Der Weg des Liederlichen. Achtes Blatt

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Der Weg des Liederlichen. Siebentes Blatt W. Hogarth’s Zeichnungen, nach den Originalen in Stahl gestochen/Erste Abtheilung (1840) von Georg Christoph Lichtenberg, Franz Kottenkamp
Der Weg des Liederlichen. Achtes Blatt
Fleiß und Faulheit. Erstes Blatt
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Der


Weg des Liederlichen.


Achtes Blatt.
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DER WEG DES LIEDERLICHEN.
THE RAKE’S PROGRESS.
VIII.

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Der Weg des Liederlichen.


(The Rake’s Progress.)




Achtes Blatt.


Hier wird unser Held, nach allen den mannigfaltigen Leiden bei Pontacs, White’s zu Marybone (!) und im Fleet, endlich zur Ruhe gebracht. Die Handlung ist eine sepultura inter vivos, eigentlich eine Beisetzung unter den bürgerlich Todten; er wird hier in Bedlam, dem Londonschen Tollhause, an Ketten gelegt. Ohne Zweifel hat der letzte schwere Angriff auf sein Gewissen von der Tisch- und Bett-Seite zugleich, hauptsächlich den großen Fall bewirkt. Der Leib hätte wohl noch ausgehalten, aber der Geist, der nie sein stärkster Theil war, erlag endlich. – Es wurde oben (S. 391) vermuthet, daß sich Rakewell vielleicht außerhalb England setzen würde. Dieses ist nun sein Etablissement. – Also doch im Lande? Ich wage es nicht, hierüber zu entscheiden. Unsere Philosophie weiß noch viel zu wenig von dem eigentlichen Sitze [458] der civiliter Seligen. Was man, nach ihrem Hinscheiden, noch immer Sie nennt, sind doch fürwahr nichts als Bilder, die sie uns hinterlassen zum Aufstellen – als Leichensteine über dem Grabe ihrer Vernunft! – Leichensteine? Gerechter Himmel! Was für Vergleichungen drängen sich hier dem Geiste nicht auf, zwischen dem beredten Marmor über der Asche des Meisterstücks der Schöpfung und hier – dem numerirten, schmutzigen Stalle, worin sein besser als dort getroffenes Bild, auf faules Stroh hingekettet, noch weit beredter dem Vorübergehenden erzählt, wie viel da begraben liegt! – Doch hier ist nicht der Ort für solche Vergleichungen. Sie würden die Empfindung des Lesers für das Uebrige verstimmen, wenn sie nicht gar die des Erklärers, der sich dieser Betrachtung, für sich wenigstens, nicht ganz entschlagen konnte, bereits für die ganze Erzählung verstimmt haben. Man wird ihm also hoffentlich gern vergeben, wenn er auf einige der schrecklichsten Scenen hier nur bloß hinweist. Sie bedürfen keiner Erklärung, und vertragen auch keine.

Rakewell liegt hier im Vorgrunde, größtentheils nackend, und ein Mann ist beschäftigt, ihn in Ketten zu legen. Die Ursache davon ist, Rakewell sinkt noch immer tiefer. In dem Mikrokosmus nämlich, worein er hier versetzt ist, wird es ungefähr so gehalten, wie in dem ausgebreiteten Makrobedlam, der Welt selbst; es liegen nicht alle Narren an Ketten, und selbst die Ketten haben ihre Grade. Auf dem langen Gange, der Katakombe, die wir hier erblicken, dürfen die unschuldigsten frei herumgehen, wenigstens bis an das große Gitter, wo eine andere Klasse, oder, wie es im gemeinen Leben heißt, Sekte angeht, die andere Principia hat, die sich nicht mit den diesseitigen vertragen: und nur die von einem tiefern und gefährlichern Grade werden in den numerirten Zellen beigesetzt. Vermuthlich hatte Rakewell vom Anfang diese Freiheit, die er aber mißbrauchte. Er fing an, von andern Grundsätzen auszugehen, und brachte sich selbst sogar in einem Augenblick, den wir heiter nennen würden, einen gefährlichen Stich in der Gegend des Herzens bei. Er paßte nicht mehr in diesen kleinen Freistaat, und soll so eben einem andern einverleibt werden. Diesen Augenblick der [459] Promotion hat der Künstler hier gewählt. Der Blick des Leidenden ist unbeschreiblich, und es ist kaum zu begreifen, wie ein Mann wie Gilpin, der sonst der Zeichnung Gerechtigkeit widerfahren läßt, dieses Gesicht bedeutungslos hat finden können. Herr Ireland rechtfertigt unsern Künstler vortrefflich. Dem verstorbenen Hrn. Mortimer, einem Manne von den größten Künstlertalenten, wurde, wie er sagt, einmal aufgegeben, einige der Leidenschaften zu zeichnen, so wie sie Gray in seinem berühmten Gedicht auf eine entfernte Ansicht des Schulgebäudes zu Eton nach einander darstellt. Unter diesen war denn auch

