sie mit ihm getrieben von Anfang an. Indeß der Graf hatte nicht darauf geachtet. Kleine, aber peinliche Erörterungen waren die Folge solcher Gespräche gewesen, und Ulrich hatte es nicht bis zu einem Aeußersten kommen lassen mögen, um nicht aus der Nähe Veronika’s verwiesen zu werden, und um ihr nicht zu fehlen, falls einmal die Stunde kommen sollte, in welcher sie seiner bedurfte.

Er war viel in dem Hause seines Onkels, denn er war unbeschäftigt in Paris, und er sah Veronika häufig allein, die er als seine Tante zu betrachten nicht erlernen konnte. Aber wie oft er auch ihre stillen Seufzer hörte, wie oft er sie einsam und in Thränen fand, und wie oft er Zeuge davon wurde, wenn sein Onkel an der Seite der Marquise auswärts und strahlend in Heiterkeit erschien, niemals ward ein Wort der Klage von Veronika gegen ihn geäußert, niemals hatte er sie gefragt: was fehlt Dir, Veronika? und wie könnte ich Dir helfen? – Die strenge Selbstbeherrschung, zu welcher die Freifrau und der Vater Veronika’s die Beiden gewöhnt, hielt sie in ihren Banden, und obschon wohl nie ein großer Kummer verschwiegener getragen wurde, als Veronika und Ulrich ihre Schmerzen trugen, so wußte doch Jeder von ihnen, was der Andere litt, und Jeder von ihnen hatte seinen Trost an der unausgesprochenen Theilnahme des Anderen.

Nur des Grafen Schicksal, nur das Allgemeine, so weit es ihn betreffen konnte, lag Veronika am Herzen, und Fragen um die Vorgänge in dem Lande, in der Stadt, in der Nationalversammlung [159] und in den Clubs waren es, welche Ulrich der Gräfin zu beantworten hatte, wenn er bei ihr erschien. Jeder Trommelschlag, jedes Freiheitslied, deren Klänge von der Straße in die Säle ihres Hauses drangen, machten sie erbeben, jedes Zeitungsblatt vermehrte ihre Angst, denn der Haß gegen die Leibwächter des Königs, gegen die Schweizer-Regimenter, war in den untern Classen fanatisch geworden, und Veronika begann zu fühlen, daß ihre Kräfte sie verließen.

Ein sehnsüchtiges Verlangen nach einem weiten Blick in’s Freie, nach Feldern, Wiesen, Wald und Bergen, die ersten Zeichen eines schmerzlichen Heimwehs fingen an sich ihrer zu bemächtigen, aber sie wollte dieselben nicht erkennen, und doch beengten die Mauern ihres Gartens, die Häuser der Stadt ihr mit jedem Tage mehr das Herz, doch wurde dieser Sommer ihr zu einer Qual, vor der sie sich nicht zu bergen wußte.

Eines Morgens befand sie sich in einem der Säle des Erdgeschosses, dessen bis zum Boden gehende Fenster sich nach dem Garten öffneten. Die Orangenbäume, die in doppelten Reihen auf der Terrasse aufgestellt waren, sendeten ihren Duft in das Zimmer, in dem vergoldeten Gitterwerk der Volieren unter den Buchsbaumhecken sangen die Vögel, aus der Muschel des Tritonen stieg vor dem Mittelfenster der Wasserstrahl in die Höhe und hob in regelmäßigem Wechsel die goldene Kugel bald hoch bis zu den Spitzen der regelrecht geschnittenen Buchsbaum-Obelisken empor, bald ließ er sie niederfallen bis hart an den Rand der Muschel; und wohin Veronika das Auge auch richtete, überall war es heute wie gestern, wie ehegestern, und wie es vor dem Jahre gewesen war.

Mitten in dem Saale stand ein Marmortisch. Veronika saß in einem Sessel zu seiner Rechten, der Graf saß an der andern Seite. Ein Diener hatte das Frühstückgeräth aus Sèvre-Porzellan aufgetragen und sich dann entfernt, denn man hatte von Rottenbuel her die Gewohnheit mitsammen zu frühstücken beibehalten, und es war das fast die einzige Stunde, in welcher Veronika den Grafen ohne Zeugen sah und sprach. Sie hatte ihm die Chocolade eingeschenkt, das Frühstück war beendet, und der Graf trat danach, in voller Uniform, zum Ausgehen angekleidet, an den vergoldeten Ständer des weißen Papageis, welcher gewohnt war, an jedem Morgen aus der Hand des Grafen sein Biscuit zu empfangen.

„Du könntest Pollo auf die Terrasse hinausbringen lassen,“ sagte der Graf, gleichmüthig mit dem Vogel tändelnd, „Pollo ist in dem warmen Wetter gern im Freien!“ – und als wolle er dem Vogel sein Behagen je eher je lieber bereiten, löste er das Schloß der Kette, mit welcher derselbe an seinem Ständer befestigt war, und trug ihn nach der Voliere hinaus, um ihn dort an einer ihrer hervorstehenden Verzierungen zu befestigen.

Es ist immer ein Tropfen, der den vollgefüllten Becher zum Ueberfließen bringt. Allen den Zuvorkommheiten, aller der Aufmerksamkeit und Willfährigkeit, welche der Graf der Marquise bezeigte, hatte Veronika mit äußerer Fassung gegenüber gestanden, seiner Fürsorge für Pollo vermochte sie nicht zu stehen.

„Für den Vogel sorgt er,“ sagte sie leise zu sich selbst, und in ihrem Herzen fügte sie hinzu: „und an mich denkt er nicht!“ – Die Thränen kamen ihr in die Augen, das Herz schwoll ihr empor und that ihr wehe, daß sie den tiefen Seufzer nicht unterdrücken konnte. Aber sie schämte sich ihrer Schwäche und wendete sich ab, dem Grafen ihre Thränen zu verbergen, als er, ihren Seufzer vernehmend, zu ihr zurücksah.

„Fehlt Dir Etwas?“ fragte er gelassen.

Veronika zwang sich zu lächeln. „Es geht mir wie Pollo!“ versetzte sie, „ich sehne mich in’s Freie!“

„Und weshalb fährst Du nicht aus?“ fragte der Graf weiter, in jenem Tone, mit welchem man eine oberflächliche Unterhaltung mit einem Fremden fortsetzt, „sind doch Leute und Pferde jetzt unbeschäftigt genug!“

„Du nanntest es bedenklich, Bester,“ erinnerte die Gräfin, „als ich neulich daran dachte, in das Gehölz zu fahren.“

„Die Wappen sind jetzt von den Wagenschlägen abgenommen, und ich habe unseren Leuten bis auf Weiteres die Livree untersagt!“ bemerkte der Graf mit Bitterkeit. „Es hat also keine Gefahr!“

„Und Du hast Nichts dagegen, wenn ich ausfahre? Ich möchte wohl einmal nach Saint-Denis, nach Montmorency!“

„Warum so weit? Warum nicht in das Gehölz?“

„Ach!“ rief die Gräfin, einmal ihrer selbst nicht mächtig, „wenn Du mich begleiten, mit mir kommen wolltest! Wenn wir nur einmal, nur einmal wieder, wie in den schönen Tagen, die nicht mehr sind, uns gemeinsam die Seele erfrischen könnten an dem vollen Sonnenschein, an der frischen Luft in Wald und Feld, wenn nur eine jener Stunden wiederkehren möchte, in welchen wir in die Heimath, auf unsern Schlössern des schönen Glaubens lebten –“

Der Graf ließ sie nicht zu Ende reden. Seine Miene war finster geworden, er ging nach der Seite des Zimmers, an welcher sich neben der Thüre der Drücker zur Klingel befand.

„Die Monarchie geht unter, wir stehen am Rande eines Abgrundes, und Du hegst die tändelnden Gedanken einer schwärmerischen Mädchenseele! Jeder Tag kann unser letzter werden, und Du magst daran denken, Dich zu vergnügen!“ sagte er unwillig, weil die Worte der Gräfin und der Ton, mit welchem sie gesprochen wurden, ihm unwillkürlich eigene Erinnerungen wach riefen, die er zu übertäuben gelernt hatte.

Er hatte den Klingelzug ergriffen; die Gräfin, welche aufgestanden und dem Grafen gefolgt war, hielt seine Hand zurück. Sie war blässer geworden, als sie es jetzt ohnehin schon war; aber ihre Augen erglänzten hell, obschon Thränen in ihnen schimmerten, und ihrem Gatten fest in das Antlitz schauend, sprach sie, weil sein Vorwurf ihr das Herz umwendete: „Ich mich vergnügen, Joseph? Woher sollte mir die Neigung dazu kommen? Es giebt kein Vergnügen, keine Freude für ein verlassenes Weib, für ein Weib, das sich sagen muß, es wurde nie geliebt, und alle seine Liebe, alle Gluth und Treue seines Herzens reichte eben nur hin, dem Manne, dem sie geweiht waren, für einen Augenblick die Untreue einer Anderen vergessen zu machen.“

Der Graf fuhr auf. „Was soll das, Veronika?“ rief er, „was sollen uns Erörterungen, die Keinem von uns fruchten? Wir haben uns getäuscht – Du sagst es – sei es drum! Aber können wir das ändern? Können wir Geschehenes ungeschehen machen? “

„Joseph!“ rief die Gräfin, die sich kaum aufrecht zu erhalten wußte, „Joseph! besinne Dich; mit diesen Worten trittst Du meine Vergangenheit mit Füßen, zerstörst Du und vernichtest Du mir die Zukunft! Nimm diese unglückseligen Worte zurück. Laß mir die Möglichkeit, die Möglichkeit wenigstens, mich zu täuschen, mich mit meinen Träumen und Hoffnungen zu täuschen. Es ist die erste Klage, die Du von meinem Munde hörst, es soll die letzte sein!“

Sie war außer sich, und sich ihm zu Füßen werfend, rief sie: „Täusche mich, um Gottes Barmherzigkeit willen täusche mich! Mach’ es mich glauben, o! mach’ es mich glauben, daß Du mich einst geliebt hast, daß Du mich einst noch wieder lieben wirst! Ich kann nicht leben ohne diesen Glauben!“

Der Graf hob sie empor, der Vorgang hatte ihn erschreckt, er ängstigte und quälte, er erschütterte ihn sogar, aber er rührte ihn nicht. Die Marquise hatte der Gräfin das Herz ihres Gatten vollständig abwendig gemacht.

