Die Gartenlaube (1854)/Heft 3

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 3. 1854.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Falsche Ehre.

I.

Es war zu Boulogne im Jahre 1804, als Napoleon der Onkel, der mit den Engländern auf weniger freundschaftlichem Fuße stand denn Napoleon der Neffe, allen Ernstes die Küsten seines stolzen Gegners mit einer Landung zu bedrohen schien. Der Hafen von Boulogne war mit zu einer solchen Expedition tauglichen Schiffen überfüllt, und eine zahlreiche und kriegslustige Armee erwartete sehnsüchtig das Zeichen zur Einschiffung. Daß dieses nie gegeben werden würde, ahnte damals noch Niemand, die Unthätigkeit aber, zu welcher sich die muthigen Krieger verurtheilt sahen, zog den Uebelstand nach sich, daß es unter ihnen selbst mehr als sonst zu Händeln kam. Die in den Kaffee- und Weinhäusern zugebrachte müssige Zeit gab dazu mancherlei Veranlassung.

Unter den Offizieren, welche dergestalt in ein feindliches Verhältniß geriethen, befanden sich auch zwei zur Marine gehörige: Lieutenant Belmont und Fähndrich Trelat. Der Erstere, von sanftem, ruhigem Charakter und schon reifern Alters, hatte mehrere kriegerische Expeditionen mitgemacht und verdankte einzig seinen Talenten und geleisteten Diensten den Grad, den er bekleidete. Der Andere, um mehrere Jahre jünger, war weniger besonnen und dafür um so viel hitziger; auch hatte er seine Beförderung nicht ganz ausschließlich seinen Verdiensten zu verdanken.

Diese beiden Männer von so verschiedenem Charakter, zwischen denen im Dienste nicht einmal eine unmittelbare Berührung stattfand, waren zu bittern Feinden geworden, ohne sich selbst recht des Ursprungs ihres Zwistes bewußt zu sein; ihn fortwährend zu nähren, sorgte aber die Rücksichtslosigkeit Trelat’s durch peinigende Scenen dafür.

Das gehässige Benehmen Trelat’s ging dabei eines Tages im Kaffeehause so weit, daß er seinen ältern Kamerad und Vorgesetzten im Grade nicht nur beleidigte, sondern, mit Hintansetzung aller Schicklichkeit, ihn sogar öffentlich forderte und ihn bei Nichtannahme seiner Forderung als Feigling zu betrachten drohte.

„Man hat mir,“ versetzte der Lieutenant kalt, der dem heißblütigen Fähndrich gegenüber seine Ruhe bewahrte, „die Waffen nicht gegeben, um sie gegen meine Kameraden und Landsleute zu gebrauchen; daß ich aber Muth besitze, wird man wissen, ohne daß ich neue Proben davon ablege. Auch habe ich keine Lust, Ihrer Carrière, Herr Fähndrich, durch einen Degenstich ein frühen Ende zu machen, wo Sie vielleicht bald eine bessere und rühmlichere Gelegenheit zum Tode finden, und eben so wenig bin ich geneigt, mein eigenen Leben in einem persönlichen und durchaus grundlosen Streite auszusetzen, bei welchem weder der Eine noch der Andere von uns Ehre erwerben kann. Mein Blut gehört dem Vaterlande, und nur für dieses werde ich es freiwillig vergießen.“

So vernünftig und würdevoll auch diese Weigerung ausgedrückt war, so konnte sie doch unmöglich von Leuten begriffen werden, welche mit dem traurigen Vorurtheil aufgewachsen waren, daß eine Beleidigung nur durch Blut abgewaschen werden kann. Die Antwort des Lieutenants wurde daher mit mißbilligendem Murmeln aufgenommen und Trelat’s Aufregung zumal erreichte den höchsten Grad.

„Ich bewillige Ihnen,“ rief er seinem Gegner zu, „vierundzwanzig Stunden Zeit zur Ueberlegung, und wenn Sie mir nach dieser Frist nicht die verlangte Genugthuung gegeben haben, so werde ich Ihnen allüberall, wo ich Sie treffe, den letzten Schimpf zufügen, der einem Manne und zumal einem Militär widerfahren kann.“

Bei diesen Worten überzog sich das Gesicht Belmont’s mit tödtlicher Blässe, seine Lippen zitterten krampfhaft und die Hand an den Degen legend, rief er mit bebender Stimme: „Thun Sie das nicht! Thun Sie das nicht! denn ich würde Sie tödten und wir wären Beide unglücklich. Ich würde Sie tödten!“ wiederholte er, diese Worte dumpf betonend, während seine Augen düster dazu flammten. „Ich würde Jeden tödten, der die Hand gegen mich zu erheben wagen sollte. Sie Alle haben es gehört,“ fuhr Belmont mit wilder Stimme fort, indem er sein Auge langsam und fest über die zahlreichen Zeugen dieser sonderbaren Scene schweifen ließ; „ich schwöre bei Gott, daß, wenn Herr Trelat seine Drohung verwirklicht, ich die meinige verwirkliche, und dann… falle das vergossene Blut auf sein Haupt.“

Mit diesen Worten entfernte sich Belmont, die erstaunten Anwesenden in tiefem und langem Schweigen zurücklassend.

„Dies ist sonderbar,“ hob endlich ein Schiffslieutenant an; „dieser Mann, dessen Kamerad zu sein ich erröthe, entehrt die Offiziersepaulette, und doch wundert mich sein Betragen um so mehr, als ich weiß, daß er das Pistol gleich geschickt handhabt wie den Degen, und es sehr schwer sein würde, ihm mit der Waffe beizukommen.“

„Er trifft eine Schwalbe im Fluge,“ bemerkte ein Anderer.

„Sie können von Glück sagen,“ fügte ein Dritter, sich an Trelat wendend, hinzu, „daß er Ihre Forderung nicht angenommen hat, denn nach Allem was man hört, ist einem solchen Gegner bös Gegenüberstehen.“

„Das ist ganz gleich,“ versetzte der aufgeregte Fähndrich, dessen Eigenliebe durch die letztgemachte Bemerkung erst recht verwundet wurde, und der daher weniger als je zurücktreten zu können [26] glaubte. „Besser ein festes Herz und eine ungeschickte Hand als ein sicheres Auge und eine feige Seele. Und nur ein Feigling kann bei so vielen Vortheilen, die er über mich hat, zurückweichen. Verweigert er, sich mit mir zu schlagen, so muß er aus dem Corps gestoßen werden, dem anzugehören er unwürdig ist, denn Feiglinge dürfen wir unter uns nicht dulden.“

„Was das anbelangt,“ nahm ein Vierter das Wort, „so bin ich nicht ganz derselben Meinung, das heißt, ich bin von seiner Feigheit nicht so ganz überzeugt, wie Sie es scheinen, denn sein ganzes Auftreten verrieth doch den beherzten und entschlossenen Mann.“

„Lieutenant Belmont ist ein tapferer und unerschrockener Seemann,“ ließ sich ein Schiffsaspirant erster Klasse voller Eifer vernehmen, und erzählte als Beleg für seine Behauptung eine Scene, der er während eines Sturmes am Vorgebirge der guten Hoffnung mit beigewohnt, und wo der Kapitän, zur Rettung des von unvermeidlichem Untergange bedrohten Schiffes, einen freiwilligen Mann aufgerufen hatte, um hoch oben am Hauptmast ein Segel loszuhauen. Niemand hatte dem Aufrufe Folge zu leisten gewagt, als plötzlich Lieutenant Belmont, mit einem Beile in der Hand, das Tauwerk hinangeklettert war und mit einem kräftigen Hiebe das Segel heruntergehauen und so das Schiff gerettet hatte.

Die Zuhörer konnten sich nicht enthalten, ihre Bewunderung über diese muthige That auszusprechen.

„O, ich könnte Ihnen noch lange von seinen wackern und edeln Thaten erzählen,“ fuhr der Aspirant fort. „So fiel ein anderes Mal ein Matrose in’s Meer; Belmont stürzt sich ihm schnell nach und trotz der hochgehenden Wogen und dem schnellen Laufe des Schiffs hält er mit seinem nervigen Arm den Mann, der ohne seinen großmüthigen Beistand ertrunken wäre, während einer Viertelstunde empor, bis Beide vom Schiff aus gerettet wurden.

„Das ist wacker, sehr wacker!“ riefen die Offiziere von Neuem.

„Sie sehen daraus,“ schloß der Erzähler, „daß Belmont nicht den Tod fürchtet, und daß er folglich auch kein Feigling ist.“

„Am Unangenehmsten ist,“ meinte einer der Marineoffiziere, „daß der Auftritt in Gegenwart von Offizieren vorgefallen ist, die nicht zu unserm Corps gehören. Wären wir unter uns gewesen, so könnte sich die Sache beilegen lassen, allein so ist es nicht wohl möglich. Welche Meinung würde man von uns haben?!“

„Das wollen wir gleich sehen,“ versetzte der Aspirant, indem er eine Gruppe von Infanterieoffizieren, die sich in einiger Entfernung unterhielt, scharf musterte und dazu mit lauter Stimme rief: „Es giebt keine Feiglinge in der Marine, und ich bin bereit gegen Jeden, der das Gegentheil zu behaupten wagt, dafür einzustehen.“

„Warum aber,“ meinte Trelat, der diese unmittelbare Herausforderung unbeantwortet bleiben sah und das unterbrochene Gespräch wieder anknüpfen wollte, „warum aber hat Belmont mein Cartel abgelehnt?“

„Das begreife auch ich nicht,“ gab der Lobredner des Lieutenants zur Antwort. „Ich gestehe, daß sein Benehmen sonderbar ist; es muß jedoch ein Geheimniß darunter stecken, das ich nicht zu erklären weiß, das uns aber vielleicht die Zukunft enthüllen wird.“

„Ja, es ist dies auffallend, unerklärlich!“ wiederholte man von allen Seiten, und wenige Augenblicke darnach trennte sich die Gesellschaft.

Trelat kehrte nachdenkend in seine Wohnung zurück und war, vielleicht zum ersten Male in seinem Leben, mit sich selbst unzufrieden; er bedauerte den Vorfall mit Lieutenant Belmont.


II.