Moody Madness laughing wild
Amid severest woe.

„Des grämlichen Wahnsinns leeres Gelächel, mitten im herbsten Schmerz.“ Sogleich holte Hr. M. aus einem Portefeuille das achte Blatt von Hogarth’s Liederlichen. Hier, sagte er, indem er auf die Hauptfigur hinwies, ist Alles beisammen. Wenn ich diesen Kopf nicht gesehen hätte, würde ich es kaum für möglich gehalten haben, so viel entgegengesetzte Gemüths-Bewegung in einem und demselben Gesicht auszudrücken. Ich könnte hier nichts thun, als abzeichnen; jeder Strich, der anders wäre, würde eine Abweichung vom Charakter sein. – Dieses ist die so genannte Bedeutungslosigkeit dieses Kopfes.

Hinter ihm kniet wieder Sarah Young, theilnehmend an seinem Leiden. Hr. Gilpin findet diesen Zug unnatürlich, und die Moral tadelhaft. Freilich wohl. Es wäre vielleicht besser gewesen, das Mädchen wäre nach Rakewell’s Verheirathung nie wieder erschienen. Ich dachte ehedem auch so, und Herrn Gilpin, einem Geistlichen, ist seine Bemerkung zwiefach zu vergeben. Sie ist und bleibt aber immer besser gedacht als empfunden; ein gutes Aufführungs-Exempel für die, die nach jedem Exempel leben können, und nicht gleich eines bei der Hand haben. Aber das Herz, das Herz – hat seine eigene Methode. Wahre Liebe, [460] zumal die eines sanften, aber stark fühlenden weiblichen Herzens, tilgt, wenn sie je getilgt werden kann, welches ich kaum glaube, nur allein die Zeit in sehr langen Terminen, ihr Schicksal sei übrigens, welches es wolle. Worin liegt also hier das Unnatürliche? Es würde der menschlichen Natur wenig Ehre machen, wenn eine solche Liebe unnatürlich wäre. Aber das Tadelhafte? Auch dieses liegt denn doch wieder nur in der Uebertretung von kalten Lebens-Regeln, von denen eigentlich das Herz nichts weiß. Es wäre eine böse Welt, worin nicht zuweilen noch so gefehlt werden könnte. Aber freilich eine noch schlimmere, in welcher listige Nachäffung des rühmlichen Vergehens, eben die Vergebung oder gar das Mitleid fände, auf die bloß das Natur-Original Anspruch machen kann. So hat es leider! die Kunst in mehr als einem Punkt dem Menschen fast verfänglich gemacht, natürlich zu sein. Ueberdas muß man hier bedenken, daß Sarah Young, ein gutmüthiges Naturgeschöpf, nicht von dem Stande ist, dem man überall früh genug ein gewisses Exerciren mit der Tugend beibringt, daß sich zu dieser Ausübung immer verhält wie Fertigkeit auf der Parade zu Muth und Tapferkeit im Felde. Aller Werth der erstern (und sie hat allerdings keinen geringen) beruht doch am Ende allein auf der Möglichkeit, die letztere unterstützen, oder hier und da ihren Mangel praeter propter ersetzen zu können. Ohne diese Hinsicht wäre alles leere Maschinerie. Wenn Hr. Gilpin einmal vor solchen Menschen gepredigt hätte: Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht, wie würde er eine Zuhörerin beurtheilt haben, und beurtheilt haben müssen, die sich, nach der Predigt, so herzlich unvorsichtig in das Fleet und in Bedlam geschlichen hätte, wie Sarah Young, ohne alle Hoffnung von zeitlichem Gewinn? Die Antwort ist, dünkt mich, sehr leicht. – Einer der Krankenwärter, der freilich wohl die Verbindung nicht ganz einsehen mag, scheint vom Leiden des Mädchens gerührt. Er sucht ihr Gesicht von Rakewelln auf eine Art zu entfernen, die seinem Gefühl Ehre macht. Es ist angenehm zu sehen, daß die Hände des Mannes in dem harten Dienst, für den sie besoldet werden, diese Stellungen noch nicht verlernt haben.

