Die Gartenlaube (1857)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 17. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Auf der Eisenbahn.
Vom Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)


Die Situation wurde verwickelter; die Entscheidung wurde mit jedem Momente schwieriger. Und noch mehr drängte sie. Ich mußte noch heute, noch an demselben Abend, der schon längst hereingebrochen war, Gewißheit haben, ob der Dieb in meiner Gewalt sei oder nicht. War er es, und wußte ich es nicht heute und hielt ich ihn demnach nicht noch heute fest, so waren Tausend gegen Eins zu wetten, daß er morgen früh über alle Berge war, und mit ihm die zwanzig tausend Thaler des armen B. Andererseits konnte er noch immer nicht der Dieb sein, und für diesen Fall war jedes Aufsehen, namentlich jede gewaltsame Maßregel zu vermeiden. Zwar nicht so sehr um seinetwillen, denn ein Verdacht lastete einmal auf ihm; dieser Verdacht mußte auf der einen oder anderen Seite hin nothwendig aufgeklärt werden; kam die Unschuld heraus, so lag darin eine vollständige Genugthuung. Desto mehr Schonung bedurfte es für die unglückliche Ottilie; jeder Eclat, der ihr nur zu dem leisesten Verdachte Veranlassung geben konnte, führte auch die Gefahr eines tödtlichen Angriffes auf den zarten, kranken Organismus mit sich. Ich mußte hier einmal alle anderen Mittel des Polizeimenschen bei Seite lassen und mich blos auf meine psychologischen Künste beschränken. Sie mußten in Anwendung gebracht werden, um eben so behutsam wie rasch zum Ziele zu gelangen. Danach machte ich meinen, allerdings sehr einfachen Plan.

„Kennt mich der junge Mann?“ fragte ich die Oberstin.

„Ich glaube nicht; er hat nie von Ihnen gesprochen.“

„Auch ich glaube es nicht; soviel ich weiß, war er nie in der Residenz. – Kommt er heute Abend noch zu Ihnen?“

„Er muß schon hier sein. Ich hörte vorhin während unseres Gesprächs die Hausthür öffnen und die Stimme meiner Gesellschafterin; sie muß mit den beiden jungen Leuten zurückgekehrt sein und sie werden sich im Gartensalon befinden.“

„Gnädige Frau, darf ich bitten, den jungen Mann durch den Bedienten hierher rufen zu lassen, ohne ihm zu sagen, zu welchem Zweck? Darf ich sie bitten, mich mit ihm hier alleine zu lassen?“

„Ich unterwerfe mich Ihren Anordnungen. Ich bemerke nur noch, daß Eduard D. unter dem Namen Wohlhausen hier ist.“

Die Oberstin klingelte dem Bedienten, befahl ihm, Herrn Wohlhausen herüber zu bitten, und ließ mich dann allein.

Nach einer Minute trat der junge Mann ein. Ich betrachtete ihn näher. Es war wirklich ein schöner Mensch, in dessen Gesicht, Körper und Haltung sich Adel und Geist aussprachen. Der Mensch ein gemeiner Verbrecher! Und welch’ ein verdorbener, abgefeimter, gefährlicher mußte er sein. Es war Jammerschade um ihn.

Er sah mich überrascht an. Er hatte die Oberstin erwartet und fand einen Fremden. Ich überzeugte mich an seinem Blicke vollkommen, daß er mich nicht kannte.

„Mein Herr,“ redete ich ihn an, „Sie heißen Eduard Wohlhausen?“

„Mein Herr,“ erwiderte er vornehm, aber höflich, „darf ich fragen, wer mir die Ehre erzeigt, sich nach meinem Namen zu erkundigen?“

„Ich bin der Polizeidirector – aus –.“

Er erblaßte, er zuckte, es war, als wenn er unwillkürlich einen Schritt zurückfliegen müsse. Aber schon in demselben Momente stand er wieder fest, hoch aufrecht, einen stolzen, kühnen, beinahe herausfordernden Blick auf mich werfend.

„Mein Herr,“ sagte er, „Sie kennen mich?“

„Ja, Herr D–.“

„So werden Sie wissen, daß ich mein Leben vertheidigen werde. Aber bevor Sie es darauf ankommen lassen, eine Bemerkung. Hier im Hause ist ein zartes, krankes Wesen, das Sie tödten würden, wenn Sie Gewalt gegen mich brauchten.“

„Ach, mein Herr, Sie wollen eine kranke, schwache Dame zu Ihrem Schilde gebrauchen?“

Ich sprach mit einem spöttischen Lächeln. Er wurde dunkelroth, dann blaß. Er sann nach; er kämpfte mit sich. Ich mußte mir gestehen, Alles, was ich bisher gesehen und gehört hatte, war Zeugniß eines tüchtigen Charakters. Er hatte in Bewegung wie in Sprache das Bewußtsein und die Ruhe eines Mannes bewahrt. Es kämpfte jetzt in ihm sein Stolz und seine Liebe. War das, konnte das Alles bloße Maske sein?

„Mein Herr,“ sagte ich zu ihm, „seien Sie vorläufig unbesorgt. Die Frau Oberstin Wüsthof zählt mich zu ihren ergebensten Freunden. Gestatten Sie mir einige Fragen an Sie.

„Fragen Sie mein Herr,“ erwiderte er entschlossen.

„Haben Sie vor Kurzem Ihre Mutter verloren?“

„Ja, mein Herr.“

„Sie waren an ihrem Sterbebette?“

„Ja.“

„Wo wohnte ihre Mutter?“

Er nannte den Ort.

„Wie hatten Sie trotz der Wachsamkeit der Polizei zu ihr gelangen können?“

„Ist es zu Ihren Zwecken, die ich nicht kenne, nöthig, daß ich Ihnen darauf eine Antwort gebe?“

[230] „Ich kann vor der Hand darauf verzichten. Aber die Auskunft möchte ich mir von Ihnen erbitten, wie Sie auf der Rückkehr aus dem mütterlichen Hause den Verfolgungen der Polizei entgehen konnten.“

„Hat es Ihnen die Frau von Wüsthof nicht mitgetheilt?“ fragte er.

„Ich möchte es aus Ihrem Munde hören.“

„Ausführlich?“

„So ausführlich, wie möglich.“

„Wohlan. Mein Aufenthalt bei meiner Mutter war verrathen. Ich mußte eilig flüchten. Ich hatte mich durch einen falschen Bart und andere Mittel schon unkenntlich gemacht, als ich zu Hause ankam. Man mußte meine angenommene Gestalt für meine wahre halten. So flüchtete ich auch; so konnte ich also auch nur verfolgt werden und es kam daher darauf an, in dieser Gestalt zu verschwinden, um unverdächtig in einer andern wieder zu erscheinen.“

„Sie bewerkstelligten das?“

„Ja.“

„Wo?“

„Auf der Eisenbahn zwischen R. und K.“

„Darf ich um die Details bitten?“

„Ich hatte zwar kein leeres, aber doch ein Coupé gefunden, in welchem nur ein einziger Reisender sich befand. Unmittelbar nebenan bemerkte ich ein Coupé, das gleichfalls nur von einer Person, einer Dame, besetzt war. Ich stieg in jenes ein. Was ich erwartet hatte, geschah. Mein Gefährte schlief ein. Ich nahm das wahr, sah aus dem Coupé, erblickte draußen Niemanden, stieg durch das Fenster und schwang mich unbemerkt in das Coupé der Dame. Ich entdeckte mich ihr. Ich gewann das Versprechen ihres Stillschweigens. Ich konnte die Veränderung meiner Gestalt bewirken.“

„Und der junge Mann in dem ersten Coupé? Kannten Sie ihn?“

„Nein.“

„Haben Sie mit ihm gesprochen?“

„Kein Wort.“

„Wie lange waren Sie bei ihm?“

„Etwa fünfzehn Minuten. Vielleicht länger.“

„Und in dieser Zeit sprachen Sie nichts mit ihm?“

„Er redete mich nicht an, und auch ich hatte keine Veranlassung dazu.“

„Er schlief so schnell ein?“

„Er schien ermüdet zu sein.“

„Er schlief also wirklich bald ein?“

„Er lag schon bei meinem Einsteigen in der Ecke des Wagens, und bald hörte ich seine Athemzüge, wie eines Schlafenden.“

„Darauf führten Sie Ihren Plan des Verschwindens aus dem Coupé aus?“

„Ja.“

„Und der Andere erwachte nicht?“

„Nein.“

„Wie sah dieser Andere aus?“

„Es war ein junger Mensch. Er schien mir Kaufmannsreisender zu sein.“

„Fiel Ihnen nichts an ihm auf?“

„Ich wüßte nicht.“

„Mein Herr,“ nahm ich mit erhobener Stimme das Wort, „Sie müssen gestehen, daß das, was Sie mir da erzählt haben, in Hohem Grade unwahrscheinlich klingt. Schon gleich Ihr ganzer Plan, wie wenig konnten Sie auf sein Gelingen rechnen –.“

Er unterbrach mich.

„Geben Sie sich keine Mühe weiter. Ich erkenne vollkommen das Unwahrscheinliche meiner Mittheilung an. Aber stellt meine ganze Lage, in der ich war, sich anders dar? Blieben mir, um mich daraus zu befreien, andere als die ungewöhnlichsten und darum unwahrscheinlichsten Mittel übrig? Mußte ich nicht gerade auf diese Unwahrscheinlichkeit rechnen?“

Er hatte Recht. Er hatte aber auch in so manchem Anderen Recht. Besonders in der Offenheit und Wahrheit, womit er mir auf meine Fragen antwortete. So konnte kein schuldbewußter Verbrecher sprechen; auch bei dem gewandtesten, dem vollendetsten Schurken war mir wenigstens, und ich hatte doch eine sehr reiche Erfahrung, ein solches freies und sicheres Benehmen noch nicht vorgekommen. Ich mußte meinen letzten Trumpf ausspielen; es blieb mir nichts Anderes mehr übrig.

„Mein Herr,“ begann ich wieder, „Sie haben sich nicht nach dem Grunde erkundigt, weshalb ich Sie hier inquirire.“

„Er ist mir gleichgültig, mein Herr,“ antwortete er in wirklich gleichgültigem Tone.

„Sie müssen ihn dennoch erfahren. Jenem Reisenden, mit dem Sie allein im Coupé waren, sind dort während seines Schlafes zwanzigtausend Thaler gestohlen worden.“

Ich hatte meinen letzten Trumpf ausgespielt. Aber ich hatte verlorenes Spiel. Ich hatte langsam, nachdrücklich gesprochen. Ich war dicht vor ihn hingetreten. Ich hatte ihn mit scharfem, tief in sein Innerstes dringendem Blicke angesehen. War er schuldig, ich mußte irgend ein Symptom entdecken. Ein, wenn auch noch so leiser Wechsel der Farbe mußte durch sein Gesicht ziehen. Sein Augenlid mußte zucken; seine Lippe oder sein Kinn, wenigstens der Kehlkopf, indem plötzlich der Athem ihm stockte, mußte sich bewegen, wenn auch noch so leise. Oder aber, wenn er ein vollendeter Schauspieler war und alle seine Muskeln voll in seiner Gewalt hatte, mußte er völlig unbeweglich bleiben, mit allen seinen Muskeln, mit seinem ganzen Körper. Jene wahren Bewegungen der Schuld gänzlich unterdrücken, und zu gleicher Zeit wahre Bewegungen der Unschuld machen, das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Allein von allen jenen Zuckungen nichts. Dagegen fuhr er plötzlich heftig, fast wild auf. Gleich darauf stand er hoch, stolz vor mir und maß mich mit einem Blicke der Verachtung; sofort dann aber wieder, als wenn er einsehe, daß er zum Verachten keinen Grund habe, mit einem finsteren Nachsinnen.

„Mein Herr,“ sagte er darauf, „den Dieb werden Sie anderswo suchen müssen. Eduard D. hat einen zu guten Namen und er achtet sich und seinen Namen zu hoch, als daß er auf eine solche Anklage sich nur vertheidigen könnte. Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“

Ich hatte mein Spiel verloren. Es war Eduard D., der vor mir stand, und dieser Eduard D. war kein Dieb.

Aber wer war dann der Dieb? Nur er oder Hertel, nur Einer von ihnen Beiden konnte es sein. Die Annahme eines Dritten war unmöglich. Kein Eisenbahnbeamter hatte es sein können; sie hatten sämmtlich oben auf den Wagen gesessen und Einer den Anderen gesehen. Die anderen Coupés des Waggons, in welchem Hertel sich befunden, waren voll besetzt gewesen. Kein Mensch war, auch nur auf einen Augenblick, daraus vermißt worden. An ein zweites, ähnliches Wagestück, wie Eduard D. es gemacht, war also gar nicht zu denken. Von außen, von der Straße her in das Coupé zu steigen, war, da der Zug keinen Moment angehalten hatte, wo möglich noch unmöglicher gewesen. Nur Hertel oder Eduard D., kein Dritter. Aber wer von Beiden?

