Die Gartenlaube (1854)/Heft 11

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 11. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Das liebe Geld!

Geschichte aus Englands Gegenwart. Von H. Beta.
(Schluß.)


Der Kuß, den er im Fortgehen auf ihre Hand drückte, erschreckte sie, sie fühlte, daß er heuchelte, aber aus heißen Thränen erhob sie sich doch noch mit der Hoffnung, daß sie ihn mit ihrem reinen Herzen noch erheben könne.

Die in der Gesellschaft so beneidenswerth hoch gestiegene und in ihrem Glücke so tief gefallene Lady Moretown sah jetzt bald ein Glück lächeln. Sie hatte ihren jetzt geschmeidigeren Herrn Gemahl vermocht, für den jungen „Erben“ einen Hauslehrer zu nehmen, und zwar einen „Deutschen“ von Geburt, wie es jetzt in vielen hohen Familien Sitte ist, die mit dem Hofe, wo das Deutsche Haus- und Familiensprache ist, in Verbindung stehen. Der Hauslehrer hatte sich zwar ohne glücklichen Erfolg mit der Erziehung des deutschen Volkes im Ganzen und Großen durch feurige Reden auf verschiedenen „freien“ Plätzen Deutschlands abgegeben, aber im Einzelnen gelang es ihm sehr gut, trotz seines beibehaltenen Schnurrbartes (übrigens in der Regel als Zeichen der „Fremdheit“ bei Hauslehrern gern gesehen) und seiner hinter englischen Ansprüchen weit zurückbleibenden „Wäsche.“ Jedenfalls war er Einer von denen, „die sich gewaschen haben“ und setzte gleich am ersten Abende seiner Thätigkeit den alten und den jungen Lord gründlich zurecht. Er bewies dem Alten, daß der Junge, der einmal zu befehlen haben werde, erst gehorchen lernen müßte. Dazu brauche er ein absolutes Strafrecht; auch müsse er die Erzieherin noch einmal erziehen, sonst mache sie’s wie Penelope mit ihrem Gewande, sie reiße über Nacht wieder entzwei, was er am Tage aufgebaut und zurechtgestutzt habe. Der hohe Lord stutzte und erhob sich in seiner Entrüstung hoch über die dienende Hauslehrerseele. Aber Dr. N. (N. steht für einen in Deutschland wohl noch nicht ganz mit Gras überwachsenen Namen) ließ sich durch diese Höhe und Größe von Dünkel nicht irre machen und frug nur einfach und entschieden, ob er hierhergerufen worden sei um Diener der Launen eines total verzogenen Knaben zu werden oder sein Lehrer zu Kenntnissen und gebildeter Männlichkeit? Ob er ihn zur Schande des Vaters oder zu dessen Ehre aufwachsen lassen solle?

Diese unerhörte Kühnheit und Entschiedenheit einem Lord gegenüber, der beim letzten Ministerwechsel beinahe Mitglied der neuen Regierung geworden wäre, wirkte gründlich, denn so verworfen war er als Vater nicht, um jetzt, da ihm die Augen geöffnet wurden, sein „Verhältniß“ zu Athalien über die Pflichten gegen sein Kind zu setzen. Dr. N. bekam seine pädagogischen Vollmachten und ließ sich kein Haar breit davon wiedernehmen, so oft auch die geistreiche Athalie ihn verklagte und so oft der kleine Erbe der Schöpfung auch eingesperrt war und blieb, selbst wenn der erhabene Vater die Drohungen und Thränen der Erzieherin durch einen stolzen Befehl unterstützte. Dr. N. bewies ihm jedesmal, daß der gebildete Vater in seiner Liebe und Pflicht das Wohl des Kindes nicht den augenblicklichen Gefühlen einer liebenswürdigen Französin, die nicht einmal richtig französisch spreche, opfern könne. Das unrichtige Französisch wurde ihr mehrmals bewiesen, obgleich sie das Gegentheil durch Drohungen mit den Nägeln und einige sehr malerische Krämpfe zu beweisen suchte. Kurz Dr. N. blieb fest und dadurch wandelte er das ganze Haus um. Der kleine Erbe liebte nach einigen Wochen nicht nur seinen Lehrer, sondern auch seine Stiefmutter und scholt auf die Erzieherin, so oft er sie sah: sie habe ihm so und so gesagt, und das sei nicht nur falsch, sondern auch schlecht und gemein an einem jungen Gentleman und er sei ein junger Gentleman und wolle auch noch ein älterer Gentleman werden.

Soerblühten für Lady Moretown in der Nacht ihrer trostlosen Einsamkeit wenigstens zwei Glückssterne: sie lernte die Liebe eines muntern, schönen Knaben gewinnen und ihn wieder lieben, außerdem fand sie in täglicher Unterhaltung mit Dr. N. dessen deutsche Stunde sie besuchte, manchen Trost und viele Ermuthigung. Er imponirte durch seine Freiheit von Vorurtheilen, welche die „gute Gesellschaft“ Englands oft wie ganze Reihen von Festungsmauern umgeben. Der wirklich gebildete Deutsche steht fast in allen Theilen der civilisirten Welt, wenigstens in gesellschaftlicher Beziehung, als der im Vergleich freieste Mann da und wußte sich deshalb bereits in aller Welt geltend zu machen, wie, außer den Juden, kein anderes Volk der Erde. Selbst der Engländer, der in allen Welttheilen und Häfen seine Bureaux und Schiffe hat, kommt nicht einzeln unter andern Völkern fort. Das kann blos der Deutsche.

Im Grunde genommen herrschte Dr. N. in dem stolzen Hauswesen des Lord Moretown und zwar offenbar über den Herrn des Hauses und seinen verschuldeten Ländereien am Meisten. Hinter dem Stolze des Lord Moretown verbargen sich Unwissenheit, Habsucht, niedrige Leidenschaften mancherlei Art und – Feigheit. Er fürchtete sich vor dem graden, ehrlichen, festen Wesen des Hauslehrers, dessen Wissen zugleich so gründlich und vielseitig war, wie es in England, selbst unter den Gelehrtesten, selten vorkömmt. Der Engländer wirft sich auch in der Wissenschaft, wie im Handel und Wandel, gern auf einen bestimmten, oft sehr beschränkten [116] Zweig, als sein „Geschäft.“ Was daneben und drüber hinausliegt, geht ihm nichts an. Ein Mensch hat den linken Fuß gebrochen, wendet sich an einen Chirurgen und wird von demselben mit dem Bemerken, daß er sich blos mit Heilung rechter Füße abgebe, wieder entlassen. Das ist ein Punch-Witz für die Sache.

Lord Moretown war öfter und immer öfter „in Geschäften“ aus, und so oft er auch zurückkam, wurde er doch nie eigentlich warm zu Hause. Seine Gemahlin that alles Mögliche in Zuvorkommenheit, Nachgiebigkeit und Sorgfalt, beinahe wie ein treuer Diener, aber die früher abgebrochene Unterredung ward nicht wieder angeknüpft. Er blieb auch „abwesend“, wenn er zu Hause war. Alle merkten, daß ihm etwas Besonderes „im Kopfe herumging.“ Auch Mademoiselle Athalie, die (vielleicht aus Furcht vor dem Hauslehrer) mehr hinter Schlüssellöchern, als in Zimmern gesehen ward, schien den Kopf über den Lord zu schütteln, da er sie eben so sehr mied, wie alle Andern. Eines Morgens, als er eben wieder abreisen wollte, bat sie dringend um eine Unterredung, ward aber abgewiesen, und als sie ihm mit funkelnden Augen beim Einsteigen in den Weg trat, stieß er sie sehr unsanft zurück und fuhr hastig ab. Ellen sah es vom Fenster aus. Man wird ihr die kurze Freude gönnen, die sie darüber empfand. Sie war kurz, denn kaum hatte sie sich mit dem Knaben hingesetzt, um dem Unterrichte des Hauslehrers im Deutschen zuzuhören, stürmte Mademoiselle Athalie furienhaft herein und überschüttete die drei ruhigen Menschen mit einer solchen Fluth von französischen Interjectionen und dramatischen Redensarten, daß alle Drei das räthselhafte Ende eines fünften Aktes vor sich zu haben glaubten, ohne die vorhergehenden gesehen zu haben. Ellen winkte mehrmals mit abgewandtem Gesicht nach der Thür, was die tragische Hitze, wie sie am Ende eines fünften Aktes pflichtschuldigst entwickelt werden muß, nur mehr zu erhöhen schien, Dr. N. sah dies nicht lange mit an, sondern stand auf, trat dicht vor die tragische Heldin und sagte ruhig und spöttisch:

„Mademoiselle, sagen Sie in möglichst kurzen Worten, wenn sie auch nicht grammatisch richtig sind, was uns eigentlich die Ehre dieser Störung verschafft! Ich unterrichte jetzt im Deutschen. Sie haben mich plötzlich abgelöst, doch zweifle ich, ob dabei die deutsche Sprache gewinnen wird, da Sie es nicht einmal mit Ihrer französischen sehr genau nehmen.“ Mademoiselle schwieg einen Augenblick, gaps’te und zitterte und fuhr dann mit einem wilden Gekreisch dem Hauslehrer in die Haare, die zufällig nicht, wie häufig in Lustspielen, aus einer Perrücke bestanden, sondern sehr fest in der Haut wurzelten, so daß er nicht ohne Schwierigkeit sich in Freiheit, die dramatische Französin aber „an die Luft“ setzte und aus derselben in das Kaninchenhaus, das sich der junge „Erbe“ von seinem Taschengelde hatte erbauen lassen. Nachdem er sie hier unter Schloß und Riegel gebracht, kehrte er zurück, um in Förderung der deutschen Sprache in England weiter fortzufahren. Doch die Sprache stummen, tiefsten Schmerzes, die er in Ellen’s Gesicht und Haltung ausgeprägt fand (der Knabe hing an ihrem Halse und streichelte und liebkoste vergebens) behauptete ihr Vorrecht über die deutsche Sprachlehre. Dr. N. vermuthete jetzt erst, daß der Inhalt der dramatischen Mittheilung Athalien’s ihr neu gewesen sei, doch nahm er keinen Anstand, sie zu ermahnen, daß ein Wesen ihrer Art durch die tiefste Verachtung gegen solche Störungen des Haus- und Herzensglückes geschützt sein oder wenigstens Schutz suchen müsse.

„Vergrößert der Umstand, daß ich einen Mann, der sich mir als edler Beschützer beinahe aufdrang, verachten und zugleich seine Frau sein muß, mein Elend nicht bis zum Unerträglichen? Mein Kind, Du kannst jetzt mit John Deinen Spazierritt machen.“

Der Knabe küßte seine Mutter und sprang hinaus. „„Nein, Mylady, ich denke nicht! Sie sind es, wenn, was ich unwillkürlich habe hören müssen, es wahr ist, es Ihrer und der weiblichen Ehre überhaupt schuldig, Ihrer heilig-gerechtfertigten Verachtung zu folgen, falls Ihr Edelmuth nicht so weit gehen sollte, dem Lord Moretown eine stricte Bedingung zu stellen und Ihr Recht, Ihre Pflicht zur Scheidung noch davon abhängig zu machen.““

„Ich bleibe unter allen Bedingungen entwürdigt, entehrt – unheilbar.“

„„Es hat mir immer geschienen, daß es Menschen, namentlich Frauen giebt, die mitten in einer moralischen Pestluft rein und edel bleiben, wie im Physischen Naturen vorkommen, die unangefochten und gesund durch Pest- und Fieberhospitäler gehen. Der Eindruck, den Sie jetzt auf mich machen, ist der, daß Sie, in Ihrem tiefsten Abscheu vor dem Schmutze, den die schamloseste Frechheit nach Ihnen warf, nur noch reiner und edler erscheinen. Wenn das wahrhaft Schöne durch schöne Umgebung noch gewinnen kann, ist es gewiß noch mehr der Fall durch den Kontrast des Häßlichen neben ihm.““

„Das klingt sehr geistvoll und treffend, kann aber ein so mißhandeltes Herz, wie das meinige, nicht erquicken.“

„„Das find’ ich richtig, aber ich halte mich für verpflichtet, mit der Sprache meines Herzens zurückzuhalten.““

„Wahrscheinlich, weil ich eine so hohe Lady und bereits mit meinem Herzen versagt bin?“

„„O mein Gott, nein, nein, nein! Aber Sie erscheinen mir in Ihrem tiefen Schmerze wie eine Heilige.““

Sie antwortete lange nicht und schlug sinnend das Auge zu Boden. Dann reichte sie ihm die Hand.

„Der tiefe Schmerz macht mich auch wahr und ehrlich,“ sagte sie, „nennen Sie es schwach. Ich bedarf eines Herzens. Ich bedarf Ihres Herzens.“

Sie lehnte sich schwach an seine Brust. Ein lautes Schluchzen brach aus und zuckte lange und krampfhaft durch den großen zarten Körper. Beide sprachen kein Wort, nur die Herzen redeten.