Mit dem ersten Grauen des folgenden Morgens wurde die Stadt, die Flotte und beide Lager plötzlich durch einen vom Hafendamm aus gelösten Kanonenschuß geweckt. Man signalisirte eine Abtheilung von Handelsschiffen, welche unter dem Schutze der Nacht den Hafen zu gewinnen versucht hatten, und denen jetzt eine feindliche Fregatte und mehrere andere kleinere Schiffe den Weg versperrten. Der Admiral befahl sogleich einer Division der Flotille, dem bedrohten Convoi in Masse zu Hülfe zu eilen, und gleich darauf sah man eine der Kanonierschaluppen, welche hart am Eingang der Rhede vor Anker lag, ihre Ankertaue abhauen, alle Segel einsetzen und auf die feindliche Fregatte lossteuern, um allein den Kampf zu beginnen, obwohl der Admiral dies ausdrücklich verboten. Der die Schaluppe befehligende Offizier täuschte sich nicht über seine Lage, und verhehlte sich weder das Verwegene seines Unternehmens, noch den voraussichtlichen Ausgang des ungleichen Kampfes, in welchen er sich einließ. Keine Illusion war in dieser Beziehung zulässig, allein er war entschlossen, die sich selbst gestellte Aufgabe auszuführen, nämlich die Fregatte zu beunruhigen, wenn möglich aufzuhalten und sich nöthigenfalls in den Grund bohren zu lassen, um das Convoi zu retten. Der über solche Kühnheit erstaunten Mannschaft gab er seinen Entschluß gleich dadurch zu erkennen, daß er seine Flagge am Maste festnageln ließ.

Es war ein eben so großartiges als trauriges Schauspiel, diese armselige Schaluppe zu sehen, wie sie sich mit ihrem furchtbaren Gegner zu messen versuchte, wie ihr Kommandant mit eben so viel Geschick und Kaltblütigkeit als Glück den Zusammenstoß mit diesem Koloß vermied, der ihn beim geringsten Anprall unfehlbar zertrümmert haben würde, und eben deshalb verschmähte, von seiner Artillerie einem so schwachen Gegner gegenüber Gebrauch zu machen. Die englische Fregatte suchte einfach die französische Schaluppe über den Haufen zu fahren, während die auf ihr befindlichen dreihundert Matrosen den Nationalgesang anstimmten: „Rule Britannia, rule the waves!“ worunter sich der Ruf mischte: „Nieder mit Eurer Flagge, französische Hunde!“ Die Franzosen antworteten hierauf nur mit dem Rufe: „Tod den Engländern! Tod den Engländern!“

Mittlerweile feuerte die Schaluppe einen glücklichen Schuß ab, der einige Mann auf dem Vorderdeck der Fregatte tödtete, worauf diese mit einigen Kugeln antwortete, in der Hoffnung, daß dieses hinreichend sein würde, das französische Fahrzeug zum Beilegen zu zwingen. Allein die Engländer hatten die Zeche ohne den Wirth gemacht, die dreifarbige Flagge wehte nach wie vor hoch und stolz in der Luft. Der englische Kapitän, Wuth und Rache schnaubend, ließ jetzt sein volles Feuer auf die verwegene Schaluppe spielen, die wie in einen Vulkan eingehüllt, unter Blitzen und Flammen begraben erschien.

Eine zahllose Menge von Zuschauern war an den Meeresstrand herbeigeeilt, um diesem gewaltigen Schauspiel beizuwohnen. Furcht, Mitleid, Stolz, tausend verschiedene Gefühle spiegelten sich wechselsweise in allen Gesichtern ab, und während der Donner der Geschütze dumpf widerhallend von Woge zu Woge bis an die Küste getragen wurde, schlugen die Herzen von Tausenden von Franzosen in fieberhafter Spannung. Bei jeder Ladung der Fregatte bebte die bestürzte Menge ängstlich zusammen, so sehr fürchtete man und hatte die schmerzliche Gewißheit, die kleine Schaluppe auf immer unter dem Feuer des Engländers verschwinden zu sehen.

Von Zeit zu Zeit donnerte vom Ufer aus zur Ermuthigung ein: „Es lebe der Kaiser! Es lebe Frankreich!“ zum Himmel, das jedoch nicht bis zu der Schaluppe drang, die aber immer wieder aus Rauch und Flammen empor tauchte, hoch oben die stolz flatternde Flagge.

Bald aber machte die Furcht dem Staunen Platz, als plötzlich die Fregatte ihr Feuer einstellte, obwohl die Schaluppe sich nicht ergeben hatte, da sie auf ihren Gegner fortfuhr zu feuern, und zwar in einer Stellung, wo sie von dessen furchtbaren Ladungen nicht getroffen werden konnte. Das Räthsel war bald gelöst. Die Fregatte konnte wegen gänzlicher Windstille nicht mehr manövriren, dafür setzte sie nun aber alle Boote mit den besten Leuten aus, um das ärmliche Fahrzeug, das ihr zu widerstehen wagte, zu entern und so dem Kampfe mit einem Schlage ein Ende zu machen. Doch auch jetzt noch täuschten sich die Engländer in ihrer Erwartung, da sie es mit einem Gegner zu thun hatten, der eher unterzugehen als die Flagge zu streichen geschworen hatte.

Dreimal versuchten die englischen Boote die Schaluppe zu entern, allein dreimal wurden sie zurückgeschlagen und das mörderische Feuer der Franzosen zwang sie zuletzt, mit dem Verlust der Hälfte ihrer Mannschaft, an Bord der Fregatte zurückzukehren. Wenige Augenblicke darnach begann die Kanonade mit erneuerter Heftigkeit.

In derselben Zeit waren die übrigen französischen Kanonierschaluppen nicht müssig geblieben. Die Einen hatten die kleinern englischen Schiffe angegriffen, das Einlaufen des Convoi beschützt; die Andern eilten zum Beistand ihrer Kameraden herbei. Die [27] Letztern kamen indeß zu spät an, denn als der Pulverdampf sich ein letztes Mal verzogen hatte, zeigte sich die englische Fregatte so übel zugerichtet, daß sie ihren ärmlichen Gegner, den sie anfangs so sehr verachtet hatte, weder nehmen, noch in Grund bohren, ja nicht einmal verfolgen konnte. Von den Küstenbatterien bedroht, welche schon zu feuern anfingen, mußte sie sich noch glücklich genug schätzen, das Weite gewinnen zu können. An ihrem Bord war jetzt Alles still und düster, die Siegesgesänge hatten aufgehört; dagegen ließ sich von der französischen Küste her ein lang anhaltendes Triumphgeschrei vernehmen.

Das Verdeck mit Blut überschwemmt und von Todten und Verwundeten bedeckt, die Segel zerfetzt, die Planken durchlöchert, so kehrte, von einem andern Schiffe in’s Schlepptau genommen, die tapfere Schaluppe in den Hafen zurück, wo sie von den Salven aller Batterien, dem Jubel der Bevölkerung, der Armee und der Flotte begrüßt wurde. Alle Fahrzeuge waren wie zu einem großen Feste beflaggt und bewimpelt. Alles gab sich der Freude hin. Jeder wollte dem muthigen Kommandanten der Schaluppe die Hand drücken und sein Lob erschallte von allen Seiten.

Es war ein förmlicher Triumphzug. Der leicht blessirte Kommandant schritt langsam durch die auf- und abwogende Menge, welche untereinander wetteiferte, ihm ihre Bewunderung zu bezeigen. Plötzlich machte der Zug Halt, ein Adjutant des Kaisers erschien, näherte sich dem wackern Offizier und sagte: „Der Admiral, gegen dessen Befehl Sie gehandelt baben, indem Sie die feindliche Fregatte allein angriffen, befiehlt Ihnen, sich in Haft zu begeben.“

Ein dumpfes mißfälliges Murmeln ließ sich bei diesen Worten in der Menge vernehmen.

„Se. Majestät jedoch, der Zeuge Ihres tapfern Benehmens gewesen,“ fuhr der Adjutant mit erhobener Stimme fort, „hat mir befohlen, Ihnen Ihre Ernennung zum Fregattenkapitän und Ritter der Ehrenlegion anzukündigen. Empfangen Sie hier, Herr Kapitän, das Kreuz von mir im Namen Seiner Majestät des Kaisers.“

Bei diesen Worten erhob sich stürmischer Beifall und das Jubelgeschrei: „Es lebe der Kaiser! Es lebe der tapfere Kapitän!“ wollte kein Ende nehmen. In diesem Augenblicke stürzte entblößten Hauptes und Thränen in den Augen ein Offizier herbei, ergriff mit Wärme die Hand des neuen Ritters der Ehrenlegion und rief in gepreßtem Tone:

„Ich habe Sie verkannt, Belmont, mein tapferer Kamerad, mein Waffenbruder! habe Sie beleidigt! Können Sie mir verzeihen?“

„Ich habe nichts zu verzeihen, Trelat,“ versetzte der Held erweicht, „und fühle mich glücklich, Ihre Achtung erworben zu haben, wie ich hoffe, eines Tages Ihre Freundschaft zu erwerben. Ihr Platz ist hier,“ fügte Belmont auf sein Herz zeigend hinzu, und die beiden kurz vorher noch bitter verfeindeten Offiziere sanken einander in die Arme. Es war eine Freundschaft für das übrige Leben geschlossen.




Einige Tage später führte Belmont den neuen Freund im Kreise seiner Familie ein, die aus seiner betagten Mutter, seiner Frau und sechs Kindern bestand. „Sie werden nun einräumen,“ wandte er sich an Trelat, „daß wenn man eine solche Familie hat und deren einzige Stütze ist, man sich nicht entschließen kann, sein Leben anders auf’s Spiel zu setzen, als zum Nutzen und Ruhme des Vaterlandes allein.“




Bilder aus dem Pariser Leben.

Von einem deutschen Arzte.
I.0 Eine deutsche Christnacht in einem Pariser Spital.


Paris ist so groß und die Noth ist noch größer, größer als Allah, wie die Türken sagen. Der Himmel scheint noch größer zu sein, wenigstens hat er uns die Hoffnung gegeben, an ihm nicht zu verzweifeln.

Das sagte mir mein Freund Destouches, den ich am 23. Dezember 1852 abzulösen kam. Ermüdet von den vierundzwanzig Stunden seines Spitaldienstes, melancholisch von Natur, ernst aus seiner jungen Erfahrung, hatte dieser junge großherzige Franzose, ein Berrois wie man die Leute aus der Berry nennt, seine Spitalschürze an den Nagel gehängt, wo seine Hoffnungen auf’s Besserwerden hingen und nur das nöthige Gedächtniß behalten, um mich über die Ereignisse des Tages zu unterrichten, und damit seinem peinlichen Posten Lebewohl zu sagen.