„Veronika,“ sagte er, und an der Ruhe, mit welcher er zu ihr sprach, konnte sie die ganze Kluft ermessen, welche ihn von ihr trennte, „wir Menschen sind nicht Herren über unser Herz. Was ich in frühern Jahren an Franziska auch getadelt habe, ich habe sie geliebt seit meiner ersten Jugend. Als ich Dich sah, glaubte ich sie vergessen zu können. Du bist die einzige Frau, welche mir diese Zuversicht eingeflößt. Nicht Dein, nicht mein und nicht Franziska’s ist die Schuld, daß mich mein Herz betrog. Ich liebe Franziska, wie je zuvor, und ihre heroische Hingebung an die Sache, welcher ich diene, einer Sache, die Dir fremd ist, hat sie mir jetzt verehrungswürdig gemacht. Es ist nicht gut, daß es so ist, aber es waltet eben ein unglückliches Verhängniß über uns. Wer kann das ändern?“

Die Gräfin war starr vor Schrecken. Sie schwieg eine Weile, wie gelähmt vom Schmerz, dann schlug sie die Hände über ihrem Haupte zusammen, und mit einer Stimme, der man ihre ganze Verzweiflung anhörte, rief sie: „Wie bist Du Dir selbst entfremdet!“

Sie standen einander gegenüber, aber sie fanden die Worte nicht mehr, die von ihr zu ihm, von ihm zu ihr die Brücke bilden konnten. Das dauerte einen Augenblick, endlich nahm Veronika ihre letzte Kraft zusammen und sagte: „Du hast es ausgesprochen, und ich habe es längst geglaubt, daß jedweder Tag uns hier die [160] letzte Stunde bringen könne. Das eben trieb mich zu dem Verlangen, noch einmal zu Dir von Grund der Seele zu sprechen. Ich wollte Dich erinnern – ich wollte versuchen – –“ sie vollendete nicht. – „Umsonst! umsonst!“ rief sie, und ihr Gesicht in ihren Händen verbergend, verließ sie eiligen Schrittes das Gemach.

Der Graf stampfte unmerklich mit dem Fuße. Er hatte Veronika ungerührt gegenübergestanden, nun sie sich entfernt hatte, begriff er das Elend, das er über sie gebracht, und er beklagte sie, er fühlte sich schuldig. Aber er hatte zu lange aufgehört sie zu lieben, er hing zu fest an Franziska, um an eine Versöhnung, an eine innere Herstellung seiner Ehe zu glauben, und der Gedanke an die Trennung derselben, den Franziska ihm oftmals nahe gelegt, bot sich ihm jetzt zum ersten Male aus eigenem Antrieb dar, weil er durch die Scheidung sich und Veronika die Freiheit und mit dieser sich und ihr den Frieden wiedergeben zu können meinte.

Er wollte zu ihr gehen, in diesem Sinne mit ihr sprechen, als Ulrich ihm angemeldet wurde. Das änderte seinen Entschluß. Es schien ihm gerathen, erst den Eindruck ausklingen zu lassen, welchen die eben erlebte Unterredung auf Veronika gemacht haben mußte, und da die Vorstellung der Scheidung ihn nun plötzlich völlig hinnahm, wollte er lieber erst reiflich darüber nachsinnen, wie er sie seiner Gattin anbieten und annehmbar machen könne. Sein Sinn richtete sich damit thätig in die Zukunft, eröffnete sich einer Hoffnung, und es war ihm nicht anzumerken, was eben zwischen ihm und der Gräfin vorgegangen und womit er selbst beschäftigt war, als sein Neffe bei ihm eintrat und nach des Grafen und der Gräfin Ergehen fragte.

„Veronika bekommt das Heimweh!“ sagte der Graf, dem dieser Einfall wie eine Erleuchtung durch die Seele schoß, „und zwar, wie ich fürchte, das Heimweh im wahren Sinne des Wortes. Sie hatte heute ein Verlangen, die Stadt zu verlassen, in das Freie zu fahren, das wirklich etwas Krankhaftes an sich trug. Du könntest mir einen Dienst leisten, mein Freund, wenn Du sie begleiten wolltest.“

„Und Sie werden nicht von der Partie sein, Onkel?“ fragte der Freiherr.

„Mir fehlt die Ruhe dazu!“ entgegnete der Graf. „Wer hat jetzt auch Zeit, sich wie Veronika des jungen Grüns und der Sonnenstrahlen zu erfreuen!“ Er hatte das in einer Weise gesprochen, die er zu bereuen schien, denn er fügte hinzu: „Man könnte sie um eine Sorglosigkeit beneiden, welche in diesem Augenblicke an sich und an irgend eine Befriedigung für sich zu denken fähig ist.“

Aber die Begütigung, welche er zu machen beabsichtigt hatte, schloß eigentlich nur einen neuen Vorwurf in sich, und Ulrich wußte, was Veronika erduldete, und Ulrich liebte Veronika.

Heißer Zorn röthete seine Wangen, er hielt die Antwort, die sich ihm aufdrängte, jedoch zurück, und sagte ruhig, aber mit unverkennbarer Selbstbeherrschung: „Es ist nicht Sorglosigkeit, mein Onkel, was die Wangen Veronika’s gebleicht hat und ihr ein befreiendes Aufathmen in Gottes Natur zu einem Bedürfniß werden läßt!“

Der Graf war bei der Ankunft seines Neffen auf die Terrasse hinausgegangen, und sie schritten lustwandelnd neben einander her. Bei Ulrich’s Worten wendete er seine Augen nach ihm, aber es paßte ihm nicht, es zu verstehen, was die Mienen des jungen Mannes deutlich aussprachen. „Gewiß nicht!“ entgegnete er deshalb, „aber das Heimweh überwältigt sie, wie es mir scheint.“

Weil er die Wahrheit verbergen wollte, gewann sein Ausdruck etwas Leichtfertiges, das den Freiherrn empörte. Er konnte es nicht ertragen zu schweigen oder sich das Ansehen zu geben, als glaube er dem Wort des Grafen. Und auffahrend in seinem Zorne sagte er: „Es wäre sehr erklärlich, daß die Aermste sich vom Heimweh ergriffen fühlte, da sie hier keine Heimath gefunden hat!“

Der Graf hielt in seinem Gange inne. Fest und stolz, wie er sich in solchen Augenblicken gab, trat er vor seinen Neffen hin und sagte: „Männer hinterhalten nicht, wenn sie Etwas widereinander haben. Was hast Du mir zu sagen, Ulrich! Sprich es aus!“

Der Graf mußte sehr aufgeregt sein, um so gewaltsam einer Erklärung entgegen zu gehen, das stand für Ulrich fest, aber er war selbst zu erregt, um den Anlaß, der sich ihm darbot, nicht zu benutzen; und eben so entschieden, wie die Frage an ihn gerichtet war, antwortete er: „Sie haben der Marquise von Vieillemarin das Leben eines Mannes geopfert, und ich war Zeuge davon. Lassen Sie mich nicht Zeuge davon werden, Onkel, daß Sie der Marquise auch die edelste der Frauen opfern!“

„Ulrich!“ rief der Graf im Jähzorn auflodernd, „Du vergissest, zu wem Du sprichst!“

„O, daß ich es vergessen könnte!“ rief der Freiherr. „Daß ich es vergessen könnte, wie Sie sie mir geraubt, und wie ich geschwiegen, in dem Glauben, dem bessern Manne zu weichen. Daß ich sie vergessen könnte, die brennende Eifersucht, mit welcher ich Veronika zuerst an Ihrer Seite wiedersah! Ich floh meine Tante, die ich liebte, ich floh meinen Onkel, den ich verehrte, weil das Herz meiner Mutter an dem Bruder hing; ich verließ Alles, ich opferte Alles, die Nähe der Mutter, die Heimath, das Vaterland. Ich verbannte mich, ich begehrte Nichts, Nichts als ihr Glück. Kein Gedanke, der sie begehrte, sollte in ihrer Nähe sich regen! Ich hätte damit sie zu entweihen, ihr Glück zu entheiligen gefürchtet, das ich so wohl geborgen wähnte an der Seite ihres Gatten. Da kamen Sie nach Paris.“ – –

Ulrich verstummte, auch der Graf war stumm. Der Freiherr warf sich auf einen der Gartensessel nieder und stützte den Kopf in seine Hände, der Graf stand wie angewurzelt an dem Flecke und starrte den Boden an, als habe sich vor ihm die entsetzliche Tiefe eines grausen Abgrundes eröffnete. Endlich raffte er sich empor, ging eine Strecke mehrmals langsam auf und nieder und blieb vor Ulrich stehen, ihn gedankenvoll betrachtend. Dann, als dieser sich mit plötzlichem Entschlusse aufrichtete, sagte der Graf: „Was wir einander noch zu sagen haben, Ulrich, wird kurz sein, und wir werden uns für immer trennen. Uns als Feinde zu begegnen, hindert uns die Liebe für Deine Mutter, die zwischen uns steht; uns jetzt zu verständigen, hindert uns Veronika, die ebenfalls zwischen uns steht. So laß uns denn scheiden, und –“

„Und Veronika?“ rief Ulrich bleich und regungslos.