Ich mußte es heraushaben. Ich mußte es sofort heraushaben.

Meine Aufgabe war schwieriger geworden. Wer von den Beiden auch der Dieb sein mochte, immer hatte ich es mit einem Schurken, so abgefeimt, so fest und sicher in allen Künsten der Verstellung zu thun, wie ich bisher noch keinem gegenüber gestanden hatte.

„Begleiten Sie mich,“ forderte ich den jungen Mann auf.

„Wohin?“ fragte er.

„Nach meinem Gasthofe.“

„Mein Herr, ich kann Ihnen vertrauen? Sie führen mich in keine Falle?“

„Wenn Sie nicht der Dieb sind, so werden Sie unangetastet bleiben. Mein Wort darauf.“

„Ich begleite Sie.“

Wir gingen zu meinem Gasthofe. Der Oberstin empfahl ich mit wenigen Worten, Ottilien keine Unruhe zu zeigen. Ein Resultat könne ich ihr noch nicht mittheilen.

Hertel logirte mit mir in demselben Gasthofe. Sein Zimmer lag indeß auf einem anderen Corridor. Ich war nicht mit ihm zusammen ausgegangen gewesen, hatte ihn auch veranlaßt, überhaupt wenig auszugehen und jedenfalls bestimmte Nachricht zurückzulassen, wo ich ihn sofort treffen könne Die Gründe hiervon lagen nahe.

Ich führte Eduard D. in mein Zimmer. Dieses war mit einem dicht verhangenen Alkoven versehen. In den letzteren mußte der junge Mann sich begeben. Ich forderte ihm vorher das Versprechen ab, was er auch hören werde mit keiner Bewegung, mit keinem Laute seine Anwesenheit zu verraten. Er versprach es. Ich ließ dann durch einen Kellner Hertel zu mir rufen.

Ich ging hierbei, indem ich den einen Verdächtigen zum Zeugen des mit dem anderen Verdächtigen abzuhaltenden Verhörs machte, [231] davon aus, daß jener, wenn er der Schuldige sei, sich in solcher Weise vorbereitet und gerüstet gezeigt hatte, daß er auch durch ein plötzliches Vorstellen des Bestohlenen oder durch ähnliche Mittel nicht mehr überrascht werden könne. In gleicher Weise gewaffnet hatte ich Hertel noch nicht kennen gelernt. Hertel kam.

Ich war oft in einer ähnlichen Lage gewesen, zwischen zwei Menschen, von denen nur Einer der Verbrecher sein konnte, Einer es aber auch sein mußte; gegen welche Beiden ich gleich vielen und zuletzt doch gleich wenigen Verdacht hatte. Aber nie war meine Lage so eigenthümlich, so peinlich einerseits, so schwierig andererseits gewesen. Peinlich, indem ich von der einen Seite Gefahr lief, durch das geringste Versehen zu verschulden, daß der brave B. nicht wieder zu seinem Vermögen kam, ein Bettler wurde, und von der anderen Seite gerade meine eifrigste und treueste Pflichterfüllung nur zu leicht dahin führen konnte, jenes arme, kranke, unschuldige Kind, für das ich angefangen hatte, mich so lebhaft zu interessiren, der Verzweiflung, dem gewissen Tode zu überliefern. Schwierig, indem ich es mit zwei Charakteren zu thun hatte, die, wenn sie sich gleich durchaus verschieden zeigten, doch in dem einen Punkte übereinstimmten, daß dem Schuldigen unter ihnen keine Seite des Anfassens abzugewinnen war. Eduard D. zeigte sich edel, stolz, beinahe hochfahrend, Hertel dagegen unglücklich, still, bescheiden, dienstfertig. Beide legten ein braves, redliches und offenes Wesen an den Tag, und Beide hatten noch nie Verlegenheit oder Verwirrung gezeigt.

Hertel trat bei nur ein, niedergeschlagen, aber unbefangen wie immer. Eine Einleitung konnte mir bei ihm nicht helfen, da er, wenn schuldig, bei jeder neuen Begegnung mit mir sich auf irgend etwas gefaßt halten mußte, und die Einleitung ihn eben nur vorbereiten konnte. Sie mußte mithin sogar nur schaden. Ich mußte ihn sofort überraschen. Ich redete ihn an.

„Hertel, der Dieb des Geldes ist endlich gefunden. Er ist in meinen Händen; hier in Baden. Ich werde ihn Ihnen noch heute Abend vorstellen.“

Ich fixirte auch ihn scharf, durchdringend. Er verzog keine Miene.

„Auch das Geld?“ fragte er hastig.

Die Frage war natürlich; sie wurde natürlich vorgebracht.

„Nein, der Dieb leugnet.“

„Nicht das Geld? Und er leugnet? Ich glaube es. Aber er ist zu überführen. Gottlob, daß er erst da ist. O, Herr Polizeidirector, mir fällt ein schwerer Stein vom Herzen. Ihre Mühe ist belohnt. Er leugnet. Er wird in R. wieder erkannt werden. Ich werde ihm den Diebstahl in’s Gesicht sagen. Er wird den Beweisen nicht widerstehen können. Er wird auch das Geld am Ende herausgeben, wenn er sieht, daß ihm sein Leugnen nicht mehr hilft.“

Auch in Diesen Worten war nichts Unnatürliches, nichts Gezwungenes. Sie wurden auch mit dem Ausdrucke des wahren Gefühls gesprochen.

„Ich hoffe gleichfalls,“ erwidere ich ihm, „daß der Mensch wird überführt werden. Er scheint der Festeste im Leugnen nicht zu sein. Ich habe das oft bei den verwegensten Verbrechern gefunden.“

Er zeigte eine leise Freude über diese Bemerkung.

„Sie werden ihn also auch wiedererkennen?“

„Gewiß.“

„Und ihm Ihre Aussage in das Gesicht sagen?“

„Gewiß.“

Kein Zeichen eines Schwankens, einer Verlegenheit, wie vorhin kein Zeichen einer Ueberraschung. Ich ging, wie von ungefähr im Laufe des Gesprächs, an den Vorhang des Alkovens. Ich zog rasch den Vorhang auseinander.

„Darf ich bitten, Herr Wohlhausen?“ sagte ich sehr höflich zu dem Versteckten.

Eduard D. trat mit seiner stolzen, imposanten Gestalt schnell hervor. Ich glaube, meine ganze Seele war nichts als Auge. Kein Zug, keine Bewegung des jungen Kaufmanns konnte mir entgehen. Er stand unbeweglich, unangreifbar, wie eine Mauer, die mit Pfeilen soll niedergeschossen werden. Wiederum kein Zeichen einer Verwirrung, eines Schwankens. Ueberrascht war er, aber nur um sofort den ihm so unerwartet Vorgestellten mit einem prüfenden Blicke zu mustern, ob es auch der Rechte sei, ob er ihn wieder erkenne.

Ich warf meine Blicke auf Eduard D. Er stand nicht minder unangegriffen und unangreifbar da. Seine Haltung gegenüber dem Manne, den er sollte bestohlen haben, war stolzer geworden, sein Blick strenger, voll Verachtung. So maß er schweigend den jungen Kaufmann.

Allein diesen trafen auch die Blicke des Vorwurfs, der Verachtung nicht. Der Ausdruck seines Gesichts wurde vielmehr sicherer, beruhigter. Seine Augen suchten mich. Er ist es! winkten sie mir mit der gewohnten milden, einfachen Ruhe zu.

Auch das war nichts gewesen. Und ich hatte meinen allerletzten Trumpf ausgespielt, den ich Beiden zusammen gegenüber hatte, wenigstens für den Augenblick hatte. Ich gab dennoch mein Spiel nicht auf. Ich rechnete noch einmal auf mein Glück. Beide mußten sich gegen einander aussprechen. Leicht, wie so oft, konnte dann der gegenseitige Eifer, oder aber auch gerade das Bestreben, recht auf seiner Hut zu sein, die Vorsicht vergessen lassen, unvorsichtig machen.

„Hertel,“ fragte ich diesen, „Sie kennen diesen Herrn?“

„Ja, Herr Polizeidirector, er ist der Dieb des Geldes.“

„Sie kennen ihn bestimmt wieder?“

„Ganz genau, trotz der Veränderung seines Aeußeren. Er war in dem Eisenbahncoupé nahe genug bei mir gewesen, daß ich sowohl seine Gestalt als seine Gesichtszüge mir merken konnte. Als ich meinen Verlust entdeckte, prägten sie sich meinem Gedächtnisse für immer ein.“

„Mein Herr, Sie hören,“ sagte ich zu Eduard D. „Was haben Sie zu erwidern?“

„Sind Sie mein Richter hier?“ fragte er mich stolz.

„Das nicht,“ antwortete ich ihm ruhig. „Aber der mit den ausgedehntesten Vollmachten versehene Polizeibeamte, der Sie, wenn Sie nicht noch heute Abend von der Anschuldigung des Diebstahls sich reinigen können, Ihrem Richter überliefern wird.“

Er schrak zusammen.

„O mein Gott, die arme –“

Er sprach den Namen Ottilie nicht aus. Auch in diesem Momente war sein erster, sein einziger Gedanke das kranke Kind. Es wollte laut in mir rufen: Nein, der kann der Schuldige nicht sein. Aber völlig so im Gewande der Unschuld stand auch der Andere da.

„Wohlan, Hertel,“ sagte ich, „wenn der Herr nicht reden will, so sprechen Sie. Halten Sie ihm die Einzelheiten des Diebstahls vor.“

Hertel schickte sich dazu an. Aber Eduard D. hatte seinen ganzen Stolz wiedergewonnen.

„Mein Herr,“ sagte er zu mir, „ich kenne derartige Spiele. Sie haben Verstand genug, um einzusehen, daß es hier ein eben so unwürdiges als unnützes wäre. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mich damit verschonen. Im Uebrigen thun Sie mit mir, was Sie wollen. Sie werden mir die Güte haben, mich drei Zeilen an die Frau von Wüsthof schreiben zu lassen.“

Die letzten Worte waren ihm schwer geworden. Es war, als wenn das Herz sich ihm zuschnüre. Ich ergriff den Umstand, nicht blos mit Absicht auf ihn.

„Mein Herr,“ sagte ich mit tiefem, aber mildem Ernst, „versuchen Sie nicht weiter, hier eine Rolle zu spielen, die unter allen Umständen eine durchaus vergebliche ist. Verkennen Sie Ihre Lage nicht. Lassen Sie mich sie Ihnen schildern, ganz so wie sie ist, wie ich sie Ihnen mit Thränen in den Augen schildern müßte, wenn Sie mein Sohn wären. Dieser junge Mann hat seinem Principal stets treu gedient; sein Ruf ist der unbescholtenste; er klagt Sie des Diebstahls an; er erkennt Sie bestimmt wieder. Eine Menge Personen in R. und K. werden Sie gleichfalls wieder erkennen. Sie leugnen überdies nicht, dort gewesen zu sein, selbst nicht, zur Zeit des Diebstahls mit ihm allein in dem Coupé gewesen zu sein. Sie können sogar nicht leugnen, daß Sie heimlich, auf eine lebensgefährliche Weise den Wagen verlassen haben und dann spurlos verschwunden sind. Nehmen Sie alle diese Umstände zusammen, zu denen noch manche andere, zwar kleine, aber desto mehr bestätigende kommen, und dann fragen Sie sich selbst, ob es ein Geschworenengericht in der Welt geben kann, das Sie nicht verurtheilen muß.“

Der junge Mann war nachdenkend geworden; er wurde unruhig; auf seine Stirn traten Schweißtropfen.

„Aber ich bin unschuldig!“ sagte er stolz.

Und der junge Kaufmann? Ich hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. Und in einem Augenblick, in einem ganz kleinen Augenblick, in welchem er sich unbemerkt glauben mochte, oder aber in [232] welchem sein inneres Gefühl zu mächtig wurde, als daß er es ganz beherrschen konnte, sah ich, wie auf einmal ein Funken boshafter triumphirender Freude in seinem Auge glühete. Ueber sein ganzes Gesicht zuckte es wie ein Blitz – aber nur einen Moment, dann lag wieder die alte glatte Ruhe darauf. Ich hatte genug.

„Mein Herr,“ sagte ich kalt zu Eduard D., „ich bedarf Ihrer nicht weiter, Sie können mich verlassen. – Darf ich bitten,“ setzte ich bezeichnend hinzu, „der Frau von Wüsthof zu sagen, daß ich ihr eine glückliche Reise wünsche?“

Er ging, wenn gleich verwundert.

„Und nun, Herr Hertel,“ wandte ich mich mit der vollen Strenge meines Amtes an diesen, „noch ein paar Worte mit Ihnen. Sie sind mein Gefangener.“

Der Mensch erschrak heftig. Er wurde leichenblaß und zitterte, daß man seine Kniee beinahe schlottern sah. Ich hatte keinen Zweifel mehr an seiner Schuld. Mein Manöver war vollkommen geglückt; freilich bis auf die Wiederherbeischaffung des Geldes. Aber auch um diesen Ziel war ich nicht mehr sehr besorgt. Ich beschloß, sofort und auf dem kürzesten Wege darauf zuzugehen.

