Die Gartenlaube (1857)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 22. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Fern der Welt.
Von Bernd von Guseck.
Schluß.

„Sie haben doch Ihr Versprechen gehalten, ihm dies Stillleben nicht zu verleiden?“ fragte Frau von Aßberg. „Unsere öde Gegend hätte Ihrem Spotte tausend Waffen gegeben! Ob Günther wohl gethan hat, sich so ganz von aller Berührung mit der Welt fern zu halten, ist eine andere Frage – ich hatte meine Zweifel darüber und habe sie ihm auch früher, ehe er unwiderruflich seinen Entschluß gefaßt hatte, oft genug ausgesprochen. Für Gemüther, wie das seinige, ist die Einsamkeit nicht immer von wohlthätigem Einflusse. Doch schwieg ich, als ich ihn selbst entschlossen sah, ließ ihn gewähren und – folgte ihm nach. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich hier ganz wohl befinde, und auch für Günther hoffe ich das Beste. Die angestrengte Thätigkeit, die er entwickeln muß, um etwas Besseres und Schöneres zu schaffen, als er hier vorgefunden hat, wird ihn auch geistig wieder stählen, und er wird glücklich werden. Sind Sie nicht auch dieser Hoffnung? Doch ich vergesse, daß Sie durch Beruf und Neigung der glänzenden großen Welt angehören und wohl nicht begreifen können, wie man unter irgend denkbaren Verhältnissen in einsamer Stille, wie hier, glücklich sein kann!“

Sie war nun ganz unbefangen, ein sanftes Lächeln erheiterte ihre anmuthsvollen Züge, ihr leuchtendes schwarzes Auge blickte voll und heiter auf Gebhard.

„Wenn mir ein Glück in stiller Einsamkeit blühen könnte –“ sagte er, und hätte sich vielleicht in diesem Moment, wo der Eindruck, den diese gefährliche Frau vom ersten Augenblicke an auf ihn gemacht hatte, überwältigend wurde, auf den hochgehenden Wogen seiner Erregung zu irgend einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen, wenn nicht zu rechter Zeit Günther eingetreten wäre. Er nannte ihn dafür, nachdem er im Laufe des Tages wieder kühlere Fassung gefunden hatte, seinen Retter, und gelobte sich nun, so bald als möglich abzureisen. Seine Mission war erfüllt. Er hatte seinen Freund gefunden, hatte wichtige Aufschlüsse gewonnen und auch gegeben, er hoffte, ihn in vieler Beziehung beruhigt zu haben. Nur die Episode, die sich in sein Hiersein geschlungen hatte, die Entscheidung über das Schicksal des Fräuleins von Nidau wollte er noch abwarten, um zu wissen, ob er seinerseits in der von Hassel angegebenen Weise etwas für sie auswirken könne. Indessen – sie war selbst in dem Hause des guten Gerichtsverwesers gewiß mehr an ihrem Platze und besser geborgen, als in irgend einem Stifte unter Damen, zu denen sie, wenigstens seiner Meinung nach, wegen ihrer mangelhaften Erziehung nicht paßte. Wenn sie wirklich so hübsch und so gut war, wie ihr Lobredner sie geschildert hatte, so fand am Ende Günther, der ja seine Solitüde nicht mehr verlassen wollte, in ihr eine treffliche Lebensgefährtin, die ihm gewiß eine schätzbare Praxis in der Küchen- und Milchwirtschaft mitbrachte. Wir sehen, die Anfechtung, welche den Grafen seinem eigenen Selbst zu entfremden gedroht hatte, war glücklich überwunden.

Mit Günther war es umgekehrt. Es schien wirklich einen Moment, als habe die erfrischende Rede des Freundes die gehoffte Wirkung gehabt; Frau von Aßberg gewahrte mit Entzücken im Antlitze ihres Sohnes, das vor ihr stets wie ein aufgeschlagenes Buch lag, einen lange vermißten Schimmer der Freudigkeit. Als Hallstein sich Abends von ihnen getrennt hatte, nahte Günther seiner Mutter mit verklärtem Angesicht und sagte:

„Der Glaube ist das Fundament der Liebe! Ich glaube fest an Dich, meine geliebte Mutter!“

Sie küßte ihn, von diesen räthselhaften Worten ergriffen, und fragte nach ihrer Bedeutung. Aber er ließ sich nicht weiter darüber aus. Konnte er ihr gestehen, daß Walrode’s böse Worte, die er sterbend, obgleich ihn Günther darum beschworen, nicht widerrufen hatte, dennoch in seiner Seele Zweifel geweckt, die sein Leben in dem heiligsten Gefühle vergiftet hatten? Nun aber, durch ein Wunder gleichsam, das Gebbard unwissend bewirkt, war er darüber in Frieden gekommen; und die Freudigkeit, welche seine Mutter bemerkt hatte, schien auch sein Aeußeres zu verwandeln, der Haltung die alte Stattlichkeit, dem Gange die Elasticität zurückzugeben. Doch war diese Wandlung nicht bleibend. Nach zwei Tagen schon trat wieder der alte trostlose Ernst hervor, der sich nicht bannen ließ und seinem sonst so wohlgebildeten Antlitze die Jugend vor der Zeit geraubt hatte! Umsonst, daß jetzt, wo es zwischen ihm und dem Freunde kein Geheimniß mehr war, welchen Vorwurf er sich machte, Gebhard und die Mutter sich vereinigten, denselben zu entkräften. Er hielt fest daran, daß, wenn auch die Welt ihn freisprechen würde, er doch die Blutschuld im Bewußtsein trage, denn, zugegeben selbst die Entschuldigung des Zweikampfes ohne Zeugen, bleibe unvertilgbar die Gewißheit, daß sein Gegner sich nur verblutet, weil kein Arzt zugegen gewesen sei. Das setzte er mit so gründlicher Darstellung auseinander, daß man ihm ansah, wie er darüber gegrübelt hatte, und – leider kämpfte hier seine Mutter nicht mit den Waffen der eigenen Ueberzeugung. Sie hatte ja auch von Hallstein nur erwartet, daß er ihn trösten werde.

Da kam der Gerichtsverweser wieder nach Berga. Er war mit Frau und Töchtern in Allweide zum Begräbniß gewesen und diese hatten die Lenchen, wie er das Fräulein zum Verdrusse des [298] Grafen wieder kurzweg nannte, gleich mit in die Stadt genommen während er nach Berga ritt. Frau von Aßberg bat ihn um Erlaubniß, seine Frau einmal besuchen zu dürfen, um Helenen kennen zu lernen. Er machte eine kurze Verbeugung, schob aber nochmals die Brille auf und ab, als habe er doch einiges Bedenken.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, sieht das nicht wie eine Thierschau aus? Nehmen Sie’s nicht übel, ich finde gerade keinen passenden Ausdruck. Meine Frau ist ein herzensgutes Weib und eine tüchtige Wirthin, wir haben uns aus Neigung geheirathet, und ich kann mir keine bessere Frau und meinen Kindern keine bravere Mutter wünschen. Aber zum Umgange für Sie paßt sie nicht, das weiß sie selbst, was sollte also der Besuch bedeuten? Wollen Sie die Lenchen sehen, so schicken Sie ihr in Zeit von drei, vier Wochen, wenn das erste Herzeleid ein bischen vorüber ist, Ihren Wagen oder ich bringe sie einmal von selber mit heraus.“