Der Graf war ebenso blaß geworden. „Vertraue sie mir!“ sprach er mit einer Erschütterung, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. „Vertraue sie mir! jetzt kannst Du sie mir anvertrauen.“

Er reichte seinem Neffen die Hand, Ulrich konnte sich nicht überwinden, sie anzunehmen.

„Ich will versuchen, Ihnen zu vertrauen!“ sagte er gepreßt.

Dann entfernte er sich, und der Graf blieb allein zurück, sich selbst und seinen Gedanken und Vorsätzen überlassen.

[173] Die Flucht des Königs, die unheilvolle Rückkehr desselben und die Ereignisse, welche sich daran knüpften, hatten dem Grafen den Anlaß geboten, einen Plan auszuführen, dessen Gelingen ihm jetzt, nachdem er die Leidenschaft Ulrich’s für Veronika kennen lernen hatte, einen Ausweg aus der innern Bedrängniß zu zeigen schien, welche mehr und mehr auf ihn einzustürmen begann, denn keine seiner Empfindungen war eine reine und ungebrochene.

Bei aller seiner Leidenschaft für die Marquise, bei der willenlosen Hingebung, mit welcher er ihr Veronika geopfert hatte, und trotz des Zutrauens, welches ihre zur Schau getragene Begeisterung für die königliche Sache ihm einflößte, fehlte ihm jener rechte persönliche Glaube an Franziska, der sein Glück und seinen Frieden in den Händen eines geliebten Weibes wohl aufgehoben weiß. Es kamen doch immer wieder Stunden, in welchen er nicht vergessen konnte, was einst geschehen war, und in welchen er die ganze Stärke seiner Leidenschaft für sie heraufbeschwören mußte, um die Zweifel zu übertäuben, die sich in ihm gegen sie erhoben und ihn dann an sich selbst und an der Berechtigung seines ganzen Thuns irre werden ließen. Er machte sich dann das Unglück Veronika’s zum Vorwurf, er hätte sie lieben, Franziska vergessen mögen, und fand Beides unmöglich. Er konnte sich keine Zukunft für sich ohne Franziska vorstellen, und hatte nicht Härte genug, gleichgültig an das künftige Loos seiner Gattin zu denken, obschon er sich nicht scheute, sie unglücklich zu machen, da sie noch in seinem Hause und in seiner Nähe lebte.

Unentschlossene Menschen halten sich für frei und selbstständig, eben weil sie unentschlossen sind und sich also beständig in der Lage befinden, ihren Entschluß noch fassen zu können; und sie meinen eine Wahl aus innerer Ueberzeugung getroffen zu haben, wenn ein von außen kommender Anlaß sie zum Handeln antreibt. In solcher Lage war es, daß Graf Joseph seiner Schwester schrieb, auf dem Rottenbuel die Zimmer Veronika’s zu ihrem Empfange herrichten zu lassen. Die Zustände in Paris boten einem besorgten Manne Anlaß genug, an die Entfernung seiner Frau zu denken, und der Graf traute es sich zu, von Veronika, die wirklich leidend war, die Einwilligung zu einem Wechsel ihres Aufenthaltes zu erlangen. War sie erst fern von Paris, dann hoffte er Alles sowohl von ihrer Güte, als von ihrem Stolze. Er wußte, daß sie ihn liebte und ihn glücklich zu sehen wünschte, er kannte sie auch darauf, daß es ihr nicht möglich wäre, seine Gattin zu bleiben, wenn [174] er nur einmal das Verlangen ausgesprochen, seine Ehe getrennt zu sehen, und er, aus dessen Herzen Veronika’s starke und ausdauernde Liebe die Marquise nicht hatte verdrängen können, überließ sich der Zuversicht, daß Ulrich’s Liebe Veronika’s Herz gewinnen und daß sie dahin kommen werde, in einer Ehe mit Ulrich das Glück zu finden, das er selbst ihr nicht hatte bereiten können.

Regte sich dann jenes Gefühl der Eifersucht in ihm, mit dem er die Frau, welche er zu lieben geglaubt und die er als sein Weib besessen hatte, sich nicht als die Gattin eines Andern denken konnte, so kämpfte er es nieder, oder bezeichnete sich seine Eifersucht als die Strafe und Buße, welche er zur Sühne für den Irrthum seines Herzens und zur Herstellung und Aufbauung eines allseitigen Friedens und Glückes freiwillig über sich nehmen müsse. Er hatte den vollen Leichtsinn eines durch sein günstiges Loos verwöhnten und darum zu beständigem Selbstbetrug geneigten Menschen.

Sein Schreiben, das bei der damaligen Lage der Dinge nur durch die Vermittelung vertrauter Personen über die Grenze zu bringen war, erreichte die Freifrau erst, als der Sommer sich schon zu seinem Ende neigte, und hätte Veronika daran gedacht, sich der Anordnung ihres Gatten zu fügen, so hätte sie sich bereits auf dem Rottenbuel befinden müssen, ehe des Grafen Brief seiner Schwester zu Händen kam. Indeß wie sehr der Graf auch in Veronika drang, Paris für den Augenblick zu verlassen, in dem einen Pnnkte fand er sie unnachgiebig, da er aus Scheu vor den Erörterungen und Erschütterungen, welche einer solchen Erklärung nothwendig folgen mußten, ihr nicht von seinem Verlangen nach einer Trennung seiner Ehe zu sprechen wagte.

Veronika’s Leben wurde von diesem Zeitpunkte ab also nur noch trauriger. Ulrich, dessen treue Liebe ihr stets ein Trost gewesen, ließ sich nicht mehr sehen, und ihm zu schreiben mußte sie sich versagen. Die Freunde und Gesinnungsgenossen des Grafen, von denen Veronika einst mit so auszeichnender Zuvorkommenheit empfangen worden war, hatten die Theilnahme für sie verloren, weil der Graf selbst sie vernachlässigte und weil man ihr, Dank den Andeutungen der Marquise, zu mißtrauen angefangen hatte. Man wußte, daß der Freiherr von Thuris, ihr Freund und Jugendgenosse, unter den Mitgliedern der National-Versammlung Bekannte und Freunde zählte, und blind wie der Parteihaß es in Zeiten gewisser Krisen immer ist, kostete es Franziska wenig Mühe, das plötzliche Ausbleiben des Freiherrn aus dem gräflichen Hause mit der politischen Unzuverlässigkeit Veronika’s in Verbindung zu bringen, gegen welche ihr Gatte es endlich nöthig gefunden habe, sich zu schützen.

Niemand sprach davon mit dem Grafen. Eine Treulosigkeit seines Weibes wäre in den Augen der Gesellschaft, zu welcher er gehörte, für ihn keine solche Schmach gewesen, als ihre mangelnde Hingebung an die gute Sache und an das königliche Haus, und da man, sonst an Huldigungen und Ehrenauszeichnungen aller Art gewöhnt, jetzt der Beleidigungen und Demüthigungen genug zu tragen hatte, machte man sich ein Vergnügen daraus, diejenige, bei welcher man eine abweichende Gesinnung voraussetzte, die Kränkungen entgelten zu lassen, die man von dem Volke hinnehmen mußte.

So kam es, daß die Gräfin, von den Freunden ihres Mannes nicht gesucht und sie ebenfalls nicht suchend, weil sie mehr oder weniger Freunde und Anhänger der Marquise waren, sich mitten in Paris in einer Einsamkeit befand, die herabdrückend war, weil ihr die Ruhe und der Friede freiwilligen Alleinseins fehlten. Und als endlich die wachsende Gefahr für die Sicherheit der königlichen Familie dem Grafen die Pflicht auferlegte, seine Dienstwohnung in der Kaserne seines Regimentes zu beziehen, um in jedem Augenblicke auf seinem Posten zu sein, herrschte in dem schönen Hotel, in welchem Veronika traurig und verlassen weilte, eine Stille, als befände sie sich in einem Kloster.

Was von außen durch die Zeitungen und durch die Berichte ihrer Leute zu ihr drang, trug dazu bei, ihr die Verlassenheit noch schwerer zu machen, und die Besuche, welche der Graf ihr abstattete, ließen sie nur zu deutlich empfinden, daß er keine Gemeinschaft mehr mit ihr habe, daß ihr kein anderer Antheil mehr an ihm geblieben, als die Angst und die Sorge, mit welcher sie ihn im Geiste begleitete, wenn er von ihr entfernt war. Selbst die Hoffnung auf irgend einen Zufall, welcher eine Aenderung in dem Sinne ihres Gatten erzeugen oder ihr die Gelegenheit geben würde, seine Neigung wieder zu gewinnen, fing an ihr zu entschwinden.