[461] Von den Zellen sieht man hier nur die Nummern 54, 55 und 56[1]; No 56 ist verschlossen. In die beiden offenen wollen wir einen Augenblick hineinsehen, und dann ebenfalls verschließen. In No 54 liegt der schwärmende, religiöse Aberglaube, und in 55 der in die Luft bauende Uebermuth. Die Scenen sind richtig gedacht, und mit fast schrecklicher Wahrheit ausgeführt. Wäre 56 noch die unglückliche Liebe, so wären diese drei Plätze gerade die, die in Tollhäusern am meisten gesucht werden. Ein Blick in diese traurigen Winkel geworfen, macht alle Beschreibung unnütz, und zu den Betrachtungen darüber ist die Philosophie auch in Jedermanns Händen; also nur ein Paar Worte zur vielleicht nöthigen Erklärung.

Dem Heiligen in Natura No 54, hat Hogarth noch drei in Effigie zur Gesellschaft gegeben, den St. Laurentius, St. Athanasius und St. Clemens. Der Einfall ist etwas derb. Ob besondere Züge in den Leben dieser Männer eine solche Behandlung rechtfertigen können, weiß ich nicht. Unser einer liest wohl legenda, aber Legendas selten. Ginge aber der Spott, wie man fast glauben muß, auf die Heiligen jener Kirche überhaupt, so wäre die Frage, ob es nicht vielleicht rathsam wäre, einem solchen Protestantismus die vacante Stelle neben dem St. Laurentius einstweilen, bis zur ausgemachten Sache, anzuweisen. Die gütige Sonne ist, wie wir sehen, auch über dieser Zelle und über diesem Kreuze aufgegangen. An dieses Beispiel wollen wir uns halten.

In No 55 sitzt auf einem Throne von Stroh, und durch sich selbst gekrönt mit Stroh, der politische Phantast. Es ist Alles um ihn her leicht, bloß der Scepter hat volles, orientalisches Gewicht. Vor dem Cabinet stehen ein Paar Mamsellen in ziemlich reicher Seide. Ob das [462] die Hofdamen sein mögen? Sie empfangen so eben Audienz, und zugleich aus der Ferne eine Weihe, die sie sehr viel besser nehmen, als sie gemeint ist. Die eine schmiegt sich an die andere an, und findet sich durch diese Unterstützung stark genug, anzusehen, was sie für sich allein nicht einmal zu denken gewagt hätte. Aber im Ernste, was wollen diese Damen hier? Hier bleiben vielleicht? oder, wie Sarah Young, die Nackenden kleiden? Oder die Nackenden bloß sehen, und dann so allerliebst thun, als sähe man sie nicht? Gewiß die Mamsellchen müssen viel Freiheit haben, die sich bis hieher verlieren können, und viel Ungezogenheit, wenn sie sich wirklich so weit verlieren. Daher hat sie auch Hogarth meisterhaft mitten unter das gezeichnet, was hier frei herumgehen darf. Papa und Mama wissen kein Wort davon; das mögen sich Papa und Mama merken.