„Aber liebster Herr Gerichtsverweser!“

„Glauben Sie, daß sie nicht kommen würde? O, meine gnädige Frau, sie kommt wahr und wahrhaftig. Denn sie hat Demuth in ihrem Leben gelernt, das arme Kind. Ich will vom Todten nichts Uebles reden, aber Zuckerbrod hat sie bei ihm nicht gegessen. Sie war die erste Magd, weiter nichts. Pariren hat sie müssen, und wenn er in seiner Verbissenheit das Wunderlichste von ihr verlangte. Wenn sie also von der gnädigen Frau eingeladen wird, so kommt sie und thut es auch gern, denn es fällt ihr gar nicht ein, daß es anders sein könnte. Einen eigenen Willen hat sie nicht.“

„Um so eher muß man sie schonen,“ erwiderte Frau von Aßberg. „Ich werde mir Alles noch recht bedenken. Sie erlauben mir aber, in Ihre Hände zu legen, was schon mein Sohn mit Ihnen besprochen hat: ich verlasse mich dabei ganz auf Ihre Discretion.“

Das konnte sie auch, und als sie Herrn Hassel, ehe er fort ritt, unter vier Augen ihr Scherflein übergab, erstaunte er über den Betrag und nannte es ein Capital.

Vor der Hand war damit die Angelegenheit geordnet, aber Frau von Aßberg fühlte sich nicht befriedigt. Das Verlangen, sich mit eigenen Augen von der neuen Lage des Mädchens, für welches sie nun einmal das lebendigste Interesse fühlte, zu überzeugen, wurde immer dringender in ihr, und sie entschloß sich endlich, an Helene Nidau zu schreiben. Was sie ihr sagen wollte, war längst entschieden und die zarte Weise, die ihren Worten den zum Herzen sprechenden Ton gab, mußte Helenen für sie gewinnen. Der Brief ging ab und Hallstein, welcher glühend gewünscht hatte, ihn zu lesen, war gespannt auf die Antwort. Diese blieb aber aus. Drei Tage vergingen und der Zeitpunkt kam, welchen der Graf für seine Abreise bestimmt hatte, ohne daß aus der Stadt irgend eine Nachricht nach Berga gelangte. Es war unbegreiflich, daß nicht wenigstens der Gerichtsverweser etwas hören ließ, welcher doch von dem Schreiben der Frau von Aßberg, das ein Bote in seinem Hause abgegeben, Kenntniß haben mußte.

„Sie ist vielleicht krank oder noch zu tief betrübt, um den Worten einer Fremden zugänglich zu sein,“ entschuldigte sie Frau von Aßberg.

„Noch eine dritte Möglichkeit schwebt mir vor,“ sagte Hallstein, der sich in letzter Zeit absichtlich zu herzlosen Aeußerungen reizte: „eine Möglichkeit, welche ich aus den indiskreten Reden unseres Centauren Hassel aufgefangen habe: sie wird nicht schreiben können.“

Seine bisherigen forcirten Aeußerungen hatten nicht den Erfolg gehabt, welchen er vielleicht damit bezweckte, sie hatten ihm keine unwillige Zurückweisung zugezogen, denn Frau von Aßberg glaubte nicht daran und beschämte ihn in der Regel nur mit einem Blicke, der einen milden Vorwurf zu enthalten schien. Heute zum ersten Male fügte sie dem stummen Blicke noch ein Wort hinzu:

„Lieber Gebhard, warum wollen Sie mich durchaus gegen sich einnehmen?“

Das war’s! Die rechte Antwort stürmte in seinem aufwogenden Herzen, in seinem schmerzenden Hirn und verdunkelten Blick, aber er war von der Frage und dem süßen Klange ihrer Stimme ganz fassungslos und das erzwungene Lächeln, die erbärmliche Ausflucht, die von seinen Lippen kam, hätten auch Frau von Aßberg, welche nichts von Allem ahnte, was in ihm vorging, fast außer Fassung gesetzt. Sie vermochte es zwar noch, das strandende Schifflein wieder leicht von der Klippe zu wenden, dann aber wurde sie für den Rest des Abends still und ernst. Es war der letzte, welchen Graf Hallstein auf Berga zubrachte.

Am andern Morgen nahm er in vollkommener Selbstbeherrschung Abschied: er war wieder ganz der feine, an Welterfahrung überlegene Mann, ganz Legationsrath. Die Worte, welche er Frau von Aßberg beim Scheiden sagte, konnten nicht verbindlicher sein, sie athmeten nur Hochachtung und Antheil und er war mit sich zufrieden. Frau von Aßberg zeigte sich gegen ihn, wie sie alle Tage gewesen war: freundlich und voll herzlichen Gefühls, auf welches der Freund ihres Sohnes Anspruch hatte; ihr Auge blickte klar und ruhig, wie immer. Erst als er mit Günther, der ihn begleitete, jenseits des Thorweges verschwunden war, umwölkte sich ihre reine schöne Stirn und ein wehmüthiges Lächeln trat auf ihre Lippen. Auch während der Fahrt behielt Graf Gebhard seine vollkommenste Fassung, er nahm es dankbar an, als ihm Günther einen kleinen Umweg durch den Wald vorschlug, um ihm noch einmal die Partien am Weiher zu zeigen, die ihm so sehr gefallen hatten, und auch die im Bau begriffene Capelle am anderen Ufer, wo dann der Schleifweg wieder die Richtung nach der Stadt einschlug. Der Gerichtsverweser, der zu Pferde immer diesen viel angenehmeren Weg ritt, hatte ihn Aßberg erst gezeigt. Die Freunde fuhren absichtlich langsam und besprachen nochmals in ruhiger Stimmung, was sie sich mitgetheilt hatten. Aber Gebhard überzeugte sich dabei, daß Günther den schwersten Vorwurf in seiner Selbstanklage noch immer festhielt und sich durch die Bemühungen des Freundes, ihn zu entkräften, nicht irren ließ.

„Gieb das auf!“ sagte Aßbcrg endlich mit resignirtem Lächeln.

„Ich trage das Maal, und nur der Fittig eines Engels, wie in Dante’s Dichtung, könnte mich davon befreien. Darum bin ich hier auch ganz gut aufgehoben, bis ich dort ruhen werde.“

Er zeigte nach dem Gemäuer am See, das zwischen den grünen Zweigen eben sichtbar wurde.

„Wie?“ rief Gebhard. „Das ist der Sinn der Capelle?“

Ein Stutzen des Pferdes, ein helles Wiehern, während es lebhaft in’s Zeug ging, störte Günther’s Antwort. Man hörte in geringer Entfernung das Rollen eines Fuhrwerks auf den Wurzeln.

Bald darauf wurde es sichtbar: ein offener, landesüblich langer Kaleschwagen mit zwei Personen hinter dem Knecht.

„Günther!“ rief der Graf leise. „So wahr ich lebe –!“

Sie hatten den Gerichtsverweser erkannt – die Dame neben ihm in tiefer Trauer, wer konnte das anders sein, als –

„Schönsten guten Morgen!“ rief Herr Hassel ihnen entgegen. „Ei das trifft sich ja charmant! Frau Mutter doch zu Hause –?“

Das junge, schwarz gekleidete Mädchen, das neben ihm saß, hob ihr gesenktes Auge flüchtig zu den Fremden empor, ließ es aber gleich wieder zu Boden sinken, ihre vom Gram gebleichte Wange färbte sich ein wenig.