„Gott weiß, wie es kommt,“ rief er am Schlusse seines ärztlichen Berichtes aus, „ich habe mich nur damit getröstet, daß Du kommst; da liegen fünf deutsche Weiber, die mir mit ihrem Heimweh das Ohr zerrissen haben; Du wirst sie wenigstens verstehn und ihnen einige Worte des Trostes sagen. Ich bin mit meiner Kunst zu Ende, alle fangen mir an, an der Schulter zu leiden, und das Kindbettfieber scheint im Ernst von ihnen Besitz ergriffen zu haben. Warum predigst Du uns auch nicht jeden Tag eine Stunde über Eure verdammten deutschen Sitten und Gebräuche? sie reden mir seit heut Morgen in Einem fort von Kristnakt! Kristnakt! Kristnakt! Meine deutschen Sprachkenntnisse gehen nur bis zu den zusammengesetzten deutschen Zeitwörtern und da habe ich keine Silbe von diesem Worte gehört, das Einem die Zunge platt abbricht.“

Er drückte mir die Hand und ging. An der Thür drehte er sich noch einmal um und rief: „Du mußt mir ernstlich deutsche Lectionen geben; ich komme nicht mehr fort; diese Weiber mit ihrer Kristnakt haben mir das Herz im Leibe umgedreht und ich stehe da, wie das Kalb Mosis.“

Im Krankensaale herrscht die lautlose Stille einer Nacht, wenn die Vorschriften des Arztes wörtlich befolgt worden sind und zufälligerweise keine menschliche Seele in Angst und Pein athmet oder keucht. Die Uhr des weitläufigen Gebäudes hatte zehn Uhr geschlagen, als ich dem Portier seinen guten Abend erwiederte. Das zufallende Thor hatte die lärmenden Wagen wie abgeschnitten und der Schrei des Zündhölzchen-Verkäufers auf der Gasse war verhallt, als ich über die mattbeleuchteten Stiegen emporstieg.

Die Ordensschwester war am andern Ende des Saales offenbar in ihren sanftesten Schlaf versunken und die Krankenwärterinnen schienen im Bewußtsein ihrer gethanen Pflicht in ihre Nebenzellen verloren zu sein. Ich putzte die mächtige Nachtlampe und warf meinen durchnäßten Ueberrock in einen Winkel. Dann horchte ich auf den Athem meiner Kranken, die in ihren von weißen Vorhängen verhüllten Betten wie lauter lebende Räthsel der menschlichen Weisheit mit sich selbst zu berathen schienen.

Im Saale selbst und in den kleinen Nebenzimmern befanden sich eben etwa einhundert und zwanzig Weiber, die, vor Kurzem entbunden, noch die Folgen duldeten, die ihnen der Engel im Paradiese angekündigt hatte, als er ihnen prophezeite, daß sie mit Schmerzen ihre Kinder gebären würden: er hat ihnen nichts von den Seufzern vorausgesagt, die sie nach der Geburt ausstoßen würden. Die meisten dieser Weiber schienen sich mit ihren Kindern über diesen medizinischen Gedächtnißfehler des Engels zu trösten und die Uebrigen, denen die Schmerzen der Geburt diesen Trost nicht gelassen hatten, mochten nicht mehr Lust genug haben, über sich selbst nachzudenken.

So verging eine halbe Stunde; ich saß im alten Lehnsessel und brütete über einen alten Spruch, der die Weiber hochpreist; die Ordensschwester begann leise zu schnarchen.

„Her! hustete es aus einem weißen Bettvorhange hervor.

„Sie schlafen noch nicht?“ antwortete ich auf französisch und sehr leise.

Die Angeredete antwortete nicht.

„Also Sie haben todtgeboren?“ fuhr ich deutsch fort.

„Ja!“ erwiederte die Frau mit Berliner Accent.

„Sie denken an die Christnacht, die daheim hereinbricht?“

[28] „Ah, der liebe Gott hat mir keinen Stern aufgehen lassen,“ rief die Kranke und verbarg ihr Weinen in den Kissen ihres Bettes.

So leise auch unser Gespräch geführt worden war, so antwortete doch von allen Seiten des Saales ein leises Husten auf unsere vaterländischen Laute.

„Das sind noch vier Landsmänninen,“ sagte ich eben so leise und trat zu dem Bette meiner armen Patientin. „Sie haben Ihr Kind vielleicht gar nicht gesehen? Sind Sie verheirathet? Wie kommen Sie nach Paris?“

„Mein Mann ist in einer Wagenfabrik und arbeitet Tag und Nacht, um unsere paar Schulden zu bezahlen, die wir in den ersten Wochen in Paris gemacht haben; mein erstes Kind ist bei meiner Schwester in der St. Annagasse.“

Ein schwaches Wimmern drang vom andern Ende des Saales zu mir, die Ordensschwester fuhr aus ihrem Lehnsessel empor und rief: „Da bin ich, nur ruhig, Kind!“

Sie trat zu einem Bette und ich eilte ihr entgegen. Da überraschten mich die geräuschlosen Schritte des Krankenwärters, den ich durch den langen Gang erhorchte. Der Mann trat in den Saal, die offene Thür gab keinen Laut von sich. In seiner Rechten hielt er einen Weihnachtsbaum, mit vergoldeten Nüssen und Zuckerwerk behangen, mit flatternden Bändern und flimmernden Kerzchen geziert und in der Linken einen Brief, mit einem rosenrothen Faden sorgfältig umwickelt.

„Was ist das?“ rief ich ihm erstaunt zu. Der Mann, dem man jedes Wort abbetteln mußte, wenn er sehr gut aufgelegt war, hatte offenbar seine finstere Laune umgehängt und starrte mich stumm an. Die Stille des Saales und die engelhafte Erscheinung des blassen Menschen, die traurigen Bilder der verhängten Betten und die heitere Bescheerung des Christbaums mitten in der Stätte der Leiden erschütterten augenscheinlich den menschenfeindlichen Franzosen eben so sehr, als mich selbst. Welche Künste mußten aufgeboten sein, um diesen griesgrämlichen Menschen dahin zu bringen, seine Instructionen auf diese unerhörte Weise zu überschreiten und unser nächtliches Leben mit einem so ungewöhnlichen Glanze zu erhellen!?

„Sie kommen von Gott gesandt!“ rief ich biblisch aus.

„Der Mann, der mir’s draußen übergab, ist auf die Knie vor mir selbst gefallen!“ versetzte er.

„Und, Sie glauben, daß ich Sie nicht morgen früh augenblicklich anzeige?“

„Der Mann sagte, Ihr Freund Dr. Destouches habe ihm gesagt, daß Sie heute die Nachtwache haben.“

„Ah! warten Sie! um Sie und Ihre Familie zu retten, muß ich Alles auf mich nehmen.“ – Die Ordensschwester stand mit weit aufgerissenen Augen vor uns. „Er ist närrisch geworden.“ jammerte sie, „ich sagte es ja immer.“ Der alte François setzte seinen Baum zur Erde und hielt seinen Brief in die Höhe.

Die feenhafte Erscheinung hatte die Schläferinnen geweckt und alle kranken Weiber, denen noch ein Funke Bewußtsein geblieben war, blickten durch die Spalten der weißen Vorhänge. Ein Weib braucht so wenig, um neugierig zu sein.

„Meine Damen! legen Sie sich auf der Stelle, oder der Zauber fliegt zum Fenster hinaus; ich stehe Ihnen dafür; wer was sehen will, gehorcht augenblicklich.“ rief ich und der Saal versank wieder in seine Ruhe. Die Weiber folgen so gern, wenn sie etwas erwarten!

„Oh, mein Gott, mein Gott!“ seufzte die Ordensschwester, „welche Verwirrung!“

François hatte den Brief auf den Tisch gelegt, seinen Christbaum auf die Erde gestellt und ich drückte der Ordensschwester die Hand, um sie zu beruhigen.

„Die Arme da unten ist schlimm?“ frug ich.

„Sie wird die Nacht nicht überleben,“ versetzte sie.

„Wie viel Kindbettfieber haben wir?“

„Ah, nur fünf, darunter eine Deutsche, die da unten.“ Sie zeigte nach dem Ende des Saales, von woher das Wimmern kam.

Ma mère! wir werden die deutschen Betten zusammenstellen und Christnacht feiern. Sie haben das noch nicht gesehen?“

„Mein Gott, nein! Himmel, welche Verwirrung!“

Ma mère! wir retten die übrigen vier Deutschen: ein Christfest kommt vom Himmel, die deutschen Weiber stehen dafür von den Todten auf.“

François stand, eine steinerne Säule, vor dem Bette der Schwerkranken, welche sich im Halbdunkel mit ihrem Fieber abrang. In wenigen Minuten waren die vier deutschen Betten auf einen Teppich nach der andern Seite des Saales gerückt, eine Scheidewand mit einem mächtigen doppelten Tuche gezogen und Deutschland vereinigt, fünf deutsche Weiber und vier kleine Deutsche, die Vorhänge aufgezogen, der Christbaum angezündet und die Ordensfrau, vor dem Muttergottesbilde kniend, betete das französische Vaterunser, das die Weiber deutsch nachbeteten, selbst die Todtkranke zitterte leise mit den Lippen und hauchte „Dein Wille geschehe … so auch auf Erden!“

Die Spitaluhr schlug eilf, der Regen plätscherte gleichmäßig an die hohen Fenster und die vier kleinen Würmer zirpten wie fröstelnde Grillen im warmen Sommergrase; die Frau des Wagenbauers las eben zum zehnten Male den Brief ihres wackern Mannes, François starrte noch immer unbeweglich in das Gesicht seiner sterbenden Lieblingskranken.

„Berlinerin!“ frug ich leise, „hat die Arme da einen Mann?“

Die Weiber schwiegen.

„Wissen Sie, wie es kommt, daß sie so schwer mit dem Tode ringt?“

„Herr Doctor!“ rief eine kleine dicke Würtembergerin, welche in ihrer Bescheidenheit nur eine einzige Nuß angenommen hatte, „geben Sie mir ihr Kind, mein Mann wird’s wohl noch ernähren; wir haben ihrer fünf und da kann das sechste …“

„François!“ rief ich, „wollen Sie mit mir bei der kleinen Waise Pathe stehen? Die Berlinerin kann es ihrem Manne mitbringen und die drei andern Weiber wollen mit uns Gevatterinnen sein.“

Der Krankenwärter hatte weder gehört noch gesehen; er war neben dem Bette der Kranken auf den Stuhl gesunken und hielt das Kind derselben in den Armen.

„Ich glaube, seine Frau ist in demselben Bette gerade so gestorben,“ fiel die Würtembergerin ein. „Rosel, da fällt mir eben ein, daß ja ……“

Die Angeredete Rosel winkte ihr mit der Hand zu schweigen und zeigte auf den großen Vorhang, der unser deutsches hellerleuchtetes Saalstück von dem übrigen trennte. Zwei Männer schauten durch die Spalte desselben, mein Freund Destouches mit einem Fremden in der Tracht der Pariser Arbeiter.

„Ah, Joseph!“ rief die Berlinerin und streckte beide Arme nach dem Manne aus, der an ihr Bett eilte.

„Mein Gott! Welche Verwirrung!“ bat die Ordensschwester „Ich bringe Euch die Weihnachtsgeschenke,“ unterbrach mein Freund; „zum großen Glück habe ich diesen wackern Mann vor dem Spitalthore angetroffen und er war so gut, mir das Zeug zu erklären und helfen, geschwind noch einigen Plunder einzukaufen.“

„François!“ rief ich. – Er war verschwunden. Das Kind der Todttranken regte die kleinen Aermchen und ein schweres Papier fiel auf den Boden, das die Ordensschwester aufhob. Destouches theilte aus.