Tag auf Tag, Monat auf Monat waren so dahingeschlichen, der Herbst, der Winter waren vergangen, der Frühling zurückgekehrt und von dem Sommer verdrängt worden, und Veronika hatte die lange Zeit nach Stunden abgezählt und in Gram durchmessen. Aber auch der Frau von Thuris war es in ihrem Schlosse nicht besser ergangen. Sie war stets die Vertraute ihres Sohnes gewesen, seit er selbst sein Herz erkannt hatte, und sie wußte Alles, was in Paris zwischen ihrem Bruder und ihrem Sohne vorgefallen war. Ulrich’s Briefe, der Herzenskummer, welchen sie aus jedem derselben herauslas, auch wenn er sich nicht beklagte und nicht von sich sprach, die Schilderungen, die er ihr von Veronika’s leidendem Zustande machte, und ihres Bruders wiederholtes Verlangen, daß sie die Gräfin bestimmen möge, nach der Schweiz zurückzukehren, ließen der Freifrau endlich keine Ruhe mehr in ihrem Schlosse. Abwarten, Zusehen, Geschehenlassen war nicht in ihrer Art, und sie hatte sich schon seit Jahren den Zwang der schweigenden Zurückhaltung auferlegt. Das war ihr um so schwerer gefallen, als ihre ehrliche und strenge Gewissenhaftigkeit es ihr beständig vorgehalten, daß sie es gewesen sei, welche die Heirath ihres Bruders mit Veronika geplant, daß sie es gewesen, welche die Beiden für einander einzunehmen und zu gewinnen gestrebt, und daß ihr Verlangen, den Stamm der Grafen von Rottenbuel nicht erlöschen zu sehen, mitbestimmend auf den Entschluß ihres Bruders eingewirkt, der, als er von Frankreich gekommen war, im Gefühl seiner Abhängigkeit von Franziska, nur wenig an eine Heirath gedacht hatte.

Wo sie gefehlt, Unheil gestiftet zu haben glaubte, wollte sie auch, so viel an ihr war, herstellen und tragen helfen; vor allen Dingen aber wollte sie bei den Ihren sein, wollte mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören, den Sohn, die Pflegetochter, den Bruder womöglich aus einem Banne erlösen, dessen unselige Folgen vielleicht durch ein zu rechter Zeit gesprochenes Wort noch zu beschwören waren, und wenn Gefahr ihnen drohte, wollte sie sie theilen, statt sie aus quälender Ferne mit verdoppelter Herzensangst für Alles, was sie Geliebtes auf Erden besaß, an jedem Tage zu befürchten.




Die Freifrau hatte sich in der letzten Hälfte des Juli auf den Weg gemacht, aber es war damals nicht leicht, vom Auslande her die französische Grenze zu passiren, und schwerer noch, nach Paris zu gelangen, wenn man einen aristokratischen Namen trug. Conradine hatte sich also entschlossen, in ihrem Passe auf denselben zu verzichten. Ihr Kammerdiener, der artig in Holz zu schneiden verstand, hatte den Paß für sich und eine kranke Schwester ausstellen lassen, welche in Paris einen Arzt berathen sollte, während er die Holzwaaren, die man aufgekauft hatte, an den Mann zu bringen suchte.

Auf weiten Umwegen, nach beschwerlicher Reise langte die Freifrau auf diese Weise in ihrem bescheidenen, mit Kisten bepackten Wagen, den stolzen Kopf in der weißen Dormense der Bürgerfrau verhüllt, vor den Thoren von Paris an, das sie seit einer langen Reihe von Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Es war der achte August des Jahres siebzehnhundert zweiundneunzig. Die Sonne war schon untergegangen, aber es war noch nicht Nacht. Der Tag war heiß gewesen, es regte sich kein Windhauch; ein schwerer Dunst erfüllte die ganze Luft und hüllte die Stadt in ein dumpfes, fahles Grau ein.

Auf dem Wachtposten am Thore ging es unruhig her. Männer in Trachten, die einen militärischen Anstrich halten und doch nicht irgend einer Uniform des französischen Heeres angehörten, saßen zwischen den Soldaten, welche den Posten besetzt hielten. Es war ein Trupp von den siebenhundert Föderirten, die einige Tage vorher von Marseille nach der Hauptstadt gekommen waren, und das Erste, was die Freifrau in Paris vernahm, war ein freches Spottlied auf die Königin.

Je weiter sie in die Stadt hineinfuhr, um so mehr fiel ihr die Veränderung auf, welche sich in derselben vollzogen hatte. Sie kannte die Straßen, es waren die alten Wege und die alten Häuser, aber ihre Bevölkerung schien nicht mehr dieselbe zu sein. Nationalgarden mit der blau und rothen Kokarde von Paris, pikenbewaffnete Männer und dazwischen die kleinen, braunen, stets lärmenden südfranzösischen Föderirten, Weiber und Männer aus dem Volke, welche sonst am Wochentage ihre Werkstätte in den entlegenen Vorstädten nichr zu verlassen pflegten, trieben sich in müßiger Unruhe auf den Boulevards umher und waren, als die Freifrau [175] den Platz Ludwig’s des Fünfzehnten passirte, um sich nach der im Faubourg St. Germain belegenen Wohnung ihres Sohnes zu begeben, auf dem Platze in großer Anzahl und in aufgeregter Stimmung versammelt.

An einer Stelle, an welcher ihr Wagen halten mußte, weil man in dem Gewühle sein Herankommen nicht beachtet hatte, bog Conradine sich heraus, um zu erfahren, was sich da begeben.

„Was geht hier vor?“ fragte sie den Nächststehenden, einen Mann in guter bürgerlicher Kleidung. Er sah sie verwundert an. „Woher kommen Sie, Madame,“ entgegnete er, „daß Sie nicht wissen, was heute geschehen ist? Sie haben Lafayette, den Verräther, freigesprochen, und es ist Zeit, daß man solchen Freisprechungen ein Ende macht!“

Ulrich war nicht zu Hause, als seine Mutter bei ihm anlangte. Er hatte den Brief nicht erhalten, in welchem sie ihm ihre Absicht, nach Paris zu kommen, mitgetheilt, es war also keine Vorkehrung irgend einer Art für sie getroffen worden. Nur der alte Diener, welcher Ulrich begleitet hatte, seit er zuerst auf Reisen gegangen, empfing seine Herrin; aber er wußte weder zu sagen, wohin sich Ulrich begeben, noch wann er wiederkehren würde. Auf Conradinens Frage, ob der Junker wohl sei, antwortete der Diener bejahend, indeß er fügte achselzuckend hinzu: „So wohl, als Einer es hier bleiben kann, wo Alles drunter und drüber geht. Unser Junker ist auch nicht mehr derselbe. Er hat keine Ruhe mehr. Bald ist er hier, bald dort. In der letzten Woche ist er ein paar Mal mitten in der Nacht noch aufgestanden und fortgegangen, wenn es unruhig in den Straßen war. Heute ist der Junker seit dem frühen Morgen nicht nach Hause gekommen und, gnädige Frau verzeihen, daß ich dies sage, zu ihren gräflichen Gnaden dem Herrn Onkel und der Frau Tante ist er seit Jahr und Tag nicht mehr gegangen! Die gnädige Frau werden auch finden, daß unser Junker nicht mehr seine rothen Backen und seine hellen Augen hat, wie sonst!“

Erst nach Mitternacht kehrte Ulrich heim, und seine Mutter mußte sich überzeugen, daß der alte Diener wahr gesprochen. Ulrich war sehr verändert. Seine Gestalt war noch fester und männlicher, aber sein Antlitz war schwermüthig geworden, seine Wangen waren bleich und in seinen Augen leuchtete eine dunkle Gluth, die sich hier und da unter den schmerzlich und müde herabsinkenden Lidern verbarg. Es war unverkennbar, daß er viel gelitten, und daß ihm neben der Ruhe der Seele auch körperlich die nöthige Ruhe gefehlt hatte.

Sie hatten viel mit einander zu sprechen, die Mutter und der Sohn, und der Morgen dämmerte herauf, als die Freifrau sich ermüdet für eine Stunde auf des Sohnes Lager legte, der in einem Sessel an ihrer Seite ruhte. Er nannte es den ersten erquickenden Schlaf, den er seit lange genossen hatte, als er, von der Helle des Tages erweckt, mit erleichtertem Herzen in das ernste, klare Auge seiner Mutter schaute.

Als Couradine am Arme ihres Sohnes die Straße betrat, um sich zu Fuß nach dem Hotel ihres Bruders zu begeben, fanden sie es auf ihrem Wege ruhig. Die Stadt war stiller als seit langer Zeit. Wie ein Löwe, ehe er sich zu gewaltigem Sprunge entschließt, einen Schritt zurückweicht und, Kraft zum Ansatz sammelnd, schweigend daliegt, so ruhte die Volksmasse von Paris am Morgen des neunten August.

Man wußte, was in der gesetzgebenden Versammlung vorging, man kannte den Bericht im Voraus, welchen der Maire von Paris an dem Tage verlesen lassen würde, denn die Insurrection, vor der er warnen zu wollen schien, war bereits eine beschlossene Sache. Die Minister verlangten in der Versammlung den Schutz derselben für den König, und in dem Club der Cordeliers, in welchem die Marseiller Conföderirten sich befanden, beschuldigte Danton Ludwig den Sechszehnten, daß er eben an diesem Tag und in dieser Nacht die Hauptstadt mit Feuer und Schwert zum Gehorsam und in seine Gewalt zu bringen beabsichtige. Er erinnerte daran, daß die fremden Alliirten in ihren Manifesten geschworen, in Paris keinen Stein auf dem andern zu lassen; und der Vorsatz des Volkes, keinen Stein des Tuilerien-Schlosses auf dem andern zu lassen, war die Folge jener Rede. Jedermann wußte es, Jeder mußte sich es sagen, man stand vor einer schweren Entscheidung, vor dem Beginn des furchtbaren letzten Kampfes, es handelte sich um Erhaltung oder Untergang der Monarchie. Und neben diesem die Welt bewegenden Vorgänge, um welche Gefahr und welche Verluste hatte der Einzelne sich zu sorgen!