Sie saßen mehrere Stunden später wieder neben einander, diesmal in lebhafter Unterhaltung, als sie durch die plötzliche Ankunft und den wüthenden Eintritt des Lords auf das Entsetzlichste überrascht wurden. Kirschbraun vor Wuth brüllte er seine Frau an: „Denkst Du, Tochter eines Wucherers, das Geschäft Deines Vaters fortzusetzen? Wo hast Du das Geld versteckt? Ich habe nun das Haus des alten Maulwurfes bis in den tiefsten Grund aufreißen lassen, nichts fand ich, als einige elende Papiere und gestohlene Münzen. Wo sind die 150,000 Pfund? Nicht 150,000 Schillinge sind da! Denkt ihr Schachervolk mit einem Manne von Geburt zu spielen? Ich gab Dir meinen Titel für 150,000 Pfund, nicht um einen Farthing billiger. Wo ist das Geld? Wo? Den Augenblick – oder –“

Die Frau flüchtete sich todtenbleich hinter den Hauslehrer, der ihm ernst und ruhig in’s Auge sah und zugleich Miene machte, ihn wie eine Bestie niederzuwerfen, wenn er noch mehr Rohheit offenbaren sollte. Obgleich beinahe blind vor Wuth, sah der Lord dennoch, wen er vor sich hatte und sagte mit gezwungener Mäßigung: „Herr Doctor, ich fordere Sie als einen gebildeten Mann auf, jetzt das Zimmer zu verlassen. Ich habe mit Lady Moretown wichtige Privatangelegenheiten abzumachen, wie Sie ohnedies schon merken konnten.“

„„Sie haben mit Lady Moretown keine Privatangelegenheiten unter vier Augen mehr abzumachen, seitdem –““

Der Hauslehrer konnte nicht ausreden, da eben Athalie mit zwei Kindern hereinstürzte, sie vor den Lord Moretown hinstieß, daß das jüngste jämmerlich hinfiel und aufschrie, während die Mutter kreischte: „Da geht betteln und fangt bei Eurem Vater an. Ich werde nie bei einer Lady Moretown betteln, mein Lord!“

Da lag die hohe Gemahlin eines Lords todtenbleich, bewußtlos; da zitterte der hohe Lord, gelb und hohl und bleiern, der unglückliche Goldgräber in dem Hause seines Schwiegervaters; da warf eine leibhaftige Mutter ihre eigenen Kinder wie giftige Schlangen von sich. – Welch eine schauderhafte Fülle von gräßlich verzerrten Menschengestalten in dem kleinen Raume, der auf den größten Karten von England noch mit einem Stecknadelkopfe bedeckt wird! Und alle Bibeln und Evangelien und Tugenden der Erde reichen nicht hin, die Mißgestalten zu umhüllen, deren Verzerrungen und Bestialitäten die Oberfläche der Erde überall mit Verhöhnungen der Menschlichkeit bedecken, und überall an demselben Faden gezogen und aus demselben Grunde alle Glieder verrenkend, diese Zappelmänner irdischer Herrlichkeit, um einen Teller herumgehen zu lassen und Geld einzusammeln, Geld, Geld, Geld!

O lernt mit dem Gelde umgehen, lernt es beherrschen, sonst zerreißt es euch Herzen, Familien, Staaten, Gesellschaften, die Erde und den Himmel.




Meine Geschichte ist zu Ende. Der Lord war eines Tages verreist, wie man sagte, nach dem Rhein, um dort seine derangirten [117] Verhältnisse durch einige Jahre Sparsamkeit zu ordnen. Andere wollten wissen, die Leiche, welche man nach einigen Tagen mit zerschmettertem Kopfe fand, sei die seinige gewesen.

Der Dr. N. und Ellen trafen in Amerika zufällig mit Edward Johnson zusammen, der kein Geheimuiß daraus machte, daß er das Nest seines Principals in der ersten Verwirrung geplündert habe. Freiwillig gab er der eigentlichen Erbin den größten Theil des Vermögens zurück und Dr. N. und Ellen leben jetzt in den freien Staaten als ein glückliches Paar, deren Liebe auf gegenseitiger Achtung und Neigung beruht. Der junge Lord wohnt bei ihnen und verspricht ein tüchtiger Maschinenbauer zu werden.




Ein Leichenmahl.

Geschäfte hatten mich nach dem unbedeutenden kleinen Städtchen Lauenburg in Hinterpommern geführt. Als ich dasselbe erreichte, fiel mir auf dem Gottesacker, der vor dem Thore dicht an der Straße lag, so daß ich unmittelbar daran vorbei mußte, ein kleines Gebäude auf, das außer dem Erdgeschosse noch ein zweites Stockwerk hatte, ringsherum mit Fenstern und Jalousieen versehen, und daher weit entfernt, einem Erbbegräbnisse, wie man sie häufig auf Begräbnißstätten findet, zu gleichen, vielmehr ganz das Ansehen eines heitern Lusthäuschens hatte, angelegt in einem freundlichen Garten, und um aus dem obern Geschosse einen Theil der umliegenden Gegend übersehen zu können. Wie kömmt ein solches Gebäude an einen solchen Ort, für den es so wenig passend ist? fragte ich mich verwundert, und bald sollte mir der gewünschte Aufschluß werden.

Ich saß Abends, die Zeitungen durchblätternd, in dem Gastzimmer des Wirthshauses und um eine größere runde Tafel ganz in meiner Nähe hatten sich einige Männer gereiht, in denen ich unzweifelhaft die ansehnlichsten Einwohner des Städtchens vor mir sah. Bald nachdem ich Platz genommen, wurde der Kreis derselben durch einen Neuangekommenen vergrößert, und kaum hatte derselbe sich auf seinem Stuhle niedergelassen, als die Uebrigen mit Fragen auf ihn einstürmten. „Nun, wie sieht es aus?“ – „Hast Du gefunden?“ – „Ist der Zwölfte aufgetrieben?“

„Noch immer nicht!“ lautete die mit sehr verdrießlichem Tone gegebene Antwort. „Verwünschter Auftrag! – Alberner Einfall! – Ich glaube, ich werde zuletzt noch in das Armenhaus gehen und dort einen der Kerle ganz höflich bitten müssen, an unserer Tafel Platz zu nehmen und sich die leckern Speisen, die delikaten Weine gefallen zu lassen!“

„Für eine solche Gesellschaft müßte ich denn doch danken!“ sagte Einer der Tafelrunde.

„Ich auch!“ fiel ein Zweiter ein, „und wenn das geschähe, träte ich zurück!“ Zugleich sah ich, wie er verstohlen auf mich deutete, und dann dem Zuletztgekommenen, der bei der Erfüllung seines Auftrages auf so viele Schwierigkeiten zu stoßen schien, mit dem Blicke des Einverständnisses zunickte. Dadurch aufmerksam, zugleich aber auch neugierig gemacht, bemerkte ich, wie auch einige der Andern ihre stumme Zustimmung gaben, worauf der, welcher die schwierige Commission hatte, aufstand, zu mir trat, und nach einer artigen Anrede sagte: „Entschuldigen Sie, mein Herr, eine Frage, die vielleicht unbescheiden erscheint, zu der mich aber die Gewalt der Umstände zwingt.“

„Fragen Sie, mein Herr,“ entgegnete ich, indem ich aufstand, „und seien Sie einer aufrichtigen Antwort versichert.“

„Werden Sie morgen hier bleiben?“ fragte er weiter, „und würden Sie in diesem Falle wohl die große Gefälligkeit haben, an einem Gastmahle Theil zu nehmen, bei dem Sie in einer sehr guten Gesellschaft die ausgesuchtesten Speisen und Weine finden werden?“

„Eine solche Gefälligkeit, wie Sie es nennen, ist so leicht zu erweisen,“ entgegnete ich lachend, „daß es mir zu einem wahren Vergnügen gereicht, sie Ihnen zuzusagen, da ich nicht nur morgen, sondern auch noch übermorgen hier zu bleiben gedenke.“

„Ich bin Ihnen zwar sehr verbunden,“ sagte er nun mit einiger Verlegenheit, „allein ehe ich mich Ihrer Zusage für völlig versichert halten kann, muß ich Sie mit einer Bedingung bekannt machen, die dabei obwaltet, und die leicht möglich Ihren Rücktritt veranlassen dürfte. – Doch wollen Sie nicht die Gefälligkeit haben, in unserer Mitte Platz zu nehmen, und dort die Bedingung zu vernehmen, zu der ich etwas weit ausholen muß.“

Ich folgte der Einladung, und der Redner, der sich mir als Justizcommissarius vorstellte, erzählte nun die folgenden, in der That höchst eigenthümlichen Umstände:

„Vor etwa dreißig Jahren lebte hier ein Mann, der wegen seines bedeutenden Vermögens sowohl als wegen seiner komischen, oft ziemlich verdrehten Einfälle der ganzen Stadt bekannt war. Stets war er von der heitersten Laune, voller Ränke und Schwänke, besonders aber bei einem Glase guten Weines konnte er ausgelassen lustig sein. Dabei aber hatte er die Eigenthümlichkeit, daß er augenblicklich in die trübste, schwermüthigste Stimmung versank, sobald er durch irgend etwas an den Tod erinnert wurde; ja schon das bloße Wort erweckte ihm einen Schauder, und den Anblick einer Leiche, eines Leichenzuges, eines leeren Sarges sogar, floh er wie die Pest. Man war daher ziemlich fest überzeugt, daß er ohne Testament sterben würde, weil dieses natürlich die Beschäftigung mit Todesgedanken voraussetzt. Doch als er starb, fand sich nicht nur ein Testament vor, sondern ein so merkwürdig verklausulirtes, daß ein ähnliches nicht leicht wieder zu finden sein dürfte. Seine Lebenslust so wie seine Furcht vor dem Tode, seine Scheu vor Allem, was daran erinnert, durchwehte das ganze Testament, welches in Ermangelung directer Erben einige entfernte Seitenverwandte zu Haupterben und meinen Vater zum Vollstrecker einsetzte. Oft hatte der Verstorbene seine Furcht, lebendig begraben zu werden, geäußert, und seine erste Klausel bezweckte die Sicherung gegen diese Gefahr. Seine Leiche sollte nämlich nicht eher zur Ruhe bestattet werden, als bis sein ganzer, ziemlich beträchtlicher Weinvorrath ausgetrunken wäre, und damit man sich damit nicht allzusehr übereile, hatte er bestimmt, daß nie mehr als zwölf Personen zu gleicher Zeit an dem Trinkgelage Theil nehmen sollten. Eine sehr lästige Bedingung für die Trinkenden war dabei, daß der Wein nur in dem Zimmer getrunken werden durfte, in welchem die Leiche in ihrem Sarge stand. Dieser selbst gab einen neuen Beweis für die Manie des Todten, denn der Deckel desselben war von Glas, damit,“ so hieß es in dem Testamente, „er selbst noch nach dem Tode nicht ganz von dem heitern Leben ausgeschlossen sei.“ – Ein Grab in dunkler Erde, selbst ein düstres Grabgewölbe, waren ebenfalls Gedanken, die den Verstorbenen mit Schauder erfüllt hatten; deshalb sollte sein Sarg in dem obern Stockwerke einer Art von Lusthaus beigesetzt werden, das er zu Jedermanns Verwunderung und zu diesem damals noch nicht geahnten Zwecke auf unserem Gottesacker hatte erbauen lassen, nachdem er die Erlaubniß zu einem so sonderbaren Einfalle nur mittelst eines bedeutenden Legates für die städtische Armenkasse erlangt.“

„Das also ist der Ursprung dieses Gebäudes, das mir auffiel, als ich hier ankam,“ unterbrach ich den Redner. „Nach alle dem, was Sie mir da erzählen, muß das wirklich ein origineller Mensch gewesen sein.“

„Ein verschrobener,“ sagte der Justizcommissarius; „denn hören Sie nur weiter. – Ein Capital von 4000 Thalern bestimmte er dazu, daß von den Zinsen desselben alljährlich an seinem Todestage ein Festmahl für zwölf Personen gegeben werde. Dieser Todestag ist nun morgen, und dieses Leichenmahl ist es, zu dem ich die Ehre hatte, Sie einzuladen.“

„Ganz gut; ich sehe aber nicht ein, was mich zu der Rücknahme meiner Zusage bewegen sollte?“