„Joseph!“ schluchzte die Berlinerin, „Du willst Dein Kind sehen …? ich habe so viel ausgestanden; ich glaube, unsere Noth, die wir vor sechs Wochen noch …“

„Da liegt ein ganz gesunder Bursch, Joseph,“ schaltete ich ein und blickte nach dem Korbe am Bette der Sterbenden.

Joseph fuhr mit der breiten Hand über das geschwärzte Gesicht und schien einen harten Augenblick zu bestehen.

„Ich bin Pathe!“ rief Destouches, „und zahle das Schulgeld.“

„… auch auf Erden,“ lispelte die Kranke in ihrem Fieberdelirium und athmete schwer.

„Amen!“ versetzte Joseph und schritt auf das Bett zu.

Ein voller letzter Athemzug der Sterbenden antwortete. Joseph legte das Kind in die Arme seiner Frau.

„Doctor,“ flüsterte die Ordensfrau. „François ist total närrisch, da hat er dem Kinde fünfhundert Francs in zwei Bankbillets und in Gold vermacht; lesen Sie.“

An die Direktion des ** Hospitals.

„Ich schenke dem Kinde der Kranken No. 17 die Summe von fünfhundert Francs,“ las ich, „und bitte Herrn Doctor Gr., mich zu entschuldigen. – Ich gehe nach Afrika. In dem Bette No. 17 starb mein Weib, meine gute Marie – in demselben Bette stirbt [29] nun auch das Wesen, das ich nach Marie am meisten geliebt. Ich kann nicht mehr, François.

Die Spitaluhr schlug zwölf Uhr. Joseph, Destouches und ich saßen im kleinen Zimmer der Ordensfrau und löschten die Lichter des Christbaumes aus. Vom Krankensaale her athmeten nur die regelmäßigen Züge der Schlafenden.

„Sie können bei mir schlafen, Gevatter,“ sagte Destouches zu Joseph; „ich will uns ein Glas Punsch machen, um unsere Kristnakt vollständig zu feiern; der Doctor kann sich sein Glas morgen aufwärmen lassen. Also das nennt man in Deutschland eine Kristnakt … kurios das … sehr kurios.“

Das Kind der Kranken aber, die in der Nacht starb, von der man nicht wußte, woher sie kam, und wer sie war, hat in der Berlinerin eine brave Mutter und in Joseph einen wackern Vater gefunden. Gestern feierten wir den Geburtstag.




Belgrad.

Es ist Pflicht jeder belehrenden Zeitschrift, auch wenn sie keine politischen Tendenzen verfolgt, ihren Lesern bei wichtigen politischen Ereignissen diejenigen thatsächlichen Erläuterungen zu geben, welche zum vollständigen Verständniß der obschwebenden Frage nothwendig sind. Der russisch-türkische Krieg gab uns bereits mehrere Male Gelegenheit zu derartigen erläuternden Mittheilungen, und die Wichtigkeit Serbiens fordert uns auch heute zu einer kurzen erklärenden Skizze auf.

Wenn man die Donau hinab zieht aus deutschen Landen durch Ungarn und immer weiter dem Reiche der Osmanen zu, so erblickt man zum ersten Male den türkischen Halbmond bei Belgrad, das am Einfluß der Sau in die Donau, hart an der östreichischen Grenze liegt. Einem Deutschen fällt dann wohl „Prinz Eugen, der edle Ritter“ ein, der hier die schönsten seiner Lorbeeren pflückte. Manch anderer Kampf noch hat um die stolz emporragenden Wälle Belgrads getobt, und wenig Festungen haben öfter den Besitzer und Gebieter gewechselt. So ist die Hauptstadt Serbiens geschichtlich berühmt geworden durch viele Belagerungen und Eroberungen, stets wichtig geblieben ist sie als Mittelpunkt des Handels zwischen der Türkei und Ungarn. Die Zahl der Einwohner beläuft sich auf 30,000.

Belgrad.

Was von allen Städten der europäischen Türkei gilt, gilt auch von Belgrad: Unansehnliche Häuser, enge Straßen und schlechtes Pflaster, wovon nur einige Stadttheile Ausnahme machen. Die eigentliche Festung, von der Stadt durch einen 400 Schritt breiten Raum getrennt, mit hohen Wällen, festen Thürmen, dreifachen Gräben, Mauern und bombenfesten Kasematten, beherrscht die Donau und birgt eine türkische Besatzung von 3000 Mann, an deren Spitze ein Pascha von drei Roßschweifen steht. Neben Belgrad ist im gewissen Sinne auch das im Innern Serbiens gelegene Krajugewaz Hauptstadt, letzteres wird sogar noch heiliger gehalten als jenes und ist auch der Sitz der serbischen Nationalversammlung.

Unter den zum türkischen Reiche gehörenden christlichen Vasallenstaaten ist Serbien, obwohl nur von etwa dreimal so großem Flächenraum als das Königreich Sachsen und mit nicht einmal 1 Million Einwohner, der wichtigste. Diese Wichtigkeit geht zum Theil aus der Lage Serbiens hervor, welches sich auf dem rechten Donauufer bis in das Herz des osmanischen Reiches erstreckt; weit mehr noch liegt sie aber in dem Nationalcharakter der Serben, die von allen Slavenstämmen der begabteste sind. Kein körperlicher Vorzug geht den Serben ab, und in geistiger Beziehung stehen sie weit über allen übrigen Slaven. Kräftig, abgehärtet, tapfer und unerschrocken, sind sie der türkischen Herrschaft entschieden abgeneigt, ohne sich deshalb gerade nach der russischen zu sehnen.

Die gegenwärtigen Zustände Serbiens wurden im Wesentlichen durch den Frieden von Adrianopel (1829) herbeigeführt; die noch bestehende Verfassung trat jedoch erst 1842 in Kraft. Nach ihr steht Serbien unter dem gemeinsamen Schutze Rußlands und der Türkei; die Türken haben das Besatzungsrecht in Belgrad und empfangen von dem Lande einen jährlichen Tribut von ca. 140,000 Thlrn. Im Uebrigen regieren sich die Serben selbstständig unter einem eigenen Fürsten, zur Zeit Alexander Karagiorgewitsch, der zweitgeborne Sohn des in zahlreichen Liedern gefeierten serbischen Nationalhelden Czerny Georg, der schon zu Anfang dieses Jahrhunderts seinem Lande auf einige Zeit die ersehnte Unabhängigkeit zu erkämpfen wußte.

Da Serbien, wie alle Donaustaaten, an tiefen innern Zerspaltungen leidet, so sehen wir auch bei dem dermaligen russisch-türkischen [30] Kriege, wie die vornehmsten Familien des Landes, deren Häupter sich alle gleich zur Herrschaft berufen glauben und alle gleich lüstern darnach sind, die Nation in gewisse Unruhe versetzen und zu ihren verschiedenen Zwecken zu stimmen suchen. Von jenen Familien dienen die Einen russischen, Andere östreichischen Interessen; nur Wenige türkischen. Am zahlreichsten ist die Nationalpartei, welche jeden auswärtigen Einfluß bekämpft und ein durchaus freies unabhängiges Serbien will.

Bisher hat Serbien in dem Kampfe zwischen Rußland und der Türkei eine strenge Neutralität behauptet, obwohl von der einen wie andern Seite Manches versucht wurde, das Land in den ausgebrochenen Streit hineinzuziehen. Gelänge dies, so erschiene in diesem kriegerischen Volke, wo alle Männer Waffen tragen müssen, eine Streitmacht auf dem Kampfplatze, die schwer in die Waagschale des Krieges fallen würde.

Mit gespannter Erwartung sieht man jetzt in Belgrad der Veröffentlichung zweier großherrlichen Fermane entgegen, welche demnächst aus Konstantinopel eintreffen sollen, wenn dies nicht bereits geschehen ist. In dem einen Ferman soll Serbiens Verhältniß zu Rußland aufgehoben werden, das heißt, der Sultan erklärt darin, Serbien bedürfe des russischen Schutzes nicht mehr, da er in dem andern Ferman alle bisherigen Freiheiten Serbiens als Souverän bestätigt. Es wird durch den ersten Ferman Alles, worüber die Pforte bisher mit Rußland bezüglich Serbiens übereingekommen, aufgehoben, und das Fürstenthum hat hiermit unmittelbar und ausschließlich blos den Sultan als Oberherrn zu betrachten. In dem zweiten Ferman werden in Hinsicht auf die bisherige Treue und Anhänglichkeit den Serben auf’s Neue alle jene Freiheiten derselben bestätigt, in deren Besitze sie bisher waren, sie sollen in demselben alle aufgezählt sein. Da der Sultan nun Alles „aus eigener Gnade und Huld“ bestätigt, was er früher den Serben gewährt, so bedürfen sie jetzt keinerlei Schutzes mehr und keiner weitern Garantien.




Lebens- und Verkehrsbilder aus London.

Weihnachten in London.


Weihnachten! Es liegt eine Weihe in diesem Worte, die sich an kalten Tagen und öden Nächten warm über die ganze Christenheit ausbreitet mit Engelsfittigen, aber in London zunächst in der Gestalt von Preismastochsen und Falstaffs von Schweinen. Es ist eben ganz vollenglisch, daß in London die Weihnachtsfreuden mit der großen aristokratischen Thierschau in Bakerstreet anfangen, wo Lords und Herzöge (der von Richmond an der Spitze) über die lebendige Mastkunst, über die thatsächliche Fleisch-Poesie Englands, in der man Shakspeare und Milton längst überwunden hat, zu Gericht sitzen und den künstlerischsten Meistern animalischer Pädagogik goldene Preise zuerkannt werden. Diese Thierschau ist jedesmal ein nationales Fest, zu welchem die Omnibusse besondere Zettel drucken lassen und Mitglieder des Oberhauses mit Familie Hunderte von Meilen weit herkommen, damit die feinste, zarteste Hand der höchsten Lady gemeinschaftlich mit der fettigen, feisten Faust des Fleischers und Farmers das ehrwürdig in seinem Fette schlummernde Preisschwein liebkose und mit dem gekrönten Kurzhorn-Mastochsen verliebte Blicke wechsele. Doch „vorüber, ihr Schafe, vorüber!“ wir haben mehr zu sehen.