Als die Freifrau in dem Hotel des Grafen erschien, fand sie Veronika nicht zu Hause. Ihre Unruhe hatte sie angetrieben, nach dem Schlosse zu fahren, wo die Schweizergarde ihren Dienst that. Die Oberofficiere kamen schon seit Tagen kaum zur Ruhe, denn man hatte eine Abtheilung der Schweizer in die Normandie geschickt und sie nicht zurückberufen, weil die gesetzgebende Versammlung überhaupt die Entfernung der Schweizer gefordert hatte. Es waren ihrer also kaum noch tausend in Paris, der Haß der ganzen Bevölkerung war gegen sie gerichtet, und der Graf war bereits seit mehreren Tagen nicht in seinem Hause gewesen. Die wiederholten Aufläufe hatten ihn in den Tuilerien festgehalten. Jede Stunde konnte einen Kampf bringen, konnte unter den obwaltenden Verhältnissen die letzte für ihn werden, und Veronika’s ganze Seele war darauf gestellt, ihn zu sehen, ihn zu sprechen. Indeß die Posten im äußeren Umkreis des Schlosses waren nicht von den Schweizern, sondern von den Nationalgarden besetzt, und nach allen ihren vergeblichen Versuchen, Einlaß in das Schloß zu erhalten, kehrte die Gräfin, ohne ihren Zweck erreicht zu haben, in ihr Hotel zurück.

Bleich, erschöpft, im Innersten verzagt, so trat sie in ihr Zimmer und mit einem Aufschrei, der das ganze Elend ihres Herzens offenbarte, sank sie, als sie die Freifrau so unerwartet vor sich sah, der Freundin, der Schwester ihres Gatten in die Arme.

Daß Ulrich, der sie so lange gemieden, jetzt wieder in ihr Haus gekommen war, schien ihr nicht aufzufallen. Sie hatte nur einen Gedanken, die Gefahr, welche dem Grafen drohte, nur ein Verlangen – Kunde zu erhalten von dem, was in der Stadt geschah, was für ihn zu fürchten war.

Ulrich ging und kam. Er vergaß sich selbst, vergaß die zornige Abneigung, welche er gegen den Grafen hegte, es war kein Tag, an welchem ein Mann wie er an sich selber denken konnte. Spät am Abende klopfte es an das äußere Thor des Hotels. Veronika sprang empor, es war der Graf, sie kannte seine Art und Weise. Das Aussprechen ihres lang verhaltenen Grames, die vertrauten Unterredungen mit der Freifrau hatten das Herz der Gräfin aufgeregt, die Erinnerung an die Lage des Glückes, welche sie als Braut und als Neuvermählte unter Conradinens Augen verlebt, hatte ihr wieder auf’s Neue das volle Bewußtsein ihrer großen Liebe für den Grafen gegeben, und als ob Nichts sie getrennt hätte alle diese Jahre her, so eilte sie ihm entgegen.

„O, Gott Lob, daß Du da bist, daß Du lebst!“ rief sie aus, da er in die Halle eintrat, und warf sich ihm an die Brust.

Der Graf schloß sie in seine Arme, das war lange nicht geschehen. „Armes Weib!“ sagte er, „Du freust Dich, daß ich lebe, und ich habe Dir doch keine Freuden gebracht!“

Er war erhitzt von raschem Gange, und eine tiefe Schwermuth umhüllte sein Gesicht; aber Veronika bemerkte das kaum. Der Ton der Güte, welcher von seinen Lippen erklang, die Worte, welche er zu ihr sprach, nahmen ihren ganzen Sinn gefangen, und die Hoffnung, daß jener Augenblick der Herzenswandlung gekommen sei, auf den sie sich in den Zeiten ihres bittersten Schmerzes doch noch oft vertröstet hatte, der Gedanke, daß die Stunde der Gefahr ihn in sein Inneres habe blicken lassen, und daß er erkannt habe, was er an der Liebe seiner Gattin besitze, schwellte ihre Seele mit Freude und Zuversicht.

„Komm! komm!“ rief sie, indem sie ihn mit zärtlicher Hast nach dem Saale leitete, in welchem die Freifrau und deren Sohn sich aufhielten, „komm und sieh es selber, wie in guter Stunde uns alles Gute wiederkehrt.“

Die Thüren waren offen geblieben, als Veronika dem Grafen entgegengeeilt war, und mit den nächsten Schritten vorwärts sah der Graf seine Schwester und seinen Neffen vor sich. Seine Wange erbleichte, als er sie gewahrte, er war seiner eigenen Empfindungen nicht sicher, in so raschem Wechsel lösten sie einander ab; indeß er faßte sich gewaltsam, und Beiden, der Freifrau und Ulrich, die Hände reichend, sprach er: „Ihr seid, wie Freunde in der Noth, zu rechter Zeit, gekommen!“

[183] Die Feierlichkeit des Grafen erschütterte die Seinen; aber die Freifrau wollte das bange Ahnen, das sich ihrer plötzlich bemächtigte, nicht in sich aufkommen lassen, und in den Ton gewöhnlicher Bewegung einlenkend, sprach sie: „Und Du wunderst Dich nicht, mich hier zu finden, Du fragst nicht, was mich hieher geführt?“

Aber es gelang ihr nicht, die Stimmung ihres Bruders umzuwandeln. „Was Dich auch hergebracht hat,“ sagte er mit demselben ruhigen Ernste, „ich danke es Dir, daß Du hier bist, daß Ihr Beide hier seid! Ihr nehmt eine schwere Sorge von mir und befreit mir das Herz!“

Er hatte dabei stets die Hand Veronika’s, die bleich und angstvoll zu ihm emporschaute, in der seinen behalten. Jetzt rief sie, sich mit ihrer Stirne an seine Schulter lehnend: „O, sprich nicht so! sprich nicht also, Joseph! Du redest wie Einer, der – –“ Sie schauderte zusammen, ihre Lippen sträubten sich es auszusprecheu, was sie dachte.

Der Graf drückte ihr die Hand und leitete sie zu einem Sessel. „Erinnerst Du Dich,“ sagte er zu Ulrich, „wie ich Dich einst tadelte, als Du an jenem Morgen, welcher dem Chevalier von Lagnac das Leben kostete, mich an meine Pflichten gegen meine Ueberlebenden erinnertest? Heute habe ich selbst daran gedacht.“

„Mein Bruder,“ sagte Conradine, und auch von ihrem Antlitz war die Farbe entwichen, „ist denn der Gang so ernst, den Du zu gehen hast? Ist die Gefahr so groß, die Dich bedroht?“

Der Graf antwortete nicht gleich, er mochte überlegen, ob es gerathen sei, den Seinen die ganze Wahrheit mitzutheilen, aber die dringende Bitte der Frauen bestimmte seinen Entschluß.

„Ja!“ sagte er, „uns steht morgen ein ernster, ein schwerer Tag bevor, und doppelt schwer, weil das weiche Herz des edelsten der Könige zurückschrickt vor der Nothwendigkeit, die Macht, welche noch in seinen Händen ist, gegen die verruchte Rotte der Empörer zu gebrauchen.“ – Er hielt inne, zog ein Pack Papiere aus seinem Busen und reichte sie Ulrich hin. „Die Zeit drängt, ich muß in einer halben Stunde auf meinem Posten sein!“ sprach er.

„Was mir, was Jedem von uns in dieser Nacht oder an dem morgenden Tage begegnen mag, kann man nicht wissen. Für alle Fälle –“

Veronika ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sie war außer sich vor Aufregung, und sich ihm zu Füßen werfend, rief sie mit flehender Bitte: „Joseph! gehe nicht fort, geh’ jetzt nicht fort von mir, da ich endlich, endlich wieder den wahren, den alten Ton Deiner Stimme vernehme!“

Sie konnte vor Schmerz nicht weiter reden, er hob sie sanft empor. „Weine nicht, Veronika!“ sagte er mit trübem Lächeln, [184] „ich habe Deine Thränen nicht verdient, und es handelt sich heut’ um Größeres, als um unser Leben und um unsern eigenen Schmerz.“

Mit einer Ruhe, wie er sie lange nicht mehr besessen hatte, sprach er von der Stimmung des Volkes, von der Lage, in welcher der König und mit ihm die Monarchie sich befanden, von den Mitteln der Vertheidigung, welche man besaß, und von der festen Entschlossenheit der Schweizergarden, bei dem Könige auszuharren bis auf den letzten Mann. Die Seinen waren ernst und ergriffen wie er. Die Größe und Bedeutung des Augenblickes hob Jeden über sich selbst empor.

Noch während er sprach, hörte man Trommelwirbel aus der Ferne. Der Graf richtete sich horchend empor; Veronika erbebte, als sie sah, wie er seine Augen nach dem Tische richtete, auf den er Hut und Degen hingelegt. „Ich muß fort!“ sagte er. Veronika trat noch einmal an ihn heran. Mit heißer Bitte beschwor sie ihn, ihr Nachricht von sich zu senden, und er sagte ihr dies zu.

Dann wendete er sich zu Ulrich. „Das Packet, das ich Dir gegeben habe, enthält mein Testament. Falls mir ein Menschliches begegnen sollte, sorge für seine Ausführung und sorge für Veronika!“ – Er nahm ihre Hand, legte sie in Ulrich’s Rechte und wiederholte: „Dir vertraue ich ihre Zukunft an, mache sie glücklicher als ich!“

„Aber woher diese ungewöhnliche Sorge, mein Onkel?“ rief Ulrich sich ermannend, weil er einen Anhalt suchen mußte gegen die widersprechenden Gefühle, die in ihm auf- und niederwogten.