Günther hatte die Frage des Gerichtsverwesers bejaht, und bog aus, um das schwerfällige Fuhrwerk vorüber zu lassen. Hassel besaß doch so viel natürliches Zartgefühl, um nicht anzuhalten, was er sonst unbedingt gethan hätte. Er sagte nur: „Fräulein Lenchen will Ihrer Frau Mama selbst danken –“ Und Helene hob noch einmal ihr Auge auf den Sohn der Frau, von welcher sie das erste Zeichen liebevoller Güte, das ihr in ihrem ganzen Leben geworden, erhalten hatte; sie neigte sich gegen ihn, ihr Blick streifte auch den Grafen, aber schwere Perlen hingen an den langen dunklen Wimpern und zogen die schneeweißen Lider wieder über die feuchtschwimmenden Sterne – so fuhr sie an den Freunden vorüber und Günther vermochte, ergriffen, wie er von der rührenden Erscheinung in ihrem tiefen Leide war, kaum ein dürftiges Wort über seine Mutter in Bezug auf Hassel’s Erklärung zu erwidern.

Als der Wald sich zwischen den beiden sich kreuzenden Wagen geschlossen hatte, sagte Gebhard: „Nun ist das Geschick des armen, verwaisten Kindes gesichert. Deine Mutter wird schon für sie sorgen.“ Er wollte noch den Wunsch aussprechen, daß diese Begegnung an der Capelle ein gutes Omen sein möge! aber er besann sich eines Bessern und hütete sich, durch ein unvorsichtiges Wort in ein fremdes Schicksal einzugreifen. Günther that es leid, den ersten Moment zu versäumen, wo Fräulein Nidau seiner Mutter sich nahte, er hätte gern den ersten Eindruck auf diese beobachtet, von dem so viel abhing – der Graf zweifelte nicht, daß dieser Eindruck ein günstiger sein werde. Beide ließen dann, wie verabredet, den [299] Gegenstand ihres Gesprächs fallen und blieben eine Weile mit ihren Gedanken beschäftigt, bis Hallstein unbefangen von andern Dingen zu reden begann, selbst von der Wirthschaft. Er schätzte den Freund glücklich, daß er noch einen Verwalter alten tüchtigen Schlages besitze, dem er unbedingt die ganze Oekonomie, selbst wenn er einmal jahrelange Reisen unternehme, anvertrauen könne, und äußerte sich dann weniger günstig über andere Persönlichkeiten der nächsten Umgebung, die er kennen gelernt hatte. Auch der Pfarrer des Dorfes, so still und zurückhaltend er war, hatte seinen Beifall nicht erlangen können: er nannte sein Benehmen geistlichen Hochmuth und lächelte ungläubig, als Günther warm seinen Seelsorger in Schutz nahm und ihn einen wahrhaft bescheidenen und frommen Mann nannte. Hier war überhaupt zwischen Beiden streitiger Boden, wo sie sich nicht verständigen konnten. Gebhard glaubte in der Zerknirschung über Vorfälle, welche dem Weltmanne nur als Fatalitäten erschienen, in dem Baue der Waldcapelle, welche gar zum Mausoleum bestimmt worden war, schon die Wirkung „geistlicher Uebungen“ zu erblicken. Er schwieg jedoch, weil ihm überhaupt Gespräche über diese Dinge unbequem waren.

Bis zur Stadt hatte Günther den Freund geleiten und dieser von dort sogleich bis zu dem, allerdings für die heutige Zeit etwas entfernten, Anschluß an die Eisenbahn Postpferde nehmen wollen. Günther bedachte jedoch, daß es gewiß wohlgethan sei, das Zusammensein der Mutter mit Fräulein Nidau nicht durch eine schnelle Heimkehr zu stören; er schlug daher Gebhard vor, noch eine Station weiter zu fahren, was dieser dankbar annahm. Dort trennten sich endlich die Freunde mit warmen Scheidegrüßen und Günther mußte versprechen, bald einmal Nachricht zu geben, wie sich Alles in seinem Leben weiter gestaltet habe; besser sei es freilich, setzte der Graf hinzu, wenn er diese Nachricht selbst brächte, da er, wie gesagt, die Wirthschaft in treuen Händen zurücklasse.

„Könnte ich abkommen,“ erwiderte Günther mit eigenthümlichem Nachdrucke, „so wüßte ich wohl mein Ziel der Reise.“

Er sprach sich nicht weiter aus, Gebhard glaubte ihn aber zu errathen, da er kürzlich wiederum geäußert hatte, wie sehr er das seiner Mutter gegebene Versprechen als ein unmännliches bereue.




Ⅵ.

Auf der Heimfahrt, da es schon ziemlich spät geworden war, nahm Günther den geraden Weg und kam, als der Wächter bereits abgerufen hatte, nach Hause. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, er wußte, daß ihn die Mutter erwartete, und eilte, sein längeres Ausbleiben zu erklären.

Frau von Aßberg empfing ihn liebevoll, wie immer, und ohne Frage, oder gar Vorwurf. Gebhard that ihr ein tiefes Unrecht, wenn er glaubte, daß sie ihren Sohn am Gängelbande führe: man konnte sich kein schöneres Verhältniß denken, als zwischen Günther und seiner Mutter. Sie hörte freundlich an, was er ihr sagte, und überraschte ihn dann durch die Mittheilung, daß Helene Nidau bei ihr bleiben werde.

„Sie ist hier?“ rief Günther, und es klang fast, als erschrecke ihn die Nachricht.

„Ich habe sie dazu vermocht, gleich hier zu bleiben, und glaube, daß sie es nicht ungern gethan hat. –“

„Wie gefällt sie Dir?“ fragte Günther zögernd.

„Du wirst sie morgen kennen lernen,“ erwiderte die Mutter. „Ich will Dein Urtheil über sie hören.“ Hassel hatte von der Begegnung am See erzählt, Günther wiederholte es und hörte dann noch, welche Verabredungen die Mutter weiter mit dem redlichen Manne getroffen hatte. Es war ihm leid gewesen, das Fräulein, das seine Frau und Kinder schon lieb gewonnen hatten, aus seinem Hause wieder scheiden zu sehen; auch Helene hatte, von dem Erbieten der Frau von Aßberg bestürzt, Anfangs mit einem schüchternen und bittenden Blicke auf ihn gesehen, als er ihr aber erklärte, daß es sich hier mehr für sie passe und zu ihrem Besten sei, war sie der Mutter mit einer wahrhaft rührenden Dankbarkeit genaht. – „Doch, ich will Dein Urtheil nicht bestimmen,“ sagte Frau von Aßderg. „Der gute Hassel,“ setzte sie lächelnd hinzu, „wollte durchaus, daß Du die Vormundschaft übernehmen solltest. Erschrick nicht – ich habe Dir’s erspart und ihn selbst dazu bewogen.“

Günther war an diesem Tage durch zu viel Erlebnisse aufgeregt, als daß er in der Nacht einen ruhigen Schlummer hätte finden können. Dieser fehlte ihm überhaupt nur zu oft. Wirre Träume, in denen sich Bilder aus der wahren Vergangenheit und phantastische Gestalten einer möglichen Zukunft auf der rollenden Welle zwischen beiden, die wir Gegenwart nennen, bekämpften, ließen ihn oft schreckhaft mit pochenden Adern aufwachen und erst gegen Morgen schlief er so fest ein, daß die Mutter, besorgt über sein unerklärbar spätes Aufstehen, ihn wecken mußte. „Du setzest Dich bei unserer neuen Hausgenossin, die ein ächtes Landmädchen ist, gleich in übeln Ruf als Gutsherr,“ scherzte sie, und Günther beeilte sich, ihr bald zu folgen.