„Sie werden das gleich erfahren, und es soll uns alle freuen, wenn Sie Ihrem Worte treu bleiben. – Der Testator, der im Leben keinen höheren Genuß kannte, als die Freuden der Tafel, will auch im Tode noch Theil an den von ihm veranstalteten Mahlzeiten nehmen. Deshalb hat er verordnet, daß sie in jenem Todten-Lusthause Statt finden. Die eigends dazu eingerichtete [118] Tafel muß rings um den Sarg aufgestellt werden, dessen hochemporragender gläserner Deckel, an welchen sich der Tisch auf allen Seiten dicht anlehnt, und der unverdeckt bleiben muß, gewissermaßen als Tafelaufsatz dient. Nun können Sie sich aber wohl denken, daß es eben nicht angenehm und nicht appetiterweckend ist, bei jedem Bissen, jedem Glase Wein, die man zum Munde führt, in Gefahr zu stehen, von dem Todtenschädel angegrinzt zu werden, oder die Augen auf ein widerliches Knochengerippe zu richten.“

„Allerdings,“ entgegnete ich, „aber man braucht ja nur nicht hinzusehen; ich trete deshalb nicht zurück, sondern freue mich vielmehr, in guter Gesellschaft einer so eigenthümlichen Mahlzeit beizuwohnen. Wie kömmt es aber, daß Sie, wie sie vorhin äußerten, eine solche Schwierigkeit dabei finden, die erforderlichen zwölf Tafelgenossen zu bekommen?“

Das rührt wieder von einer Grille des Testators her,“ sagte der Justizcommissarius; „denn außer dem Testamentsvollstrecker – was ich jetzt an meines Vaters Stelle bin – und den nächsten Verwandten, die Theil an der Erbschaft haben, und die sich bei Verlust dieses Antheiles nicht ausschließen dürfen, ist Niemand, der bereits an dem Mahle Theil nahm, zum zweiten Male zu demselben zulässig, und Sie sehen daher wohl ein, daß es nicht eben leicht ist, jedes Jahr sechs bis acht neue Tafelgenossen zu finden, da Mancher die Einladung ablehnt, und man doch auch nicht den ersten Besten in die Gesellschaft ziehen mag.“

Ich stimmte ihm vollkommen bei, und habe nun nur noch hinzuzufügen, daß die Mahlzeit am folgenden Tage sehr heiter ausfiel, und daß ich mir die wirklich ausgesuchten Speisen und die feinen Weine vortrefflich munden ließ, ohne auf das Todtengerippe unter dem Glasaufsatze der Tafel sonderlich zu achten. Uebrigens war dasselbe vor den zahlreichen Blumen, welche den Sargdeckel rings umstanden, kaum zu sehen.

Wer Lust hat, diesem Leichenmahle ebenfalls beizuwohnen, der darf sich nur zu dem Sterbetage, der in den Anfang des Septembers fällt, in Lauenburg einfinden, und er wird mit großer Gewißheit auf eine Einladung zählen können.
A. 




Der Kriegsschraubendampfer Wellington.

Der Kriegsschraubendampfer Wellington (Durchschnitt).

Zu dem Kampfe, der sich zwischen den europäischen Westmächten und dem Kaiserthume Rußland zu dieser Stunde zu entspinnen droht, erscheint die Kriegskunst zum ersten Male mit Gewaltmitteln auf dem Schauplatze, wie sie noch nie in bisherigen Kämpfen vorgekommen. Wir meinen die mächtigen Kriegsdampfflotten, und unter diesen wieder die riesigen Schraubendampfer, welche jetzt die Meere durchfurchen, und bei der Schnelligkeit und Stärke ihres Angriffs kaum ein Widerstandsmittel denkbar erscheinen lassen. Die elementarischen Gefahren des Meeres sind durch diese Dampfcolosse so ziemlich besiegt.

Als erste Seemacht der Welt ist es auch hinsichtlich der Kriegsdampfer England, das alle übrigen Staaten hinter sich zurückgelassen und bei Erbauung derselben in jüngster Zeit Größenverhältnisse erreicht hat, wie deren die Schiffsbaufahrt noch nie hervorgebracht. Der seit Kurzem die Wogen bestreichende Schraubendampfer Wellington ist unter diesen Seeungeheuern das größte.

[119] Wir würden allzu weit in die Geschichte des Dampfes oder auch nur der Dampfschifffahrt eingehen müssen, wenn wir einer stufenweisen Machtentwicklung folgen wollten. Aller frühern Versuche nicht zu gedenken, liegt schon von dem Amerikaner Fulton, der 1807 zuerst erfolgreich die Dampfschiffe einführte, bis zur Erbauung des Wellington eine Reihe so mächtiger Fortschritte dazwischen, daß es an den nöthigen Ruhepunkten gebricht, um sich ein klares Bild zu verschaffen, wie der Dampf allmälig alle bestehenden Verhältnisse umgestaltete. Als Hauptmomente in seiner neuern Geschichte sind die Ueberschiffung des atlantischen Oceans, 1819 zum ersten Male durch einen amerikanischen Dampfer, und die Anwendung der archimedischen Schraube als forttreibende Kraft zu betrachten. Letzteres System feierte mit dem Wellington vorläufig seinen größten Triumph.

Die Idee, einen andern Mechanismus an die Stelle der bei den Dampfschiffen üblichen Ruderräder zu setzen, beschäftigte schon in erster Zeit die Männer von Fach. Man hatte die leichte Zerbrechlichkeit der Ruderräder alsbald erkannt, man hatte gefunden, daß bei nur zwei Rädern eine gleichmäßige Bewegung nicht immer erzielt werden konnte. Bei den Kriegsdampfern zeigten sich noch größere Nachtheile. Die Ruder und ihre Kasten beschränkten nicht unwesentlich die altherkömmliche Breitseite der Schiffe, wodurch ein kostbarer Raum verloren ging, außerdem konnte aber auch im Kampfe ein einziger Kanonenschuß die Ruderräder zerstören und damit das ganze Schiff unfähig zum Manövriren machen und der Gewalt des Feindes Preis geben. Um dem abzuhelfen, mußte ein Mechanismus gefunden werden, der so kräftig wie die Ruderräder, dabei weniger zerbrechlich und durch Zusammendrängung in einen möglichst beschränkten Raum gegen alle feindliche Schüsse geschützt erschien.

Zu diesem Mechanismus eignete sich nichts so gut als die archimedische Schraube, so genannt nach ihrem Erfinder, dem Griechen Archimedes, der im dritten Jahrhundert v. Chr. lebte. An mehrfachen Versuchen, sie anzuwenden, fehlte es nicht, doch erst dem Schweden Ericsson gelang es, eine eigenthümliche Anordnung auszudenken, durch welche die Zukunft der Schraube als bewegende Kraft praktisch gesichert wurde. Die Amerikaner Ogden und Stockton riefen hierauf in Verbindung mit Ericsson die regelmäßige Schraubenschifffahrt in’s Leben.

Wir glauben die Leser der Gartenlaube mit einer in Einzelnheiten eingehenden Erklärung des Schraubensystems verschonen zu sollen, denn wir müßten uns dabei technischer Ausdrücke bedienen und, um verstanden zu werden, Vorkenntnisse in der Mechanik und dem Maschinenwesen voraussetzen, welche der größere Theil des Publikums nicht besitzt. Daher genüge nur die Angabe, daß die archimedische Schraube (wie auch unsere Abbildung des Wellington zeigt) in der Mittellinie des Schiffs dicht am Hintersteven über einer Fortsetzung des Kiels unter dem Wasser liegt und ihre Umdrehung durch einen langen von der Dampfmaschine in Rotation gesetzten Wellbaum erhält. Die Schraube selbst, welche entweder von geschmiedetem Eisen oder von Kupfer ist, bildet nur einen nicht ganz vollständigen Umgang, der aus mehreren (bis sechs) Blättern besteht, welche in einem Winkel von 28 Grad zu einander stehen. Die Schraube dreht sich in der Längenrichtung des Schiffes, und ähnlich wie eine gewöhnliche Schraube in Holz eingebohrt wird, bohrt sich die archimedische Schraube durch das Wasser vorwärts und setzt so das Schiff in Bewegung. Wir hoffen mit letzterer kurzen Erklärung dem Leser noch am deutlichsten geworden zu sein und werfen nun einen näheren Blick auf unsere Abbildung des Wellington.

Der Herzog von Wellington ist ein Schraubendampfer erster Klasse von 131 Kanonen, 1000 Mann Besatzung und 4209 Tonnen [120] Last; seine Länge beträgt 280 Fuß, seine Breite 60 Fuß, die vordere Tiefe 57 und die Hintere 65 Fuß, so daß er mithin über 1 Million Kubikfuß Inhalt hat. Die Buchstaben A–B auf unserer Abbildung bezeichnen das Oberdeck. Von dem Grenzgeländer a bis zu der Treppe b reicht das erhöht liegende Spiegeldeck, der Ort, von welchem aus der Admiral seine Signale und Befehle ertheilt; im Kampfe unterhalten auch die Seesoldaten von hier aus das Kleingewehrfeuer. Die Admirals- und Capitänszimmer nebst andern Offizierzimmern liegen unter dem Spiegeldeck. Der Raum von der Treppe b bis zum Hauptmast c heißt das Halbdeck und kann in gewisser Weise als der Paradeplatz des Schiffes bezeichnet werden; von hieraus erfolgen die auf Führung des Schiffs bezüglichen Befehle. Zwischen dem Hauptmaste c und dem Fockmaste d lagern Nothmaste, Lärmwaffen und dergleichen. Der Theil vom Fockmast bis zur Spitze des Schiffs wird Vorderdeck genannt, und ist mit den tüchtigsten Seeleuten bemannt. Von dem Oberdeck führen mehrere Leitern auf das Hauptdeck C–D herunter; f ist die Cajüte des Befehlshabers, g das Speisezimmer des Admirals, an welches der Salon u. s. w. stößt; hieran reiht sich in derselben Ausdehnung wie auf dem Oberdeck das Halbdeck, während der ganze übrige Theil des Hauptdecks Gallerie genannt wird; h ist das große Wasserfaß für den täglichen Gebrauch, i die Küche. Das Mitteldeck E enthält im hintern Theile unter I das Speisezimmer der Offiziere und deren Cajüten zwischen den Kanonen: m ist die Schiffswinde, womit der 101 Centner schwere Anker aus dem Grunde gezogen wird; n das Krankenzimmer und o die Apotheke. Auf diesem Decke hält sich vorzugsweise die Militärmannschaft auf. Die Buchstaben G–H deuten das gewölbte oder Kanonendeck an, auf welchem sich das schwerste Geschütz befindet. Hier wohnt der größte Theil der Schiffsmannschaft, zwischen den Kanonen stehen die Eßtische, an den Balken oben sind die Hängematten befestigt; p ist die Constablercajüte. Das Unterdeck I–K endlich liegt 2 Fuß unter dem Wasserspiegel und ist daher finster: der Vorrath und die Bagage des Schiffes ist daselbst zusammengedrängt; q ist das Zimmer des Proviantmeisters, r ein größerer Raum zum Aufenthalt für die Seecadetten, an welchen sich t und u allerlei Vorratskammern reihen; v ist die Pulverkammer, in welcher die größten Vorsichtsmaßregeln getroffen sind, so daß sie im Fall der Gefahr augenblicklich unter Wasser gesetzt werden kann, ohne daß deshalb das Pulver verdorben würde, da sich Alles in streng hermetisch verschlossenen Zinkbüchsen befindet; y ist das Wassermagazin, das aus Ständern von je 100 Tonnen Inhalt besteht, für den Wein ist hier ebenfalls ein Plätzchen; in den Kammern z liegt Salz und anderer trockener Proviant aufgespeichert; und sind die zur Heizung der Maschine bestimmten Räumlichkeiten, und an sie stößt zuletzt das Brotmagazin.

So ausgerüstet, durchschneidet der Wellington mit seinen 131 Kanonen die Wogen des Meeres mit Dampf und mit Segeln, in seinen Eingeweiden voller Unheil und Verderben. Gegenwärtig ist er das Admiralsschiff des Admirals Napier, der bekanntlich zum Befehlshaber der nach der Ostsee bestimmten Flotte ernannt worden ist. Die englische Admiralität beabsichtigt dem Wellington eine Reihe ebenbürtiger Genossen an die Seite zu stellen, und man geht sogar damit um, noch weit größere Verhältnisse zu erzielen. Allein schon ein halbes Dutzend Schiffe wie der Wellington würden genügen, um den festesten Hafenplatz der Welt mit allen Wällen, Dämmen und Mauern von granitnen Quadern binnen wenigen Stunden in einen rauchenden Aschenhaufen zu verwandeln. Bringen wir außerdem mit in Anschlag, daß die riesenhaften Handelsschraubendampfer, wie sie bisher nur englische Gesellschaften besitzen, daß z. B. der Himmalaya in eilf Tagen 3000 Mann Soldaten nach Constantinopel führen könnte, so sehen wir für künftige Zeit das ganze herkömmliche Kriegssystem über den Haufen geworfen und die seitherige Leichtigkeit in Vertheidigung der Küsten hat aufgehört zu existiren. Wie feuerschwangere Gewitterwolken kreuzen die colossalen Schraubendampfer umher, um jeden Augenblick sich über die bedrohte Stätte zu entladen und zur wahrhaftigen ultima ratio zu werden.