„Hertel,“ sagte ich. „Sie haben den Diebstahl vorgespiegelt. Sie haben sich selbst bestohlen, oder vielmehr Ihren Herrn –“

„Herr Polizeidirector“ – unterbrach er mich gekränkt.

Ich ließ ihn nicht zu Worte kommen.

„Unterbrechen Sie mich nicht. Ich habe Ihnen nur wenige Worte zu sagen. Es ist nur eine kleine Geschichte. Wenn Sie sie angehört haben, können Sie sprechen. Ihre Geschichte ist keine neue. Vor einem Dutzend von Jahren hatte ein Kaufmann in Berlin einen Reisenden, den er, um Einkäufe zu machen, mit einer Summe von zwölf- oder fünfzehntausend Thalern – ich weiß es nicht mehr genau – nach Polen schickte. Nach vierzehn Tagen erhält der Berliner Kaufmann von seinem Reisenden einen Brief, worin derselbe ihm meldet, daß die ganze Summe ihm gestohlen sei. Er habe das Geld, das in preußischen Cassenanweisungen bestand, sehr vorsichtig auf der Brust getragen, indem er das Paket sogar an der innern Seite seines Reiserockes fest genähet habe. In der Nacht im Postwagen, kurz vor Warschau, sei es ihm dennoch, während er geschlafen, gestohlen worden. Alle seine Nachforschungen nach Dieb und Geld seien bisher vergeblich gewesen. Der Berliner Kaufmann hatte einen Freund, der einer der tüchtigsten Kriminalisten der Residenz war. Diesem theilte er die Sache mit, und auf sein Bitten entschloß sich der Criminalbeamte, mit guten Empfehlungen versehen, nach Warschau zu reisen. Er traf dort den Reisenden im Gasthofe, unglücklich, vernichtet. Er ließ sich den Diebstahl erzählen. Der Reisende erzählte sehr glaublich, auch daß er bei den polnischen, eigentlich russischen Behörden wenig, richtiger gar keine Unterstützung gefunden habe. Der Criminalbeamte wurde zwar nicht überzeugt, er fand aber auch keinen positiven Anhalt für einen Verdacht. Daß die gewöhnlichen russischen Behörden, auch in Polen, nicht viel taugten, wußte er. Er wandte sich daher sogleich an die Spitze der Polizei in Polen, an den Polizeichef General – oder war er damals noch Oberst? – Abramowicz. Der General hörte ihn ruhig, zuvorkommend an, notirte sich Alles, versprach ihm seine energischste Hülfe und ersuchte ihn, am nächsten Tage wiederzukommen, um Weiteres von der Sache zu hören. Am folgenden Tage ging der preußische Criminalbeamte wieder hin. Der polnische Polizeichef empfing ihn, bot ihm einen Stuhl an und bat ihn, noch ein Viertelstündchen zu warten, es werde gerade noch in der Angelegenheit untersucht. Der Criminalbeamte setzte sich und wartete, während der General Abramowicz, der beschäftigt war, weiter arbeitete. Nach einer Minute drang ein Geschrei an das Ohr des preußischen Beamten; es kam aus dem Innern des Gebäudes. Es waren Schmerzenstöne, zuerst kurz, abgerissen, dann länger anhaltend, aber immer scharf, heftig, das Ohr zerreißend, das Herz zerschneidend. Der Beamte wurde unruhig. Es überlief ihn kalt und warm; er mußte aufstehen und hielt sich die Ohren zu, um die Laute nicht mehr zu hören, die nur von einem zu Tode Gepeinigten ausgehen konnten, die ihn selbst wie tödtlich peinigten.

„Was ist Ihnen?“ fragte ihn der General.

„Jene Schmerzenstöne –!“

„Ah, man inquirirt.“

„In diesem Augenblicke glaubte der Criminalbeamte die Stimme des Gepeinigten zu erkennen.

„Der Reisende!“ – rief er.

„Allerdings, mein Herr, er wird verhört.“

„Dem preußischen Beamten brach der Angstschweiß aus.

„Ich beschwöre Sie, Herr General, lassen Sie der Scene ein Ende machen.“

„Der Herr von Abramowicz lachte. Aber er verließ das Zimmer.

„Ich muß doch einmal nachsehen,“ sagte er.

„Das Schreien hörte auf. Nach einigen Minuten kehrte der General zurück.

„Mein Herr, die Posten in Polen sind sicher. Ich durfte jene Verleumdung nicht auf der mir anvertrauten Polizei haften lassen. Den Empfehlungen aber, die Sie die Güte hatten, mir zu überreichen, war ich es auch schuldig, Ihrem Freunde wieder zu seinem Gelde zu verhelfen. Lassen Sie in Berlin, Straße da und da, bei der Mutter des Reisenden im Keller nachgraben; Sie werden die ganze angeblich in Polen gestohlene Summe Geldes dort unversehrt vorfinden.“

„Das Geld wurde dort gefunden.“

Ich schloß und hatte während meiner Erzählung Zweierlei an dem Menschen vor mir bemerkt. Zuerst als ich die eigenthümliche Weise des Verhörs des Bestohlenen in Warschau bezeichnete, ein Zittern, das gar nicht aufhören wollte; sodann, als ich des Vergrabens des Geldes im Keller erwähnte, ein plötzliches heftiges Aufzucken der Augen. Ich war nun auch der Wiederherbeischaffung des Geldes gewiß.

„Haben Sie mir jetzt etwas zu sagen?“ fragte ich ihn.

Er schwieg und ging mit großen Schritten im Zimmer umher. Auf einmal fing er an zu weinen; er schluchzte heftig, zahllose Thränen rannen ihm über das Gesicht.

„Hertel,“ sagte ich mit mildem Ernste zu ihm, „erschweren Sie Ihre Strafe und Ihr Schicksal nicht durch ferneres verstocktes Leugnen. Wo soll ich in – nach dem Gelde suchen lassen? Denn zu Hause haben auch Sie es. Der Telegraph bringt uns in drei Stunden Antwort. Ich selbst werde später vor Gericht ein Zeugniß für Ihre mildere Bestrafung ablegen.“

Er weinte heftiger.

„Der Satan hatte mich verblendet!“ rief er.

Dann gestand er Alles. Das Geld lag unter dem Fußboden seiner Wohnstube in – versteckt. Ich telegraphirte sofort dahin. In drei Stunden hatte ich die Antwort, daß es aufgefunden sei.

Die Frau von Wüsthof war in derselben Nacht mit ihrer Nichte und mit Eduard D. nach der Schweiz abgereiset. Ich habe sie vor vierzehn Tagen in Montreux besucht. Die jungen Leute leben dort als glückliche Eheleute, da die Gesundheit Ottiliens sich wunderbar befestigt hat.

Hertel, – schloß mein Freund dann seine Erzählung, – wurde – sehr gelinde – zu einer dreijährigen Gefängnißstrafe verurtheilt. Nach ihrer Verbüßung wird man ihm unter einem andern Namen ein Unterkommen in Amerika verschaffen. Der Credit meines Freundes B. ist seit der Wiedererlangung des Geldes ein unerschütterlicher.“



Der Kirchhof Père La Chaise in Paris.

Ich hatte ihn satt bekommen, diesen Carneval von Paris mit seinem großen Cancan und dem Opernball, der meinen gehegten Erwartungen so wenig entsprach, mit der Courtille, die nun als eine Schaustellung der gewöhnlichsten Liederlichkeit ohne alle Grazie mir erschien, kurz, ich befand mich in der rechten Aschermittwochsstimmung, als ich meine Wanderung nach der Stadt der Todten, nach dem berühmten Kirchhofe Père La Chaise antrat. Links vom Bastillenplatz abbiegend, gelangt man in eine Straße, welche einem riesigen Magazine des Todes gleicht. Zu beiden Seiten reihen sich Läden an Läden, worin man alle Emblemen des Grabes, Kreuze, Gitter, Urnen, Grabsteine und Kränze, zu allen Preisen und von den verschiedensten Formen findet. Hier wird mit dem Tode selbst

[233]

Das Grab Abälard’s und Heloisen’s.

noch Luxus getrieben und die schauerliche Waare mit einer gewissen Koketterie ausgestellt und angeboten, um die Kauflust der Vorübergehenden zu reizen; man speculirt auf die Thräne und den Schmerz der Hinterbliebenen. Der Franzose treibt mit Allem Handel, er verkauft das Vergnügen wie das höchste Leid. Selbst an Aushängeschildern fehlt es nicht, um zu verführen. Hier erblickt man einen Laden mit der Überschrift „Lafontaine’s Grab,“ dort ein Geschäft unter der Firma „das Grab Heloisens und Abälard.“ Man weiß wirklich nicht, ob man darüber lachen oder zürnen soll. Unterwegs begegnet man fortwährend einer Reihe von Leichenkutschen und Trauerwagen. Der [234] Tod hält täglich in Paris eine fürchterliche Ernte und die Lebenden sind fortwährend beschäftigt, ihre Leichen zu begraben. Man trifft viele verweinte Augen an, wahre Leidtragende, denen der Schmerz von den blassen Wangen abzulesen ist, aber auch lachende Erben, welche sich die Mühe geben, wenigstens traurig zu scheinen, und hinter dem vorgehaltenen Schnupftuch die nicht fließenden Thränen zu verbergen suchen. Junge Mädchen mit Kränzen und selbst der Gruft entgegenwankende Matronen ziehen an uns vorüber, arme Mütter und Väter, welche ihr Liebstes hier begraben haben, und auch Kinder, die zu dem Grabstein ihrer Eltern pilgern. Alle Stände sind hier vertreten, der Arbeiter in der Blouse, der Banquier in der eleganten Equipage; selbst die Dame im Erinolin-Rock stattet den Todten einen Besuch ab und legt ihre Visitenkarte auf ein Grab.

Der Eindruck, den diese riesige Gräberstadt verursacht, ist überwältigend, und erinnert mich an die Worte eines jüngeren Dichters, der denselben in folgenden Versen wiederzugeben verstanden hat:

Drüben braust Paris, die Brandung, deren Toben nimmer ruht,
Dessen Gassen reiche Adern angefüllt mit frischem Blut,
Dessen Plätze Riesenherzen, die mit ewig gleichem Schlag
Ungestüm und donnernd pochen, ohne Aufhör, Nacht und Tag.

Hier der Kirchhof Père La Chaise, ruhig wie das todte Meer,
Dessen Gassen bleiche Adern, leblos und vom Blute leer,
Dessen Plätze Riesenherzen, von des Todes Hand erstarrt,
Gräber, die gespenstisch schweigen, Marmorfelsen, kalt und hart.

Immer größer wird des Todes ausgebreitet mächt’ges Reich,
Eine Stadt will er sich gründen, jener ries’gen Weltstadt gleich;
Lockt wie Romulus zur Freistatt jedes Herz, das unmuthsvoll,
Jeden Geist, der kühn die Schranken seines Kerkers überschwoll.

Friede, Ruhe ist die Losung. Jeder hat sein stilles Haus,
Jedes Grab hat seine Blumen, voll des süßen Schmerzenthau’s,
Ist`s kein freundlich Menschenauge, das den grünen Rasen tränkt,
Gibt der Himmel seine Thränen, die er seinen Kindern schenkt.

Freiheit, Gleichheit, die Parole. Steht ein Marmormal auch stolz,
Kleidet, wie ein Bettlerkittel, manches edle Herz nur Holz;
Stein und Stein sinkt aus den Fugen und das Mausoleum wankt,
Während aus dem schwarzen Hügel frisch des Frühlings Inschrift prangt.

Dieser poetische Eindruck des Ganzen wird freilich durch so manche prosaische Begegnung gestört. Die ungeheuere Ausdehnung des Kirchhofs macht eine förmliche Polizeiverwaltung nöthig. Die Todtengräber und Aufseher sind in Sectionen getheilt, dazu kommen die privilegirten und nicht privilegirten Führer, welche sich jedem Fremden aufdrängen, und die man kaum entbehren kann, wenn man sich nicht in dem Gewirr der Alleen und Todtenstraßen verirren will. Fortwährend wird hier an den prachtvollen Erbbegräbnissen gebaut, und durch das Geschrei und die Geschäftigkeit der Arbeiter die Stille und Heiligkeit des Ortes gestört. Wie früher die reichsten und vornehmsten Familien in Paris ein glänzendes Hotel besitzen mußten, so jetzt ein hervorstechendes Erbbegräbniß. Man verwendet große Summen auf den Bau und führt förmliche Paläste auf. Die meisten dieser modernen Monumente sind oft großartig und praktisch, selten jedoch poetisch. Für die Angehörigen, welche an den Gräbern ihrer geliebten Todten beten oder trauern wollen, wird besonders dafür gesorgt, daß sie dies bei guter wie bei schlechter Witterung thun können. Unter einer gothischen oder maurischen Kapelle befindet sich eine vollkommen comfortable Einrichtung, welche gewöhnlich in einem schwarzsammetnen Betschemel, zwei Leuchtern mit Kerzen, Heiligenbildern, Cruzifix und selbst in einigen Stühlen besteht. Hier erscheint dann zuweilen eine Dame in rauschender Crinoline mit einem Blumenstrauß für zwanzig Franken, gefolgt von einem Diener in Livree, welcher, das Gebetbuch in der einen, die Gießkanne in der andern Hand, seiner Gebieterin trauern hilft.