Die gekrönten Thiere sind unter einem periodischen Wahnsinnsfieber der Fleischer verkauft. Die von Falstaff persiflirte Ehre glüht unter der blauen Schürze des Thierschlächters eben so hoch, wie unter dem diamantenen Stern des Generals. Entschlossen, im bevorstehenden Carneval (das ist Weihnachten in London) eine Rolle zu spielen, kauft er für 150 Pfund ein Preis-Thier, das ihm, wie er sicher voraussieht, nicht mehr bringt als 75. Was schadet’s? Nicht blos die englische Flotte in der Türkei hat Ehrgefühl, auch Mr. Johnson oder Johnston zahlt mit Stolz 500 Thaler blos für die Freude, sein Licht, statt es unter einen Scheffel zu stellen, leuchten zu lassen vor seiner dicht mit Fleisch, Stechpalmen und Mistelzweigen behangenen Ladenthür auf einem, wenn nicht mit Blumen, so doch mit reinlichen Sägespähnen bestreuten Platze. Er weiß es wohl, was ein fetter Ochse den ausgebildetsten Fleischessern der Welt, den Engländern, ist. Seht, wie sie dort drängen um das ausgestellte Wunder, angethan mit bunten Bändern und Blumen, wie sie zu ihm wallfahrten in ungeheuern Massen, andächtiger, wie weiland die Griechen zu dem Zeus des Phidias oder die Kunstreisenden zur medicäischen Venus, wie sie das ehrwürdige Thier (ganz altägyptisch) ehrfurchtsvoll anstaunen und es hätscheln und liebkosen! Dort der musterhaft feine aristokratische Herr, der vielleicht vorgestern erst aus Italien zurückkam und 3 Minuten auf Raphael und 11/2 Minuten auf Tizian’s und Correggio’s blickte, was fesselt ihn hier mitten in der Kälte auf der Straße? Er studirt eine musterhafte Hinterkeule, wie sie dort hundertweise bis in’s zweite Stockwerk am Fleischerladen hangen, musterhafter und flammender beleuchtet, als der ganze Fackelzug zu Ehren eines deutschen Universitäts-Prorectors. Thierschau und Fleischschau sind die höchsten Freuden des Engländers und streiten sich nur mit den Genüssen Homerischen und Nibelungenschen Fleischvertilgens um den ersten Rang in seinem Herzen d. i. Magen. So nehmen auch die Geflügelhändler neben dem Fleischer die höchste Stellung ein und entwickeln um Weihnachten eine Ausstellungs-Manie, die man sehen muß, um daran zu glauben. Zunächst einen Blick auf die lebendigen Geflügelmärkte.

Seht dort den grünen Herrn im Jagdfrack. Herrscher von 50 oder 100 Enten um ihn herum, die er selbst lebendig aus der Provinz hereintrieb. Um sich ihrer Treue und Anhänglichkeit versichert zu halten, streut er dann und wann homöopathische Dosen von Gerste aus seiner Tasche unter sie, vielleicht in der Ueberzeugung jenes berühmten Staatsmannes, daß ein mäßig hungerndes Volk sich am Leichtesten regieren lasse. Seht, wie die unmäßig hungrigen Enten die ganze Welt um sich her vergessen und ihre breiten Schnäbel und kleinen runden Augen immer nach der homöopathischen Kornkammer ihres Staates richten! Und seht, was der Ernährer nun mit ihnen vornimmt. Er schlachtet sie ab je nach dem Wunsche des Käufers oder verkauft sie auch lebendig als Sklaven. Durch eine Seitenstraße, in welcher wir den millionenfach getretenen und zu Vogelleim geknetenen Schmutz der Hauptstraßen vermeiden wollten, kommt uns eine andere fleischliche Weihnachtsausstellung entgegen, eine unabsehbare Phalanx todtenstill watschelnder, von Unten bis Oben schmutziger, nach Luft gapsender Gänse. Unähnlich ihren berühmten Vorfahren auf dem Capitole von Rom wissen sie auch kein Sterbenswörtchen zu sagen. Ueber 15 Meilen müssen sie zurücklegen, um hier endlich den Weihnachtsfreuden zum Opfer zu fallen. Und dann wissen die Engländer noch nicht einmal eine Gans zu braten. Wollen Sie’s glauben, Fräulein, daß sie hier mit Salbei und Zwiebeln auf den Tisch gebracht werden? „Eene jute Jans is eene jute Jabe Jottes,“ sagt der Berliner, „aber man nich mit Bollen.“ Man kann Gänsebraten lieben, aber doch Thränen vergießen über das Schicksal dieser Zöglinge von Epping und der Hainault-Wälder, wo sie zu Tausenden für Weihnachten in London erzogen und dann auf dem Wege halb oder ganz todt getrieben werden. Der schmutzige, rohe Treiber hat seine Taille mit 8–10 Gänsen geschmückt, die unterwegs zu Tode gehetzt ihren Geist aufgaben, um vielleicht in einem der vielen Weihnachts-Gänse-Clubs (wo man 1/4 oder 1/2 Jahr lang wöchentlich einzahlt, um am „heiligen Abend“ um Gänse, Gin und dergleichen mit würfeln zu können) als Hauptgewinn zu paradiren.

Einen Blick in den nächsten Geflügelhändlerladen. Das ist kein Laden. Das ist ein durchaus buntbefiedertes Haus, ein einziger Riesenvogel. Mit scharfem Auge unterscheiden wir zwar die Composition, aber sie spottet wohl des besten Ornithologen. „Wer zählt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“ Die Kraniche des Ibykus sind auch dabei und unzählige Bewohner des Sumpfes, Waldes und der Luft, alle nicht für die Küche, sondern blos zur Schau. Das Volk muß sehen, daß der dickste Mann in diesem befiederten Felsen alle Gattungen von Vögeln [31] beherrscht. Es muß für 40,000 Pfund Waare sehen, wenn es einen Artikel für 6 Penny 3/4 Stunden lang aussuchen und dann vielleicht noch in den nächsten Laden gehen soll. Ueber der Thür schweben ein paar ungeheuere Schwäne mit ausgebreiteten Flügeln, daneben Pfauen mit entfalteten Schweifen, auch Kraniche, Adler, Geier, Reiher, Rohrdommeln, Raben u. s. w. Weiter unten Burgen und Gebirgszüge von Schnepfen, Hühnern, Gänsen, Rebhühnern, Lerchen, Tauben, Enten (wilder und zahmer) Fasanen und allem möglichen Geflügel, das Sumpf, Wald, Luft und Gebirge von Großbritannien, Portugal, Spanien, Amerika, Indien, China und Cochinchina zu liefern vermag. Und wie sie sich drängen mit Körben und Droschken, als gält’ es, eine allgemeine Hungersnoth mit frikassirten Pfauenzungen zu curiren! Seht den feinen, feisten Herrn, wie er seine Droschke mit einem Fuder des besten Geflügels beladen läßt, verdrießlich einsteigt, den Jungen mit auf den Bock springen läßt und davon fliegt, um unzählig andern seiner Herren für dasselbe Geschäft Platz zu machen. Wer ist es? Nur ein gewöhnlicher Koch für eine bürgerliche Kaufmannsküche vielleicht in Westbourn-Terrace, oder ein „herrschaftlicher“ in Belgrave-Square.

Die Vögel- und Hasen- und Kaninchen- und Saugferkel-Gebirge verschwinden zusehends, aber ein ellenlanges Placat tröstet Dich. Der Eigenthümer des Ladens unterrichtet darin seine Kunden, daß er mit der ganzen Grafschaft Norfolk einen Contract für Tausende von Enten, Zehntausende von Gänsen u. s. w. geschlossen habe, welche alle bei Strafe von 6 oder 10,000 Pfund bis zu dem und dem Tage abgeliefert werden müßten. Also ehe die Londoner verhungern, essen sie lieber Gänsebraten und wildes Geflügel und Preisochsen.

Zu den Spezerei-, Frucht- und Italienerwaarenläden fallen uns gewiß die Alpenzüge von Feigenschachteln, Weintrauben u. s. w., besonders aber von großen und kleinen Rosinen auf. Ich fragte in einem solchen Laden, wie viel Rosinen da allein am Schaufenster aufgeschüttet wären. Antwort: 75 Centner (englische à 100 Pfund) Rosinen und 36 Centner Corinthen. Die Massen von überzuckerten Pommeranzenschaalen u. s. w., von Gewürzen entsprechen den Rosinen und den Tonnen von Talg in den Fleischerläden. Aus diesen Ingredienzien wird nämlich der bis in die ärmste Höhle herab zu Weihnachten unentbehrliche Plum-Pudding geknetet und gekocht. Von den Tausenden von Sparbänken und wöchentlichen Einzahlungen der Armen, um sich zu Weihnachten blos diesen Plum-Pudding zu sichern, wäre allein eine ganze pecuniäre Odyssee zu singen, eine ganze Bibel von den großen mit Bibelsprüchen bemalten und Stechpalmen und Fahnen decorirten Zelten, in denen unter polizeilicher Aufsicht Tausenden und aber Tausenden, die nichts gespart hatten, Plum-Pudding, Roastbeef und für eine Woche Thee umsonst gereicht wird. Zu Weihnachten thaut der Engländer auf, aber auch nur dies eine Mal im Jahre. Er ist nicht nur gastfreundschaftlich zu Weihnachten, er giebt auch reichlich für unzählige christliche Plum-Puddings-Vereine, so daß er sich sagen kann, jeder Irländer und Straßenfeger hat wenigstens heute am 25. (und auch einen Rest zum 26.) seinen Plum und sein Stück fetttriefendes Fleisch aus unzähligen, ungeheuern Anstalten der Wohlthätigkeit. Jeder Engländer ist auch jährlich einmal wirklich lustig und trinkt dabei bedeutend über den Durst, und das ist Weihnachten. Seitdem durch den Prinzen Albert der Weihnachtsbaum eingeführt und mit jedem Jahre populärer geworden, soll er sogar anfangen, „gemüthlich“ zu werden. Vor dem Prinzen Albert wußte man nichts von dem herrlichsten, schönsten Gute Deutschlands, dem Weihnachtsbaume mit seinen goldenen Lichtern, dem Tannen- und Honigkuchengeruche, den bunten Früchten daran und der heitersten, höchsten Kinder- und Familienfreude drum herum, die den Deutschen hernach durch alle Lebens- und Schicksalsstufen begleitet, und um Weihnachten immer wieder erwacht wie die heilige Erinnerung an eine Heimath und an verstorbene Mütter, zerstreute Geschwister und jauchzende Gespielen.