Ein Stündchen auf dem Monde.

Von Ferd. Stolle.

Eine duftende Juninacht. Ringsum träumen die Blumen – schlaftrunken tönen die eilf Glockenschläge der Dorfkirche durch die Kirchhoflinden – tiefe Ruhe –

„Da im östlichen Bereiche
Ahn’ ich Mondenglanz und Glut –
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Fluth.
Durch bewegte Schattenspiele
Zittert Luna’s Zauberschein
Und durch’s Auge schleicht die Kühl
Sänftigend in’s Herz hinein.“

Der Vollmond ist aufgegangen und steht in Sabbathstille über den Waldbergen. Heilige Blume der Nacht, soll ich dich astronomisch zergliedern, deine Phasen, deine Finsternisse, deine siderische, tropische, synodische, anomalistische und draconitische Bahn, deine Perturbationen, die den Astronomen so viel Kopfzerbrechen verursachen? – nein, das gehört in wissenschaftliche Lehrbücher – erfreuen wir uns deines milden Glanzes und versetzen wir uns lieber selbst in diesen Glanz, um zu sehen, ob es bei dir wirklich so lieblich und sanft aussieht, wie es dein freundlicher Anblick erwarten läßt – scheuen wir die funfzigtausend Meilen nicht, folgen wir dem Lichtstrahl, der uns in wenigen Secunden zu dir bringt.

Da sind wir! – aber als Geister, denn mit unserm an Beefsteak und bairisch Bier gewöhnten Erdenmantel oder Körper, würden wir, wie wir später sehen werden, keine fünf Minuten auf dem Monde auszuhalten vermögen. Wir streifen darum als Geister, aber mit menschlichen Augen, wissensdurstig über die wunderbaren Formen und Bildungen der Mondoberfläche, die da ganz verschieden sind von denen der Erde. Da fallen uns vor allen Dingen weite, meilengroße, kreisförmige Wälle in die Augen, deren Boden fast immer unter dem Niveau der sie umgebenden Ebene gelegen und in deren Innern sich zuweilen Berge erheben. Die Wissenschaft theilt diese wunderbaren, seltsamen Gebilde in Wallebenen, Ringgebirge, Krater und Gruben. Die Wallebenen sind die größten Gebilde dieser Art und haben einen Durchmesser von zehn bis dreißig Meilen. Diese Wallebenen sind unstreitig die ältesten Gebilde der Mondoberfläche; sie zeigen nicht mehr ihre ursprüngliche Form, sondern nur Reste derselben, versteckt und verdrückt durch spätere Bildungsformen. Die Ringgebirge haben einen Durchmesser von zwei bis zehn Meilen. Sie sind kreisförmiger als die Wallebenen und ihre Zahl ist sehr groß. Noch weit zahlreicher als die Ringgebirge sind die sogenannten Krater und Gruben. Es sind dies runde Einsenkungen, die von keinem sichtbaren Walle umgeben sind. Der Durchmesser dieser Gebilde ist weniger als zwei Meilen und geht herab bis auf hundert Fuß und darunter. Ihre Anzahl ist fürwahr unermeßlich. Mit einem Fernrohre von fünf Fuß Brennweite zählt man ihrer von Erden aus bereits 15 bis 20,000. Hier ist aber besonders zu bemerken, daß diese sogenannten Mondkrater wegen dieses Namens ja nicht mit den Kratern unsrer feuerspeienden Berge zu vergleichen sind, aus welchen Flammen brechen, Lava, Rauch und Asche hervorquellen. Feuerspeiende Berge kann es auf dem Monde überhaupt schon deshalb nicht geben, weil es daselbst kein Feuer giebt. Das warum werden wir sogleich erfahren. Jetzt zu den seltsamen Gebilden der Mondoberfläche zurück. Eine andere Art solcher Mondformen sind die sogenannten Rillen, sehr schmale lange, gradlaufende oder auch gebogene Vertiefungen, ähnlich den Erddurchschnitten unserer Eisenbahnen. Diese Rillen gehen oft durch kleine Krater oder hart an ihnen vorüber und endigen gewöhnlich auf einer erhabenen Ebene. Oft sind sie von Bergen dicht begrenzt und ziehen an deren steilen Wänden entlang. Nie aber laufen sie quer über dieselben hin. Solcher Rillen zählt man an die Neunzig. Manche sind nur zwei bis drei Meilen, die meisten zehn bis fünfzehn, einige fünfundzwanzig [121] bis dreißig Meilen lang. Ihre größte Breite beträgt 2000 Fuß. Außerdem sind viele Gegenden des Mondes außerordentlich gebirgig und diese Mondberge sind im Verhältniß viel höher und steiler als die Berge unsrer Erde. Am häufigsten erscheinen diese siderischen Gebirge in neben einander gelagerten breiten Massen mit tief eingeschnittenen oder auch ganz hindurchgehenden Querthälern. Es sind dies die sogenannten Massengebirge. Die Thäler werden sehr leicht grubenähnlich; die Berggipfel erscheinen meist dom- oder kuppelförmig, seltner kegelförmig. Hier und da zeigen sich auch einfache Reihen von Bergen oder Bergketten mit einzelnen Gipfeln und kleinen Ausläufern. – Ebenso räthselhaft und wunderbar wie die erwähnten Mondbildungen zeigen sich die großen Strahlensysteme des Mondes, worunter besonders die sieben großen Ringgebirge gehören. Sie werden von radienartigen Lichtstreifen weit und breit umgeben. Diese Streifen fangen gewöhnlich erst in einiger Entfernung vom Walle des Ringgebirges an; von da aus ziehen sie dreißig, fünfzig, ja über hundert Meilen gerade fort und zwar ohne allen Unterschied quer über Ebenen, Bergketten, einzelne Berge, Krater, Rillen, kurz über alle Mondgebilde, ohne im Geringsten durch sie gestört zu werden. Erhöhungen sind diese Lichtstreifen nicht, denn sie folgen weder dem Laufe, noch den Krümmungen der Gebirge.

Die Oberfläche den Mondes ist also mit Erhöhungen und Vertiefungen der mannigfachsten Art gleichsam übersäet. Wie sieht es aber außerdem auf dieser Mondfläche aus? Wo sind die blauen Meere und Seen, die grünen Wälder und Wiesen, die üppige Vegetation, der blaue Himmel mit seinen Morgen- und Abendröthen, seinen Donnerwolken und Regenbogen, seinen Gewitterstürmen und Frühlingsregen? – Von alle dem, theure Erdenlandsleute, ist auf jener so sanft über den Waldbergen leuchtenden Kugel keine Spur zu finden. Auf dem Monde giebt es nichts von dem, was wir Wasser, Feuer, Regen, Wolken, Morgen- und Abendroth nennen und aus dem ganz einfachen Grunde, weil unser getreuer Begleiter vom Schöpfer mit keiner solchen Luftschicht umgeben worden ist, die wir Atmosphäre nennen. Ja, nach den sorgfältigsten Beobachtungen, die darüber angestellt worden sind, hat der Mond entweder gar keine oder höchstens eine nur so äußerst dünne Atmosphäre, daß kein Mensch, kein Thier darin Athem holen, kein Feuer brennen, keine Pflanzen leben und gedeihen könnte.

Was für Erscheinungen hat diese Atmosphärenlosigkeit des Mondes anderweit zu Folge? Neben dem grellsten Sonnenlicht unmittelbar grabesdunkle Nacht. Keine Dämmerung, keine erquickende, tagverkündende Morgenröthe geht dem Sonnenaufgange voran. Auf die finsterste, höchstens durch Erd- und Sternenlicht erhellte Nacht, folgt der blendendste Tag, welcher einen halben Monat währt, denn so lange braucht scheinbar die Sonne auf dem Monde von einem Untergange zum andern. Sie braucht allein 68 Minuten, um völlig aufzugehen, während sie über den Erdenhorizont binnen 21/2 Minuten hervortritt. In ihrem eintönigen Laufe wird sie nie von Wolken verdunkelt, kein Gewitter rollt über den Mondhimmel, kein goldner Blitz leuchtet durch die Mondnacht. Und welch ein Sonnenlauf! Nicht wie auf Erden zieht Phöbus seinen Flammenwagen durch den blauen, himmlischen Dom – für den Mondbewohner rückt eine glühende Scheibe unendlich langsam über einen tiefschwarzen Himmel, an welchem auch am Tage die Erde, Planeten und Fixsterne leuchten. Kaum ist nach zwei Wochen der letzte Sonnenfunken am Mondhorizont verschwunden, bricht auch sogleich die tiefste und ebenso lange Nacht herein.

Also sehnen wir uns aus unsrer blüthenduftenden Juninacht nicht thörig hinauf nach dem sanftleuchtenden Gestirne. Es ist für uns Erdenbürger in unsrer Gartenlaube schöner, als dort oben auf jenen Ringgebirgen, Kratern und Rillen; und gleichwohl wie mancher Sterbliche, wie mancher Naturforscher und Astronom würde nicht mit Geld die Stunde aufwiegen, die ihm vergönnt wäre, vom Monde aus die Erde zu betrachten.

Da schwebt sie im himmlischen Raume unsre Mutter, der prächtige Erdball, vierzehnmal im Umfange größer als uns die sanfte Luna erscheint; da bewegen sich ihre Ländermassen, Meere, Wälder, Gebirge, Städte; denn wenn wir unsre Fernröhre auf dem Monde aufzustellen vermöchten, würden wir Städte und Ortschaften, bedeutende Feuersbrünste und Schlachten wohl zu erkennen vermögen. Alle vierundzwanzig Stunden wälzt sich die Riesenkugel um ihre Achse. Seht, da tritt so eben das gewaltige Afrika in schönster Sonnenbeleuchtung hervor. Ha, welch ein Anblick! Wie viele Räthsel über diesen unnahbaren und unbekannten Erdtheil lösen sich. Seht, welche unwirthbare Steppen, welche Ströme, Bergketten, Städte, Seen und Wälder. Wir lernen in einer Stunde Afrika besser kennen, als es alle irdischen Erdbeschreibungen uns zu lehren im Stande sind. Jetzt erscheint das noch unbekanntere Australien. Neue ungeahnte Entdeckungen. Ha, welch neuer himmlischer Glanz! Die Sonne spiegelt sich im Weltmeer! Ein Königreich für eine Stunde auf dem Monde!

Wenn man unsre großen Astronomen Struve, Mädler, Archelander, Galle, Leverier, d’Arrest, Hind, Airy, Adams, Herschel und allen den andern hochverdienten Himmelskundigen die Wahl lassen wollte, ob sie die himmlische Stunde auf der uns sichtbaren Mondseite verbringen wollten oder auf der andern, so würden sie alle über Hals über Kopf nach der uns unsichtbaren Mondhalbkugel eilen, und hier ihre Frauenhofer aufstellen als auf einer der großartigsten Sternwarte im ganzen Sonnensysteme.

Eine Lieblingsfrage der guten Menschenkinder ist: Ob der Mond wohl bewohnt ist? Je nun, wenn die Frager unter der Mondbewohnerschaft solche Geschöpfe, wie sie auf Erden leben, verstehen, kann man die Frage getrost verneinen: wenigstens begreifen wir nicht, wie solche Geschöpfe auf dem Monde sehen, hören, riechen, schmecken, wie sie überhaupt athmen könnten. Daraus aber auf eine völlige Unbewohntheit des Mondes zu schließen, wäre sehr gewagt. Wir haben freilich keine Vorstellung, wie ein Wesen beschaffen sein müsse, um in solcher Natur zu leben. Dies ist unserm Herrn Schöpfer seine Sache. Hätte er z. B. keine Fische geschaffen, würden wir uns vergeblich den Kopf zerbrechen, wie ein Thier beschaffen sein müsse, um im Wasser zu leben. Gott, der auf Erden selbst den Wassertropfen mit lebenden Wesen angefüllt hat, wird wahrscheinlich auch für Mondbewohner gesorgt haben. Wie sie beschaffen, wissen wir freilich nicht. Trösten wir uns aber, daß es den Mondbewohnern, falls sie ebenso geistreiche Leute sind wie die Erdenbürger, hinsichtlich unserer Erde nicht besser ergehen dürfte. Setzen wir den Fall, der Mondbewohner betrachtet die Erde durch ein Fernrohr, so wird er eine Menge Dinge erblicken, die er sich schlechterdings nicht zu deuten vermag, für welche ihm jeder Begriff fehlt. Da der Mond keine Wolken hat, so würde er nicht wissen, was er aus den seltsamen Gebilden machen soll, welche bald ganze Theile der Erde verhüllen und bedecken, bald sich mannigfach verändern, bald wie lebende Wesen eine von der Bewegung der Erde ganz unabhängige Bewegung haben, bald wieder spurlos verschwinden. Da der Mond kein Wasser hat, so kann sich sein Bewohner unmöglich jene in vollkommenster Ebene und Glätte erscheinenden Stellen der Erde, welche ihm als unsere Meere bald in dieser, bald in jener Farbe erscheinen, die ihm bald das Bild der Sonne, bald den eigenen Wohnort als leuchtenden Punkt zurückspiegeln, erklären. Der Mondbewohner sieht das Geäder unserer Flüsse, aber sein eigener Planet zeigt ihm nichts ähnliches. Was sie sind, kann ihm nie klar werden. Er bemerkt die halbjährlich abwechselnde Schnee und Pflanzendecke als lebhaften Farbenwechsel. Wie soll er sich diese Erscheinung deuten, da der Mond keinen Wechsel der Jahreszeiten, keinen Schnee, kein Wald- und Wiesengrün und keine Blumen hat?