Ich kam gerade hinzu, als ein Sarg in eine soeben beschriebene Familiengruft gesenkt wurde. Ich war erstaunt über die außerordentliche Tiefe. Sechs Särge hatten darin über einander Raum; der eben hinuntergelassene war der erste. Als er auf dem Boden ruhete, wurden dünne Steinplatten hinabgelassen und von dem Manne in der Tiefe in Empfang genommen; er legte sie auf einen hervorspringenden Sims, bis der Sarg vollständig bedeckt war. Auf diese Platten kommt nun der nächstfolgende Sarg und so fort, bis die Gruft voll ist.

Wie in der Rue Rivoli, so feiert auch hier auf dem Kirchhof die Verschwendung ihre Orgien. Es ist einmal für den Pariser eine Modesache geworden, auf dem Père La Chaise eine Familiengruft oder ein Erbbegräbniß zu besitzen; die Mode kostet viel Geld und man sucht daher in manchen Fällen auf ziemlich ordinäre Weise den Luxus mit einer schäbigen Sparsamkeit zu verbinden. So erinnere ich mich, eine große Säule gesehen zu haben, welche in förmliche Felder abgetheilt war, und zwar so viel Felder, als die Familie Mitglieder enthalten mochte. Zwei der Angehörigen waren vielleicht außer Landes gestorben oder sonst verkommen, und statt ihrer Namen stand mit fetter Schrift die Anzeige: „Hier sind zwei Grabstellen zu vermiethen!“ Solche Züge charakterisiren am besten die heutigen Franzosen.

Auch die sprichwörtlich gewordene Eitelkeit der Nation zeigt sich in den prachtvollen Denkmälern und prunkenden Inschriften. Man glaubt, daß unter diesem großartigen Mausoleum auch die Ueberreste eines großen Mannes, eines berühmten Generals, eines gefeierten Gelehrten liegen müssen, und erfährt zu seiner Enttäuschung, daß nur ein reich gewordener Tapezier oder Gewürzkrämer sich diesen Obelisk von cararischem Marmor errichten ließ. Meist sind die Gräber der wahrhaft großen Männer um so einfacher, und welche Größen wurden hier begraben!

Der Père La Chaise umschließt das Genie, das Wissen, die Schönheit, Anmuth und den Ruhm von Frankreich. Seine Straßen und Fußpfade führen ihren Namen von den dort ruhenden berühmten Todten; wir sehen einen Sentier de Couvier, de Cherubini, de Molière, de Laplace, de Cambacérès, de Ney, de Foy, eine Allee de Casimir Perier u. s. w. Die Kunst hat ihre besonderen Viertel, so wie die Tapferkeit und Beredsamkeit. Dicht an einander befinden sich die Gräber der Dichter Delille, Bernardin de Saint Pierre, Joseph Chenier, Laharpe, Parry u. s. w.; die Componisten Gretry, Mehul, Cherubini, Boieldieu und Chopin, dessen Grab noch immer mit frischen Kränzen von seinen zahllosen Verehrern und Verehrerinnen geschmückt wird, schließen sich ihnen an, während Talma und die Mars das Theater in würdigster Weise repräsentiren. Auf dem Père La Chaise sind die Ueberreste eines Racine, Molière, des geistreichen Beaumarchais, des liebenswürdigen Fabeldichters Lafontaine beigesetzt. Unter jenem bescheidenen Steine ruht der berühmte Schriftsteller und Redner Benjamin Constant; dort das prachtvollste Mausoleum bedeckt die Asche Casimir Perier’s, welcher der Minister Louis Philipps war und die Revolution zu schließen, die neue Dynastie für immer zu befestigen glaubte; in jenem festen Steingemäuer, von eisernen Thoren verschlossen, liegt Sieyès, der die erste, die Welt erschütternde Revolution des französischen Volkes mit heraufbeschworen. Rechts am Fuße der großen aufsteigenden Anfahrt entdeckt man das Grabdenkmal von schwarzem Marmor des Marschalls Kellermann und seiner Gattin; er lehrte die jungen, des Krieges ungewohnten Soldaten der Republik bei Valmy siegen. Steigt man höher hinauf, so findet man die Generäle des Kaiserreichs, die Schlachtgefährten Napoleons, Lefebure, Massena, Davoust, Herzog von Eckmühl, Macdonald und weiterhin die Stätte, wo einst ein Stein mit der Inschrift stand: „Hier ruht der Marschall Ney, Herzog von Elchingen, Fürst von der Moskwa. Gestorben (?) den 7. December 1815.“ Auf diesem Platz liegt die Geschichte des ersten Kaiserreichs begraben.

Wir bleiben vor einem Denkmal in Form einer Kapelle stehen; Cambacérès’ Asche wird hier aufbewahrt, dessen Name so lange lebt, als der bestehen wird. – Ueber dem Grabe des berühmten Schädellehrers Gall steht seine Büste, ein greises Haupt mit tief gefurchter Stirn und geistreichen Zügen. Schön und stattlich ist das Erbbegräbniß Ledru Rollin’s, das freilich nicht an die Einfachheit des verbannten Demokraten erinnert. Am prächtigsten dürfte wohl das Mausoleum der Gräfin Demidoff, das sinnigste das der Frau des bekannten Republikaners Raspail sein; eine gänzlich verhüllte weibliche Gestalt, die nur den Arm unverhüllt trägt, den sie nach dem Gitter ihres im Gefängniß schmachtenden Gatten sehnsuchtsvoll ausstreckt. Casimir Delavigne liegt daneben; unter einem Sirenenbäumchen, nicht weit davon das liebenswürdige Dichterpaar Charles Nodier und Emil de Souvestre, dessen Andenken nicht nur die Literaturgeschichte, sondern die Armen und Hülfsbedürftigen von Paris beweinen. Honoré de Balzac, der feine Kenner des menschlichen und besonders des weiblichen Herzens, schläft unter einem einfachen Leichenstein, von rankender Clematitis umzogen.

An der sogenannten Chapelle, wo die eigentliche Todtenfeier abgehalten wird, dem Haupteingange gegenüber, bietet sich von der [235] Höhe eine überraschende Aussicht dar; zu unsern Füßen ruht Paris, dessen Häusermeer am Horizont im Nebel verschwimmt. Den Vordergrund bilden die himmelhohen Schornsteine des modernen Fabrik- und gewerblichen Treibens, aber wie geistige Riesen ragen die Thürme des Notre-Dame, das Pantheon, die Julisäule und die Spitze von St. Jaques und die Vendomesäule hervor, während sich zur Rechten der Montmartre mit seinen Häusermassen emporhebt. Aber was hat dieses wechselnde Farbengemisch von Weiß und Schwarz in unserer Nähe zu bedeuten? – Es sind die niederen Kreuze der Armen, die hier zu Tausenden eingescharrt liegen. Zwischen den schmalen Hängen wandelt die blaue Blouse des Arbeiters und das weiße Häubchen der Frau aus dem Volke; sie bringen auch einen Kranz, freilich kostet er nur wenige Sous und die Inschrift auf den Gräbern besteht oft nur in einem Blatt Papier mit dem Namen des Verstorbenen auf Holz geheftet. Zuweilen geht aber aus diesen unteren Volksclassen ein Mann hervor, der sich durch seinen rastlosen Fleiß und durch unermüdliche Thätigkeit emporschwingt. Ein solcher Arbeiter, der nach Paris kam und sein Glück gefunden hat, ist auf einem Denkmal dargestellt. Er steht in natürlicher Größe, bekleidet mit dem gewöhnlichen Rock des Arbeiters, die Aermel zurückgestreift, in der Hand sein Werkzeug. Auf der andern Seite erblicken wir denselben Mann in eleganter Kleidung, ein Buch in der Hand, umgeben von den Emblemen des Wohlstandes. Der Todte ist der reiche Porzellanhändler Marc Schölcher, der sich aus niederem Stande zum Reichthum und zu einer gewissen Berühmtheit emporgeschwungen hat. Solche Monumente sind gewiß für den armen Arbeiter ein Trost und eine Aufmunterung; sie sollten nur öfters in ähnlicher Weise ausgeführt werden. – Mit zahllosen Inschriften sind diese Leichensteine und Denkmäler bedeckt, zuweilen pomphaft und eitel, oft aber rührend und tief ergreifend. Unter Rosen, Thuyas und andern Gesträuchen ruht ein junges Mädchen, auf dem Leichensteine stehn die Worte: „Armes Kind! Sie war erst fünfzehn Jahre.“

Eine Mutter, klagt um ihr Kind:

           O warte doch!
Geneigt zur Mutter mit Lächeln,
Das Liebe nur verleiht, sprachst Du dies Wort;
Das einz’ge war es, das Du sprechen konntest.
Die Mutter lächelt Dir jetzt zu und spricht nur immerfort:
           O warte doch!

Und dort die kleine Alexandrine Tuillet, wie zart und doch herzzerreißend ist Deine erste Lüge in Deinem vierten Jahre. Wie schmerzlich die Klage der Eltern um Dich:

„Dem Tode nahe, sagte sie: uns: Weine nicht, Papa, weine nicht, Mama; ich fühle mich besser. – Und sie starb’!“

Zwei Steine liegen neben einander, auf dem einen liest man: „Ich erwarte meine Mutter,“ auf dem andern: „Ich bin bei meinem Kinde.“ Dort die Pyramide trägt die einfache, ergreifende Inschrift: „Zweiundzwanzig Jahre und Du stirbst! O Melanie!“ Auf dem Grabe der sechzehnjährigen Dichterin Elisa Mercoeur findet man unter andern Versen von ihr selbst gedichtet die schönen Zeilen:

„Vergessenheit ist Tod, der Ruhm das andre Leben,
Schmerzlose Ewigkeit wird dem Genie gegeben.“

Georgine Mars starb mit neunzehn Jahren, ihr widmet die berühmte Mutter den traurigen Nachruf:

„Hier ruhet Tugend, Anmuth und Talent!
O Ihr, die Ihr das holde Wesen kennt
Und Blumen ihm und Thränen wollt gewähren,
Versparet für die Mutter Eure Zähren.“

Eine Tochter schreibt die rührenden Worte: „Hier ruht meine beste Freundin: es war meine Mutter.“ Und ein Sohn: „Wanderer! schenke meiner Mutter eine Thräne, indem Du glaubst, es sei die Deine.“ Auf dem bescheidenen hölzernen Kreuze der allgemeinen Begräbnisse steht die schönste Lebensgeschichte eines Weibes: „Sie lebte, liebte, starb gleich gut.“ Ein merkwürdiges Grab ist noch das der Frau von Lamarle milder Inschrift: „Wer sie kannte, beweint sie.“ Sie war die natürliche Tochter des Königs von Preußen, die Schwester Friedrich Wilhelm III. Beim Einzuge der Verbündeten in Paris lebte noch ihr Gatte, der eine ansehnliche Unterstützung von seinem großmüthigen, fürstlichen Anverwandten erhielt. –