Die grüne Natur nimmt in England an den Weihnachtslustbarkeiten durch Stechpalmenzweige und Mistelzweige ihren historisch naturwüchsigen Antheil, der sich in Bezug auf letztere bis auf den Cultus der Druiden zurückführen lassen soll. Auch sie haben schon gern geküßt, denn unter dem Mistelzweige, der in der Mitte jeder englischen Weihnachtsgesellschaft oben im Zimmer hängt, versteht und practicirt jeder englische Mann und Junge das Privilegium, jede Dame, die er unter demselben trifft, zu küssen, und jede Dame, sich ohne Opposition gegen diese althistorische Sitte küssen zu lassen. Vielleicht ließe sich in Deutschland zu den Honigkuchengenüssen dieser von Honiglippen fügen. In Ermangelung von Mistelzweigen könnte man ja privilegirende Tannenzapfen aufhängen, insofern die Polizei keine Gefahren für die Tugend darin fände. – Die Birnam-Wälder von Stechpalmen, Mistelzweigen und auch lebendigen und abgeschnittenen Tannenbäumen kamen des Nachts zu dem Dunsinane von Covent-Garden, dem großen Londoner Central-Tempel des Frucht-, Blumen- und Gemüsemarktes und vertheilen sich von hier aus auf Karren und Wagen in Tausenden von Adern durch die unzähligen Straßenmassen, wo besonders die Läden der Frucht- und Gemüse-, der Kohlen- und Kartoffelhändler und Fleischer reichlich ausgegrünt erscheinen. Mancher fette Ochsenrücken sieht wie der Sattel eines Gebirges aus, auf dem Stechpalmen wachsen. Daß jede Familie, worin Töchter sind, für Mistelzweige sorgt, läßt sich bei den Schwachheiten der menschlichen Natur leicht denken. Schade, daß ich hier keinen Platz finde, von den Wundern des Obstes und der Blumen in Covent-Garden einen Gulistan zu singen. Stoff dazu ist mehr vorhanden, als im Rosengarten von Schiraz. Die Massen von Büchern und Illustrationen, welche die englische Literatur auf den Weihnachtsmarkt schleudert, die Massen von Kleiderstoffen und Luxussachen, die in unzähligen Placaten als die besten, billigsten und willkommensten Weihnachts- und Neujahrsgeschenke empfohlen werden (wir fanden neben dem aus dem Deutschen übersetzten Struwelpeter auch „Patent-Perrücken“), verstehen sich in London von selbst und können trotz ihrer Massen und Mannichfaltigkeit nicht weiter auffallen. Auch die Weihnachtsfreuden selbst innerhalb der Familien lassen sich besser denken, als schildern. Nur vergesse man dabei nicht, daß man hier viel mehr und fetter ißt und trinkt, als irgendwo. Alles Essen ist fruchtbar substantiell und fett, alles Getränk 40 Grad stärker, als in Deutschland, daher auch die Lustigkeit in der Regel derber. Man faßt selbst in feinen Kreisen derb zu und die feinste Elfe hat während dieser Zeit nichts dagegen. Doch nach Weihnachten darf Niemand Konsequenzen ziehen wollen, ohne derb zurechtgewiesen zu werden. – Nach Weihnachten kann man die ganze Decke voll Mistelzweige hängen, ohne nur zu einer Kuß-Miene berechtigt zu werden. Alles hat seine Zeit, sagt Salomo, und in England der Carneval blos seine Weihnachtszeit bis zum heiligen Dreikönigseiland, wo mit dem zwölften Kuchen, („twelfth cake“) dem großen, kostspieligen architektonischen und plastischen Conditorkunstwerke, die letzten Bissen der Lustigkeit für ein ganzes Jahr vertheilt und verzehrt werden.

Es bleibt mir nun noch blos Raum, zu sagen, was ich Alles nicht schildern kann, so sehr es auch mitten in die Weihnachtsfreunden gehört, z. B. die Ströme von Pantomimen, diese eigenthümlichen Zauberpossen, die zu Weihnachten über alle Theater sich ergießen und die jede englische Familie glaubt sehen zu müssen; oder die Qualen des „boxing day“ des „Geschenktages“ (26.), wo sich ganz London in zwei Klassen verwandelt, Bettler und Angebettelte, und mancher Haushalter, nachdem er Pfunde in Schillingen an alle mögliche Beamte, Diener, dienstbare Geister, Straßenkehrer, Schornsteinfeger, Wasser- und Gasmänner, Steuersammler u. s. w. willig ausgegeben hat, endlich wüthend wird, da er endlich die Entdeckung macht, daß alle zweimal kommen, erst die unrechten, die sich nur Titel anmaßen, und dann die wahren, so daß er sich nicht anders zu helfen weiß, als seinen Ueberzieher zu nehmen, davon zu laufen und seiner Köchin den Kampf zwischen den rechten und unrechten Bettlern zu überlassen.

Zu Weihnachten erlebt man, daß der Engländer eigentlich ein ganz braver, nobler, zugänglicher, geselliger, selbst gemüthlicher Mensch wäre, wenn er nicht zu viel „Geschäft“ und „Geld machte.“ Und die Lippen unter den Mistelzweigen sind oft so rosige und voll und unspröde, daß man es in den ersten vierzig Jahren nicht übel nehmen würde, wenn alle Tage Weihnachten wäre.
B. 




[32]

Aus der Menschenheimath.

Briefe
Des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Achtzehnter Brief.
Alte und neue Alterthümer.

Es scheint eine tief begründete und sehr allgemeine Eigenschaft des Menschen zu sein, das Alterthümliche zu schätzen; und wie jede so artet auch diese Eigenschaft in ihren höchsten Steigerungen in Uebertreibung aus; während sie in ihrer ruhigen Bethätigung die höchste Berechtigung hat.

Was ist es denn, was sich in uns regt, was uns mit jenem so eigenthümlichen und so behaglichen Schauer erfüllt, wenn wir auf deutschem Boden ausgegrabene römische Inschriften betrachten; – wenn wir eine antike Statue in ihrer künstlerischen Vollendung bewundern; oder den nur wenig veränderten Goldring eines Römers an unseren Finger stecken?

Wenn Dir, mein Freund, solche Gelegenheiten sich darbieten, so versäume es nicht, Dir diese Frage vorzulegen. Die Beantwortung derselben wird Dir den Genuß, den Du dann empfinden wirst, gewissermaßen zergliedern, zu vollem Bewußtsein erheben. Du wirst dann eine Zaubergewalt über Dich gekommen fühlen. Das Alterthum, vor dem Du stehen wirst, wird Dich für Augenblicke über die Gegenwart emporheben, daß Dein Auge mit einem Blicke ungeheuere Zeiträume, das lebende und längst untergegangene Geschlechter, überfliegen kann. Du wirst dann nicht mehr blos Menschen sehen, sondern die Menschheit wird vor Dir stehen, wie sie einst war, und wie sie jetzt ist. Du wirst vielleicht zum ersten Male einen Zusammenhang der Zeiten und der Menschenwerke erkennen.

Der Geist der Geschichte ist es, dessen Wehen Dich dann durchdringen wird.

Was ist aber der Geist der Geschichte? Es ist eine Geisterstimme, welche uns erzählt, welche Wege das Menschengeschlecht bisher gegangen ist, und welche uns mahnt, für unseren Weg dadurch uns rathen zu lassen. Die, welche jenen Weg einst belebten, sind nicht mehr, aber Spuren von ihnen sind auf dem Wege liegen geblieben. Indem wir sie aufsammeln, malen sie uns ein Bild ihrer Urheber und dem bewußten Menschen werden sie liebe Erinnerungszeichen, wie die Silberlocke des längst begrabenen Vaters.

Aber, Freund, nicht blos das ist Geschichte, was uns die Schicksale des Menschengeschlechts erzählt, und nicht blos das sind Geschichtsquellen, was an Menschenwerken Kunde von ihren Urhebern giebt. Nicht blos unter dem Schuttlande vom brunnensuchenden Zufalle aufgegrabene Städte sind Geschichtszeugen – die ganze Erde ist ein Geschichtsbuch, welches sich während vielen Millionen von Jahren selbst geschrieben hat. Die Steinschichten ihrer Oberfläche sind seine Blätter und die Versteinerungen in denselben sind die erläuternden Bilder. Was wir Weltgeschichte nennen – in diesem stolzen Worte nennt sich der Mensch die Welt – das ist blos „die Geschichte unserer Tage“; denn die Zeit, seit welcher der Mensch auf die Schaubühne des Erdenlebens trat, ist eben nur ein Tag vom Alter der Erde.

Ich bezieht mich hier auf das, was Du hierüber in Nr. 3 u. 4 der Gartenlaube v. J. in dem Artikel: „Die Vulkane“, und in Nr. 15 in: „Die ältesten geschichtlichen Denkmale“, gelesen hast.

Du kennst schon meinen Grundsatz, den ich so gern der Schule als Lebensodem einhauchen möchte: die Erde ist unsere Heimath, in der ein Fremdling zu sein Jedermann Schande und Schaden bringt.

Die Geschichte unserer politischen Heimath ist eben nur ein kleiner Theil, ist nur der jeweilige Schluß jener großen, eigentlichen Universalgeschichte, welche eben jene große für alle Menschen gleiche Erdheimath in ihrem Werden und Umwandeln schildert.

Man nennt diese Wissenschaft Geologie, was wörtlich durch Erdkunde zu übersetzen sein würde, wenn dieses Wort nicht schon durch eine obendrein ungenaue Uebersetzung von Geographie vergeben wäre. Erinnert man sich, daß das Wort Erde alles das begreift, was auf diesem ungeheuern Stäubchen des Weltalls sich befindet, so erscheint uns die Geologie, die Erdkunde, als die gewaltigste, als die umfassendste Wissenschaft. Wie aber im Verlauf der Zeit der Mensch sein Forschen und Wissen in bestimmte Theile, die er Wissenschaften nennt, gesondert hat, so ist dabei unter dem Titel der Geologie derjenige Theil verstanden worden, welcher von der muthmaßlichen ersten Entstehung und Entwickelung des Erdkörpers bis zu seiner gegenwärtigen Beschaffenheit handelt.

Kann es für Denjenigen, der mit seinem geistigen Auge über die engen Grenzen seines Tagewerkes hinausblickt, etwas Erhabeneres geben, als die Wissenschaft, welche ihm sagt, wie die Erde entstanden und allmälig das geworden ist, was sie jetzt ist?

Ich habe Dir erst einmal, in meinem dritten Briefe, etwas aus dem Gebiete dieser erhabenen Wissenschaft erzählt. Mein heutiger Brief soll die Vorbereitung auf einige weitere Mittheilungen sein. Er sollte Dir die gangbaren Begriffe Geschichte und Alterthum berichtigen.

Was man jetzt gewöhnlich Alterthümer oder Antiquitäten nennt, müssen wir nun denjenigen gegenüber, von denen ich Dir einige vorführen werde, neue Alterthümer nennen.

Ich zeige Dir hier eine sehr alte Antiquität aus der Geologie.

Staunte man schon, bei der Ausgrabung von Pompeji in der zu Stein verhärteten vulkanischen Asche, welche 79 n. Chr. jene unglückliche Stadt verschüttete, die Abdrücke von menschlichen Körpertheilen zu finden – wie muß man erst staunen, wenn man auf beiliegendem Bilde die Fährten von Thieren sieht, welche vor Millionen von Jahren gelebt haben?