Was auf eigentlichen Kirchhöfen den Todten gewöhnlich nur des Nachts verstattet ist, verstattet man den hier Beigesetzten unter gewissen Umständen auch, aber bloß am Tage, nämlich die Freiheit, aus ihren Gräbern hervorgehen und spuken zu dürfen. Zu arg müssen sie es aber nicht machen, sonst legt man sie, wie schon erinnert worden ist, in Ketten, gerade so wie man jene, wenn sie sich nicht wollen sagen lassen, in Säcke packt und in den Rhein trägt. Von diesen Tag-Gespenstern gibt uns Hogarth hier, die beiden Mamsellen abgerechnet, nur sechs. Sehr wenig fürwahr für einen solchen Geister-Seher und Zeichner. Es würde ihm kaum zu vergeben sein, wenn er nicht in seinen übrigen Werken den Mangel reichlich ersetzt, und so manchen Bedlamiten in partibus, oder der seine Stelle hier durch einen Vicarius versehen läßt, gezeichnet hätte. An der Treppe da zur Linken spukt etwas ein Trio, fast so was wie Glaube, Liebe und Hoffnung in Bedlam. Sie scheinen zusammen zu gehören, und doch können diese Köpfe wohl weiter auseinander sein, als immer drei Fixsterne, die eben einen solchen Triangel formirten. Es ist Alles bloß scheinbar. Jeder ist eine Welt für sich, wovon keine der andern leuchtet und keine die andere verfinstert; jede hat ihr eigenes Licht. Wer noch nicht weiß, daß der Kopf die Welt macht, und nicht die Welt den Kopf, der sehe hierher. Gütiger Himmel! [463] was ist der Mensch, oder eigentlich, was ist die Welt? – Aber weißt du, daß du im Tollhause sitzest? rief einst ein Mann einem Rasenden, den er bekehren wollte, hitzig zu, worauf ihn dieser mit größter Gelassenheit ansah und fragte: „aber bist du gewiß, daß Du in keinem sitzest?“ Der Fremde besann sich und schwieg, der Rasende schwieg auch, hatte sich aber vermuthlich lange vorher bedacht. Was dieser nachher that, ist nicht bekannt. Der Fremde aber, sagt man, soll, als er aus dem Tollhause wieder in die Welt trat, zwischen beiden, statt der scharfen Grenze, einen gewissen Strich neutralen Landes angenommen, und sich sein ganzes Leben hindurch vor einer Philosophie gehütet haben, die eigentlich bloß für die Neutralitäts-Lande gehört.

Der Glaube da mit dem dreifachen Kreuze und der einfachen Krone (so drückt sich Hogarth aus, wenn er sagen will, mit der dreifachen Krone und dem einfachen Kreuze) singt seine Mette mit seinem Blöck-Mäulchen, ohne daß man davon auf den benachbarten Systemen eine Sylbe hört. Die Hoffnung, mit dem Notenbuch auf dem Kopfe, geigt fort, und die melancholische Liebe, mit ihrem schweren Thema an einem Bändchen vor der Brust, träumt ihr Lamento fort. Gegen letztere bellt der Hund, wie sonst gegen den Schutzheiligen des Hauses, den Mond, und sie hört es so wenig als der Mond. Der Strohkranz, mit dem sich der Wahnsinn sonst so gern krönt, geht hier als Strick um den Hals, vielleicht als erster bloß poetischer Versuch, die Liebe endlich zu krönen. Ein Mund mit einem solchen Schlosse spricht nicht leicht mehr; indessen haben die gefalteten Hände noch heute den theuren Namen in den Baum geschnitten, der aus dem Hain herabstieg, um hier als Treppen-Geländer zu dienen: charming Betty Carelessreizendes Lieschen Leichtsinn.“ Es ist betrübt freilich! Wie kam aber auch in aller Welt ein solcher Mund, eine solche Stirn, und eine solche Anlage zur Hohläugigkeit an den Leichtsinn[2], und der alte Schäfer [464] überhaupt zu einer solchen Liebe[3]? Der Einfall des Violinisten, das Notenbuch quer über den Kopf zu legen, wodurch er zugleich das Ansehen eines Musik-Pults erhält, ist ganz in dem Costum von Bedlam, und sicherlich ein eigenthümliches Product dieses Orts. Die vielen Ringe an den Fingern hingegen gehören mit unter die Moden, die Bedlam mit der übrigen Welt hier und da gemein hat, und sind nichts Eignes.