Unter den zahllosen Denkmälern, Grabsteinen und Monumenten waren es zwei besonders, welche meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen, das Grab Abälard’s und Heloisen’s und die letzte Ruhestätte Ludwig Börne’s. Jahrhunderte liegen zwischen dem berühmten Liebespaar und dem deutschen Freiheitshelden; hier ruht das romantische Mittelalter mit seiner Scholastik und tiefen Leidenschaft, dort die Neuzeit mit ihren Kämpfen und Hoffnungen, mit ihrer Begeisterung und ihrem Zorn. – Sinniger können Abälard und seine Geliebte nicht gebettet sein; unter einer gothischen Kapelle ruhen Beide, zwischen Lorbeerbäumen und Cypressen, unter der sanften Last unzähliger Immortellenkränze, welche mitfühlende und mitleidende Herzen auf ihre Grabstätten legten. Die beiden Gestalten scheinen mit gefalteten Händen neben einander zu schlummern, der Hund zu ihren Füßen als Sinnbild der Treue blickt zu ihnen empor. Der steinerne Sarg, auf dem die Helden dieser großen Liebestragödie ruhen, ist muthmaßlich von hohem Alter, wenigstens deuten die plumpen Mönchsgestalten, die als Basreliefs unter gothischen Spitzbögen zu beiden Seiten stehn, darauf hin. Immortellenkränze bedeckten fast gänzlich die beiden Körper; sie waren sehr geschickt gebunden, so daß die einzelnen Blumen eine Inschrift bildeten. Auf dem einen von ihnen las ich à ma soeur; auf einem andern stand à ma cousine. Fast alle Gräber des Père La Chaise sind reichlich mit solchen Kränzen geschmückt, die gewöhnlich unter einem Glasdache hängen, das auf einem gußeisernen Gestelle ruht. Keins jedoch war so reich bedacht, als das Grab der Liebenden; ein Beweis, daß noch nicht jeder Sinn für Poesie und Romantik in dem sonst so frivolen Paris erloschen ist. Als ich den Leichenstein sah, sang ein Vogel in den nahestehenden Cypressen. Es war ein kurzes, leises Pfeifen, ein erster Frühlingsgruß nach überstandener Winterzeit. Ich konnte mich nicht enthalten, von einem der Kränze, welcher in der Nähe des rings herumgehenden, eisernen Gitters lag, einige Blätter und Immortellen zum Andenken zu pflücken. Abälard’s und Heloisen’s Geschick ist schon von manchem Dichter besungen worden und verdient im höchsten Grade unsere Theilnahme und das Mitgefühl jedes liebenden Herzens. Aus Liebe zur Wissenschaft hatte er, aus einer edlen und begüterten Familie stammend, auf das Recht der Erstgeburt verzichtet. Ganz besonders beschäftigte er sich mit der scholastischen Philosophie, dem Hegelianismus des Mittelalters. Der junge Denker wurde wegen seiner Kühnheit und Freisinnigkeit überall bewundert und verfolgt. Später kehrte er nach Paris zurück und söhnte sich mit seinen Feinden aus. Um den berühmten Lehrer sammelte sich ein Schülerkreis, zu denen der nachmalige Papst CölestinII., Petrus Lombardus, Beranger und Arnold von Brescia gehörten. Um dieselbe Zeit lebte die schöne Nichte des Canonicus Fulbert in Paris, die berühmte Heloise; sie war erst siebzehn Jahre alt und durch ihre Reize wie durch ihren Geist berühmt und angestaunt. Abälard, der damals schon achtunddreißig Jahre zählte, wurde durch den habsüchtigen Oheim bei ihr eingeführt, zuerst ihr Hausgenosse und Lehrer, später ihr Geliebter. Er las mit ihr die griechischen und römischen Dichter und besang sie in glühenden Liedern. Zu spät erfuhr der Oheim das Glück der Liebenden, er wollte sie trennen, aber Abälard entführte das schöne Mädchen nach der Bretagne, wo sie ihm einen Sohn gebar. Heimlich vermählte er sich mit ihr und Heloise kehrte in das Haus des Oheims nach Paris zurück. Aus mißverstandenem Zartgefühl leugnete sie vor diesem ihr Bündniß und erregte dadurch von Neuem den Zorn des unversöhnlichen Canonicus. Er mißhandelte Heloise, die sich in ein Kloster mit Abälard’s Hülfe flüchtete, und ließ diesen aus Rache darüber, auf die grausamste Weise verstümmeln. Tief gebeugt durch den ihm angethanen Schimpf trat Abälard als Mönch in das Kloster St. Denis und bewog seine Geliebte, ebenfalls den Schleier zu Argenteuil zu nehmen. Neue Verfolgungen erwarteten ihn, als er seine Vorlesungen wieder zu halten anfing. Auf der Kirchenversammlung zu Soissons wurden seine Ansichten über die Dreieinigkeit als ketzerisch verdammt; er war seiner Zeit vorausgeeilt und darum der Märtyrer seines Geistes. Um Ruhe zu finden verließ er St. Denis und erbaute unweit Nogent an der Seine eine Kapelle, Paraklet genannt, welche er nach seiner Erwählung zum Abt von St. Gildas de Ruys Heloisen und ihren Klosterschwestern zum Wohnsitz überließ. Sein übriges Leben blieb ein fortwährender Kampf mit seiner Liebe und dem Hasse der fanatischen Mönche, bis er mit der Kirche ausgesöhnt als Muster strenger, klösterlicher Zucht im Jahre 1142 starb. Heloise, welche ihn noch zwanzig Jahre überlebte, erbat sich seinen [236] Leichnam und ließ ihn im Paraklet begraben, um einst an seiner Seite zu ruhen. Die Revolution, welche so manches Monument des Mittelalters zerstört hat, schonte das gemeinschaftliche Grab der berühmten Liebenden. Beider Asche wurde 1808 nach Paris gebracht, aber erst zwanzig Jahre später auf dem Kirchhofe des Père La Chaise feierlich beigesetzt.

Ludwig Börne’s Grab.

Hoch oben auf luftiger Höhe liegt das Grabmal Ludwig Börne’s, des deutschen Ehrenmannes, der fern von der Heimath als ein Verbannter in fremder Erde ruht. Er liebte sein schönes Vaterland mit der ganzen Gluth eines ehrlichen Herzens, und weil er es so ehrlich, liebte, grollte er oft und warf bittere heiße Worte über den Rhein hinüber. Ein kurzer, viereckiger Obelisk von grauem Marmor bezeichnet die Stätte, wo das edle Herz nach manchem heißen Kampfe endlich den Frieden gefunden hat. In einer Nische befindet sich das Portrait des Dahingeschiedenen, darunter in einem Viereck das Bild der Freiheit, welche die vereinigten Hände Deutschlands und Frankreichs an ihr Herz drückt. Hinter diesen Figuren stehen auf einer Votivtafel die Namen: Voltaire, Rousseau, Lamennais und Beranger; Deutschland gegenüber: Lessing, Herder, Schiller und Jean Paul. Das Ganze ist von geschliffenem Marmor, die Bildnisse von Bronze und das Denkmal selbst auf Kosten der Freunde errichtet. Die vielen frischen Immortellenkränze bürgen dafür, daß Börne noch nicht vergessen ist. Entzückend und großartig ist die Aussicht, welche man von hier aus genießt. Aus dem Häusermeer ragt die mächtige Kuppel des Pantheon hervor, ein würdiger Hintergrund zu dem Grabe Börne`s.

Nur noch ein Monument machte einen tiefen, unbeschreiblichen Eindruck auf mich. Es war eine riesengroße Steinpyramide, die an ihrer Spitze statt jeder Inschrift den Namen Gottes von einem Strahlenkranz umgeben in hebräischen Zeichen trug, welche nach uralter Tradition des jüdischen Volkes Niemand aussprechen darf, da das Wort wie die Erscheinung des Höchsten selbst auf der Stelle tödten würde. Ich beugte mich mit ehrfürchtigem Schauder vor dem Unaussprechlichen, der da Herr ist über Leben und Tod. Das erhabene Bild eines alten deutschen Malers vom jüngsten Gerichte schwebte vor meiner Phantasie. Ich glaubte die tröhnende Posaune zu hören und sah im Geiste all’ die Todten sich aus der Gruft erheben und vor ihrem Richter stehen. Eine gewaltige Stimme aber rief über das moderne Babel die Worte des Dichters: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.

Max Ring.



[237]
Die Vehmgerichte.

Wohl über kein Institut unserer deutschen Rechtsgeschichte sind noch bis auf den heutigen Tag, namentlich unter den Laien, irrigere Vorstellungen verbreitet als über die „Gerichte der heiligen Vehme.“

Die Meisten können sich diese Gerichte gar nicht anders denken, als daß sie dieselben in ein unterirdisches Gewölbe, eine Höhle, eine unheimliche Ruine oder in das nächtliche Dunkel eines Waldes versetzen, und gewiß glaubt derjenige ein recht klares Bild von ihnen zu haben, der in Goethe's Götz von Berlichingen die Scene gesehen hat, in welcher die vermummten, in lange schwarze Mäntel gehüllten Vehmrichter über Adelheid von Weislingen zu Gericht sitzen und der Aelteste das Urtheil verkündet:

„Sterben soll sie! sterben des bitteren doppelten Todes;
„mit Strang und Dolch büßen doppelt doppelte Missethat. Streckt eure Hände empor und rufet Weh über sie! Weh! Weh! in die Hände des Rächers!“

und nun alle die verkappten schwarzen Gestalten mit dumpfen Stimmen in den unheimlichen Ruf ausbrechen: „Weh! Weh! Weh!“

Derartige Vorstellungen aber sind grundfalsch und es dürfte wohl nicht uninteressant sein, über dieses merkwürdige Rechtsinstitut, das Jahrhunderte lang, bis es ausartete und beseitigt werden mußte, eine gewaltige Macht über das ganze deutsche Reich zum gerechten Schrecken der Schuldigen und zum Segen der Gefährdeten und Verletzten entwickelte, so wie über seine Entstehung, seine Verfassung und sein Verfahren einige Aufklärung zu verschaffen.

In der vorcarolingischen Zeit, also bis in das achte Jahrhundert nach Chr., ging in den deutschen Landen Recht und Rechtspflege lediglich vom Volke aus. Jedes Gericht bestand aus einer Anzahl freier, ansässiger, waffenfähiger Männer, den sogenannten „Urtheilsfindern,“ welche für jeden einzelnen Fall aus dem Volke, das sich zum Zweck des abzuhaltenden Gerichts versammelt hatte, ausgewählt wurden.

Seit Kaiser Karl dem Großen erlitt dies aber eine Aenderung.

Nachdem nämlich mit dem ganzen Reich behufs einer sicherern Ueberwachung und geordnetern Verwaltung die so überaus wichtige und folgenreiche Eintheilung in Comitatus, d. h. größere Länderbezirke mit einem kaiserlichen Beamten: comes, (Graf) an der Spitze vorgenommen worden war, wurde für die Gerichte im Bezirke dieses Grafen ein für allemal eine gewisse Anzahl Männer zu „Urtheilfindern“ bestellt, welche nunmehr den besondern Namen scabini „Schöffen“ erhielten. Das übrige Volk ward dadurch jedoch keineswegs von aller Theilnahme an der Rechtspflege ausgeschlossen, dasselbe behielt vielmehr insofern immer noch einen gewissen Antheil an derselben, als es nicht nur berechtigt blieb, bei den Gerichten der Schöffen als sogenannter „Umstand“ gegenwärtig zu sein, sondern von jenen selbst in schwierigeren und wichtigeren Fällen zu Rathe („in das Gespräch“) gezogen wurde, überdieß auch jeder Einzelne aus dem „Umstände“ befugt war, das von den Schöffen gefundene Urtheil anzufechten (zu „schelten“).

Eine ganze Provinz, d. h. eine Reihe von Gauen und Grafschaften, stand unter der Oberaufsicht eines höchsten kaiserlichen Beamten, des sogenannten Sendgrafen, der, um die gesammte Verwaltung zu inspiciren, das Land alljährlich durchreiste und sogenannte Placita, (Provinziallandtage) abhielt, auf welchen die einzelnen Grafen mit einigen ihrer Schöffen erscheinen mußten. Bei Gelegenheit dieser wurde denn zugleich auch in denjenigen Fällen Gericht gehalten, in welchen der Graf Recht verweigert hatte oder der Beklagte nicht zu erlangen gewesen war. Wie alle Versammlungen des Volks fanden auch alle Gerichte auf offenem Felde, unter freiem Himmel statt, und das ganze Verfahren war, da Jedermann freien Zutritt zu denselben hatte, ein durchaus öffentliches. War der Vorgeladene erschienen, so mußte der Kläger seine Klage vorbringen und er konnte, wenn der Beklagte leugnete, letzteren sofort zum Zweikampfe herausfordern, weil man glaubte, in einem solchen Zweikampfe würde die Gottheit demjenigen, welcher im Rechte sei, den Sieg verleihen. Unterließ der Kläger eine solche Herausforderung, so hatte er nicht etwa seine Klage zu beweisen, sondern dem Beklagten lag ob, sich von derselben zu „reinigen.“ Unserer Rechtsauffassung erscheint freilich eine solche Vertheilung der Beweislast ganz unnatürlich, sie findet aber ihre gute Erklärung in dem altgermanischen Recht der Fehde, d. h. der blutigen Rache, indem der Einzelne für eine erlittene Verletzung sich eigenmächtig Genugthuung verschaffen durfte und der Beklagte von der gegen ihn gerichteten Beschuldigung nur dadurch sich befreien konnte, daß er in dem Kampfe den Sieg davon trug.

Die Art und Weise, wie sich der Beklagte von der erhobenen Klage reinigte, geschah zunächst durch seinen Eid; dieser allein aber reichte zu feiner Freisprechung nicht hin, vielmehr mußte mit ihm noch eine Anzahl sogenannter „Eideshelfer“ schwören, die den Eid des Beschuldigten dadurch bekräftigten, daß sie eidlich ihre Ueberzeugung betheuerten, der Angeklagte sei im Rechte, er schwöre „rein und nicht mein“ (einen reinen Eid, nicht einen Meineid). Leistete er den Reinigungseid nicht, oder fanden sich die erforderlichen Eideshelfer nicht oder erschien der Beklagte auf die an ihn erlassene Vorladung gar nicht, so wurde er verurtheilt und zwar traf ihn, wenn es sich um ein Verbrechen handelte, die Acht, durch die er dergestalt fried- und rechtlos wurde, daß ihn Jedermann ungestraft tödten konnte.