In einer der ältesten geschichteten Gebirgsarten, in dem bunten Sandsteine, findet man an manchen Orten, z. B. bei Heßberg, solche Fährtenabgüsse. Die näheren Umstände ihres Vorkommens lassen ihre Entstehungsweise nicht zweifelhaft. Jene Thiere, deren Deutung nach diesen Spuren und wenigen versteinerten Knochen, die aber vielleicht nicht einmal von jenem Fährtenthiere herrühren, noch nicht mit Sicherheit erledigt werden kann, liefen auf einem weichen, jetzt als harter, thoniger Mergel erscheinenden, Schlamme hin und hinterließen ihre Fußstapfen darin. Wahrscheinlich bald [33] nachher wurden große Sandmassen darüber aufgethürmt, welche zu Sandsteinfelsen erhärteten, und natürlich jene Fußstapfen ausfüllten und abformten. Jetzt findet man nun auf der Unterseite der untersten Schicht jener Felsen diese uralten Abformungen. Es ist mehr als einmal gelungen, beim Brechen größerer Flächen solcher Sandsteinplatten diese Fährten in der Reihe zu finden, wie das Thier sie beim Gehen hinterlassen hatte. Auch unsere Figur zeigt Dir die vier zusammengehörigen Fährten eines vierfüßigen Thieres, dessen Vorderfüße kleiner als die hintern waren.

Gegenwärtig kennt man schon ziemlich viel verschiedene Fährtenarten, welche bestimmt von ebenso vielen verschiedenen Thierarten herrühren müssen.




Das Heimweh der Thiere.

Das Heimweh ist die schwärmerische Sehnsucht nach dem früheren, geliebten Aufenthalte. Doch ist sie auf diesen nicht immer allein beschränkt, sie erstreckt sich auch auf die Genossen und selbst auf die Beschäftigung und Lebensweise, und sie tritt um so eher und um so stärker hervor, wenn alle diese Beziehungen zugleich auf den Menschen wirken. Je größer der Kontrast des Früheren mit dem Gegenwärtigen ist, um so eher entsteht das Heimweh. Alle Menschen empfinden es nicht, denn nicht alle Menschen sind gleich leicht durch ihr Gefühl und ihre Phantasie zu erregen und nicht alle geben sich derselben auf gleiche Weise hin. Der Bergbewohner, der meist ein einfaches, mit der Natur noch eng verknüpftes Leben führt, den zieht es und treibt es zurück zu seinen Bergen, wenn er von ihnen fern ist, mit aller Gewalt; er sehnt sich nach ihnen, wenn es ihm auch in der Ferne besser ergeht, und vermag er dieses Sehnen nicht zu stillen, so wird es stärker und stärker, es wird zur Krankheit, zum Heimweh, das oft selbst den Tod herbeiführt. Das Heimweh ist also eine krankhafte Geistes- und Gefühlsstimmung und wirkt lähmend auf das ganze Seelenleben, selbst auf die Verrichtungen des Leibes.

Eben so wie bei den Menschen finden wir das Heimweh bei den Thieren, bei der einen Klasse mehr, bei der andern weniger, und am Deutlichsten sehen wir es bei den höheren Thierklassen hervortreten, z. B. bei Pferden, Affen, Hunden, Katzen, Tauben u. s. w. So werden viele Thiere und namentlich Vögel durch die Gefangenschaft so betrübt, daß sie alle Freßlust verlieren und sterben. Das schreiben nun zwar Manche der Macht der Gewohnheit zu; allein was ist denn die Gewohnheit oder das Gewöhntsein an irgend Etwas, an einen Aufenthalt, wenn es so stark hervortritt, daß es in steter Erinnerung an das Frühere, in stetem Vorführen der früheren, lieben Bilder die Phantasie, das ganze Seelen- und Geistesleben so sehr bewegt und erschöpft, daß diese in einen krankhaften Zustand gerathen, anders als das Heimweh? Der Vogel, dem die Freiheit genommen wird, der sich in wenig Tagen zu Tode grämt, der an dem Heimweh stirbt, auf den konnte doch nicht so schnell die veränderte Luft und Nahrung und Lebensweise einwirken; er hatte vielleicht dasselbe Futter wie in der Freiheit, konnte sich eben so viel Bewegung machen und doch starb er nach wenig Tagen, weil die Sehnsucht an seine Freiheit, an seine Bäume und Genossen, an den freien blauen Himmel ihm das Herz brach. Dies wird Manchem sonderbar klingen und doch ist es wahr. Weshalb überleben die Nachtigallen, wenn sie später im Jahre, wo sie bereits sich gepaart haben, gefangen werden, ihre Gefangenschaft seltener, als wenn sie im Frühjahre gefangen werden? Das Heimweh zu ihrem Weibe oder Manne und ihrem Neste tödtet sie. Ebenso verschmähen die Mandelkrähen in der Gefangenschaft meist alle Nahrung und überleben selten den dritten Tag, und jede alt eingefangene Trappe stirbt bald in Trotz, Gram, Angst und Heimweh dahin.

Der Cay-Affe ist, wenn er schon erwachsen eingefangen wird, traurig und still, er nimmt keine oder nur sehr wenig Nahrung zu sich und stirbt schon nach wenig Wochen, ebenso der gefangene Caguar. Ja Burdach führt uns in seinem Werke: „Blicke in’s Leben“, Fälle an, wo der Tod so schnell erfolgte, daß er nur durch eine mehr unmittelbare Einwirkung der Seele herbeigeführt sein konnte. Man kann dagegen nicht erwiedern, daß selbst bei dem Menschen, der nach seiner höheren Stufe des Geistes und Gefühls das Heimweh stärker und tiefer empfinde, nicht einmal so schnell der Tod einkehre, denn dagegen spricht, daß sich der Mensch nie so ganz und unumschränkt von augenblicklichen Leidenschaften und Erregungen beherrschen läßt, wie das Thier, welches gänzlich dem Eindrucke derselben hingegeben ist.

Was ist es anders als ein Sehnen nach der Heimath, das sich bei den Wandervögeln stets zur Zeit der Wanderung einstellt? Mag es auch nur als ein dunkles Streben, als ein mehr oder weniger vom Instinkt geleitetes Gefühl hervortreten, es läßt sich zum wenigsten nicht fortläugnen. Wenn die Wanderzeit nahet, so werden selbst die in der Gefangenschaft gehaltenen Wandervögel unruhig, ungeduldig und darauf still und eine Zeit lang traurig; und wenn die Vögel wieder zu uns kehren von ihrer Wanderschaft, dann zieht es sie zurück zu ihrem Heimathsorte und sie wissen ihr kleines Nest wieder aufzufinden, oder bauen sich doch in der Nähe desselben ein neues, wie auch die jüngeren Vögel stets in der Nähe ihres Geburtsortes ihren neuen Herd sich gründen. Der Storch sucht stets sein altes Nest wieder auf, er bewohnt es viele Sommer hindurch und ist er gestorben, so nehmen seine Nachkommen es ein. Ebenso ist es mit den Fischen. Zur Laichzeit kehren sie stets zu dem Orte zurück, an dem sie selbst geboren sind, und der Lachs macht vom Meere aus, wenn seine Laichzeit nahet, oft viele, viele Meilen, um seine Nachkommen in demselben kleinen Bache zwischen die Steine, wo er geboren, zu tragen, und stets macht er denselben Weg zurück, auf welchem er zuerst seine Wanderung aus dem Bache in den Fluß, aus ihm in das Meer angetreten. Er kann nicht in dem Bache bleiben, der ihm zu klein, es treibt ihn gleichsam fort, hinaus in die große, weite Welt, aber die Erinnerung an seine Heimath schwindet nicht; er trägt seine Brut zu ihr zurück. Wo aber einmal der Trieb, die Sehnsucht zur Heimath vorhanden ist, wo sie so große Schwierigkeiten zu überwinden vermag, da kann sie auch durch Umstände so gesteigert werden, daß sie zum Heimweh wird.

Wie namentlich bei unsern Hausthieren die Liebe zur Heimath, zu ihren heimathlichen Genossen, selbst zum Menschen oft so stark hervortritt, daß sie den Menschen in Erstaunen setzt, davon giebt es der Beispiele genug. Hunde und Katzen, wenn sie auch in einem Sacke fortgetragen oder des Nachts in Wagen fortgeschafft werden, kehren oft nach mehreren Wochen und oft viele Meilen bis in ihre Heimath zurück. Rennier erzählt von einem Esel, welcher in Gibraltar eingeschifft und am Point de Gat über Bord geworfen war, als dort das Schiff gestrandet, daß derselbe einige Tage darauf Morgens vor dem Thore von Gibraltar erschien, und als dasselbe geöffnet war, sogleich nach seinem alten Stalle lief. Er hatte einen Weg von mehr denn fünfzig Meilen zurückgelegt. Wie der Mensch die Liebe und Sehnsucht der Tauben zu ihrer Heimath sich zu Nutze gemacht, ist bekannt genug, und wir brauchen deshalb nicht bis zum Noah zurück zu gehen. Die Brieftauben finden von England bis Spanien ihren Weg und sind sie einmal auf dem Wege zu ihrer Heimath, sind sie unermüdlich, nehmen kaum etwas Nahrung zu sich, und die Sehnsucht nach der Heimath hat sie oft schon solche Anstrengungen machen lassen, daß sie endlich in der Heimath angekommen, kurze Zeit darauf an den Folgen der Anstrengungen gestorben sind. – Eine Schildkröte, welche man bei der Insel Ascension gefangen und der man am Bauchschilde Buchstaben und Ziffern eingebrannt hatte, wurde, als das Schiff in den britischen Kanal kam, über Bord geworfen, weil man ihren Tod nahe glaubte, und zwei Jahre darauf ward dieselbe Schildkröte in der Nähe der Insel Ascension wieder gefangen. Sie hatte den weiten Weg zu ihrer Heimath zurückgefunden.

Wie unsere Hausthiere, wenn man sie aus ihrer Heimath entfernt, in dem neuen Orte, selbst wenn sie es dort viel besser haben, niedergeschlagen und traurig sind, oft selbst ihr liebstes Futter verschmähen und gar zu gern nach dem alten Orte zurückkehren; wie sie von der herrlichsten Weide stets freudig und schneller nach ihrem Stalle zurückkehren, wie die Pferde unverdrossen und schneller sind, sobald der Weg sie zum heimathlichen Stalle zurückführt, wie sie, von ihren Genossen getrennt, traurig sind und [34] bei Krankheiten weit langsamer genesen, das ist zu bekannt, da es täglich vorkommt, um es hier noch weiter auszuführen.