An der Wand zwischen 54 und 55 sieht es sehr encyclopädisch aus, wenigstens viel mehr, als in diesen Zellen: ein dreimastiges Schiff, ein Viertel-Mond, eine Projection der Weltkugel mit dem antarktischen Cirkel unengagirt, der größte Theil des übrigen aber mit einer Britannia, eigentlich einem englischen Halfpenny an einer Kette bedeckt; eine Bombe, die über alle diese Projectionen hinaus projicirt wird; unten etwas wie eine Wind-Rose, und oben so etwas wie geometrische Gedanken-Striche. Alles dieses, die Medaille ausgenommen, die ein bekannter Schalk, wie wir hören werden, 28 Jahre nachher dahin geklext hat, scheinen das Werk des Denkers zu sein, der mit der Kohle in der Hand noch wirklich beschäftigt ist, einen der Gedanken-Striche zu verlängern, und wenn es so fortgeht, bis an die Thür von No 55. Gerade vor seiner Nase steht das Wort: Longitude (Meeres-Länge). Dieses ist eigentlich der Name einer gewissen charming Betty einer andern Art, deren unglückselige Liebhaber leider! bis auf diesen Tag an den Wänden von Bedlam herumspuken. Die gute Dame verlangte von ihren Freiern weder Reichthum noch Schönheit, noch Stand; von Ahnen-Reihen war [465] so wenig die Rede, als von Fußmaßen, und am allerwenigsten von Jugend. Um Sie und ihr Gold zu besitzen, verlangte sie bloß die Auflösung eines Räthsels. – Die Sache machte unglaubliches Aufsehen, und der Erfolg war für viele der traurigste von der Welt. Einige, die bloß die Dame zu besitzen suchten, waren noch so ziemlich glücklich mit ihren Versuchen; Andere, die bloß um ihr Geld freiten, riethen in den Tag hinein, verwickelten sich in Stricke und Striche und Rechnungen und Streiche, die sie am Ende selbst nicht mehr verstanden, und endigten nicht selten ihr Leben in Bedlam. Die Striche, die unser Mann hier macht, sind von dieser Art, und die Bomben, die er werfen läßt, gehen alle auf die Eroberung dieser Charming-Longitude[4]. Auch der Alte hinter ihm, der durch die gerollte Himmels-Charte sieht, sieht nicht nach dem Himmel, sondern nach eben dieser Schönen, und ist der Nebenbuhler des Bombardeurs. Vor ihm sitzt auf den Fersen ein Schneider mit der Muster-Charte auf dem Kopfe, wie der Violinist mit dem Notenbuch. Er berstet schier vor Lachen über die eiteln Bemühungen der beiden Längensucher, und namentlich geht sein Spott auf den Alten mit der Rolle. Hans Narre, scheint er sagen zu wollen, sieh, so mußt du dein Papier schneiden und halten, wenn du Längen messen willst; so finde ich meine Longituden, und gegen die sind die deinigen bloßes Kinderspiel. Auch hat der Mann nicht ganz Unrecht, denn das Verfahren des Alten, die Länge zu finden, taugt so wenig für die Geographie, als für die Schneiderkunst. – Daß ein Narr über den andern lacht, ist freilich närrisch genug, allein doch nicht ungewöhnlich, weder in, noch außer dem Tollhause, allein hier steckt mehr dahinter. Es soll wirklich damals ein Schneider in Bedlam gesessen haben, der glaubte, für