„Das ist mein Sohn, liebe Helene; Sie haben ihn gestern schon gesehen.“

Günther hatte mit einem Blick die Erscheinung des jungen Mädchens, das in tiefer Verlegenheit vor ihm stand und sich kaum verneigte, in sich aufgenommen. Sie war in ihrem Trauerkleide, das in plumpen Falten ihre ganze Gestalt verunzierte, keineswegs mit jenem Reiz ausgestattet, welcher die ernste Farbe des Grames in der großen Welt sogar der Coquetterie dienstbar macht; ihr Wuchs, etwas über Mittelgröße, mochte eher kräftig als elegant sein, aber die stillen, reinen Züge ihres Antlitzes, in welchem ein Seelenkundiger ewige innere Frauenschönheit gelesen hätte, machten auf Günther einen mächtigen Eindruck. Er fand heut nicht einmal die herkömmliche Formel – er reichte ihr aber die Hand und Helene legte die ihrige zögernd hinein; er fühlte, wie sie zitterte, diese kleine Hand, von der Arbeit so hart!

Welcher Gedanke bewegte die Mutter, daß sie mit einem aufleuchtenden Blicke auf das Paar sah? Wenn es aber auch Frauenart ist, Gedanken, wie der, welcher Frau von Aßberg in diesem Moment bewegen mochte, allzu schnell aufkommen zu lassen: Günther’s Mutter war doch nicht geneigt, auf einen ersten Eindruck, einen bloßen Einfall hin, den Gedanken fest zu halten, zu hegen und sorglich groß zu ziehen. Sie überließ, was sich gestalten sollte, der Fügung des Himmels und wachte nur mit treuer Sorge, daß ihres Sohnes Frieden, den sie sicherer gewonnen glaubte, als er war, nicht in anderer Hinsicht gefährdet werde.

Das Leben in Berga gewann durch die Fremde, welche aber von Frau von Aßberg wie ein Kind vom Hause behandelt wurde, keine Veränderung. Helene störte Niemand. Sie hatte bald Zutrauen gewonnen und wandte der gütigen Frau, die sich ihrer angenommen hatte, ihr Herz mit einer Innigkeit zu, welche diese wahrhaft beglückte. Zu ihr konnte sie dann auch so vertrauend sprechen, ihr Leben in Allweide, all ihre kleinen Erlebnisse schildern, bis zu dem Ereigniß, an das sie nur mit einer gewissen Scheu und Furcht dachte: ihre Verlobung. Der Vater hatte sie ihr angekündigt, und sie nicht um ihren Willen gefragt, wie er das überhaupt nie that. Doch sprach sie von dem Vater immer mit Ehrfurcht und weinte noch viel um ihn: „er war so gut!“ sagte sie oft und alle Härte, die er ihr bewiesen hatte, war über den wenigen Momenten vergessen, in denen doch die Liebe zu seinem Kinde, die er im Herzen trug, durchgebrochen war und sich ihr in Liebkosungen, deren er sich später geschämt, offenbart hatte. Den Tod ihres Bräutigams beklagte sie nur um seiner Schreckniß willen, nicht, weil sie dadurch einen traurigen Verlust erlitten hatte. So lag die unschuldige Seele des Kindes vor den Blicken ihrer Wohlthäterin unverschleiert da und diese konnte nur wünschen, daß sich ihr Herz dem Sohne zuwenden möge, wie sie längst bemerkt batte, daß in Günther eine Neigung für Helene Wurzel geschlagen hatte und immer mächtiger emporwuchs. Aber darüber erlangte sie keine Gewißheit. Alle Zeichen, welche sonst ein still gehegtes Gefühl verkünden, fehlten hier; Helenen’s Umgang mit Günther war fern von jeder Befangenheit, kein Licht- und Schattenwechsel im Auge, in der Farbe, im Ton – sie suchte ihn eher auf, als sie ihn mied, sie half ihm thätig, wo sie irgend konnte, wie sie auch allgemein thätig war in der Wirthschaft, und eine seltene Geschicklichkeit in allen häuslichen Arbeiten zeigte. In seiner Abwesenheit verrieth sie niemals eine sinnende, träumerische Stimmung, sie konnte schon wieder fröhlich auflachen und ihr ganzes Wesen hob sich in freier, kräftiger Gesundheit der Seele. Dennoch mußte Frau von Aßberg sich sagen, daß jene Zeichen auf ein Naturell, wie Helenen’s, das bei einer seltenen Innigkeit des Gemüths doch frei von aller Sentimentalität war, nicht paßten und vielleicht grade die frische und fröhliche Ungezwungenheit des Umgangs sich mit einer Herzensneigung für Günther deshalb vertrage, weil sie sich von dieser, die so [300] gar nicht bedroht war, noch nicht Rechenschaft gegeben hatte. Zu solcher Hoffnung konnte sich ihr Mutterauge nur freuen, wenn sie bemerkte, wie Günther förmlich auflebte und sein Blick wieder hell war und Glück strahlte, wie einst in vergangenen Tagen!

Der Winter war gekommen, das Landleben zog sich aus der freien Natur in die warmen festen Häuser, an das trauliche Kaminfeuer; in den Städten aber nahm das Leben jetzt erst seinen großartigsten Aufschwung. Graf Hallstein, in seine gewohnten Umgebungen zurückgekehrt, war längst wieder der Alte geworden, und lächelte über die seltsame, gleichsam berauschende Wirkung, welche seine excentrische Entdeckungsreise der Freundschaft auf ihn gemacht hatte. Wie nah’ war er daran gewesen, sich auf nie zu vergessende Weise lächerlich zu machen! Der Fluch der Lächerlichkeit war auch ihm der entsetzlichste! Er schrieb es der Luft, dem geheimnißvollen „Od“, jenem geistigen Fluidum zu, von dem er flüchtig gelesen hatte, daß es in der Welt unsichtbar ströme, und sensitiven Menschen zu allerhand Spuk verhelfe. Mochte es strömen, wo es wollte, in die Salons drang es nicht! Günther hatte ihm ein einziges Mal geschrieben, bald, nachdem das Fräulein von Nidau in Berga eingezogen war; er hatte ihm mit warmer Schilderung deren Vorzüge gemalt, und dem Grafen dadurch die Ueberzeugung gegeben, daß „Alles schon so gut als abgemacht sei.“ Ueber den Freund war er also vollkommen beruhigt, und daß er ihm seitdem nicht wieder geschrieben hatte, ließ sich aus der „Laune des Verliebten“ ganz natürlich erklären. Von Frau von Aßberg hatte er auch einen Gruß erhalten: es hatte ihn dabei doch ein wenig durchzuckt, aber es mochte wohl nur der heißmachende Gedanke sein, wie leicht er seine wahnsinnige Anwandlung gegen sie hätte verrathen können! Das war glücklicher Weise nicht geschehen, und er konnte mit voller Befriedigung das Parket der glänzenden Räume sichern Schrittes durchwandeln, als der Carneval sie der Gesellschaft zu rauschenden Festlichkeiten öffnete.