Nach den carolingischen Kaisern bis etwa in das dreizehnte Jahrhundert verschwanden diese Grafengerichte allmählich fast aus ganz Deutschland und wurden landesherrliche, weil um diese Zeit die Grafen sich selbst zu Herren des Landes machten und die Grafengewalt, die sie bisher nur als ein kaiserliches Amt ausgeübt hatten, als ein selbstständiges, erbliches Recht, und damit die Herrschaft über ihren Gau, d. h. die Landeshoheit sich anmaßten. Nur in einem Theile Deutschlands blieb es noch eine geraume Zeit beim Alten. In Westphalen nämlich entwickelte sich die Landeshoheit erst später und deshalb erhielten sich hier auch die altgermanischen Gerichte als kaiserliche viel länger, indem immer noch ein Graf, der nunmehr Freigraf hieß, an ihrer Spitze stand. Selbst als endlich auch in Westphalen die Landeshoheit um sich griff, änderte sich dies nur insofern, als seitdem an die Stelle des Freigrafen der Landesherr trat, dieser aber die Gerichtsbarkeit nicht als ihm eigenes Recht ausübte, sondern mit derselben als sogenannter Stuhlherr vom Kaiser nur belehnt wurde.

Aus diesen westphälischen Gerichten gingen die Vehmgerichte hervor. Seit wann sie ausschließlich so genannt wurden, läßt sich geschichtlich nicht nachweisen; ebensowenig weiß man noch heutigen Tages eine untrügliche Erklärung des Namens zu geben; jedenfalls aber ist die Ansicht von Grimm die wahrscheinlichste, daß das altdeutsche Wort: Vehmeso viel als „Ding“ d. i. Gericht bedeutet.

Während in allen übrigen Gerichten nur der unmittelbar oder wenigstens mittelbar Verletzte (z. B. der Ehemann für die Ehefrau) als Ankläger auftreten konnte, hielten sich die westphälischen Schöffen („Freischöffen“) für berechtigt, bei gewissen, namentlich schwereren Verbrechen in ihrem Namen als Ankläger („Rüger“) vor den Freigerichten Klage zu erheben. Aus diesem Recht wurde dann eine Pflicht und diese mußte von jedem einzelnen Schöffen mittelst Eides ausdrücklich übernommen werden. Anfangs beschränkte sich freilich diese Rügepflicht nur auf den Sprengel jedes einzelnen Gerichts, später aber, namentlich bei der immer mehr überhand nehmenden Rechtsunsicherheit, erstreckte sie sich für gewisse Fälle über denselben hinaus. Leistete nämlich der Angeschuldigte der Ladung seines ordentlichen Richters keine Folge, oder weigerte sich dieser Richter, den Beklagten zum Erscheinen vor sein Gericht vorzuladen, was leider nur zu häufig vorkam, dann glaubten es die westphälischen Freischöffen übernehmen zu müssen, dem verletzten Rechte Genugthuung wiederfahren zu lassen und das begangene Verbrechen in ihrem Namen zu „rügen“; sie hielten sich hierzu um so mehr für berechtigt, als sie ja die Schöffen von kaiserlichen Gerichten waren, die als solche im ganzen deutschen Reich Anerkennung finden mußten.

In dieser Ausdehnung lag damals ein großer Segen, denn gar traurig sah es in der Zeit des Faust- und Fehderechts im deutschen Reiche aus. Ueberall herrschte die größte Willkür, überall die Macht des Stärkeren. Die abscheulichsten Verbrechen wurden ungestraft verübt, denn in vielen Fällen wollte, in den meisten konnte der Richter des Thäters nicht habhaft werden, weil bei der Menge von Territorien, in welche das deutsche Reich zerfiel, es dem Verbrecher ein Leichtes war, aus einem in das andere zu fliehen und so der Verfolgung seines ordentlichen Richters zu entgehen. An eine nur einigermaßen geordnete Polizei war nicht [238] zu denken und bei den ewigen Kriegen, die der Kaiser theils im Reiche selbst, theils nach Außen zu führen hatte, vermochte er nicht, der grenzenlosen Verwirrung und Rechtsunsicherheit abzuhelfen.

In dieser trüben Zeit war es, in welcher die Gerichte der heiligen Vehme ihre Macht entfalteten und einen gerechten Schrecken über das ganze deutsche Reich verbreiteten. Ihnen hatte man es zu danken, daß kein Verbrecher jetzt mehr sicher war, ungestraft zu entkommen, denn wohin er auch fliehen mochte, seine Rächer ereilten ihn sicher.

Wie früher alle germanischen Gerichte, so wurden anfangs auch die westphälischen theils regelmäßig, zu bestimmten Zeiten im Jahre, theils bei außerordentlichen Veranlassungen besonders abgehalten. Im ersteren Falle hieß das Gericht das „echte“ oder „ungebotene Ding,“ weil Ort und Zeit der Versammlung bekannt war und daher nicht speciell zu derselben vorgeladen wurde; im andern Fall dagegen hieß es das „gebotene,“ „vorbotene“ oder „verbotene Ding“ weil die Parteien sowohl als die erforderliche Anzahl von Schöffen besonders vorgeladen (entboten) werden mußten. Mit dem Verschwinden der alten Grafengerichte und dem Umsichgreifen der Territorialgerichtsbarkeit kamen aber die ungebetenen Gerichte fast überall außer Anwendung und auch in Westphalen wurde das verbotene Ding die Regel.

Die Vehmgerichte wurden nur in Westphalen gehalten und es ist Fabel, wenn noch heutzutage an vielen Orten Deutschlands in alten Schlössern, verfallenen Burgen u. drgl. finstere Gemächer gezeigt werden, in denen die Gerichte der heiligen Vehme zu Gericht gesessen haben sollen. Ebenso durften die Schöffen der Vehmgerichte (Freischöffen) ursprünglich nur Einheimische, also Westphalen sein; man sah aber bald ein, daß, wenn der Rechtsunsicherheit wirksam abgeholfen, wenn an den Verurteilten die verdiente Strafe wirklich vollzogen werden sollte, auch Fremde als Vehmschöffen aufgenommen werden müßten. So geschah es, und im Anfange des vierzehnten Jahrhunderts waren durch das ganze deutsche Reich Tausende und Abertausende von solchen Richtern der heiligen Vehme verbreitet. Jeder frei und ehelich Geborne, an dem sonst kein Makel haftete, konnte – aber nirgends anders als in Westphalen – in den Bund der Vehmrichter aufgenommen werden. Wer es irgend möglich machen konnte, der scheute die Reise nicht, um in Westphalen den Schöffeneid zu schwören und sich einweihen („wissend machen“) zu lassen. Im Gegensatz zu diesen Eingeweihten („Wissenden“) hießen alle übrigen, die nicht Vehmschöffen waren, „Nichtwissende.“

Hiermit hing eine wichtige Eintheilung der Vehmgerichte zusammen. Man unterschied nämlich das „offene,“ „offenbare Ding“ und das „heimliche,“ das „Stillgericht,“ auch „heimliche Acht.“ Vor das erstere wurden nur die Nichtwissenden geladen; war dagegen ein Schöffe, ein Wissender, selbst angeklagt, so durfte dieser nur vor das „heimliche Ding“ entboten und nur in diesem ihm der Proceß gemacht werden. Unter solchen heimlichen Gerichten, die man auch „die beschlossene Acht“ nannte, darf man aber, was freilich aus Mißverständnis; des Namens meistentheils geschieht, nicht etwa Gerichte verstehen, die bei Nacht und an unzugänglichen, verborgenen Orten, in Höhlen, Ruinen und Wäldern, gehalten worden wären, sie erhielten diese Namen blos, weil außer Wissenden Niemand an denselben Theil nehmen durfte und alle etwa anwesende Nichtschöffen sich entfernen mußten. Wie das offenbare Ding wurde übrigens auch das Stillgericht stets bei Tage, unter freiem Himmel, an den bekannten Gerichts-, den sogenannten Mahl-Stätten auf offenem Felde, in der Regel unter dem Schutze eines großen Baumes abgehalten. Das „offene Ding“ verwandelte sich sofort in ein „Stillgericht,“ wenn die umstehenden Nichtwissenten, die meistens nur aus Neugierde herbeigekommen waren, aufgefordert wurden, den Gerichtsplatz zu verlassen. Dieser Aufforderung mußte sofort Folge geleistet werden und wehe dem, der sich unbefugter Weise unter die Schöffen eingedrängt und dem Stillgericht beigewohnt hätte. Ohne Erbarmen wurde ein solcher Eindringling, den man entdeckte, ergriffen und an dem nächsten Baume aufgeknüpft.

Eine derartige Umwandlung des offenen in das heimliche Gericht kam sehr häufig vor; in allen den Fällen nämlich, wenn der Angeschuldigte auf die an ihn ergangene Vorladung sich nicht selbst gestellt hatte. Gegen einen Abwesenden in dieser geschlossenen Acht zu verfahren, namentlich das über ihn gefällte Urtheil geheim zu halten, war dringend nothwendig, damit derselbe von Niemand gewarnt werden und auf seine Sicherheit bedacht sein konnte. In dieser Geheimhaltung lag also die Haupteigenthümlichkeit und die Hauptwirksamkeit der Vehmgerichte, auch nannte man sie später überhaupt, selbst wenn das Verfahren vor dem offenen Ding stattfand, „heimliche Gerichte.

Als Ankläger durfte nur ein Freischöffe auftreten, darin lag aber durchaus keine Beschränkung, weil jeder Schöffe nicht nur wegen eines gegen ihn selbst begangenen Verbrechens, sondern auch im Namen eines jeden verletzten Wissenden oder Nichtwissenden Klage erheben konnte.

Den Vorsitz im Gericht führte ein westphälischer Freigraf. Vor ihm stand eine Tafel und auf dieser lagen ein blankes Schwert und ein aus Weiden geflochtener Strick. Auf dem Schwert wurden die zu leistenden Eide abgenommen, der Strick zeigte an, daß der Hals des Angeklagten in Gefahr sei. Nach erhobener Anklage wurde zunächst entschieden, ob das „gerügte“ Verbrechen eine „Vehmroge“, d. h. ob das Vehmgericht berechtigt und verpflichtet sei, über den Verbrecher Gericht zu halten. „Vehmrogen“ waren aber alle mit dem Tode zu bestrafenden Verbrechen, wie Mord, Raub, Brandstiftung, Ehebruch, selbst Diebstahl und viele andere. Hierauf wurde an den wegen einer Vehmrüge Angeschuldigten eine Ladung erlassen, vor dem betreffenden Vehmgerichte an dem in dem Ladungsbriefe bezeichneten Mahlplatz „zu erscheinen zu rechter Tageszeit“ oder „zu rechter Gerichtszeit Tages,“ also nicht bei Nacht. Solcher Mahlplätze gab es seiner Zeit in Westphalen über hundert. Die Frist, welche dem Angeklagten bis zum Erscheinen eingeräumt wurde, war die alte sächsische von dreimal fünfzehn Tagen (sechs Wochen drei Tagen), welche noch heutzutage in dem sächsischen Rechte eine wichtige Rolle spielt. Die gewöhnliche Art und Weise, wie die Ladungen den Betreffenden bekannt gemacht wurden, war die, daß dieselben von Vehmschöffen persönlich überbracht wurden. Dabei kam es wohl vor, daß die Ueberbringer sehr übel aufgenommen wurden, ja daß sie bisweilen mit dem Leben büßen mußten. Um diesen Gefahren zu entgehen, wurden häufig die Ladungsbriefe bei Nacht und unbemerkt entweder an der Hausthüre des Beklagten, oder in einer Kirche, wohl auch an die Thore einer Stadt angeschlagen. Wie aber, wenn man den Wohnort des Vorzuladenden nicht kannte? In diesem Fall half man sich dadurch, daß man zunächst das Land zu ermitteln suchte, in welchem der Beschuldigte muthmaßlich sich aufhielt; war dies geschehen, so wurde dann der Ladungsbrief an verschiedenen Orten dieses Landes, meistentheils auf Straßen und zwar nach den vier Himmelsgegenden aufgesteckt.

Die Nichtwissenden durften, wie bemerkt, nur vor das offene Ding, die Wissenden dagegen nur vor das heimliche Gericht geladen werden. Das Verfahren selbst war in beiden Fallen ein verschiedenes.