das Meisterstück der Schöpfung eine Bedeckung zu schneiden, die der schönen Form eben so anpasse, wie die schöne Form der schönen Seele, sei nicht allein eine der wichtigsten Beschäftigungen des vernünftigen Menschen, sondern auch unendlich schwerer, [466] als namentlich Sir Isaac Newton’s brodlose Künste. Dafür sitzt der arme Teufel hier. Die Strafe ist hart, zumal für einen Schneider, ein Geschöpf, das ohnehin dafür, daß es die Leute macht, in Zona temperata wenigstens, von diesen Leuten mit der Laune Sitten- und Schneider-loser Barbaren der Zona torrida bei jeder Gelegenheit bestichelt wird. Die Medaille an der Wand ist, wie gesagt, die Kehrseite eines englischen Halbstübers (halfpenny). Sie stellt eine sitzende Britannia mit etwas zerstreutem Haar vor, unten mit der Jahrzahl 1763. Wenn man etwas genau zusieht, so bemerkt man eine Kette, die sich unten von der Medaille ab, rechts, gegen No 54 zieht. Oben wäre mehr Platz gewesen für die Kette. Aber eine Medaille mit der Kette oben würde an der Kette hängen, und in England erinnern die Wörter hängen und Ketten, selbst von Medaillen gebraucht, leicht an wichtigere Dinge, als an Orden und Kinderstaat. Hogarth wollte also sagen: Im Jahr 1763 lag Britannia, oder verdiente Britannia zu liegen an Ketten in Bedlam. Der damalige glorreiche Friede schien nämlich Einigen viel zu friedlich, er hätte feindseliger sein müssen, so wäre er glorreicher gewesen, meinten sie; Britannia hätte ihre Sache besser machen können, sagte der Eine; sie hätte klüger sein sollen, sagte der Andere; sie gehörte in’s Tollhaus, sagt Hogarth. Ecce signum. Da steht die Lästerung, und obendrein in einer Sprache, die die ganze Welt versteht, und auf einem Blatte, das die ganze Welt kauft. Ja, was das Verbrechen noch sehr vermehrt und den Autor, wo nicht zum Block, doch zum Bastillen-Sassen auf Lebenszeit qualificirt, so ist es kein Jugend-Einfall. Ein Jahr vor seinem Tode und im 65sten seines Lebens, wo er doch fürwahr hätte wissen können, was Recht ist, und nachdem dieses Blatt 28 Jahre existirt hatte, machte er hier noch ein Plätzchen für die Britannia zurecht. Ja, noch mehr, er machte öffentlich bekannt (advertised), er habe sie erst im Jahre 1763 hieher gebracht; das Blatt sei von 1735. Hierdurch scheint der Bösewicht noch oben drein anzudeuten, daß er den so ehrwürdigen Namen eines neuen Propheten bei der Nachwelt mehr gefürchtet habe, als den eines Vaterlandsschänders bei der jetzigen. Das ist sehr arg. – Aber sehen wir auch richtig? Ist es [467] wirklich so? In solchen Fällen kann Erfahrung nützen. Was that die weise Britannia, als sie es erfuhr? Sie that, was billig eine Regel, zumal für jede minder weise und minder erfahrene Patria sein sollte. – Die weise und gütige Mutter lächelte über den Einfall eines geliebten Kindes, dessen Herz sie kannte, und verzieh. Also Herzen kennen lernen und zu verdienen wissen, wäre wohl die Sache; der Witz ist eine Flaum-Feder[5].