„Woher diese ungewöhnliche Traurigkeit, meine Mutter? Muth, Veronika! Muth, meine Mutter! laßt Euch nicht niederwerfen. Ist’s doch des Onkels Pflicht, vorsorglich alle Möglichkeiten zu erwägen – auch jene Möglichkeit, die hoffentlich nicht eintrifft! Ihr hört’s ja! der Onkel sagt’s Euch, daß seine Truppen, daß die Nationalgarden vom besten Sinne beseelt sind, daß die Anhänger des Königs, Jünglinge, Männer und Greise der alten Adelsgeschlechter sich um den König schaaren, daß im Volke vielfache Meinungsverschiedenheit die Kraft zersplittert. Muth, Veronika! er wird wiederkehren – wer weiß, ob es zu neuem Kampfe kommt!“

Veronika versuchte sich zu beherrschen. Sie hörte den Worten Ulrich’s mit jener Inbrunst zu, die nichts Besseres verlangt, als glauben zu können; auch die Freifrau war ihrer Bewegung Meister geworden. Der Graf stand an dem Seitentische und steckte seinen Degen an, während seine Schwester leise zu ihm sprach.

Inzwischen war es dunkel geworden, die Diener brachten die Lichter in das Zimmer und setzten einen Imbiß auf den Tisch. Veronika forderte den Grafen auf, Etwas zu genießen, er willfahrte ihr. Sie selbst schenkte ihm den Wein ein, Ulrich füllte die andern Gläser, reichte sie der Mutter und Veronika hin, und sein Glas erhebend und es gegen das des Grafen anklingend, sagte er: „Auf viel frohe Mahle in unsern Bergen!“

Der Graf wollte auf den Ton eingehen, den sein Neffe angab. Er stieß mit ihm an und nöthigte die Frauen das Gleiche zu thun. In demselben Momente ertönte der Wirbel der Lärmtrommel lauter und näher als vorher, das erste Sturmläuten von der Isle de Saint Louis schallte in das Faubourg Saint Germain herüber, und sei es, daß der Schrecken Veronika’s Hand zu einem zu heftigen Stoße bewegte, aber der Ton klang schrill, als sie mit dem Grafen anstieß, und sein Glas zerbrach in seiner Hand.

Er setzte es achtlos nieder, es war seines Bleibens nicht mehr. Er umarmte Veronika, umarmte seine Schwester und eilte fort. Ulrich begleitete ihn.

Veronika sank auf ihre Kniee nieder, und während draußen die Kanonen auf dem Straßenpflaster rasselnd vorüber zu fahren begannen, hob ihre Seele sich in heißem Gebet zu Gott empor, Schutz hernieder flehend auf den Mann, dessen ganzes Verschulden gegen sie für ihr Herz getilgt war durch die eben erlebte Stunde.


Der folgende Morgen brachte eines der großen Ereignisse in dem Fortschritt der Revolution. Es war der 10. August, der Tag, an welchem das Volk die Tuilerien belagerte und stürmte, der Tag, an welchem der König sich mit seiner Familie in den Schutz der gesetzgebenden Versammlung begab.

Der leidenschaftlichste Bürgerkrieg war mit Tagesanbruch innerhalb der Hauptstadt entbrannt, rund um die Tuilerien und bald auch in ihnen wüthete der Kampf. Die Schweizer fochten wie die Löwen. Ein Theil von ihnen war dem Könige nach der gesetzgebenden Versammlung gefolgt, die Uebrigen und Graf Joseph an ihrer Spitze waren im Schlosse zurück geblieben, den Angreifern die Stirne zu bieten.

Im Hotel des Grafen hatte man die Nacht in banger Angst hinschwinden sehen und Noth gehabt, die Gräfin im Hause fest zu halten. Endlich, als der Tag schon hell am Himmel stand, hatte sie sich bewegen lassen, eine Stunde der Ruhe zu pflegen. Wider alles Erwarten schien sie fest eingeschlafen zu sein, denn sie blieb lange aus. Man ging nach ihr zu sehen und fand ihr Zimmer leer. Es war kein Zweifel, wohin sie sich gewendet hatte, und Ulrich folgte ihr nach.

Durch die Schaaren der Kämpfenden, zwischen den Kanonen, die, in den Höfen aufgepflanzt, ihr Feuer einzustellen begannen, seit der König das Schloß verlassen, bahnte der Freiherr sich seinen Weg. Es brannte an verschiedenen Stellen im Schlosse, die Verwirrung war grenzenlos. Hier versuchte man es, dem Feuer Einhalt zu thun, dort versuchte man Feuer anzulegen, hier zogen die Nationalgarden, die dem Könige treu geblieben waren, von den Tuilerien ab, da sie die Weisung bekommen, den Kampf gegen das Volk nicht fortzuführen, dort stürmten die Bataillone der Nationalgarde, welche mit den Föderirten und den Pikenmännern gemeinsame Sache gemacht hatten, auf die Abziehenden ein. Hier trug man einen der greisen Royalisten, die sich zur Vertheidigung des Königs um denselben gesammelt hatten, schwer verwundet auf Seitenwegen davon, um ihn der Wuth des Volkes zu entziehen; dort eilten Hofchargen und Adjutanten des Königs, von Steinwürfen verfolgt, von Kugeln bedroht, in das Schloß, um Nachrichten einzuziehen und einander widersprechende Befehle zu überbringen; und mitten in dem unheilvollsten Kampfe, mitten im wüthenden Handgemenge der streitenden Parteien suchten die Augen, suchte das angstvoll schlagende Herz des Freiherrn ein junges, edles Weib, das Weib, das er liebte von seiner Kindheit an, deren Schicksal ihr Gatte, sein nächster Blutsverwandter, in seine Hand gelegt.

Er hatte die Treppe glücklich erreicht, welche nach dem von Ludwig dem Sechszehnten bewohnten Theil des Schlosses führte. Durch den Qualm, der aus dem brennenden Seitenflügel durch alle Räume drang, in seinem Fortschreiten aufgehalten, gelangte er nur auf weiten Umwegen und vielfach irrend an die Stelle, an welcher, wie er erfahren, die Schweizer gefochten. Todte, Verwundete und Sterbende zeigten ihm die Richtung an, welche er einzuschlagen hatte. Oben an: Eingang des Saales, auf den die große Treppe mündet, lagen sie dicht über einander, hingemäht wie die hohen Garben eines reichen Feldes, die Vertheidiger des Königs und des Thrones.

Seitwärts, nur wenig Schritte von dem Leichenhügel der Tapfern, die den Aufgang zur Treppe vertheidigt, saß ein Weib. Ihr Haar hing aufgelöst an ihrem Haupte nieder, ihr Antlitz war blaß wie die Wangen des Mannes, dessen Haupt in ihrem Schooße ruhte. So starr, so schmerzvoll, so vernichtet sah sie aus, daß Niemand es gewagt hatte, sie anzutasten, daß auch der Rohesten keiner sich unterfangen, sich an dem Verwundeten zu versündigen, über welchem so verzweiflungsvolle Liebe Wache hielt.

„Veronika!“ rief Ulrich, da er sie erblickte, Veronika, so finde ich Dich!“

„Komm! komm! er lebt! noch lebt er!“ rief sie ihm entgegen, „hilf mir! noch ist’s Zeit!“

Der Graf schlug matt die Augen auf. „Es ist vorbei!“ sagte er leise. „Führe sie fort! fort von hier!“

„Nein! nein!“ versetzte Ulrich, indem er den Verwundeten mit dem Shawl verhüllte, den er von den Schultern der Gräfin riß, um der Menge den Anblick der Schweizer Uniform zu entziehen; und als wolle das Schicksal ihm beistehen, so fanden sich ein paar Männer, die mitleidig mit dem Elend und dem Jammer der schönen jungen Frau freiwillig Hand anlegten, den Verwundeten aus dem Schlosse zu entfernen.

Es war ein langer, heißer, schwerer Weg. Auf dem Sitze eines zertrümmerten Prachtsopha’s, den man als Bahre benutzte, hatte man den Grafen gebettet, und Hülfe erkaufend, wo sie zu finden war, gelangte man mit dem sterbenden Grafen, denn sterbend war er, über die Seine und in sein Hotel.

Die Freifrau empfing ihn in dem Saale, in welchem sie ihn gestern wiedergesehen. Er war bei voller Geisteskraft und äußerst ruhig. Als er die Schwester sah, wendete er das Haupt nach ihr und reichte ihr die Hand.

[185] „Es ahnte mir gestern,“ sagte er, „daß es mit uns zu Ende ginge,“ und mit jenem melancholischen Lächeln, das ihm von jeher eigen gewesen war, sagte er: „Einer muß der Letzte sein!“

„Du nicht! Du nicht!“ rief Veronika, die an seinem Lager kniete, „Du wirst leben, Joseph, der Arzt –“

„Kann mir nicht helfen!“ sagte der Graf, und dann seine Hand auf ihr Haupt legend, fügte er hinzu: „Du hast Dein Wort gehalten! Bis in den Tod getreu!“

Er seufzte, ein leiser Schauer flog über sein Antlitz und durch seine Glieder, seine Lippen bewegten sich noch, aber was er sagte, verstanden die Seinen nicht mehr. – War es der Name der Frau, welcher sein Leben angehört, war es der Name des Königs, für den er gestorben, oder noch ein reuevolles Wort des Dankes für die Unglückliche, deren Liebe er gekränkt und verschmäht – wer will das sagen?