Nach einem solchen Feste war er am andern Morgen ziemlich spät erwacht, als ihm gemeldet wurde, daß Herr von Aßberg aus Berga da gewesen sei und, ohne seine Wohnung anzugeben, sich wieder entfernt habe, um Abends zu der Stunde, welche ihm als die sicherste bezeichnet worden, wieder zu kommen. Mit dem Namen schien es, als ob ein Vorwurf in Hallstein’s Seele erwacht sei. Nicht, daß er etwas gegen Günther gefehlt, er hatte ihm ungesäumt geantwortet, auf sein keimendes Glück angespielt und sich, wenn die Blüthe erschlossen, neue Nachrichten ausgebeten. Es mußte etwas Anderes sein, das den Grafen beunruhigte: er ergründete es aber nicht näher, sondern begab sich in das Palais seines Ministeriums, um die gewöhnlichen leichten Geschäfte abzumachen. Auch hier konnte er der Mahnung aber nicht entgehen. Unter den Pässen, die ihm vorgelegt wurden, vom Ministerium des Innern zur Contrasignatur dem des Aeußeren zugegangen, befand sich einer für Herrn Günther von Aßberg, Rittergutsbesitzer u. s. w. nach Salzburg. Jetzt im Winter? Was konnte der Anlaß sein? Ein plötzlicher Gedanke traf die Wahrheit! Aber dann konnte das Glück, das ihm hoffnungsreich gelächelt hatte, nicht in Erfüllung gegangen sein – armer Günther!

Hallstein fertigte den Paß aus, und mußte nun in Ungeduld noch lange Stunden warten, ehe er den Freund sprechen und von ihm Aufschluß erhalten konnte. Er dinirte heute im Hotel länger, als gewöhnlich, um die Zeit zu verbringen, machte dann noch einen Besuch, und kam viel früher nach Hause, als sein Kammerdiener Herrn von Aßberg bestimmt hatte. Umsonst, er kam schon zu spät! Aßberg war im Laufe des Tages nochmals hier gewesen. Man reichte dem Grafen ein Billet von ihm. Dieser eilte in sein Zimmer und las:

„Es ist mir unmöglich, theurer Gebhard, Dich noch zu sprechen – ich darf den Bahnzug nicht versäumen, da ich meiner Mutter versprochen habe, sie nicht warten zu lassen. Nimm daher nur in Umrissen, was ich Dir von Salzburg aus, wenn mein Schicksal sich entschieden hat, ausführlich schildern will. Das Glück, das Du mir prophezeiht hast, geht in Erfüllung – ein Engel, wenn auch in anderm Sinne, als ich Dir einst mit Dante’s Gebilden sagte, wird das Maal von meiner Stirne nehmen, aber ich wäre meines Glückes nicht würdig, wollt’ ich nicht auch vor dem irdischen Gesetz meine Sühne nachsuchen. Ich habe durch Bitten mein Versprechen von der Mutter zurück erhalten, habe alle Schritte gethan, welche mir nöthig schienen, und wozu mir der gute Hassel als gediegener Rechtsverständiger seinen Rath ertheilt hat. Dann aber, mein Gebhard, wenn Alles gebüßt ist, dann werde ich unaussprechlich glücklich werden! Diese Ueberzeugung soll auch Dir mein nächster Brief geben, in welchem ich Dir Alles, Alles sagen will.
Dein G. A.“

„Bravo!“ sagte der Graf, indem er das Billet sinken ließ. „So kommt ja Alles hübsch sittlich und gerecht in’s Geleise! Gratulire bestens!“ Als er das aber sagte, überkam ihn doch plötzlich ein Gefühl, vor welchem das ironische Lächeln auf seiner Lippe erstarb; er bedeckte seine Augen mit der Hand, und saß lange tief in sich gekehrt, bis ihn der Schlag seiner Pendüle weckte und aus dem Zauberkreise rief, der ihn, wie er sich unwillig gelobte, heut zum letzten Male verstrickt haben sollte. „Soll ich ein drittes Opfer dieser geheimnißvollen Frau werden? Nimmermehr!“




Ⅶ.

Aber für den Freund konnte etwas geschehen. Graf Hallstein erwachte zu seiner vollen diplomatischen Thatkraft. Er wußte Günther auf dem Wege nach Salzburg, wo er sich endlich dem Untersuchungsrichter stellen wollte, freilich mit dem indirecten demüthigenden Geständniß, daß er sehr lange Zeit gebraucht habe, zu diesem männlichen Entschlusse zu kommen. Ein äußerer Anlaß dazu, nachdem er zwei Jahre geschwiegen hatte und die Sache dort wohl schon halb vergessen war, lag nicht vor; man konnte es wohl nur auf die Macht des Gewissens schreiben, welche nicht mehr zu beschwichtigen gewesen. Die Familie Walrode’s hatte keine Schritte gethan, eine energische Verfolgung seines unbekannten Gegners zu veranlassen: Hallstein wußte das, er war mit den Verhältnissen derselben ziemlich genau vertraut, wie er auch Günther schon darüber beruhigt, daß Walrode’s Braut nicht sonderlich lange um ihn getrauert hatte. Dort war Alles locker und lose: Achtung hatte er der Familie, trotz ihrer gesellschaftlich nahen Verbindung mit der seinigen, nie zollen können. Der Majoratsbesitz war mit Walrode’s Tod auf einen Vetter übergegangen, der kein Interesse hatte, den Urheber dieses glücklichen Ereignisses anzufeinden. Von dieser Seite war also kein Einspruch zu befürchten, wenn Hallstein alle Triebfedern, die er in Bewegung setzen konnte, für seinen Freund wirken ließ. Er kannte die Gesetze im Kaiserstaate nicht, aber er wußte, daß der Zweikampf nicht straflos bleiben konnte und daß für den ohne Zeugen gewiß noch eine verschärfte Strafe eintrat, aber er wußte auch, daß zu den Hoheitsrechten des obersten Gerichtsherrn das Begnadigungsrecht gehört und, wenn auch kein vollständiger Erlaß, doch eine Milderung der nach dem Gesetz zu verhängenden Strafe durch eine Vorstellung in geeigneter Form vielleicht zu erbitten sei. Er verlor keinen Augenblick. Seine Beziehungen zu der kaiserlichen Gesandtschaft erlaubten ihm, dort anzuknüpfen: in vertraulicher Form wußte er den ganzen Zusammenhang der unglücklichen Verwickelung so günstig für Aßberg vorzutragen, daß er den Gesandten lebhaft für ihn interessirte. Besonders der Grund, warum Secundanten ausgeschlossen worden waren, fand die volle Anerkennung, wenn sie sich auch nicht in officielle Form kleiden konnte – und als der Graf in Bezug auf den bedenklichen Punkt, die Hinweglassung eines Arztes, geltend machte, daß, wenn einmal eine so schwere Beleidigung eingetreten sei, man ganz mit dem Leben abschließen, jede Nothbrücke hinter sich abbrechen müsse, um den Zweikampf wirklich als ein ernstes Gericht, nicht als eine bloße Sache der Convenienz anzusehen, schüttelte der Gesandte zwar den Kopf, war aber in seinem ritterlichen Sinne doch auch für diese Auffassung nicht ganz unzugänglich. Er bat den Grafen, ihm den Anlaß und Hergang der vertraulichen Mittheilung schriftlich so einzukleiden, daß er an geeigneter Stelle davon Gebrauch machen könne, und versicherte ihn sonst seiner strengsten Discretion.