Aus diesem Blatte läßt sich für die satyrischen Maler etwas lernen. Der Gedanke, Kupferstiche durch Einschiebsel den Zeiten anzupassen, ist vortrefflich, und verdient Nachahmung. Indessen finden sich schon in unsern Volkskupferstichen Spuren dieser Methode, z. B. beim Gänsespiel, wo das von 1756 dem von 1796 gar nicht mehr gleicht. Wir haben da andere Zölle, andere Wirthshäuser und andere Gänse. – O! guter Hogarth, hättest du in das letzte Decennium deines Jahrhunderts blicken können, keine Wand, ja selbst die Decke hier wäre nicht leer geblieben. — Eine Prinzessin Europa, die 1792, mense Fervidor, auf dem Sprunge stand, zum zweitenmale mit einem Bullen durchzugehen, was für ein Gegenstand für das Fleckchen zwischen No 55 und 56! Und zum Deckenstück Brothers[6] mit seinen Brethren auf Wolken von sichtbarer Finsterniß knieend und verkündigend Unheil und 1000jährigen Schabbes.

Die Bedeutung der kleinen Kapelle auf dem Pfosten an der Treppe [468] mit den Buchstaben H. S. verstehe ich nicht, so wenig als das LE an der Wand neben No 55. Diese Sylbe würde ein Engländer allenfalls Li aussprechen, und dieses könnte an Lee, den unglücklichen Dichter, erinnern, der bekanntlich eine Zeitlang eine dieser Zellen bewohnte. Diese Buchstaben vertragen allerdings noch andere Erklärungen. Ich aber wage keine mehr. Dunkle Stellen in den Werken frei herumgehender Philosophen erklären zu müssen, ist schon nicht ganz angenehm, und doppelt unangenehm wird die Sache bei den Operibus derer, die an der Kette liegen, schon allein wegen des sehr zweideutigen Credits, den gerade die glückliche Fertigkeit, sich hindurch zu finden, dem Erklärer gewähren würde. –

Nun also auch kein Wort weiter. Es könnte sein, daß ich auf manche Blätter dieser und der vorhergehenden Lieferungen wieder zurückkäme. Ja, ich werde auf mehrere zurückkommen müssen. Aber auf dieses achte Blatt – in meinem ganzen Leben nicht wieder. Ich kann und will es nicht leugnen, es ist mir sauer geworden. Mit meiner Empfindung bei dem Schlusse dieses Kapitels weiß ich daher nichts zu vergleichen, als das unbeschreibliche Wohlbehagen, das meinen ersten freien Odemzug begleitete, als ich im Oktober 1775, nach einem kurzen Besuche in diesen Begräbnissen, wieder in die freie Luft von Moorfields[7] hervortrat.




  1. In Bedlam sind allein hundert Freistellen für Unheilbare auf Lebenszeit. Außer diesen werden aber noch viele auf ein Jahr aufgenommen; kommen sie in dieser Zeit nicht zurecht, so werden sie den Verwandten zurückgegeben.
  2. Man sagt, Hogarth habe die Idee zu diesem bedeutungsvollen Kopfe und dem gegenüber in Nro. 54, von den vortrefflichen Bildsäulen genommen, die über dem Portale liegen, das in den Hof von Bedlam führt. Sie sind von einem deutschen Bildhauer, Cajus Gabriel Kyber, dem Vater des bekannten Dichters Colley Cibber, gearbeitet. Pope, dessen Dunciade dieser Schriftsteller leider! seinen Namen größtentheils zu danken hat, nennt daher (Dunc. Book I, v. 32) diese Bildsäulen des großen Cibbers hirnlose Brüder (brainless brothers).
  3. Der Name Betty Careless ist nicht erdichtet. Es existirte damals eine berühmte Liederliche von großer Schönheit unter diesem Namen in London. Fielding in seiner Amelia redet von ihr.
  4. Die Bomben hier zielen eigentlich auf Whiston, welcher Versuche dieser Art zur Findung der Meereslänge vorgeschlagen hatte.
  5. Wit’s a feather and0  POPE.
  6. Den meisten unserer Leser wird dieser Prophet, aus Placentia in Neufundland gebürtig, und, so viel ich weiß, jetzt in einem Tollhause lebend, aus den Zeitungen bekannt sein. Ein gewisser Herr Nathanael Halhed, Mitglied des jetzigen Parlaments, hat sich in einer besondern Schrift für ihn erklärt, und ihn am 31. März 1795 in einer Rede im Parlament vertheidigt. Herr Halhed selbst weissagte, daß das 1000jährige Reich den 19. November 1795 mit Aufgang der Sonne zu Jerusalem seinen Anfang nehmen würde. Ob dieses wirklich geschehen sei, davon hat noch nichts in den Zeitungen gestanden.
  7. Der Distrikt von London, worin Bedlam liegt.