Wenn nun aber dem Mondbewohner alle Anschauungen und Begriffe für die wichtigsten irdischen Verhältnisse. welche das ganze Leben des Menschen bedingen, durchaus fehlen, mit welchem Rechte wollen wir uns denn die Fähigkeit zuschreiben, Begriffe und Anschauungen für die physischen Verhältnisse des Mondes? Weichen denn diese nicht genau ebensoviel von den irdischen ab, als letztere von jenen? Es ist die Selbstliebe der Erdbewohner, bemerkt sehr richtig ein deutscher Astronom, durch welche sie sich gern überreden, sie ständen auf einer Stufe, auf welcher sie den Schlüssel zu allen Naturverhältnissen besäßen, während die Bewohner anderer Weltkörper freilich unsere irdischen Verhältnisse nicht begreifen würden. Wer sagt uns denn, daß hier die Gattung der denkenden Wesen im Stande ist, sich zu universelleren Anschauungen zu erheben, als die auf anderen Weltkörpern etwa vorhandenen? Wer da meint, unsere irdischen Verhältnisse und Organisationen, mit geringen Abänderungen, auf irgend einem andern Weltkörper wieder zu finden, verräth eine beschränkte Naturansicht. Es ist wohl möglich, daß der gesammten Organisation auf allen Körpern unseres Sonnensystemn ein allgemeiner Urtypus zu Grunde [122] liegt, wie wir solchen auch in der tellurischen Organisation vom Infusionsthierchen bis zum Menschen zu entdecken vermögen. Allein, wenn wir schon auf der Erde sehen, wie ungemein verschieden sich derselbe vom Korallenthiere bis zum Käfer, vom Fische bis zum Menschen darstellt und ausbildet, wer will dann wohl wagen, wissenschaftlich nachzuweisen, wie sich der allgemeine Urtypus auf andern Planeten und Monden dargestellt und ausgebildet hat!



Dies unserm Aufsatze beigegebene Mondbild zeigt den Mond zwei Tage nach dem Neumond, also im Zunehmen begriffen. Wir erblicken einen Theil der Mondscheibe vom Sonnenlichte erhellt, während der übrige Theil dunkel abschattet. Dieselbe Erscheinung bietet auch bei reiner, klarer Luft und namentlich in südlichen Gegenden die Mondscheibe einige Tage vor und nach dem Neumonde. Aber wir erklärt sich dieses Phänomen? Woher jene, wenn auch nur schwache Erleuchtung desjenigen Theiles der Mondscheibe, der von den Strahlen der Sonne nicht berührt wird? Es ist die Beleuchtung des Mondes durch unsere Erde. Unser eigenes Erdlicht erblicken wir auf jener dunkeln Mondfläche. Also das doppelt gebrochene Sonnenlicht. Da die Erde den Mond vierzehnmal stärker beleuchtet als dieser die Erde, so ist es uns möglich, dieses Erdlicht zu erkennen. Uebrigens zeigt sich dieses Licht im Herbste des Morgens stärker als im Frühlinge des Abends. Im ersteren Falle sind nämlich dem Monde Asien und das östliche Afrika zugekehrt; im anderen der atlantische Ocean und ein Theil von Amerika. Da nun das Land entschieden mehr Licht zurückwirft als das Wasser, so erklärt sich die bald stärkere, bald schwächere Beleuchtung.

Schließlich noch ein Bauernsprüchwort, wodurch man sogleich erkennen kann, ob die Mondessichel im Zu- oder Abnehmen begriffen ist: „Kann man die Mondsichel in die rechte Hand nehmen, so ist es zunehmender, braucht man aber die linke Hand dazu, ist es abnehmender Mond.“




Londoner Schriftsteller-Leben.

Wie in London Alles durch seine Massenhaftigkeit unendlich groß und unübersehbar erscheint, so sind auch die englischen Schriftsteller, die sich fast alle in London zusammendrängen, eine Welt, deren Anfang und Ende mit dem besten Fernrohr nicht entdeckt werden kann. Ebenso ist’s mit dem Büchermarkt, der Literatur und den Zeitungen. Von dem bedruckten Papiere, das alle Morgen in London erscheint, könnte man einen Drachen machen, so groß wie das schwarze Meer; könnte man die ganze russische Flotte dran hängen, ohne daß er verweigern würde zu steigen. Man kann sich also denken, was geschriftstellert werden muß, um dieses Papier alle 24 Stunden sehr eng und ohne Absätze, wie das hier so Mode ist, besetzen zu können. Die Zeitungsschreiber sind denn auch ohne Zweifel der erste und mächtigste Stand in Großbritannien, was auch die Millionäre und Lords mit ihren Privilegien, Ländereien und Einkünften (bis zu 7000 Thalern täglich, wie der Herzog von Bedford) und das ganze Oberhaus zusammen dagegen einwenden mögen. Die Minister selbst greifen zur Schriftstellerei, wenn sie sich nicht mehr anders zu helfen wissen. Es ist bekannt, daß Aberdeen und Palmerston selbst verschiedene Leitartikel für die Times schrieben, als ihnen die russische Frage zu nahe an die Kehle kam. Daß Palmerston nur unter der Bedingung, einen Leitartikelschreiber für die Times zu halten, um Weihnachten wieder in’s Ministerium trat, ist allein ein hinreichender Umstand, die Macht der Presse anschaulich zu machen. Ober- und Unterhaus, Regierung und Hof sind nichts ohne die Presse. Sie fühlen sich durchaus von ihr abhängig und jede auch noch so mächtige Partei beschäftigt eine Menge Köpfe und Federn, um sich zu halten. Fast jede Zeitung wird von einer Partei bezahlt und gehalten, damit die Zeitung sie halte. Die Presse wird dadurch allerdings, trotz ihrer Macht, auch abhängig und unfrei, aber im Ganzen ist und bleibt doch der öffentliche Meinungs-, Interessen- und Parteikampf ein nirgends durch äußerliche Gewalt und Willkür demoralisirter Streit mit Worten, Ideen und Bestrebungen. Jede kann sich vollständig entwickeln und aussprechen, insofern sie nicht so tief im Abgrunde des Lasters stecken sollte, kein Geld zu haben. Geld haben, d. h. sehr viel Geld haben, ist in England überall die erste Bedingung für eine einflußreiche Stellung. Der Schriftsteller allein macht davon eine Ausnahme, insofern er kein Genie ist, sondern ein geschickter, feinnasiger, offener Kopf, der jedes ihm vorgelegte Thema schnell und flüssig in einen 3/4 Ellen langen Leitartikel für einen bestimmten Zweck verwandeln kann, wobei ein gewisses ironisches Lächeln – das die große heutige Tagespresse und gute Gesellschaft charakterisirt – durchschimmern muß. Unter solchen Umständen wird der feine Kopf ein Leitartikelschreiber. Weiter kann es ein Mensch auf dieser Erde nirgends bringen, denn der englische Leitartikelschreiber gehört zur Regierung der Welt und kann in Petersburg und Peking, in Delhi und Capstadt, in Melbourne und Sebastopol Freude und Furcht erregen, um die größten Ereignisse zu vertilgen oder zu fördern.

So viel schien wenigstens nöthig, als Rahmen und Vordergrund für das Bild eines englischen Leitartikelschreibers. Unter ihnen stehen zwei Deutsche ganz oben an. Der eine ist Otto Wenkstern, den Namen des Andern hab’ ich vergessen. Wenkstern wurde einmal gefragt, wie es käme, daß die Deutschen ein besseres Englisch schrieben, als die Engländer? Ich glaube, er wußte es nicht. Die Deutschen haben mehr Logik, einen schärfern, wissenschaftlicheren, kritischeren Geist. Wer jemals englische Leitartikel gelesen, wird sich selten erinnern, etwas logisch Scharfes, etwas durch Entwickelung seiner inneren Wahrheit Mächtiges gelesen zu haben. Die Sache wird eben beleitartikelt d. h. auf eine feine, diplomatische Weise „besprochen“ und durch ironisches Lächeln, plausible Ansichten und „Räsonnements“ so gedreht, wie sie für den Tag dem Leser am Bequemsten sein mag. Braucht die Times einmal kritische und logische Kraft, müssen Deutsche schreiben.

Die ganze Kraft der englischen Presse wird in den Leitartikeln concentrirt, alles Uebrige ist Fabrikarbeit. Der Leitartikelschreiber erfreut sich deshalb äußerlich der beneidenswerthesten Lage. Er wird so fabelhaft bezahlt, daß ich es gar nicht zu sagen wage, aus Furcht, daß man mich für einen Aufschneider halten möchte. Aber so viel ist gewiß, daß die Times ausnahmsweise einen einzigen Artikel mit funfzig Pfund (350 Thaler) honorirt. Die Leitartikelschreiber erster Klasse wohnen größtentheils in einer neuen Straße in Camden Town, vielleicht der schönsten von ganz London. Die Paläste stehen hoch [123] und luftig einzeln in Gärten. Durch die Hinterfenster blicken Wiesen und die Hügel von Highgate und Hamstead, durch die vordern von unten herauf ein unabsehbares Labyrinth von Häusern, Straßen, Thürmen, Eisenbah[nen, Müffen] aus einer ewigen Wolke von Qualm und Dämpfen, wie unterirdischem Getöse: London. Da oben ist’s still und heiter, vornehm und ländlich zugleich. Wer London etwas näher kennt, merkt gleich, daß man etwa 2000 Pfund jährlich haben muß, um hier ein eigenes Haus zu machen, merkt gleich, daß das weder ein Platz für die Aristokratie von Belgrave-Square, noch für die City-Potentaten von Westbourn-Terrace sein kann. Nun, wer kann denn hier wohnen? Die Leitartikelschreiber erster Klasse. Ja, ja, so sieht’s auch aus. Nun erklär’ ich mir auch, warum dort in dem Hause eine Abendgesellschaft Vormittags um elf Uhr so lustig ist. Da die meisten Zeitungen Morgenblätter sind, fällt die meiste Arbeit auf den Abend und die Nacht, so daß für die Abendgesellschaften der Leitartikelschreiber keine Zeit übrig bleibt, als der Morgen, d. h. nach unsern Begriffen, der hohe Mittag. Ein altes Mitglied des Morning-Advertiser versicherte mich, daß, wie Falstaff mit gutem Gewissen behauptete, er wisse nicht, wie das Innere einer Kirche aussähe, er sich auch rühmen könne, niemals einen Tag vor zwölf Uhr Mittags gesehen zu haben.

Die Druckereien, Redactionen und Restaurationen der Zeitungen fallen alle in das Bereich der großen Hauptverkehrsschlagader Londons: Strand und Fleetstreet, bis zum General-Postamte und der Druckerei der Times herauf. Fleetstreet hat für die Literatur- und Literatengeschichte Englands eine Menge klassische Stellen. Da giebt es noch Zimmer in Kneipen, in denen hier Pope, dort Sterne, hier Shakespeare, dort Milton u. s. w. saßen und tranken. Jahrhunderte lang blieben diese „Parlours“ von Bierhäusern „Literaten-Kneipen.“ Und so finden wir auch das heutige Geschlecht noch alle Nächte in diesen Regionen discutiren, rauchen und trinken. Die eine Hauptdisputirhalle ist die Taverne zum grünen Drachen in Fleetstreet, die andere etwas weiter oben in einer Nebenstraße. Hier werden alle Abende um neun Uhr Discussionen über bestimmte Themata eröffnet und bis zwölf Uhr von verschiedenen Rednern durchgesprochen, so daß sich aus dem Ganzen verschiedene Leitartikel sehr leicht combiniren lassen. Nach zwölf Uhr gehen die Fremden (jeder kann ohne Ausnahme theilnehmen und mitreden) nach Hause. Nun setzen sich die Hauptredner, Alles Schriftsteller, dichter zusammen, zeigen, daß sie etwas „vortragen“ können, genießen verschiedene Spirituosa mit Zucker und heißem Wasser und dabei sich und das Leben. Und was können sie vertragen! Um nicht vom materiellen Spiritus zu viel Aufhebens zu machen, wie können die Geister, die sich vorher in ihren Reden so bitter herunterrissen, jetzt als Brüder einmüthig mit einander trinken! Da seht, dacht’ ich immer, das ist die Macht und Gewohnheit der freien Versammlung und Rede, die allgemein anerkannte Ehrfurcht vor dem Rechte des freien Wortes, der Bildung überhaupt. In Deutschland, dacht’ ich mir, würden die Redner sich zuletzt schießen oder schlagen, oder die eine Partei die andere hinauswerfen und dann in einem Vereine für sich zusammenkommen. Kurz, in Deutschland ginge das nicht, wenn’s inzwischen im Stillen nicht besser geworden sein sollte.