Hallstein kehrte, mit sich selbst zufrieden, nach Hause zurück, und hielt es nun für seine Pflicht, der Mutter, welche gewiß um ihren Sohn in banger Besorgniß schwebte, die Hoffnungen mitzutheilen, zu denen er sich berechtigt glaubte. Er setzte sich auch gleich an seinen Schreibtisch, um sich allen bedenklichen Erwägungen zu entziehen, und schrieb, wie er gewohnt war, in raschem Federzuge, ohne sich viel zu besinnen. Die wichtigsten politischen Arbeiten hatte er so zu Papier gebracht, und sie waren immer sehr gelungen. Aber heut stockte alsbald sein Fluß der Worte: er hielt inne und las das Geschriebene, was er sonst nie zu thun pflegte, bis er zu [301] Ende war. Unwillig schob er das Blatt zurück und nahm einen neuen Bogen. Was er geschrieben hatte, erschien ihm zu elend. Und so verdarb er noch den zweiten Bogen, ehe er einen leidlichen Brief, in der Temperatur, die er sich vorgesetzt hatte, zu Stande brachte.

„Werde ich denn ganz zu Schanden?“ rief er. Er mußte wieder an sein verhängnisvolles „Wohl mir!“ denken, das ihn immer vor Beschämung heiß machte; er fragte sich bei jedesmaliger Erinnerung, was er denn eigentlich verstanden habe, um Frau von Aßberg so zu antworten. Das hatte er rein vergessen. Sollte es ja ein unbewußtes Heraufklingen der Ahnung gewesen sein, die ihn glücklich pries, diese noch jetzt so gefährliche Frau nicht in der vollen Zaubermacht ihres Liebreizes kennen gelernt zu haben? „Warum aber?“ fragte er sich heut plötzlich. „Wäre es denn so ganz undenkbar oder etwa ein Unglück für mich gewesen, in ihren Augen –“ Hier sprang er auf, seine Gedanken gewaltsam unterbrechend, couvertirte, siegelte rasch den Brief und klingelte dem Diener, der ihn zur Beförderung abgeben sollte.

„Es ist ganz unglaublich!“ sprach er für sich mit schneidender Selbstironie. „Willst Du Dich denn mit Gewalt der allgemeinen Lächerlichkeit preis geben – Günther’s Stiefpapa!“ Er lachte laut auf und ließ wieder vorfahren, um eine unterbrochene Reihe von Besuchen in den höchsten Regionen der Aristokratie fortzusetzen.

Nach einigen Tagen erhielt er von Frau von Aßberg Antwort; er kannte die Schriftzüge der Adresse nicht, aber der Poststempel belehrte ihn und weckte zugleich das ganze Bild des kleinen Städtchens mit seinem Steindamme, der „Börse“ unter den geköpften Pappeln, ihrer achtbaren Honoratiorengesellschaft in vorsündfluthlichen Röcken mit den langen Pfeifen – dann aber auch das Bild der blühenden Rosen an den kleinen Häusern und der wunderschönen Mädchengesichter unter den bunten, einfach geschlungenen Kopftüchern. Diese Welt im Wassertropfen, wie er sie einst genannt hatte, war gewiß ganz glücklich. –

Er hatte das feine Blatt auseinander geschlagen – die Zeilen des Briefes lagen so klar und zierlich gereiht, die Buchstaben wie Perlen: es war sie selbst, die Schreiberin! Sie dankte ihm in herzlichen Worten und sprach die Hoffnung aus, daß er sich persönlich überzeugen werde, wie Günther glücklich sei. Es war nicht ausgedrückt, dessen Heimkehr abzuwarten – ob sie das absichtlich vermieden? Aus feinem Gefühl oder –? Jedenfalls hatte sie nicht zu fürchten, daß Gebhard früher kommen werde, er hatte ja überhaupt beschlossen, Berga niemals wieder zu sehen. Ueber Helene Nidau sprach sie sich innig und liebevoll aus, jedes Wort bekundete ihres Herzens Zufriedenheit mit dieser Verbindung. Hallstein las die betreffenden Stellen sehr aufmerksam.

„Ich habe es ja gleich gesagt, noch ehe ich sie mit Augen gesehen hatte,“ sprach er, indem er den Brief wieder zusammenfaltete und sorglich verschloß. „Die passendste Lebensgefährtin für einen Erbherrn auf Berga! Ein Fichtenbaum steht einsam auf Hohensalzburgs Höh’ – kann auch Kuffstein sein! Er träumt von einer Palme –“ doch unwillig über sich selbst unterbrach er seine Parodie, zu der er sich gezwungen hatte, um die Bewegung in seinem Innern mit kaltem Wassersturze zu dämpfen. „Ich bin freilich eines solchen Glückes nicht würdig!“ sagte er, und seine Lippen zuckten.

Nicht so bald, als es ihm verheißen war, erhielt er über den Erfolg seiner Bemühungen für Günther einige Kunde. Der Gang der eingeleiteten Untersuchung, die Feststellung des Thatbestandes schien abgewartet zu werden, wie ihn der Gesandte vertröstete. Dagegen schrieb Günther, seinem Versprechen gemäß, sehr ausführlich. Er schilderte ihm, wie Helene in Berga aufgenommen worden sei, welchen Eindruck sie anfangs auf ihn gemacht, wie sie allmählich Vertrauen gefaßt und seiner Mutter eine zärtliche Liebe geweiht habe, und faßte dann kürzer, wie zwischen Helenen und ihm ein inniges Verhältniß entstanden und zu einem Bunde der Herzen gediehen sei. Da habe er gefühlt, daß er nicht mit dem Bewußtsein einer heimlichen Schuld seines Glückes sich freuen könne, und wie er ihm schon geschrieben, habe die Mutter ihm volle Freiheit des Handelns in dieser Beziehung gegeben, worauf er den braven Hassel in das Vertrauen gezogen und von ihm den besten Rath erhalten habe. Er erwarte nun in Geduld den weitern Gang und Abschluß der Verhandlungen und könne die Humanität, mit welcher die Behörden ihm bei so ungewöhnlichem Falle entgegen gekommen seien, nicht genug rühmen. Thatsachen darüber und einzelne Mittheilungen über sein dortiges Leben füllten den Rest des Briefes.

Der Graf antwortete ihm bald, hütete sich aber, ihm zu entdecken, was er für ihn in Bewegung gesetzt habe, da er von dem allzu gewissenhaften Freunde Vorwürfe über diese Beugung des Rechts, wie er es genannt haben würde, fürchtete. Es verging nun längere Zeit, ehe ihm die erste Freude wurde, daß seine Bemühungen mit Erfolg gekrönt waren. Der Gesandte war allen Fragen, welche sich Hallstein bei Gelegenheit erlaubte, gewandt ausgewichen, bis er eine gewisse Antwort geben konnte. Der Spruch des Gerichts war endlich gefällt und lautete, dem Gesetz entsprechend, auf eine mehrjährige Festungshaft, doch stand, in Betracht des eingegebenen Berichts, eine nahe Begnadigung in Aussicht.

Als Hallstein diese Gewißheit hatte, konnte er sich nicht enthalten, sie gleich der Mutter mitzutheilen, ja er hatte einen Moment im Sinne, die Nachricht selbst nach Berga zu bringen, da er sich nun von der Thorheit, die ihn wie ein hitziges Fieber befallen hatte, vollständig geheilt glaubte. Aber er besann sich eines Bessern und schrieb lieber, wodurch er sich eine neue Versuchung ersparte. Wie glücklich er die Mutter und Braut durch seine Freudenbotschaft machte, bewies die Antwort der Frau von Aßberg, sie sprach ihm den innigsten Dank aus, und wußte doch nicht einmal, daß er dies unverhoffte Glück ihr bereitet hatte. Er wollte es nur durch seine Verbindungen, die seine Stellung ihm verschafft, erfahren haben.