Stumm standen die Ueberlebenden an seiner Leiche, sein Tod schloß die lange Reihe seiner Ahnen, die Devise der Grafen von Rottenbuel erfüllte sich an ihm, und mit düsterm, thränenlosem Blicke auf ihn niederschauend, während sie ihm die Augenlider schloß, wiederholte die Freifrau seine Worte: „Einer muß der Letzte sein!“

Dann aber schlug sie die Hände in gewaltigem Wehkrampfhaft zusammen, und ihr festes Herz erzitterte in der Klage um den einzigen Bruder und um den Untergang ihres alten stolzen Stammes und Geschlechts!




Ich hatte es mit Jungfer Ursula verabredet, daß ich ihr die Erzählung zu lesen geben würde, welche ich nach ihren schriftlichen und mündlichen Mittheilungen zusammen zu stellen unternahm.

Als ich meine Arbeit beendet hatte, brachte ich sie ihr. Sie behielt sie ein paar Tage, und als sie mir dieselbe dann zurückgab, fragte ich sie, ob sie zufrieden sei, und ob sie glaube, daß ich den innern Zusammenhang der Personen und Ereignisse, soweit derselbe aus den vorhandenen Papieren nicht zu ersehen war, richtig ergänzt hätte.

„Ja!“ sagte sie, „so wird’s gewesen sein, und ich habe es mir selbst oft so gedacht; nur wie es nachher geworden ist, das haben Sie nicht berichtet.“

Ich erinnerte sie, daß sie selbst mir die Erzählung von dem späteren Schicksal ihrer Eltern noch schuldig geblieben sei, und da wir eben an dem Abende allein beisammen waren, holte sie nach, was ich noch zu wissen nöthig hatte. Weil sie aber bei ihrer Erzählung die handelnden Personen immer als ihre Großmutter und ihren Vater und ihre Mutter bezeichnete, welche Bezeichnung den Leser nur verwirren kann, so will ich auch den Schluß der Geschichte, wenn schon möglichst mit den Worten der Jungfer Ursula, so doch mit den Eigennamen der betreffenden Personen zu Ende führen.

Der Zustand von Paris und die völlig untergrabene Gesundheit der Gräfin bestimmten die Freifrau und Ulrich, auf eine schleunige Abreise zu dringen, die jedoch nicht leicht in’s Werk zu setzen war, denn Veronika bestand darauf, nicht ohne die Leiche ihres Gatten in die Heimath zurück zu kehren. Als dann die Bekanntschaften des Freiherrn ihm endlich die Erlaubniß und die Papiere verschafften, welche in dem revolutionirten Lande, mitten durch ein von Mißtrauen und Verdacht aufgeregtes Volk, den Transport eines verschlossenen Sarges möglich machten, trat man die traurige Reise an, die nur langsam von Statten ging.

Es war schon Herbst, als die Gräfin auf dem einsamen und hochgelegenen Rottenbuel eintraf, dennoch verweigerte sie es, mit der Freifrau nach Thuris zu gehen oder das im Prätigau gelegene Schloß Calanz zu beziehen, welches Graf Joseph in seinem Testamente, da es nicht zu dem Majorate gehörte, sondern Privatbesitz war, seiner Witwe als persönliches Eigenthum verschrieben hatte.

Was man auch thun mochte, Veronika zu überreden und zu überzeugen, daß sie es nöthig habe, unter Menschen zu sein, daß sie den Ihren den Trost bereiten möge, sie pflegen und warten, zu dürfen, sie wies es mit fester und ruhiger Entschiedenheit zurück.

„Ich muß Zeit haben, das, was ich erlebte, zu begreifen!“ gab sie stets zur Antwort, und es war unverkennbar, daß irgend ein Eindruck, über welchen sie nicht sprach, ihr die Erinnerung an den Tod und an die Todesstunde des Grafen noch furchtbarer machte. Aber sie verschwieg ihn fest, und erst als sie schon eine Greisin war, ließ eine ihrer Aeußerungen es Ursula errathen, daß sie noch in den letzten Augenblicken des Grafen eine Begegnung mit der Marquise gehabt hatte, die ihr das Herz vollends zerrissen; was jedoch geschehen war, das hat sie Niemandem anvertraut.

Der Graf hatte in seinem letzten Willen die Hoffnung ausgesprochen, daß es der Liebe seines Neffen, der er, ohne es zu wissen, störend in den Weg getreten sei, einst gelingen werde, Veronika’s Herz zu rühren und ihr Ersatz zu bieten für das Unglück ihrer ersten Ehe. Aber die Gräfin gehörte nicht zu der Zahl der Frauen, die sich leicht zu trösten und es zu vergessen vermögen, daß sie ihres Herzens Liebe begraben und daß ihnen damit die Hälfte ihres eigenen Seins genommen ist. Ihr Schmerz war ihrem Cultus, dem ausschließlich zu leben ihr Bedürfniß war, und erst nach vielen Jahren gewann sie die Seelenfreiheit, welche es ihr möglich machte, der Bewerbung Ulrich’s Gehör zu schenken, seine Treue als einen Segen anzuerkennen und seine Frau zu werden.

Die Ehe war würdig und schön, wie man es von dem Charakter der beiden durch ihr Leben geprüften Menschen erwarten konnte. Veronika hatte die Leiche des Grafen in Calanz begraben lassen und sich so sehr an diesen Aufenthalt gewöhnt, daß der Freiherr nach seiner Verheirathung darein willigte, dort seinen eigentlichen Wohnsitz aufzuschlagen.

„Wir führten ein Leben,“ erzählte Jungfer Ursula, „von dem eben nicht viel zu sagen war. Wir hatten Wohlstand, Friede im Hause, Verwandte und Freunde im Lande und in der Nachbarschaft, und ich wüßte mich aus meiner Kindheit keiner besonderen Ereignisse zu erinnern, denn selbst die Kriegsjahre gingen an uns gnädig genug vorüber, und was ich davon weiß, habe ich nur von Hörensagen behalten, wie mir scheint.

Im Jahre 1814 aber, als ich schon ein erwachsenes Mädchen und die Mutter eine Frau von nahezu fünfzig Jahren war, saßen wir einmal spät Abends unten im Saale Alle beisammen, die Eltern, der Bruder und ich. Es war Ende April, aber das Frühjahr kam spät und war sehr kalt, und hier oben bei uns in den Bergen lag noch Schnee. Wir hatten einen starken Föhn, die Wetterfahnen auf den Thürmen pfiffen gellend auf ihren Angeln, und der Wind schüttelte die Bäume so heftig, daß die Aeste knarrten. Aus den Rinnen floß das thauende Wasser plätschernd herab, und von allen Bergen rieselte es nieder, daß das Wasser überall stark geworden war und man es rauschend dahinströmen hörte. Die Wege waren grundlos, denn der Schnee war noch nicht ganz fortgeschmolzen, und von Besuch und von Fremdenverkehr war also nicht die Rede. Jedermann war froh, wenn er zu Hause bleiben konnte, und die Mutter sprach das eben aus, als die Hunde anschlugen und es an der Pforte klingelte.

Gleich darauf kam der Diener herein und meldete, daß der Wirth aus dem Kruge da sei und den Vater sprechen wolle. Damals war Bünden schon eidgenössisch geworden,“ schaltete Veronika ein, „und der Wirth war also so gut wie wir, oder kam sich doch wenigstens so vor. Der Vater sagte ihm daher, daß er sich setzen solle, er schien’s aber sehr eilig zu haben, denn er, der sich das sonst von unser Einem nicht zweimal anbieten ließ, blieb stehen und sagte, er bäte um Entschuldigung, aber es sei ihm eine Frau, eine kranke Frau in’s Haus gekommen, die er nicht recht verstehen könne, da sie französisch rede, und was er verstehe, das sei so verwirrtes Zeug, daß er meine, sie rede irre. Sie sehe nicht besonders aus, habe auch nur armseliges Gepäck bei sich. Aber so lange sie auf den Beinen gewesen, habe sie sich großes Ansehen gegeben, und nun sie darnieder liege, halte sie immer ein Bild in den Händen, das sie am Halse hängen habe. Er wisse nicht, was er aus ihr und mit ihr machen solle, und er bitte deshalb, ob nicht der Vater einmal herunterkommen wolle, um zu sehen, was es mit der Person auf sich habe, und ob man den Doctor kommen lassen müsse oder nicht.

Wo es einem Leidenden beizuspringen galt, da durfte man bei dem Vater nicht erst zweimal anfragen, und die Mutter war da noch viel schneller bei der Hand. Die Eltern hießen den Diener sogleich eine Laterne besorgen, die Mutter nahm ihren Capuzenmantel um, und so gingen sie mit dem Wirthe auf dem nächsten Wege nach dem Krug. Dabei erfuhren sie auf meines Vaters Frage, wo denn die Kranke hergekommen sei, daß des Wirthes Sohn sie mitgebracht habe. Er hatte deutsche Herrschaften über den Splügen nach Italien gefahren, und im Gasthof zu Chiavenna, wo er die Nacht mit seinem Gefährt gerastet, war die Fremde zu ihm gekommen und hatte mit ihm darüber verhandelt, daß er sie [186] für einen billigen Retourpreis nach der Schweiz mitnehmen möge, von wo sie nach Frankreich in ihr Vaterland zurückkehren wolle. Der Wirth in Chiavenna hatte ihm zugeredet, sie nicht abzuweisen, denn er hatte sie wahrscheinlich los zu sein gewünscht, und am ersten Tage der Reise hatte sie ihrem jungen Fuhrmann zu verstehen gegeben, daß sie eine vornehme Dame sei, die durch die Revolution aus Frankreich vertrieben worden, und daß sie jetzt, da der rechtmäßige König wieder von seinem Lande Besitz genommen habe, nach Paris zurückkehre, wo es ihr an Ehre und Reichthum garnicht fehlen könne.