Leistete der angeklagte Nichtwissende der Vorladung Folge und stellte sich zur bestimmten Zeit vor dem offenbaren Ding, bei welchem also Jedermann gegenwärtig sein und der Verhandlung zusehen und zuhören konnte, so trug der rügende Schöffe noch einmal die Anklage vor. Gestand der Angeschuldigte, dann war der Proceß ein kurzer. Der Angeklagte hatte sich, wie es hieß, selbst gerichtet. Er wurde ergriffen und im nächsten Augenblicke hing er, im Angesicht der umstehenden Menge, an einem Baume. Stellte er dagegen die Begehung des ihm Schuld gegebenen Verbrechens in Abrede, dann lag es ihm ob, von der Anklage sich zu „reinigen.“ Niemals versuchten die Vehmrichter, den Angeklagten des Verbrechens zu überführen, niemals ihn zu einem Geständniß durch Gewissenspredigten zu bewegen, oder durch verwickelte Fragen zu verlocken, oder wohl gar durch Folterqualen zu zwingen. Marterwerkzeuge haben die Vehmschöffen nie in den Händen gehabt. Wenn Dir daher, lieber Leser, einmal in einer alten Folterkammer solche gräuliche Instrumente gezeigt werden, und Dein Führer mit wichtiger Miene Dir bedeutet, daß dieselben noch von den Richtern der heiligen Vehme herrührten, so weißt Du, daß man Dir ein Mährchen erzählt. Das einzige Mittel, eine Freisprechung zu erwirken, sich von der Anklage zu „reinigen,“ bestand in dem Eid und zwar mußte zunächst der angeklagte Nichtwissende einen Reinigungseid leisten. Dieser allein aber genügte nicht, vielmehr mußten, und zwar von den gegenwärtigen Vehmschöffen, noch zwei oder drei Eideshelfer mitschwören. Positive Gewißheit von der Unschuld des Angeklagten brauchten diese nicht zu haben, sie erhärteten ja durch ihren Eid blos ihre Ueberzeugung, „der Angeklagte schwöre rein und nicht mein.“ Fanden sich zwei oder drei Eideshelfer, so konnte der Kläger diesen sechs andere entgegenstellen und der Beklagte wurde, wie [239] es hieß, „selb siebent“ überschworen. Gelang es dann dem Letzteren nicht, dreizehn Eideshelfer für sich zu gewinnen, oder konnte der Ankläger gegen diese dreizehn zwanzig aufbringen, dann war der Angeschuldigte verloren und – der Strang ihm gewiß.

Ein etwas anderes Verfahren fand statt, wenn ein angeklagter Wissender vor dem heimlichen Gericht erschienen war. Er konnte durch seinen alleinigen Reinigungseid seine unbedingte Freisprechung erlangen, und diese weit günstigere Stellung der Wissenden war wohl der Hauptgrund, aus welchem, als auch Nichtwestphalen Freischöffen werden konnten, aus ganz Deutschland so viele nach Westphalen eilten und sich zu Wissenden machen ließen. Indessen dauerte dieses Vorrecht nicht sehr lange, denn man sah nicht nur die Unbilligkeit einer solchen Bevorzugung, sondern auch, bei der immer mehr anwachsenden Zahl der Freischöffen, die Gefährlichkeit derselben ein, daher denn auch bei diesen das Ueberbieten mit Eideshelfern Regel wurde. Nur insofern blieb den Wissenden immer noch ein Vortheil, daß sie unbedingt frei waren, wenn sie den zwanzig Eideshelfern des Klägers einundzwanzig entgegenstellen konnten.

Der am häufigsten vorkommende Fall war, daß die Angeschuldigten nicht erschienen.

Fand sich ein Nichtwissender am bestimmten Tage nicht ein, so verwandelte sich, nachdem der Name des Vorgeladenen feierlich ausgerufen worden war, das offene Gericht in die heimliche Acht dadurch, daß ein Schöffe der versammelten Menge befahl, das Feld zu räumen, ähnlich, als wenn heutzutage der Präsident einer Assisenverhandlung die Zuhörer auffordert, die Gallerie und den Saal zu verlassen. Hiernach mußte der Ankläger die Klage noch einmal vortragen und dieselbe durch seinen mit sechs Eideshelfern unterstützten Eid beweisen. Dasselbe galt, wenn ein Wissender sich nicht gestellt hatte. War die Anklage auf diese Weise erwiesen und der Angeklagte der Vehmroge für schuldig befunden, dann wurde er verurtheilt („vervehmt“). In solch einem Urtheil hieß es z. B.: „Den beklagten Mann mache ich unwürdig, echtlos, rechtlos, siegellos, ehrlos und untheilhaftig alles Rechts und verführe ihn und vervehme ihn und setze ihn hin nach Satzung der heimlichen Acht und weihe seinen Hals dem Stricke, seinen Leichnam den Thieren und Vögeln in der Luft, ihn zu verzehren und befehle seine Seele Gott im Himmel in seine Gewalt, wenn er sie zu sich nehmen will, und setze sein Lehen und Gut ledig, sein Weib soll Wittwe, seine Kinder Waisen sein.“

Die einzige Strafe, welche die Vehmrichter über einen Verurtheilten verhingen, war – die Todesstrafe; die einzige Art der Vollziehung – das Hängen. Nie haben sie geköpft, geviertheilt, ertränkt, lebendig begraben oder sonst auf andere Weise vom Leben zum Tode gebracht.

Selten entging ein Vervehmter seinem Schicksal, namentlich als das Schöffenthum sich über ganz Deutschland verbreitet hatte. Derjenige Schöffe nämlich, auf dessen „Rüge“ der Angeschuldigte verurtheilt worden war, erhielt von dem Freigrafen das schriftliche Vervehmungsurtheil und dies diente ihm allen übrigen Schöffen gegenüber als Legitimation zur Aufforderung, ihm bei Auffindung, Ergreifung und Aufknüpfung des Verbrechers behülflich zu sein. Kein Vehmschöffe durfte seine Beihülfe verweigern, weil einem allein die Todesstrafe zu vollziehen nicht erlaubt war, sondern, um möglichen Mißbräuchen vorzubeugen, immer drei Schöffen dabei gegenwärtig und thätig sein mußten.

Wie aber erkannte ein Schöffe den anderen? Sahen sie doch, da sie nie besondere äußere Kennzeichen an sich trugen, eben so aus, wie jeder Andere, der nicht Schöffe war. So wenig man heutzutage Jemand ansehen kann, ob er ein Freimaurer ist, eben so wenig konnte man damals Jemand ansehen, ob er ein Freischöffe sei. Wie aber erstere an gewissen Merkmalen sich zu erkennen pflegen, so hatten auch die Vehmschöffen unter sich gewisse Erkennungszeichen, die sogenannte „heimliche Losung.“ Worin diese bestanden, darüber fehlt es an sicheren Nachweisen. Eine besondere Bedeutung hatten jedenfalls die Worte: Strick, Stein, Gras, Grein, daher man auch an jedem Baum, an welchem ein Vervehmter aufgeknüpft worden war, die Buchstaben St. St. G. G. eingeschnitten fand; was diese Worte aber besagen sollten, ist unbekannt. Der Gruß, den die Vehmschöffen unter sich zu führen pflegten, und an welchem sie sich wohl erkannt haben mögen, lautete:

„eck grüt ju, lewe man
wat fange ji hi an?
alles glücke kehre in
wo de freyenscheppen sin.“

Von der Regel, daß nirgends anders als in Westphalen die Vehmgerichte abgehalten werden durften, gab es einen einzigen Ausnahmsfall, in welchem ein Verbrecher, ohne daß er vor das offene Ding oder vor die heimliche Acht geladen, ohne daß also ein förmliches Vervehmungsurtheil über ihn gesprochen worden war, an einem Baume aufgeknüpft werden konnte. Wurde nämlich Jemand bei oder unmittelbar nach Begehung einer Vehmroge von einem Vehmschöffen ertappt und traf es sich, daß wenigstens noch zwei Schöffen in der Nähe waren und sofort herbeigerufen werden konnten, dann waren diese drei nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, ohne allen Proceß den Verbrecher zu vernehmen und die Strafe an ihm zu vollziehen. Es war dies das sogenannte Verfahren bei „handhafter That.“ Ja die Schöffen maßten sich dieses Recht später selbst dann an, wenn sie selbst gehört oder durch Andere auf glaubwürdige Weise in Erfahrung gebracht, daß sich Jemand zur Begehung eines Verbrechens bekannt, wohl gar damit gebrüstet habe. Ein solches Geständniß hieß „gichtiger Mund.“ In dieser Ausdehnung der Thätigkeit der Freischöffen lag freilich viel Gefährliches; sie führte auch in der That zu den grassesten Mißbräuchen, denn oft machten sich die Vehmschöffen, vielleicht nur um einen Privathaß zu kühlen, der größten Willkür schuldig.

Zwei Jahrhunderte hatten die Vehmgerichte eine segensreiche Wirksamkeit entfaltet, der im deutschen Reich eingerissenen frechen Zügellosigkeit und Rechtsunsicherheit einen gewaltigen Damm entgegengesetzt und kein Verbrechen, das zu ihrer Kenntniß gelangte, ungerochen gelassen. Am Ende des funfzehnten und Anfang des sechszehnten Jahrhunderts aber mußten oft auch Unschuldige vor ihnen zittern und so kam es, daß, als auch Kaiser und Reich, namentlich durch das um das Jahr 1495 in’s Leben gerufene Reichskammergericht auf eine gesicherte Rechtspflege Bedacht nahmen, die Macht der Vehmgerichte gebrochen wurde und sie im sechszehnten Jahrhundert so ziemlich ganz verschwanden.




Originale.

Unter dieser Bezeichnung verstand man früher und versteht man wohl auch noch heute eine Gattung Menschen, die von ihren Nebengeschöpfen in Thun, Treiben und Denken bedeutend abweichen. Der Ausdruck ist nicht richtig, denn streng genommen sind wir Alle, wie wir da sind. Originale, wir mögen uns auch noch so sehr Muhe geben, schlechte Copieen zu sein. Gerade dieses Copiren Anderer ist wiederum etwas Originales, das heißt etwas Besonderes, uns als Individuum[WS 1] Anhaftendes, was freilich eine Menge Anderer mit uns gemein haben, aber immer nicht auf diese Art, wie wir es treiben. Millionen Blätter bewegen sich auf einem Baume und keines ist dem andern völlig glich. Doch immerhin, der Ausdruck ist nun einmal für die Sache gäng und gebe, so mag er denn gelten. Diese Originale nun sind heutzutage auf eine betrübende Weise selten geworden; kaum daß man noch hier und da, in irgend einem Winkel ein Exemplar entdeckt, das aber auch noch lange nicht die alten Prachtausgaben ersetzt, weit weniger noch sie überflügelt. Der Schreiber dieses hat aus seiner Jugend das Bild eines alten Herrn sich aufbewahrt, das für den psychologischen Curiositätensammler schon einigen Werth beanspruchen möchte. Hier ist der Mann.

Ganz oben an den finnischen Grenzmarken lebte in einem Städtchen am Anfang dieses Jahrhunderts ein Mann, den wir mit etwas umgeändertem Namen, denn die Familie blüht noch, Obrist Crollfuß nennen wollen. Obrist war er, hierin ist nichts verändert, und zwar hatte ihn die glorreiche Kaiserin Katharina, die er stets seine Imperatrice nannte, dazu gemacht. Er war klein von Wuchs, sehr behende in Bewegungen und Mienen, und erhielt sich, wie die Bewohner des Städtchens behaupteten, durch allerlei geheime Mittel sein schwarzes lockiges Kopf- und Barthaar bis in das Alter von achtzig Jahren. In eben so glänzendem Zustande befanden sich seine Zähne, und die Lebhaftigkeit und das Feuer seiner Augen könnte einem Jünglinge heutzutage willkommen sein.

Es ist bekannt, daß der Kaiser Alexander dem sächsischen Hofmaler Kügelgen den Auftrag gab, ganz Finnland zu bereisen, um Landschaftsbilder für die Gallerie der Eremitage in Petersburg zu malen. Bei dieser [240] Expedition befand sich der Erzähler und Biograph, der sich in dieser Skizze Dir vorstellt, lieber Leser, und zwar denke sein Haupt damals in Studentenmütze, und unter dem dreigefärbtem Bande auf der Brust schlug ein fröhliches Herz, das die Welt willkommen hieß und von ihr willkommen geheißen wurde. Das war alles ganz in der Ordnung. Wer mit einem Maler reist, braucht nicht dafür zu sorgen, daß er stets auf der Landstraße und in dem gehörigen gewohnten Reiseschlendrian bleibe; es war dies eine Reise im Zickzack, oder in’s Blaue hinein, wie man’s nennen will. Da gab es denn ganz prachtvoll schlechte Nachtquartiere, wahre Cabinetstücke von Unbequemlichkeit, einen Schmutz, ein wildes Durcheinander, das fast an geniale Ausgelassenheit streifte. Alles wurde ertragen, alles wurde erduldet. Ein Sonnenaufgang machte vieles gut, und vollends, wo die Phantasie im Schaffen begriffen, was kümmerte sich dann ein gequetschtes Bein, eine lahme Hüfte, ein hungernder Magen.