Auch Günther schrieb ihm bald und hatte nun, da das Urtheil Rechtskraft erhalten, seine Haft angetreten, welche aber schon jetzt bedeutend abgekürzt worden war. Eine vollständige Begnadigung erfolgte erst später, und da der Gesandte zu dieser Zeit gerade einen mehrmonatlichen Urlaub angetreten hatte, so erfuhr Hallstein nichts davon, bis er, eines Abends von einem Spazierritte heimgekehrt, durch Günther’s Anblick überrascht wurde, der die Nachricht von der ihm widerfahrenen Gnade selbst brachte. Er schien ein Anderer geworden, seit Gebhard ihn nicht gesehen hatte; die Strenge, welche sich in seinem Antlitz, wenn es unbewacht war, kund gab, hatte dem alten lebensfrohen Ausdrucke, wie der Freund ihn vor seinem Unglücke gekannt, wieder Platz gemacht und Hallstein freute sich dessen von ganzem Herzen.

„Gestehe mir, Gebhard – Du hast die Hand dabei im Spiele gehabt bei diesem Act kaiserlicher Gnade!“

„Willst Du demselben seinen selbstständigen Werth nehmen?“ entgegnete Hallstein. „Wann reisest Du? Ich sehe Dir die Eile an.“

„Um neun Uhr – aber nicht ohne Dich! Du mußt mich begleiten, wenn Du mich nicht wahrhaft betrüben willst!“

Gebhard war von dieser Aufforderung so überrascht, daß er anfangs nur einen schwachen Grund der Ablehnung fand, und wiewohl er dann entschiedener der Bitte des Freundes auszuweichen suchte, wurde er endlich gezwungen, nachzugeben. Sein eigener Stolz, der sich vor dem innern Vorwurf, er fürchte sich wohl, eine Probe der gewonnenen Seelenruhe zu bestehen, empörte, kam Günther bei seinen Bitten mächtig zu Hülfe. So traf er denn in Eile seine Anordnungen, und Beide reisten mit einander ab.

Es war am frühen Morgen, erst des nächsten Tages, als sie nach längerer Fahrt, mit Postpferden von der Eisenbahnstation an, wo sie sich im vergangenen Sommer getrennt hatten, Berga erreichten. Günther hatte der Mutter wohl seine Befreiung mitgetheilt, aber den Tag seiner Ankunft nicht geschrieben, der Graf liebte Ueberraschungen nicht, und bestand darauf, vor dem Dorfe abzusteigen und dem vorauseilenden Freunde langsam zu folgen. Dieser konnte ihn davon nicht zurückhalten, und zeigte ihm nur noch einen Fußpfad, welcher ihn nach dem Garten des Herrenhofes führen sollte, dann überließ er ihn sich selbst.

Gebhard wanderte mit gemäßigten Schritten zwischen den mit Dornhecken eingefaßten Gärten des Dorfes dahin, und hielt noch eine kalte, strenge Selbstschau. Er hatte alle Ursache, mit sich zufrieden zu sein. In unerbittlicher Consequenz verfolgte er alle unklaren Momente seiner letzten Anwesenheit, und fand es nun selbst unbegreiflich, wie er, auf den die frischeste Knospe, welche zum ersten Male „ausging“, d. h. die Hofgesellschaften besuchte, und dort allgemeine Ekstase erregte, keinen Eindruck, als den eines flüchtigen Wohlgefallens am Schönen machte, wie er von einer Frau, gewiß tief in den Vierzigen, habe geblendet werden können – gefesselt, Gott sei Dank nicht. Das Zeugniß wenigstens konnte er sich geben, daß der Gedanke, sich einer wenigstens zwölf Jahre ältern Frau, der Mutter seines besten, vielmehr einzigen Freundes, die überdem eine wahre Neigung zu seinem Bruder gefühlt, und ihn dennoch aufgegeben hatte, in so lächerlicher Schwäche zu nahen oder gar zu [302] offenbaren, nie in ihm aufgetaucht war. Er hatte dies Fieber nun überstanden und konnte ihr dreist begegnen.

In dieser Zuversicht hatte er den herrschaftlichen Garten erreicht, den er durch eine unverschlossene Pforte betrat. Als er diese öffnete, hörte er einen leichten Schrei der Ueberraschung und konnte nun gleich die Feuerprobe, der er sich gewachsen fühlte, bestehen. Frau von Aßberg stand vor ihm – sie war erblaßt, als sie ihn erblickt hatte, und ihr schönes Gesicht nahm den Ausdruck bangen Zagens an.

„Mein theurer Freund,“ sagte sie mit zitternder Stimme – „Sie bringen eine schlimme Nachricht –“

War es die Gewalt des Moments, die in seinen Zügen einen Widerspruch mit der eben gerühmten Fassung malte, oder der Blick seines Auges, wodurch sie zu dieser Befürchtung gekommen war? Er eilte, sie zu zerstreuen und bemerkte jetzt erst, daß noch ein anderes Augenpaar in ängstlicher Besorgniß auf ihm ruhte: es war Helene Nidau, er erkannte sie auf den ersten Blick.

Seine Freudenbotschaft verscheuchte schnell die Wolken, und er wurde nun auch von dem jungen Mädchen, das so oft und liebreich von ihm gehört und keine Formen kannte, welche der natürlichen Regung ihres reinen Gefühls widersprochen hätten, mit einer Herzlichkeit begrüßt, die ihm wohl that. Sie war zwar lebhaft erröthet, als sie ihm die Hand reichte, aber sie mußte dem Freunde ihres Günther doch zutrauensvoll in das Gesicht blicken. Und dieser war, noch ehe Günther ihnen vom Hause her entgegen kam, der vollen Gewißheit, daß dessen Glück gesichert war.

Jeder Tag, den er hier zubrachte – und es wurden deren acht mehr, als er sich anfangs vorgenommen hatte – bestärkte ihn noch mehr in dieser Ueberzeugung. Mit sich selbst wollte es ihm weniger gelingen, vollständig auf das Reine zu kommen. Nur Eins gereichte ihm zur großen Genugthuung: daß er sich, was auch in schwachen Momenten in ihm vorgegangen sein mochte, daß er sich nie verrathen hatte. Frau von Aßberg benahm sich auch gegen ihn wahrhaft mütterlich, und die Rührung, mit welcher sie ihm, als er endlich Abschied nahm, die Hand reichte, hatte nur diesen Ausdruck. Diesmal versprach er aber, wieder zu kommen und zwar zur Hochzeit des jungen Paares. Es war ein Beweis, daß er sich nun ganz sicher wußte, von ihr niemals auch nur in leiser Ahnung errathen zu sein.

„Wohl mir!“ sagte er im Eichenwalde, das Wort, das den ersten Moment seiner Selbstvergessenheit, ihr gegenüber, bekundet hatte, diesmal im vollen Bewußtsein wiederholend.




Aus den Sprechstunden eines Arztes.
Nr. Ⅱ.