Der Wirth schalt, als er das erzählt hatte, auf seinen Sohn und nannte ihn einen einfältigen Tropf, daß er sich solche Dinge aufbinden lasse, da man doch in der Schweiz seit den Zeiten der französischen Emigration der Leute genug im Lande gehabt habe, welche goldene Berge versprochen und nicht einen gebogenen Heller in der Tasche gehabt hätten. Und die Kranke bei mir im Hause, sagte er, sieht gerade so aus, als gehörte sie auch zu den Emigranten.

Sie waren während des Sprechens nach dem Wirthshaus gekommen, der Wirth ging den Eltern voran, den Flur entlang, an der Küche vorüber in das Nebenhaus. Da machte er die Thüre auf, und in dem großen Bette am oberen Ende der Stube sahen die Eltern beim Schein einer kleinen Oellampe die Fremde, die mit geschlossenen Augen dalag. Weil es aber dunkel in der Stube war, so daß man das Gesicht der Kranken nicht deutlich erkennen konnte, hieß die Mutter ein Licht herbeibringen, und nachdem sie es so hingesetzt hatte, daß sein Schein der Leidenden nicht beschwerlich fiel, schlug sie den Bettvorhang vollends zurück und trat an das Lager heran.

Davon ermunterte sich die Fremde, die wie im Halbschlaf gelegen hatte, schlug die Augen auf und richtete sich jäh auf ihrem Lager in die Höhe; und in der Bewegung, in dem Blick war Etwas, das meine Mutter bis in’s Herz traf. Eine Erinnerung, eine Vermuthung stiegen in ihr auf, die sie einsetzten, sie winkte dem Vater, und eben als der herankam, sagte die Kranke, als bemerke sie die Ueberraschung meiner Eltern: „Ah! Sie wundern sich! Sie glauben nicht, daß ich’s bin, weil Sie mich hier finden! Aber nur Geduld! nur Geduld! noch wenig Tage und –“ – sie lachte, sah mit irrem Blick umher, und sprach dann schnell und leise, als flüstre sie mit einer neben ihr stehenden Person, sodaß es unmöglich war, ihre Rede zu deuten.

Indeß es bedurfte dessen nicht. Das Auge meiner Mutter hatte sie nicht betrogen: die kranke, im Fieber glühende Frau, die verfallene Gestalt, um deren eingesunkene Wangen das bereits ergraute Haar verwirrt umherhing, war die stolze, die einst so strahlende Marquise von Vieillemarin, war die Frau, welche meiner Mutter die Tage ihrer Jugend so schmerzensreich gemacht hatte.

Wie vor einem Gottesgerichte standen die Eltern einen Augenblick sprachlos vor dem Krankenbette; dann aber thaten sie, was Menschenpflicht gebot. Man sendete nach dem Arzte, die Mutter wollte wissen, ob die Marquise in’s Schloß zu uns zu bringen sei, und als der Arzt dies bewilligte, wurde gleich am andern Morgen ihre Uebersiedlung bewerkstelligt. Die Mutter selbst übernahm ihre Pflege, aber sie hatte das schwere Amt, das ihr die alten traurigen Erinnerungen weckte, nicht allzulange zu üben. Noth und Entbehrungen, Verzweiflung und zügellose Hoffnungen hatten an der Unglücklichen ihr Werk gethan, und eine Gehirnentzündung zehrte den Rest ihrer Kräfte in wenig Tagen auf.

Sie hatte keinen hellen Augenblick. Bald schien sie sich in der Nähe der Königin Maria Antoinette zu glauben, bald mußte sie meinen, unter armen Leuten zu sein, deren Hülfe sie in Anspruch nahm. Dazwischen tauchten Bilder aus den Tagen der Schreckenszeit vor ihr auf. Sie sprach vom Temple, von der Guillotine, sie nahm Abschied, und dann wieder drückte sie das Bildniß, das sie an ihrem Halse trug, an ihre Lippen und betheuerte, daß sie in ihrer Treue nie gewankt, daß sie nie ein anderes Bild im Herzen getragen habe, und daß es nun an der Zeit sei, ihre Liebe und Treue zu belohnen. Sie ließ Alles mit sich geschehen, nur als meine Mutter einmal den Versuch machte, das Bild in die Hand zu nehmen, um zu sehen, wen es darstelle, schrie die Marquise auf, bedeckte das Portrait mit beiden Händen, und in dem Augenblicke erkannte sie auch das Antlitz meiner Mutter, denn sie faßte nach ihr, sah ihr starr in die Augen und sagte: „Was wollen Sie hier, Gräfin? Sie gehören nicht hierher, nicht hierher!

Sie waren nicht treu, schöne Gräfin!“ – Darauf lachte sie wieder, wie das oft geschah, und dann rief sie: „Er war treu! mir! mir! – Ich will’s ihm auch vergelten, der Prinz soll’s ihm vergelten, wenn ich nur erst dort bin!“

Die Mutter hat mir einmal diesen letzten Abend der Marquise geschildert. Es war, als müßte sie mit einem Menschen davon sprechen, um die Erinnerung los zu werden. – In der Nacht, welche diesem Abend folgte, ist die Marquise hier drüben, in dem blauen Zimmer verschieden. Niemand als die Mutter ist bei ihrem Tode zugegen gewesen, und wie ich die Mutter kenne, hat sie überhaupt Niemand bei der Kranken lassen mögen, damit kein Anderer es hören sollte, wenn die Marquise etwa von dem Grafen Joseph gesprochen hätte.

Als die Marquise dann gestorben war, sah man, daß das Medaillon an ihrem Halse das Bildniß und eine Locke des Grafen von Artois enthielt. Es mußte einmal eine kostbare Fassung gehabt haben, aber die Steine waren ausgebrochen. Die Noth hatte die Marquise sicherlich gezwungen, sich ihrer zu entäußern. Ich kann Ihnen das Portrait einmal zeigen, wenn Sie es sehen wollen; mein Bruder hat es als ein Andenken, als ein Curiosum aufbewahrt.“

„Und Sie wissen nicht,“ fragte ich, „welches das Schicksal der Marquise in den Jahren von siebzehnhundert zweiundneunzig bis achtzehnhundert vierzehn gewesen ist?“

„Nein,“ versetzte Ursula, „aber wir können es doch annähernd vermuthen. In dem kleinen Koffer, den sie bei sich führte, fanden sich einige Briefe des Grafen von Artois, die in kühlem Ton abschlägige Antworten auf Bittgesuche enthielten und auf bessere Zeiten vertrösteten. Einer war nach Florenz, ein paar nach Neapel und einige andere nach Wien adressirt. Die Marquise wird also wohl an verschiedenen Höfen, an denen sie bourbonistische Sympathien voraussetzen konnte, ihr Heil versucht haben, und ist, wie so viele Andere, endlich nahe am Ziele, im Augenblick der Restauration, die ihr vielleicht auch Hülfe gebracht haben würde, dem Elend erlegen.“

Jungfer Ursula brach hier ab. „Wollen Sie morgen einmal mit mir nach dem Kirchhof gehen,“ sagte sie, „so will ich Ihnen zeigen, wo meine Eltern und wo Graf Joseph begraben sind. Seitwärts, aber noch in unserm Erbbegräbniß, ist das Grab der Marquise.“

„Und die Freifrau?“ fragte ich.

„O!“ versetzte Jungfer Ursula, und ihr ganzes liebes Gesicht hellte sich auf. „Die Großmutter ist auch über das achtzigste Jahr hinaus gekommen, wie die Mutter, und ich kann wohl sagen, sie und meine Eltern sind Alle jung geblieben bis auf ihre letzten Stunden. Ich glaube, es war das gute Gewissen, das ihnen den frohen Muth gegeben hat, nachdem die Jahre des Grams für meine arme Mutter überstanden waren. Es ist dann auch, wie ich Ihnen neulich sagte, darauf gehalten worden, daß Keiner von der Familie mehr im Ausland gedient hat. Sein eigner Herr sein, pflegte der Vater zu sagen, heißt erst ein Mensch sein! und,“ fügte sie hinzu, „ich möchte eigentlich auch nicht einmal eines Menschen wirklicher Herr sein! Es ist freilich wahr, der Adel hat hier aufgehört, zu bestehen, hat hier seine Rechte verloren, aber wenn sie mich in der Familie bisweilen auch darum verlachen, mir, ist wohler seitdem. Ich gönne Jedem das Seine und mag lieber zufriedene Menschen und gute Freunde, als Unzufriedene und Neider um mich haben.“

Sie sprach das, als habe sie diese Empfindung in gewissem Sinne zu entschuldigen, und sie wußte nicht, die gute Seele, wie hell ihr altes schönes Angesicht in seiner herzlichen Menschenliebe mir dabei in die Seele leuchtete.

Nicht das Bild des Grafen von Artois, das man mir zeigte, habe ich zu besitzen gewünscht, aber Jungfer Ursula’s Bild wollte ich gern haben, und ihr Bruder brachte sie auch dazu, es für mich malen zu lassen. Es ist mir, wie die ganze Erinnerung an sie, das Beste und Liebste, was ich von meiner Schweizerreise heimgebracht.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sich sich
  2. Vorlage: veramme
  3. Vorlage: Gnudenz
  4. Vorlage: hatten