Es ließen sich der Beispiele, bei denen wir eben so sehr die starke Liebe zur Heimath, als die Schärfe des Instinktes oder unbewußten Strebens, und die Ausdauer bei Erreichung des Zweckes, anführen; aber aus dem Angeführten wird schon hinreichend und sicher genug hervorgehen und deutlich genug einleuchten, daß die Thierseele ein der menschlichen Einbildungskraft ganz ähnliches Vermögen, ja dieselbe Einbildungskraft, nur in geringerem Grade besitzt, denn sie äußert sich eben so wie bei dem Menschen: in Bildern, in Träumen, im Spiele und als krankhafte Steigerung im Heimweh. Das Traumleben des Thieres ist wie ja selbst das des Menschen noch in großes Dunkel gehüllt, aber mehr und mehr wird es sich aufhellen und manchen Aufschluß mit sich führen, seitdem man von den Wilden Amerika’s erfahren bat, wie man sich von den Träumen der Thiere in Kenntniß setzt. Hängt man einem schlafenden und träumenden Hunde ein Tuch über und deckt man sich dasselbe darauf über den eigenen Kopf und schläft unter ihm, so träumt man denselben Traum, den der Hund gehabt, was mehrfache Versuche bereits außerhalb des Gebietes des Zweifels gesetzt haben. Wie weit man dieses zurück zu verfolgen vermag, ist noch nicht erforscht.

Ebenso leuchtet aus dem Gefühle der Sehnsucht nach der Heimath, aus dem Heimweh bei den Thieren die starke Erinnerungskraft und auch das Unterscheidungs- und Vergleichungsvermögen hervor, denn nur durch das Vergleichen des Früheren mit dem Gegenwärtigen geht das Heimweh hervor. – Daß bei dem Thiere alle diese Geistes- oder Seelenkräfte sich mehr oder weniger auf das Gefühl, die Empfindungskraft beschränken, daß sie unmittelbarer, stets nur subjektiv auf das Thier wirken, das wollen wir nicht bestreiten, denn die Kraft des Objectivirens und Abstrahirens ist allein dem Menschen vorbehalten, damit er sich durch sie in freier Kraft über den thierischen Standpunkt erhebt und in dem steten Ringen und Streben nach Fortbildung und höherer objectiver Vollendung sein ewiges Ziel suche und finde, damit er, wie Jean Paul sagt, „in dem Weltmeer wie ein Lebendiger durch Schwimmen aufsteige, aber nicht wie ein Ertrunkener durch Verwesung.“ –




Blätter und Blüthen.


Lützow’s Jagd. Der Freiheitskampf war beendigt, Ruhe in die Gemüther zurückgekehrt und das geregelte Leben des Friedens zeigte sich aufs Neue in allen Verhältnissen. Namentlich herrschte das regste und bunteste Treiben in den verschiedenen Bädern, deren Besuch, während der Kriegsjahre gestört, nun um so lebhafter wurde, da zahlreiche Freiheitskämpfer hier Genesung von den Folgen der Wunden oder der erlittenen Strapazen suchten. Zu den Letztern gehörte auch ich, und mehrfache Gründe bestimmten mich, das lieblich gelegene Alexisbad zu wählen. Es war ein schöner Sommertag, als ich dort ankam.

„Sie werden nur wenige Gäste im Kursaale finden,“ sagte mir der Wirth. „Es ist eine allgemeine Landpartie nach einem entfernteren Punkte gemacht worden, und da pflegen sich beinahe alle Badegäste anzuschließen, zumal deren Zahl bis jetzt noch nicht sehr groß ist.“

Ich ließ mich dadurch nicht abschrecken, sondern stieg die kleine Erhöhung zu dem Kursaale hinauf. Dieser war ganz leer. doch aus einem Nebenzimmer schallten Stimmen zu mir herüber. Ich trat grüßend in die Thür und überblickte den kleinen Kreis, den ich hier versammelt fand. Es waren nur wenige Personen, und unter diesen fiel mir besonders ein Mann auf, dessen kleine, schwächliche Gestalt auf eine eigenthümliche Weise mit dem ausgezeichneten Kopfe contrastirte, dem sie zur Stütze diente. Scharf markirte Züge, eine hohe Stirn, eine sehr große Nase. verliehen dem Gesichte einen unverkennbaren Stempel des Geistes, der Genialität, und unwillkürlich entstand in mir die Frage: „Wer ist dieser Mann?“

Es schien, als habe man ihn bei meinem Eintritte eben gebeten, sich an den offenstehenden Flügel zu setzen, denn nach einer flüchtigen Erwiederung meines Grußes nahm er auf dem Sessel vor demselben Platz und ließ mit wunderbarer Leichtigkeit die Finger über die Tasten gleiten, denen er in wechselnden Phantasien die lieblichsten Töne entlockte, so daß alle Anwesenden wie unwillkürlich einen dichten Kreis um ihn schlossen und mit angehaltenem Athem dem meisterhaften Spiele lauschten.

Allmälig schienen die tändelnden Phantasien sich zu einer bestimmteren Melodie gestalten zu wollen; ich vernahm bekannte, liebe Klänge, und endlich tönte voll und kräftig die Komposition C. M. v. Webers zu Lützow’s Jagd von Körner, welche damals noch in Jedermanns Munde war. Ich konnte mich, hingerissen von den vertrauten Tönen, nicht enthalten, zum Schluß aus voller Brust in die Worte auszubrechen:

Und wenn Ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützow’s wilde, verwegene Jagd.

Da ertönte leise, und wie mit unterdrücktem Schluchzen, hinter uns ein Echo:

Und wenn Ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das war Lützow’s wilde, verwegene Jagd.

Verwundert blickten sich Alle nach der Stimme um, welche diese Worte mit einem unendlich klagenden Ausdrucke gesprochen hatte, und wir sahen nun einen kleinen, bejahrten Mann, der während des Spieles unbemerkt eingetreten sein mußte, und dem jetzt die hellen Thränen über die Wangen liefen, während er mit niedergesunkenem Haupte und gefaltet herabhängenden Händen dastand, ein wahres Bild des Schmerzes.

Es entstand eine Pause allgemeinen Schweigens, während welcher Alle die stumme Frage an den weinenden Greis zu richten schienen, woher seine auffallende Rührung komme. Er las sie wahrscheinlich in unsern Mienen, denn indem er den Kopf erhob, sagte er, wie zur Erklärung seines Schmerzes:

„Ich bin Theodor Körner’s Vater!“

„Und ich bin Körner’s Waffenbruder!“ rief ich, von dem Schmerze des Alten tief ergriffen, und schüttelte ihm herzlich die Hand.

„Und das,“ sagte einer der Gäste, indem er auf den Klavierspieler deutete, „ist der geniale Komponist der ergreifenden Dichtung, Carl Maria von Weber!“




Sternschnuppen. In Nr. 45 v. J. dieser Blätter hat eine kundige Hand den Leser in die Geheimnisse der Sternschnuppen eingeführt. Von uns möge er hören, was der Aberglauben mit dieser Erscheinung in Verbindung gebracht hat. In Schweden ist es ein ziemlich verbreiteter Glaube, daß die Sternschnuppen die abgeschiedenen Seelen der Verstorbenen wären, die leuchtend gen Himmel zögen. Einige Talmudisten aber erklären sie für Feuerkugeln, welche die guten Engel den Teufeln nachwerfen, wenn diese sich an das Gitter des Himmels schleichen, um die Rathschlüsse Gottes zu belauschen. Ja, so weit ist man gegangen, eine weiße gallertartige Materie, die man wohl hier und da im Herbst und Winter auf den Wiesen findet und die nichts weiter als unverdauter Froschstoff ist, den wohl die Sumpfvögel auswerfen, für Sternschnuppenmasse zu halten und darnach zu benennen. – In dem elsässischen Städtchen Ensisheim ward einst der große Meteorstein aufbewahrt, der im Jahre 1492 herabgefallen und lange Zeit der berühmteste war. Ob er noch da ist, weiß ich nicht. Während der Revolution war er den Ensisheimern nach Colmar in’s Lyceum entführt worden. Sie erhielten ihn aber später wieder zurück und bewahrten ihn dann in der großen Kirche im Chor auf einer Konsole auf. Der Stein wog, nachdem manches Stück mit Gewalt weggeschlagen war noch etwa 70 Pfund, hatte 10 Zoll Höhe und 15 Zoll Durchmesser; auswendig mit einer bräunlichen Rinde überzogen. Seitdem hat man freilich viel schwerere Meteormassen beobachtet. Aber noch zu Anfang dieses Jahrhunderts wogen die Mineralienhändler in Paris ihren Werth und ihr Gewicht gegen gemünztes Gold auf; jetzt nicht mehr, seit so viele gefunden werden, daß alle Liebhaber befriedigt werden können und auch nicht die Versuchung eines künstlichen Nachmachens locken kann. Unter dem Ensisheimer Steine stand (oder steht) eine lateinische, deutsche und französische Inschrift. Die deutsche lautet:

Tausend vierhundert neunzig zwei
Hört’ man allhier ein groß Geschrei.
Daß zunächst draußen vor der Stadt
Den siebenten Wintermonat,
Ein großer Stein bei hellem Tag
Gefallen mit einem Donnerschlag.
An dem Gewicht drittehalb Centner schwer.
Von Eisenfarb’, bracht man ihn her
Mit stattlicher Procession,
Sehr viel schlug man mit Gewalt davon.




Uebermuth und Demuth. Schleiermacher, der berühmte Kanzelredner, hatte sich einst in einer Krankheit von dem ebenfalls berühmten königlichen Leibarzt Dr. Gräfe, behandeln lassen. Nach seiner Genesung schickte er demselben ein höfliches Briefchen und legte demselben vier Louisd’or bei, indem er bat, diese Kleinigkeit als Beweis seiner Dankbarkeit, für gehabte Bemühungen anzunehmen. Am nächsten Tage erhielt er die Goldstücke zurück, begleitet von den folgenden lakonischen Zeilen des Geheimen Generalstabsarztes: „Arme kurire ich umsonst; Wohlhabende zahlen nach der Medicinaltaxe; Reiche honoriren mich nach Belieben anständig.“ – Darauf ertheilte der Geistliche die noch lakonischere Antwort: „Die vier Louisd’or erhielt mit Dank zurück – der arme Schleiermacher.“




Lamartine’s Heirat. Dieser große Dichter und ehemalige Präsident der sehr provisorischen Republik in Frankreich hat jetzt wenigstens wohl eine glückliche Häuslichkeit. Eine sehr reiche Dame mit Namen Birch wurde durch die Lectüre seiner „Méditations[WS 1] so in Liebe für den Dichter eingenommen, daß sie nach langer Geheimhaltung ihrer Neigung und als sie von seinen weltlichen Verlegenheiten hörte, beschloß, ihm ihr Vermögen anzubieten. Sie that es. Gerührt von dieser Großmuth besann sich Lamartine nicht lange, es unter der Bedingung, daß sie Herz und Hand zugebe, anzunehmen. Alles ward bewilligt und angenommen.




Ein Geschenk Gladstone’s. Gladstone, der englische Finanzminister unter Aberdeen, bekam neulich von unbekannter Hand einen massiv silbernen Kohlenschürer (poker) mit der eingegrabenen Inschrift geschickt und geschenkt: „Für den Herrn Minister, ihn zu pokern, daß er sich pokere, dem Lande wohlfeilere Kohlen zum Pokern zu verschaffen.“ Die Kohlenpreise sind nämlich viel über 100 Procent gestiegen.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „Gleditations“