Wir hatten uns bis hinauf an die Grenze durchgearbeitet. Immer schöner wurden die Gegenden, immer erbärmlicher die Nachtquartiere. Endlich hielten wir es kaum länger aus, und schmachteten nach einer Flasche Bordeaux, wie Hagar in der Wüste nach Wasser. Siehe, da wandelte uns eines Morgens die besagte Flasche entgegen, in ihrer ganzen Lieblichkeit und Frische und zwar in der Tasche obenbesagten Mannes und Obristen. An einen Grenzpfahl gelehnt, das volle Glas in der Hand, die Flasche nebenbei auf der Steinbank, sah dieser Treffliche mit vergnügten Blicken in das Thal hinab, aus dessen Nebeln wir soeben emporstiegen. Wir grüßten und empfingen den Gegengruß. Eine Stunde darauf war das Band der Bekanntschaft schon so fest geschlossen, daß auf dem Boden der Flasche eine Einladung für uns lag, den liebreichen Mann in seiner Behausung zu besuchen und darin zu bleiben, so lange es uns gefallen würde. Wer war zufriedener wie wir. Ich bin der Obrist von Crollfuß, sagte der Mann, bin unverheirathet, bewohne eine Viertelstunde vom Städtchen ein Haus, das ich mir nach meiner Weise eingerichtet habe, und wo ich mit Vergnügen Herren – wohl verstanden, nicht Damen – aufnehme, die ein Absteigequartier suchen, und denen mit dem häßlichen kleinen Gasthause im Städtchen übel gedient wäre. Kommen Sie, meine Herren, wir wollen geben, damit Sie ausruhen können, bevor Sie das Mittagsmahl einnehmen, denn Ruhe vor und nach der Mahlzeit ist eine Haupt- und Stammregel.

Ich will nun kurz erzählen, worin die Originalität des Obristen bestand. Erst die Kleidung. Es war der vollständigste Kinderanzug, den man sich denken kann, Jacke, Weste, Hose, alles in einem Stücke von grauer Leinwand, ein gleichfarbiges Mützchen mit weit hervorragendem Schild auf dem Kopfe, Schuhe und sehr saubere weiße Strümpfe. Es war ein altes Knäbchen, den Eindruck machte unser Mann; besonders komisch machte sich der Anzug von der Rückseite, wo eine Reihe Knöpfe vom Gürtel abwärts lenkte. An dem Gürtel hing ein Schlüsselbund, an dem ein Pfropfenzieher, ein Lederbecher, ein Tabaksbeutel und vieles Andere noch befestigt war, das mit einem Haken schnell angeheftet und wieder abgenommen werden konnte. Als wir unsern Mann fanden, lag der Schlüsselbund im Grase. Wir gingen eiligen Schrittes, denn unserem Führer, so wie uns, lag viel daran, bald unter Dach und Fach zu kommen, denn die Sonne fing an, ihre Mittagsgluth zu versenden. Der Eingang des Hauses bot nichts Ungewöhnliches; es war ein Landhaus ohne Säulen in einem zweckmäßigen einfachen Style erbaut. Unsere Zimmer lagen nach dem Garten hinaus und waren ganz geschaffen zu Schlaf- und Ruhegemächern, denn es herrschte eine tiefe Stille im weiten Umkreise des Hofes und des Gartens. Zu dem frugalen Mittagsmahle hatten sich ein paar Gäste aus dem Städtchen eingefunden, mit diesen spielten wir Schach, während der Hausherr seine Geschäfte besorgte; gegen Abend saßen wir in dem offenen Vorplatze und nahmen den Thee ein, den der Hausherr selbst bereitete. Hier war nun die Stunde des Plauderns gekommen und unser Obrist, nachdem er erfahren hatte, welche Art Leute wir waren, stand nicht an uns mitzutheilen, welche Schule ihm das Leben gewesen. Dabei kamen nun allerdings viele seltsame Aussprüche zu Tage, die aber hier mitzutheilen zu weit führen würde. Wir wollen vielmehr das Ganze des Bildes zusammenfassen. Ohne Begabung und Liebhaberei für den Militärdienst war der eben erst zum Jüngling gereifte Knabe in ein Militairinstitut gethan worden, und hatte dort sechs Jahre unter beständigem geistlähmenden Drucke aushalten müssen. Als Officier entlassen, machte er das wilde Leben der jungen Männer der Hauptstadt mit, jedoch ekelte es ihn bald an. Er trug um seinen Abschied an, allein die Kaiserin selbst, deren Gunst er erworben, bewog ihn, zu bleiben, und schenkte ihm einen reich mit Diamanten besetzten Ehrensäbel. Sie wollte noch mehr für ihn thun, sie trachtete danach ihn zu verheirathen, und zwar mit einer ihrer Hofdamen, die Schönheit, Rang und Vermögen hatte, aber da entwickelte der Widerspenstige seine ganze Energie. Er stürzte sich durch seine Weigerung in Ungunst, verlor seine Stelle und begab sich nun auf Reisen. Als er zwölf Jahre, der Himmel weiß wo, gesteckt hatte, denn aus Furcht, man könnte ihn einfangen und wieder zurückbringen, ließ er sich nirgends sehen, kehrte er in sein Vaterland zurück, wo er sein natürliches Erbe in Besitz nahm. Unterdessen war die Kaiserin gestorben; die Verhältnisse hatten sich in so weit geändert, daß er nichts mehr für seine Sicherheit zu fürchten brauchte; doch war ihm die Welt und alles weltliche Treiben so sehr zuwider, daß er, es koste was es wolle, in dem eigenen Vaterlande als ein Fremder, Ungenannter und Ungekannter leben und sterben wollte.

Der Zufall entschied für jenes entlegene Grenzstädtlein und so langte er als ein dreißigjähriger Mann daselbst an und er war nahe an Siebenzig, als wir ihn kennen lernten. Fünfunddreißig Jahre hatte er demnach hier wie ein Einsiedler gelebt. Er vereinigte fast alle Gewerbe und Kunstbetriebe in seiner Person; er war Schreiner, Schuster, Schneider, Drechsler, Maler, Gärtner, Arzt und Apotheker, und zwar hatte er es in einigen dieser Zweige zu einer ungewöhnlichen Geschicklichkeit gebracht. Der Anzug, der ihn umhüllte, war von ihm selbst erfunden, zugeschnitten und umnäht, die Knöpfe daran hatte seine Drehbank geliefert, die Schuhe waren von ihm, wenn auch nicht gemacht, doch verbessert; nur Halstuch, Hemde, Strümpfe und Hut waren aus den Kaufläden. Handschuhe zu tragen, hielt er für eine Verweichlichung; den Bart ließ er wachsen, doch nicht übermäßig lang. denn häßlich wollte er nicht sein, und eine Karrikatur wollte er auch nicht vorstellen. In Rohheit und Schmutz untergehen, war nicht seine Sache, im Gegentheil, er konnte für einen zierlichen, in seiner Art geputzten alten Herrn gelten.

War er wegen seiner Apotheke und seiner Recepte bereits mit der medicinischen Facultät in Streit gerathen, so verfiel er in noch ärgeres Zerwürfniß mit den Theologen, als er auf den Einfall kam, eine Kirche zu bauen nach seiner Art, und die Leute einlud, in diese Kirche zu gehen, um daselbst ihre Andacht zu verrichten. Er selbst war nach der damals herrschenden Schule der Encyklopädisten gebildet, und setzte als das Höchste einen Naturdienst fest, der aber dabei nicht ohne ethische und selbst religiöse Elemente war, nur daß diese dem Blicke des oberflächlich Betrachtenden nicht sogleich in die Augen fielen. In dieser benannten Kirche stand auf dem Altar statt des üblichen Bildes eine große Tafel, auf der die Worte geschrieben standen: „Seid thätig, hülfreich, mitleidig, lebt mäßig, hofft und erwartet dafür keine künftigen Belohnungen, und ihr werdet keinen Fürsprecher nöthig haben.“ Mit kleiner Schrift hatte der Oberst die Worte unten hinzugesetzt: „Ihr Hallunken! es ist euch wohl bequem, eure Laster und Schandthaten, eure Faulheit und Liederlichkeit einem Andern aufzuladen, der’s für euch ausbaden soll! Aber so darf es nicht sein!“ – Obiger Spruch und die Nutzanwendung unten wurden beide von der Hand der Kircheninspection ausgelöscht. Die Kirche selbst war eine geräumige Halle, freundlich und hell und mit Tischen versehen, auf denen Erfrischungen gereicht wurden, natürlich unentgeltlich. „Denn,“ sagt der Oberst, „der liebe Gott ist ein gütiger Gastgeber; er trifft’s immer mit seiner Speisekarte auf’s beste, und wenn ein armer Teufel den weiten Weg gemacht hat, so ist’s lieblich und löblich, daß der Herr, den er zu besuchen kommt, ihn speise.“ Auch die Gastgeberei in der Kirche wurde untersagt. Es blieben nur die gemeinnützigen Vorlesungen, wie man dem Obersten seine Predigten zu nennen befahl. Nämlich er ging selbst in die Kirche, stellte sich an einen beliebigen Ort hin und trug den Leuten Gesundheits- und Verhaltungsregeln vor, machte sie auch damit bekannt, wie sie Processe vermeiden und mit ihrem Nachbar in gutem Frieden leben könnten. Man durfte ihm Einwände machen, zu einem langen Disput durfte es aber nie kommen. Seine Moral kleidete er in lustige Geschichten, in Erzählung von Abenteuern aus seinem Leben. Oft war die Kirche drei, vier Tage hintereinander geöffnet, dann wieder wochenlang geschlossen. „Denn,“ sagt der Oberst, „man muß den geistigen Acker auch oft brach liegen lassen, dann, zur guten Stunde, trägt er doppelt und gehaltvollere Früchte. Es gibt einen Geist, der sich freiwillig gibt und einen, den man durch künstliche Mittel herauspurgirt.“

Im Hause des Obersten gab es ein Gemach, das gleichsam das Allerheiligste des Hauses war und dieses Zimmer hieß „der Tempel der Wandlungen.“ Hier gab es eine originelle Zusammenstellung. In fünf Nischen waren fünf besondere Schaustellungen angebracht, die alle fünf zusammen gleichsam eine Geschichte der Lehre, der unser Freund ergeben war, darstellten. Er hatte sich selbst gewählt, um daran sein System, das seine Hoffnungen und seinen Glauben enthielt, klar zu machen. In der ersten Nische befand sich ein Sarg und in diesem lag ein Wachsbild, das ihn selbst im Tode zeigte. In der zweiten Nische war derselbe Sarg sichtbar, aber das Gebilde darin zeigte ein furchtbares Bild der Zerstörungen, die der Proceß der Verwesung anrichtet. Schlangen, Würmer, allerlei Gethier, täuschend dem Leben nachgemacht, durchkroch die zerfressenen Seiten des schon bald zum Gerippe gewordenen Leichnams. Man konnte nur mit Grausen auf diese Darstellung sehen; aber die darauf folgende Nische gewährte Trost. Ein Baum zeigte sich, mit Früchten beladen, der aus dem Grabhügel emporgewachsen war. Neben diesem Baum einige Kornähren, und zur Seite ein Bächlein, durch dessen klare Wellen Fische dahinglitten. Früchte, Aehren und Fische – sie alle waren Verwandlungen; sie trugen in ihrer Bildung Jedes etwas von jenem Leibe, der der Erde übergeben worden. In der vierten Nische saß ein Pärchen bei Tische; der junge Gatte legte der hübschen Frau vor von einem Gericht Fische, und auf dem Tische stand nebenbei ein Körbchen mit Aepfeln, ein anderes mit frischen Semmeln gefüllt. Die fünfte Nische endlich zeigte die Taufe eines neuen Erdenbürgers. Das Glied der Kette, das in das erste eingreifen sollte, war gegeben. Die Nutzanwendung und Erklärung konnte leicht Jeder sich selbst machen. Man sieht, noch lange vorher, ehe unsere neuen Chemiker die Lehre vom Stoffwechsel aufgebracht, hatte dieser einsame Sonderling sie schon praktisch sich zurecht gelegt und in instructive Bilder gebracht.

Ich muß bekennen, daß dieses Zimmer einen tiefen Eindruck auf mich machte, und ich bemerkte, daß es meinem Reisegefährten nicht anders erging. Wer konnte auch das Treiben dieses wunderlichen Mannes mit Gleichgültigkeit ansehen. Und nun ihn stehen zu sehen vor seinem eigenen Sarge, und ihn lächelnd ausrufen zu hören: „Wo sind sie, diese so gefürchteten Schrecken des Todes?“ konnte machen, daß man ihn lieb gewann. Sein Sterbliches wurde von der Natur genommen, um neues Leben daraus zu bereiten, sein Geist streute Saamen aus zum Wachsthum der Menschenliebe und Menschentröstung. Das war sein Fortleben.

Wir nahmen mit dankbarem Herzen von ihm Abschied. Einen solchen Mann nannte man damals ein „Original.“





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Inviduum