Man trinkt, scherzt, schraubt sich bis zwei, drei, vier Uhr Morgens und sammelt dann zu Hause Kräfte für den Nachmittag und Abend des folgenden Tages. Man ist gemüthlich und witzig, wozu die Eigenthümlichkeiten des englischen, schottischen und besonders irländischen Charakters unnrschöpflichen Stoff liefern.

In den Nachtkaffeehäusern um den Strand herum, geht’s etwas wilder und dramatischer zu. Es sind Zeitungsschreiber-Börsen, wo man mitten aus einem Leitartikel heraus, zu dem man noch kein sicheres Ende finden kann, hinüberspringt, um zu hören, ob sich auch in dem Thema nichts geändert habe, und dazu etwas kalte oder warme Küche und Flüssigkeit zu genießen, die letzten Ernten „penny-a-liners“ (die Stadtneuigkeiten, Mordthaten, Beinbrüche, interessante Arretirungen u. s. w. zusammenjagen und an die Zeitungen, 1 Penny die Zeile, verkaufen) in Empfang nehmen, Vacanzen an der Zeitung aus der Menge disponibler Individuen auszufüllen und sich überhaupt scharf umzusehen, ehe die Redaction geschlossen und die letzten Stellen des Blattes gefüllt werden, ob nicht noch eine telegraphische Depesche oder sonst eine wichtige Neuigkeit gekommen sei oder kommen könne. Während des Parlaments, das immer des Nachts tagt, während großer Versammlungen in London oder einer Provinzialstadt, aus welcher dann stenographische Berichte oder electrische Zuckungen bis zum letzten möglichen Augenblick herbeifliegen und noch gesetzt, gedruckt, corrigirt und eingeschoben werden müssen, ehe der ganze Satz von der ungeduldig brüllenden Dampfmaschine gepackt und in drei bis vier Stunden in 20,000 und mehr Exemplaren abgezogen wird; während dieser letzten Stunden und Minuten der Redactionen nehmen die Lokale und die Kaffeehäuser d’rum herum eine Physiognomie an, wie die letzten Scenen des letzten Aktes eines großen Drama’s oder die Umgebung eines Feldherrn, der seine Befehle im entscheidenden Momente nach allen Selten hinfliegen läßt, während er von allen Seiten jede Minute Nachrichten bekömmt. In der That ist auch der Hauptredacteur in solchen Momenten der Feldherr über Tausende von Gutenberg’s Truppen und über Hunderte von Schriftsteller-, Setzer- und Druckeroffizieren. Alle Manipulationen bekommen dann auch eine militärische Strenge und Pünktlichkeit. Wort und That folgen wie Blitz und Schlag auf einander. Jeder fliegt, ohne rechts und links zu sehen, athemlos auf einen bestimmten Punkt hin. Trepp’ auf, Trepp’ ab mit Stückchen Papier, gesetzten Compagnien von Typen, Aufträgen und Befehlen. Die Setzer schlagen wie Wahnsinnige mit den Armen umher. Man kann nicht so schnell sehen, als sie ihre Typen aus den Fächern zusammenwerfen. Da, er ist fertig mit seinem zerschnittenen Streifen. Ohne sich umzusehen, wirft er den Satz in die lauernden Arme eines Jungen, der zu einem zweiten und dritten Setzer eilt, bis das ganze gesetzte Manuscript auch zusammengeschoben, abgezogen und corrigirt ist und dann in die große Form gezwängt werden kann. – Endlich donnert eine ungeheuere Kette durch alle Stockwerke, an welcher die großen Formen hinunterrasseln in den Maschinenraum unten, in welchem phantastische Gestalten mit Papiermützen auf dem Kopfe, von grellen kleinen Lampen beschienen, hin- und herlaufen.

Nach dieser, durch das ganze Haus mit Freuden begrüßten knarrenden Arbeit der großen Flaschenzugkette, erfolgt ein allgemeines Rockanziehen, Hutaufsetzen und Davonlaufen, entweder nach Hause, oder zunächst in ein Nachtkaffeehaus, die überall umher noch wachen. Dort wird’s nun lustig. Man ist nach der Aufregung des Geschäfts so sehr geneigt, aufzuathmen, sich zu erholen und in eine angenehme Stimmung zu versetzen. Also man ißt und trinkt zu dem Geklimper einer Guitarre und ladet wohl auch eine der schönen Nachtwandlerinnen ein, die sich zu diesem Zwecke schon eingefunden haben und auf eine ziemlich graziöse Weise die gewissenlose Heiterkeit „Londons bei Nacht“ repräsentiren. Zuletzt scheint es dann in diesem Falle der Anstand zu gebieten, die Grazie, welche die Freuden der Tafel erhöhte, nach Hause bis vor die Thür zu begleiten, damit sie in der Nacht, die keines Menschen Freund ist, keinen Schaden nehme.

Im Ganzen genommen arbeitet der englische Schriftsteller ungemein viel. Von zwölf oder zwei Uhr Mittags bis Nachts zwei, drei und vier Uhr ist der Zeitungsschreiber „im Dienste.“ Die in Fleetstreet sind größtentheils Redacteurs und Mitarbeiter von Wochenzeitungen und wissenschaftlichen oder Unterhaltungsblättern, welche deshalb die Abende und Nächte ruhiger genießen können.

Um noch ein Wort über die Autoren von Büchern zu sagen, müssen wir gestehen, daß sich nicht viel über sie sagen läßt. Sie treten nicht als Masse zusammen auf, wie die Zeitungsschreiber, und halten sich im Uebrigen, wie jeder Engländer, verschlossen, um sich nur in ihren gewählten Kreisen zu bewegen. Ihr Hauptvereinigungspunkt ist die große Bibliothek und Lesehalle in St. James-Square, wo jedes Mitglied zehn Guineen Eintrittsgeld und sechs Guineen Jahresbeitrag zahlt. Sie ist einer der glänzendsten Brennpunkte der englischen Literatur, wo auch die deutsche am Vollständigsten vertreten ist. Von der bürgerlichen, häuslichen Persönlichkeit seiner Schriftsteller weiß England im Ganzen vielleicht eben so wenig, als Deutschland. Daß ich Bulwer, Thackerry, Jerry Douglas, Dickens und Charles Lever im Verlaufe von Jahren zufällig einmal oder einige Mal gesehen habe, kann mich nicht zu einer Schilderung derselben berechtigen. Doch läßt sich wenigstens sagen, wie sie aussehen. Bulwer ist ein langer, feiner, schmalbäckig, langbeinig und hochmüthig aussehender geleckter Stutzer mit Ringen und Nadeln. Er macht den Eindruck, als [124] wäre er ein eitler Ladendiener, der Sonntags in einem neuen Anzug ausreiten und vor dem Fenster der Angebeteten vorbei furchtbare Verwüstungen in dem zarten Herzen anrichten will. Von Thackerry ist mir kein Eindruck geblieben, als daß er, wie ein feiner, gebildeter Engländer aussah, ohne markirte Individualität im Gesicht. Jerry Douglas, der etwas derbe, selbstständige Humorist, der in Deutschland noch nicht gewürdigt genug zu sein scheint, ist ein breitschultriger, vollmondiger, alter Vollblut-Angelsachse, der in sein „Lloyds Weekly-Newspaper“ alle Wochen Artikel schreibt, die alle anglosächsische Kraftworte und eine entsprechende Geißelung der modernen Normannen in „Hand und Fuße“ haben. Er schreibt und ist nicht gern nüchtern und hat im Gesicht Ähnlichkeit mit Jean Paul.

Dickens kenn’ ich am Genauesten, d. h. ich kenne nicht nur seine Wohnung (im zurückgezogenen Russel-House, Tovistocksquare) und habe seinen großen messingenen Namen daran gesehen, sondern ihn auch selbst und sogar ein Dutzend Male im Vorübergehen gesehen und mit ihm gesprochen. Eine gedrungene, schmale, feine Gestalt mit einem Haupte zwischen reichlich wallendem Haar, das schon durch das Deficit des englischen Backenbartes, welches dem edelsten Gesicht einen prosaischen Ausdruck giebt, ein höheres Wesen verräth. Die Gesichtszüge sind sehr scharf und fein geformt, das Auge ungemein fest und klar, aber beim Sprechen und Lächeln sieht man, welch eine reiche, große Individualität sich darin einen Kopf gemeisselt. Dickens ist vielleicht die vollendetste Verkörperung dessen, was man Individuum nennt. Wie er Menschen geschaffen, die so individuell, so bis in’s Einzelnste und Eigenthümlichste erkannt und geschildert, keine Literatur und keine Zeit nur annähernd aufzuweisen hat, ist er auch eine Erscheinung, die auf den ersten Anblick durch eine zugleich scharf und edel bis in’s Feinste ausgeprägte Individualität sofort einen lebhaften, unerklärlich anziehenden Eindruck macht. Wir denken ihn wirklich persönlich kennen zu lernen. Dann wird es Zeit sein, die beste Kraft zu versuchen, ein richtiges, würdiges Bild von diesem Genius zu entwerfen, der unter allen Nationen verehrt und geliebt, aber in seiner großen tiefen, reichen Eigenthümlichkeit und seiner praktischen Bedeutung für die Cultur und Erhebung des Volkes wohl noch nirgends hinreichend verstanden und begriffen wird. – Charles Lever, der lustige Irländer, einer der übermüthigsten Humoristen der englischen Literatur, ist blos einmal vor mir vorbeigeflogen. Jeder lacht hier schon, wenn er den Namen dieses bausbäckigen, lustigen Celter hört, und auch der Deutsche wird lachen, der „meine eigenen Geständnisse“ (die hoffentlich übersetzt sind) gelesen. Was kann lustiger sein, als seine Fahrten durch Deutschland, seine Rolle, die er als Gesandter am Hofe zu München spielte, ohne ein Wort deutsch zu [verstehen], seine Wahnsinnsscene, um sich einen guten Platz durch [...eibung] eines Fremden zu verschaffen, der hernach, bei Tage besehen, sein bester Freund war, seine Bedientenrolle als Liebhaber?

In der schönen Literatur Englands nehmen übrigens die Damen eine ebenso umfang- als inhaltreiche Stellung ein. Sie bewegen sich aber alle in Kreisen, die dem Fremden verschlossen sind, so daß ich keine einzige der schönen und gefeierten Schriftstellerinnen persönlich kenne und nur Mrs. Norton, den weiblichen Byron, bei einer sehr peinlichen Gelegenheit, nämlich als öffentliche Anklägerin ihres Mannes, zu sehen bekam. Miß Edgeworth, Miß Außen, Miß Milford gehören unstreitig zu den graziösesten Roman-Componisten. Miß Mulach (Verfasserin des „Familienhaupts“), Miß Bronté („Jane Eyre“), Mrs. Gaskell („Mary Barton“), Mrs. Marsh („Erzählungen zweier Greise“) und Mrs. Norton (aus der berühmten Familie Sheridan) schreiben kein Buch, das nicht sofort im schönsten Einbande und prächtigster Ausstattung die Tische der Besuchzimmer zierte. Großes Genie ist in ihren Büchern nicht, aber ungemein viel sittliche und humane Grazie, Vornehmheit und Feinheit menschlicher Beziehungen, zuweilen auch schöne, zartsinnige Empörung über die heuchlerische Verformelung und Verflachung der englischen „guten Gesellschaft“, die mit der Zeit wirken wird, und im Ganzen keine sogenannte „Blaustrumpfigkeit“ mehr.

Schließlich läßt sich noch erwähnen, daß eine ziemliche Anzahl Deutsche als Schriftsteller in London leben. Wir nennen nur Bunsen, Bücher, Beta, Bauer, Faucher, Meyer, Schlesinger, Kolisch, Petermann, Seemann, Ohli, Freiligrath u. s. w. Bunsen ist wenigstens mehr Schriftsteller als Gesandter. Eine deutsche Dame schrieb neuerdings den englischen Musikroman „Charles Auchester.“ Viele Deutsche, die als Mitarbeiter an englischen Zeitungen [sit] sind, lassen sich blos rathen, da es in England für anständig gilt, nicht wissen zu lassen, wer ein Blatt redigirt oder schreibt.

So viel über Schriftstellerleben in London. Wenn man nicht viel „Leben“ darin fand, bedenke man, daß London nicht dazu da ist, um darin zu leben, sondern zu arbeiten oder den Spleen zu bekommen.




Aus der Menschenheimath.

Briefe des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Zwanzigster Brief.
Die Insekten-Verwandlung.
II.


Ehe ich Dir Einiges von meinen kleinen Wundergeschichten aus der Entwicklung der Insekten erzähle, muß ich Dir noch zweierlei vorher bemerken; erstens, daß neuere Forschungen auch in andern niedern Thierklassen eine Verwandlung aufgefunden haben, die oft nicht minder überraschend ist; und zweitens, daß nicht alle Insekten eine Verwandlung haben.

Der Naturforscher verbindet mit dem Worte Verwandlung hier einen genau abgegrenzten Begriff; er braucht es nicht so unbestimmt, wie es im Leben meist der Fall ist. Er schreibt z. B. den Schmetterlingen eine Verwandlung zu, und spricht sie den Heuschrecken ab; obgleich die jungen von den vollkommen entwickelten Heuschrecken durch den gänzlichen Mangel der Flügel auffallend genug abweichen. Ich muß Dir daher genau bestimmen, was die Wissenschaft unter Insektenverwandlung versteht, damit wir uns im Verlauf meiner Mittheilungen nicht falsch verstehen. Man sagt nämlich von denjenigen Insekten, daß sie eine Verwandlung, Metamorphose, haben, welche während ihres Lebensverlaufs in einen nach rück- und vorwärts scharf begränzten Zustand kommen, der außer einer auffallenden Gestaltveränderung sich hauptsächlich dadurch zu erkennen giebt, daß sie in ihm sich nicht frei bewegen und keine Nahrung zu sich nehmen können. Das ist natürlich der Puppenzustand, den die Wissenschaft wie das Leben gleich benennt.

Da weitaus die größte Zahl der Insekten im vollkommenen Zustande geflügelt sind, und alle geflügelten Insekten in der ersten Hälfte ihres Lebens der Flügel entbehren, so zerfällt das Leben der Insekten sehr bestimmt in vier Abschnitte oder Zustände. Diese sind der Eizustand, der Larvenzustand, der Puppenzustand und der Fliegenzustand.

Schon diese scharfe Gliederung des Insektenlebens unterscheidet diese interessante Thierklasse von den übrigen Thieren, bei denen die Gestaltveränderungen mehr unwesentlicher Art sind und mehr allmälig in einander übergehen.

Es ist vielleicht nicht überflüssig, wenn es auch auf den ersten Blick so scheinen könnte, vorher genau festzustellen, was die Wissenschaft, welcher sich hierin das Wissen des Lebens anpassen muß, unter Insekten versteht. Spinnen und Krebse sind z. B. keine Insekten, zu denen man sie gewöhnlich, jedoch immer mit einem gewissen und ganz natürlichen Widerstreben, wirft. Ein wahres Insekt hat immer einen aus drei Haupttheilen zusammengesetzten Leib, von denen der Kopf den ersten bildet. Dieser aber ist bekanntlich bei Spinnen und Krebsen innig mit der Brust verschmolzen. [125] Die Spinnen und Krebse bilden zwei besondere Thierklassen für sich. Die Flügel können deswegen nicht als durchgreifendes Kennzeichen der Insekten benutzt werden, weil es doch ziemlich viele flügellose giebt.

Gewöhnlich theilte man sonst die Klasse der Insekten in acht Ordnungen, die auch im gewöhnlichen Leben meist ebenso unterschieden werden: 1. Die Flügellosen, Apteren (Flöhe, Läuse, Springschwänze). 2. Die Fliegen oder Zweiflügler, Dipteren. 3. Die Immen oder Hautflügler, Hymenopteren (Bienen, Wespen etc.). 4. Die Libellen oder Netzflügler, Neunopteren. 5. Die Wanzen oder Halbflügler, Hemipteren (Bett-, Baum-, Wasserwanzen etc.). 6. Die Heuschrecken oder Geradflügler, Orthopteren. 7. Die Falter, Schmetterlinge oder Schuppenflügler, Lepidopteren; und 8. die Käfer oder Scheidenflügler, Coleopteren.

Du siehst, daß es wesentlich die verschiedene Beschaffenheit der Flügel ist, nach denen das Insektensystem sich aufbaut, zu welchem in neuerer Zeit, als eine allerdings sehr abweichende Zugabe, die Tausendfüße als neue Ordnung hinzugefügt werden mußten; so daß, neben einer nothwendig gewordenen Zerfällung der ersten und zweiten obiger Ordnungen, das Insektensystem, wie es zur Zeit feststeht, zwölf Ordnungen zählt.

Von den genannten acht Ordnungen haben alle Insekten der zweiten, dritten, siebenten und achten Ordnung eine Verwandlung nach der vorhin gegebenen Umschreibung: aus der ersten und vierten blos einige, die übrigen haben keine Verwandlung.

Hier muß ich mir das Vergnügen versagen, über die einzelnen Insektenordnungen Dir weiteres zu schreiben, da ich vor der Hand meine Aufgabe im Auge behalten muß, Dir die wunderreiche Insektenverwandlung auseinander zu setzen. Vielleicht komme ich später einmal ausführlicher auf die einzelnen Ordnungen zu sprechen, wo Du dann sehen wirst, wie sonderbare und eigenthümliche Lebenserscheinungen diese Thierchen bieten.

Laß uns nun die vier vorhin bezeichneten Zustände oder Abschnitte des Insektenlebens der Reihe nach betrachten.

Der Eizustand.

Fast alle Insekten werden als Eier geboren, und die wenigen Ausnahmen können diese große allgemeine Regel nicht stören. Dennoch muß ich diesen Ausnahmen erst einige Worte widmen, weil sie ein besonderes Interesse haben. Du wirst Dich schon von selbst fragen: wenn nun manche Insekten nicht als Eier geboren werden, kommen sie denn da als Larven oder als Puppen oder als Fliegen (vollkommene Insekten) zur Welt? Entweder das Erste oder das Zweite, nicht das Dritte.

Wenn im Sommer rohes Fleisch nur eine kurze Zeit an der Luft gelegen hat, so sieht man dann winzig kleine, schneeweiße Würmchen darauf herumkriechen – die Hausfrau sagt: es ist beschmeißt – das sind die als Larven geborenen Jungen der bekannten Schmeiß- oder Fleischfliegen. Den ganzen Sommer hindurch bringen die grünen Wanzen unserer Rosenstöcke lebendige aber flügellose Junge (also Larven) zur Welt.

Die Pferdelausfliege (Hippobosca equina), welche für das Pferd ein arger Quälgeist ist, gebärt ihre Jungen gleich als unbewegliche Puppen.

Dies sind einige der bekannteren Ausnahmen.

Sehen wir uns heute zunächst beiliegende zierliche Figur an. Sie zeigt Dir, worin die meisten Insekten einander sehr ähnlich sind, die eine Hälfte des Eierstockes. Du erkennst leicht in den schönen perlschnurförmigen Gebilden die Bildungsstätten der Eier, die in ihnen desto größer und entwickelter sind, je tiefer und also je näher sie dem Eiergange liegen, in welchen bereits vier eingetreten und nun geeignet sind, gelegt zu werden, wofür Du unten am Eingange eine Oeffnung siehst. Die zierliche Figur stellt aber eine reiche Quelle von Unheil dar, denn – es ist der Eierstock einer Heuschrecke. In meinem folgenden Briefe sollst Du erfahren, wie diese furchtbaren Pflanzenzerstörer ihre Eier ablegen.

Von der Regel, welche die wunderbarsten Verhältnisse in Gestalt und sonstiger Hinsicht darbietet, soll mein nächster Brief handeln.




Blätter und Blüthen.

Sebastopol. „Als wir uns Sebastopol, von dem die Russen immer mit geheimnißvoller Ehrfurcht und Angst sprachen, näherten, fühlte ich selbst bedeutende Furcht vor allen möglichen Gefahren, doch fuhren wir, im Vertrauen auf unsere doppelte Verkleidung und unsern deutschen Führer Richter, frisch vorwärts. Als wir bei einer plötzlichen Wendung des Weges eine weite Uebersicht der Halbinsel Krimm auf der Wasserseite ihrer Gestade bekamen, erhob sich Sebastopol selbst als der eigentliche erhabene Mittelpunkt der ganzen Landschaft und bildete mit seinen hohen, weißen Häusern, drohenden Batterien und grünen Kirchendächern einen interessanten Anblick. Weit landeinwärts und mitten unter den Häusern und Hügeln erhoben sich Wälder von Masten und müßig im Winde flatternden Segeln. Wir konnten bald die schwerfälligen Körper von Linienschiffen wie Riesen über die Zwerge von Häusern und Straßen hervorragen sehen, so weit geht das Tiefwasser des Hafens mitten in die Bogen der Stadt hinein. Ich verbarg mich ängstlich in meinen Heuwagen, obgleich ich durch Bauernkleidung, über die der Staub noch einen Paletot von Unkenntlichkeit gewoben, mich sicher genug fühlen konnte: aber das strenge Verbot, Fremde in diesen Mittelpunkt der geheimnißvollen russischen Seemacht einzulassen, und die Furcht vor der russischen Polizei im Allgemeinen, beunruhigten mich auf die peinlichste Weise. Wiederholte Versicherungen Richter’s, daß ich ganz genau wie einer der vielen deutschen Bauern in der Nachbarschaft aussehe (die Zahl der deutschen Bauern auf der Halbinsel Krimm, der Kornkammer fast des ganzen schwarzen Meeres bis Konstantinopel, ist sehr bedeutend) und die schmutzige Tabackspfeife, die ich mir anstecken mußte, beruhigten mich einigermaßen. So polterten wir langsam und ziemlich unbeachtet vor Massen von Schildwachen vorbei, mitten in die Stadt hinein auf den Heumarkt und von da in ein deutsches Speisehaus, dessen Wirth uns mit Herzlichkeit und Beefsteaks aufwartete.

Die Vorsicht, mit der wir nun als polizeiwidrige Gäste Sebastopol in Augenschein nehmen mußten, paßte ganz genau zu der Luft und den Gesichtern hier. Alles sah uns geheimnißvoll und drohend an. Nichts als Soldaten und forschende Blicke und Kanonenaugen dumpf, groß, schwarz, blind, aber verderbenschwanger. (Eines Morgens präsentirten die Schildwachen mehrmals vor mir, bis ich hinter mir den Gouverneur der Festung bemerkte, der mich Schritt für Schritt zu verfolgen schien. Mein Blut gefror zu einem ganzen Sibirien, doch es erwies sich als Zufall und ich athmete auf, wie aus einer furchtbaren Lebensgefahr befreit. Der Ort wurde mir aber bald unerträglich. Hier erinnerte mich keine ehrwürdige Ruine an ehemalige Größe, wie in Italien, keine verschleierten Damen und beladenen Kameele trugen meine Phantasie in den wollüstigen Orient zurück. Die ganze Abwechselung auf meinen Spaziergängen bestand in Sechsunddreißigpfündern bis Sechsundvierzigpfündern und Soldaten. Es war mir, als ginge ich stets, wirklich und figürlich, auf einem ungeheueren Pulvermagazin, stets bereit, uns Alle in der Luft zu begraben.“

So schildert Laurence Oliphant, der neuerdings Sebastopol und die russischen Provinzen am schwarzen Meere genau gesehen, seinen Einzug [126] in den Ort, der nach langer geheimnißvoller Vorbereitung eine welthistorische Wichtigkeit bekommen soll, Sebastopol ist für Rußland, was Portsmouth für England, in der That das Herz für alle russischen Plätze auf dem Süden von Europa und Asien. Diese Plätze stützen sich auf das Testament Peter’s des Großen und auf die Kaiserin Katharina (seit 1780). Diese Pläne schufen Petersburg und verwandelten das elende Tartarennest Akhtier in – Sebastopol, das Gibraltar des schwarzen Meeres. Der jetzige Kaiser hat seit mehreren Jahrzehnten große Summen aufgewendet, um Sebastopol zu einem sichern Ankerplatz und einer Pflanzschule für seine neue Flotte zu erheben. Man wußte dies längst im Allgemeinen, ohne daß wir während eines vierzigjährigen Friedens besonders beachteten, was Rußland lange, langsam und sicher begründete und ausbildete. Die natürlichen Vortheile dieses Hafens für diese russischen Pläne sind sehr groß. Die Kunst hat, wie es allgemein heißt, alles Mögliche hinzugethan, so daß man annimmt, Sebastopol gehöre zu den ersten und festesten Festungen und Kriegs-Arsenalen der Welt.

Als Oliphant sich Sebastopol vom Meere aus ansah, kam er auf einen Punkt, wo 1200 Kanonen zugleich ihre Schlünde zeigten. Den verderbenschwangeren Eindruck, den diese Ansicht auf ihn machte, kann er nicht lebhaft genug schildern. Dagegen tadelt er die Kammern, in welchen die Kanonen stehen, als zu eng und ohne Ventilation, so daß die Soldaten darin, schon beim dritten Schusse im Pulverrauche unfehlbar ersticken müßten. Als von großer Wichtigkeit bezeichnet er noch die ungeheueren hölzernern Bollwerke um den Hafen herum. Die Fortificationskunst habe damit etwas Ausgezeichnetes geleistet und wie und wann auch ein Angriff auf diese Wasserfestung stattfinden würde, von der Seeseite sei es uneinnehmbar, schon deshalb, weil die Einfahrt in den Hafen so eng, daß nur ein Schiff auf einmal einlaufen könne, das außerdem dem Feuer von mindestens 300 Feuerschlünden ausgesetzt sei. Aber so gewiß auch die Uneinnehmbarkeit der Festung von der Seeseite sei, so wenig geschützt sei dieselbe von der Landseite. Eine Landung südlich von der Stadt, in einer der sechs Buchten, könne schwerlich gehindert werden und dann allerdings dürfte die Sicherheit der Festung sehr gefährdet sein.




Wassermangel. (Erscheinungen dieses Winters.) Seit Menschengedenken erinnert man sich auch in der Schweiz keines solchen Wassermangels, wie in diesem Winter. In einigen Gegenden ist das Trinkwasser bereits zu einem unansehnlichen Handelsartikel geworden. In Schaffhausen war der größte Wasserstand des Rheins, dessen man gedenkt, im Jahre 1789, der kleinste in diesem Jahre; der Unterschied des Wasserspiegels zwischen dem größten und dem kleinsten beträgt 24 Fuß 8½ Zoll. Der Züricher See ist von seinem obern Ende her fast zur Hälfte mit einer Eisdecke überkleidet. Bei Stäfa liegt eine Strecke weit im See draußen, der sogenannte „Stäfnerstein“, der zu gewöhnlichen Zeiten wenig oder gar nicht gesehen wird, jetzt aber, von einer großen flachen Felsenzinne umgeben, offen daliegt. Auf diesem kleinen Felsenplateau fand am 10. Januar ein förmliches kleines Volksfest statt. Eine Menge der lebenslustigen Stäfner vergnügt sich mit Essen, Trinken, Schießen, Kegeln und anderen Spielen auf dem Platze, den sie selbst nie zuvor betreten und der vielleicht nach langen Jahren erst wieder einmal von ihren Söhnen und Enkeln besucht werden kann. Der Klönthalersee ist so tief gefallen, daß kein Tropfen Wasser mehr in dessen Abfluß, den Löntsch, geht und was das Merkwürdigste, der Oberblegisee im Canton Glarus, 4400 Fuß über dem Meere, dessen Abfluß sonst einen wunderschönen, aus Felsspalten hervorbrechenden Wasserfall bildet, ist beinahe vollständig eingetrocknet. Die jetzt zur Eisdecke gewordene Wasserfläche, des in muldenförmiger Vertiefung in reizender Umgebung gelegenen Sees ist jetzt fast 50 Fuß tiefer als sonst; eine unheimliche Schlucht hat die Stelle des dunkelblauen Bergwassers eingenommen, wie der älteste Mann es sich nicht erinnern kann. Dagegen will man aus dem jetzt schon eingetretenem Hervorsprudeln des sogenannten „Hungerbrünnleins“ bei Gränichen im Aargau auf ein gutes Jahr schließen; und trotz der Kälte zeigen sich bereits Vorboten des Frühlings. In einigen Dörfern der Schweiz sind bereits verirrte Vorposten der Störche angekommen, und auf den Höhen herrscht schon Frühlingstemperatur. Auf dem Ütli bei Zürich war schönster Sonnenschein, während kalter Nebel auf dem Thale lag. Am 22. Januar zeigte das Thermometer auf diesem Berge im Schatten 4,8° Celsius, in der Sonne freihängend 14,8° C (fast 12° Reaumur), und die zahlreichen Besucher fingen einen Schmetterling und brachten ihn lebend in die Stadt herab. Hoffen wir, daß dem diesmal besonders gestrengen Gesellen Winter ein baldiges Frühjahr folge, das so manche Leiden und Entbehrungen zu verwischen hat!. Der erste Lenzbote ist aber doch erst der Fön, dieses stürmische Kind der brennenden Sandwüsten Afrika’s, wenn er, im Kampfe mit dem Nord- oder Südwinde, dauernd die Herrschaft gewinnt und die zähen Schnee- und Eisschichten gewaltiger und rascher schmilzt als je die Sonne kann. Seiner Herrschaft haben wir die obige wunderbare Erscheinung zuzuschreiben, daß auf den Höhen man den Anbruch des Frühlings begrüßen konnte, während die Thäler noch unter Schnee und Eis seufzen. In diesem Jahre hat er schon einige Mal wieder das Feld seinem rauheren Gegner räumen müssen; aber bis die Leser der Gartenlaube dieses zu Gesicht bekommen, hat er wohl endlich den Sieg behauptet und auch Deutschland als milder Südwind den Vorfrühling gebracht.




Goethe der dem Tabak abhold war, sprach einst die Behauptung aus, ein wahrhaft gebildeter Mann werde sicherlich nicht Taback rauchen und fügte die Vermuthung bei, daß Lessing wohl nicht geraucht habe. Ebert, der ehemalige Bibliothekar in Wolfenbüttel, der bei dem Gespräch gegenwärtig gewesen war, versäumte nicht, sich über Goethe’s Vermuthung Auskunft zu verschaffen. Er wendete sich an eine alte in Wolfenbüttel lebende Frau, die mehrere Jahre Lessing’s Aufwärterin gewesen war. Auf die Frage, ob Lessing Taback geraucht habe, antwortete sie ganz treuherzig: „Ja schmauchen und schreiben konnte der Herr Lessing wohl, sonst aber war er zu nichts zu gebrauchen.“ –




Pariser Stückchen. Zu Paris stand neulich ein Herr Boissoneau vor der Zuchtpolizei, angeklagt, eine Uhr mit dem Kuchen eines Pastetenbäckers bezahlt zu haben. Er kam eines Morgens zu einem berühmten Pastetenbäcker: „Ich brauche zu morgen vierhundert Pasteten zu einem Diner, bin Marquis So und So und wohne da und da.“ – „Sehr wohl, sollen sie haben zu der von Ihnen bestimmten Zeit.“ – Abgemacht. Jetzt geht der Marquis hinüber zu einem Uhrmacher und sucht sich eine Uhr für zweihundert Franks aus, und während der Uhrmacher das kostbare Instrument einpackt, wird der Kunde plötzlich ein Butterhändler. „Ich bin Butterhändler en gros, Monsieur: der Pastetenbäcker gegenüber ist mir vierhundert Franks schuldig, die er morgen bezahlen will; Sie haben wohl die Gefälligkeit, Ihre zweihundert Franks statt meiner in Empfang zu nehmen. Kommen Sie mit hinüber, damit ich Sie vorstelle." Beide gehen hinüber. Marquis und Butterhändler en gros sagt: „Sie brauchen mir morgen blos zweihundert zu schicken, geben Sie die andern zweihundert gefälligst diesem Herrn hier.“ – „Sehr wohl! Alles in Ordnung." Marquis und Butterhändler zieht mit seinem Zeitmesser ab, und der Uhrmacher verdarb sich am folgenden Morgen schon beim Anblick der zweihundert Pasteten, die statt der zweihundert Franks sich einfanden, den Magen. Marquis und Butterhändler bekam nun, entdeckt, seine Strafe, aber weder der Pastetenbäcker noch der Uhrmacher Zahlung für ihre Kunstwerke.




Der Luftballon als Kriegsapparat. Kurz vor der großen französischen Revolution ward öffentlich vorgeschlagen, den Luftballon im Kriege als Spion anzustellen. Nach mehreren Versuchen für diesen Zweck gelang es endlich, ihn so anzuwenden, daß er nicht nur als bloßer Spion diente, sondern auch die Schlacht bei Fleurus gewann. Es kam zunächst darauf an, eine leichte Füllung mit Wasserstoffgas (statt des gewöhnliches Leuchtgases) zu bewerkstelligen. Der berühmte Lavoisier in Paris erfand eine Methode, das Wasser durch glühende Eisenstangen so zu zersetzen, daß das Wasserstoffgas sich schnell und in Masse entwickelte, und in vier Stunden 17,000 Cubikfuß dieser leichtesten aller Luftarten gewonnen werden konnten. Sofort ward in Paris eine „militairische Luftballon-Schule“ errichtet, worin fünfzig junge Soldaten den erforderlichen Unterricht für militairische Anwendung großer Ballons erhielten. Ein Ballon von 32 Fuß Durchmesser ward fortwährend gefüllt gehalten und zu Uebungen gebraucht. Ein Offizier stieg mit einigen Schülern 5-600 Fuß hoch, um Unterricht zu geben, d. h. durch Fernröhre Positionen und Stellungen von Menschen und Gegenständen aufzunehmen und deren Entfernungen zu messen. Der Ballon konnte durch ein großes Seil und eine Luftklappe regiert und in der Regel leicht wieder auf den Punkt, von dem er gestiegen, zurückgewunden werden. So lernte man Feindeslager sicher und vollständig übersehen und ausspionieren, ohne die Gefahr, gehangen zu werden. Im Jahr 1794 hatte jede der vier französischen Armeen ein solches Beobachtungs- und Spionirluftschiff bei sich. Eins derselben begleitete die Armee nach Belgien und stieg von der Ebene von Fleurus über 3000 Fuß hoch, von welcher Höhe die Offiziere die ganze Position der österreichischen Armee so genau übersehen konnten, daß General Jourdan öffentlich erklärte, er verdanke seinen Sieg bei Fleurus nur diesem Ballon. Wenn künftige Jahrhunderte sich auch noch schlachten, mag es wohl später zu den Land- und Seeschlachten auch noch Luftschlachten geben. Wenigstens feuerten die Oesterreicher auf den Ballon von Fleurus, bis ihnen die Traube zu hoch hing. Sollte es öfter vorkommen, liegt der Gedanke nahe, daß der Feind dem Spionirschiffe eins seiner Luftschiffe nachschickt, um es herunter zu schießen. Wir sind begierig, ob an der Donau, wo bereits Feuer, Wasser und Erde benutzt werden, Menschen auf die schnellste Weise in das Himmelreich zu expediren, nun auch die Luft noch in Anwendung gebracht wird.




Ein englischer Reisender in Amerika, das von Engländern in der Regel verhöhnt wird, weil die Amerikaner offen, schnell, höflich und keine Heuchler, die Engländer aber zurückhaltend, anmaßend, conservativ in ihren lächerlichen Eigenthümlichkeiten und unbeholfen gegen Fremde sind, läßt sich so vernehmen: „Ich kann feierlich versichern, daß ich niemals von einem Amerikaner eine rohe Antwort bekam. Jede meiner Fragen, ob an den Präsidenten oder an den Locomotivführer gerichtet, wurden immer nicht nur mit der größten Höflichkeit, sondern auch mit dem größten Eifer, die beste Auskunft zu geben, beantwortet. Auf Reisen fiel mir die Aufmerksamkeit und Zugänglichkeit der Mitreisenden um so angenehmer auf, als ich in England hunderte von Meilen mit Herren und Damen gereis’t war, ohne nur ein Wort zu wechseln. Meine Gewohnheit ist, jeden Menschen mit Höflichkeit anzureden. Das verlangt in Amerika Jeder, auch der niedrigste, denn auch er fühlt sich ein freier Mann. Höflichkeit ist der einzige nothwendige Paß auf Reisen durch Amerika. Ohne diesen und gar, wenn Du aristokratische Mucker aus der Heimath merken läßt, behandelt man Dich gar nicht oder weis’t Dich mit Verachtung ab, selbst wenn Du täglich 100 Pfund zu verzehren hast.“




Neue Gutta-Percha. In Indien hat man einen Baum entdeckt, dessen reichlich fließender Saft eine ebenso hartnäckige Masse bildet, wie das „vegetabilische Eisen“ Gutta-Percha. Proben davon wurden neulich in London in der Gesellschaft für Kunst vorgezeigt und durch Versuche als eben so gut befunden, wie Gutta-Percha.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.