Sprechstunden“ nennt man ganz mit Recht die Zeit, in welcher die Aerzte ihren Rath ertheilen, denn was da, eben so von Seiten des Arztes wie der Patienten, zusammen gesprochen wird, das ist kaum auszusprechen. Mit „ich muß etwas weit ausholen“ beginnt ein Kranker sein Klagelied und zählt nun zuvörderst alle Gebrechen seiner Ahnen auf, ehe er zur Mittheilung seiner eigenen Lebens- und Leidensgeschichte, natürlich nicht ohne Beimischung aller wichtigen Familienereignisse, gebracht werden kann, während er eigentlich doch nur zu sagen brauchte, „ich leide an Verstopfung.“ Die Worte „turnen Sie“ würden von Seiten des Arztes für unsern Obstructionsmann völlig hinreichen, aber dieser verlangt von uns einen ausführlichen Vortrag über Hämorrhoiden und ihre Erblichkeit, über die Schädlichkeit der Morison’schen und Strahl’schen Pillen, über die Vorzüge der Klystirspritze vor den Abführmitteln u. s. f.

Bei manchen Aerzten könnten die Sprechstunden auch „Schreibstunden“ heißen; nicht etwa blos der vielen und langen Recepte wegen, welche jene mit ruhiger Würde und Wohlbehagen verfassen, sondern auch der mannigfachen von Kranken und Gesunden gewünschten Zeugnisse und Krankheitsberichte halber. So wünscht eine kinderlose hysterische Dame, die in’s Bad reisen will und an welcher der Arzt bei der Untersuchung gar keine Abnormität entdecken kann, für ihren dortigen Doctor einen ganz genauen Bericht über alle ihre absonderlichen Empfindungen und Beschwerden. Wir setzen uns an den Schreibtisch und fertigen ein erschöpfendes medicinisches Opus über unsere Nervöse; natürlich liest dies der Herr Bade-College gar nicht oder nur im Fluge – und daran thut er ganz Recht, denn selber untersuchen muß der richtige Arzt; – er verordnet jedoch darauf hin vom Brunnen x einen Becher mehr und vom Brunnen y einen halben Becher weniger zu trinken. – Noch hält ein Geschäftsmann das Gesundheits-Zeugniß, das man ihm zum Bürgerwerden ausstellle, in der einen Hand, da wünscht er auch gleich für die andere noch ein Krankheits-Zeugniß, um von der Communalgarde loszukommen. Will Einer in die Krankencasse treten, da möchte er im Atteste von Gesundheit strotzen, ist er darin aufgenommen, so verlangt er als Halbtodter bescheinigt zu werden. – Sogar Abgezehrte, die selbst recht wohl wissen, daß sie schon mit einem Beine im Grabe stehen, wünschen trotzdem für die Lebensversicherung eine Hausknechtsgesundheit attestirt zu haben. – Kurz, ich glaube, keinem Menschen wird so oft die entehrende Zumuthung gemacht, gewöhnlich für 1 Thlr. 10 Ngr., ein falsches Zeugniß auszustellen, als dem Arzte.

Auch zu „Lesestunden“ werden nicht selten die Sprechstunden des Arztes, und zwar ebenso für den Arzt selbst, wenn sich keine Patienten zum Sprechen in seinen Sprechstunden einfinden, wie für die Kranken, wenn sie sich beim langen Warten im Wartezimmer die Zeit vertreiben müssen. Wir empfehlen zu diesem Zwecke unsere Gartenlaube. – Bisweilen, doch nicht etwa zu oft, bekommt der Arzt von einem Geheilten etwas zu lesen, was nach Danke schmeckt, dagegen, liest er in Schreibebriefen ziemlich häufig, daß dieser oder jener seiner Patienten sich für seine ferneren Besuche bedankt und daß, weil die Genesung zu lange auf sich warten läßt, sich der ergebenst Unterzeichnete an Hinzen oder Kunzen gewendet hat.

Mit „Musikstunden“ sind die Sprechstunden des Arztes nicht etwa deshalb zu vergleichen, weil ihm die schönen Klänge edlen Metalles so oft wie Musik in die Ohren tönen, sondern darum, weil er ebensowohl bei der physikalischen Untersuchung (beim Beklopfen und Behorchen) seiner Patienten Töne und Geräusche im Innern derselben in Harmonie mit den verschiedensten Krankheitserscheinungen bringen, wie auch seine Instrumente gehörig zu handhaben verstehen muß. – Doch lassen wir dieses Selbstgespräch und besorgen lieber unsere wartenden Patienten.


Die bleichen Leidensgefährtinnen.

Vom Treppensteigen noch außer Athem und leise seufzend nahen sich schüchtern zwei nette, etwa 20jährige Mädchen, durch Freundschaft und gleiches Leiden seit Jahren, trotz ihrer ungleichen äußern Verhältnisse, innig verbunden; die eine Tochter wohlhabender Eltern, einziges und Lieblingskind, die andere arm, durch ihrer Hände Arbeit Ernährerin der Mutter und Geschwister. Beide sind schmächtig, wohlgestaltet, aus dem Gesichte wie Milch und Blut strahlen bei ihrem Eintreten interessant-glänzende Augen von bläulicher Perlmutterweiße, der Lippen blasse Röthe erhöht das lebhafte Roth der Wangen, und durch die aristokratisch zarte, weiße Haut schimmern (besonders an den Schläfen, Händen und Armen) violett-röthliche Adern. Es vergeht einige Zeit, ehe sich das ungestüme Klopfen ihrer Herzchen gelegt und das jagende Athmen beruhigt hat. Mit der Ruhe erbleichen jedoch die Wangen, die Augen werden immer matter und die frühere Lebhaftigkeit des Gesichts weicht einer, der des übrigen Körpers gleichen Mattigkeit und Abspannung; die Mädchen gefallen mir jetzt nicht mehr so, wie früher.

Auf den ersten Blick weiß nun der Arzt, nicht wo es fehlt, aber was fehlt, nämlich Blut. Diese Blutarmuth (Bleichsucht[WS 1], Anämie) drückt sich übrigens auch noch deutlicher durch die Blässe an der innern Fläche der Lippen und Augenlider, an dem Zahnfleische und der Zunge aus; die kühle Haut läßt beim sanften Kneipen keinen rothen Fleck entstehen, der Puls ist weich und die violetten Adern unter der etwas wachsig glänzenden, schwach gelblich oder grünlich angehauchten Haut sind durch Streichen leicht zu entleeren. Am Halse ist in den Blutadern mit Hülfe des Hörrohres (Stethoskops) ein summendes oder sausendes Geräusch (das Nonnen- oder Kreiselgeräusch) zu vernehmen.

Warum mögen nun wohl unsere jungen Mädchen zu wenig [303] Blut haben? So fragt sich nicht nur sofort der Arzt in seinem Innern, sondern denkt auch gleichzeitig an alle nur möglichen Ursachen der Blutarmuth. Sicherlich hat jenes in Kattun gekleidete Mädchen zu wenig gute Nahrung und zu viel Arbeit mit Sorge, während die andere, im seidenen Kleide, vielleicht der Liebe Gram gebleicht hat. Doch nicht zu voreilig; stellen wir unser Examen erst an.

„Ihre hauptsächlichsten Beschwerden, meine lieben Fräuleins?“

„Magenkrampf und Blutandrang nach dem Kopfe, neben großer Mattigkeit. Eben jetzt wurde ich von Schwäche und Schwindel befallen und meine Freundin klagt über Flimmern vor den Augen mit Ohrensausen. Ja das Blut macht uns sehr viel zu schaffen, trotzdem daß wir von Zeit zu Zeit schröpfen und schon einige Male zur Ader gelassen haben, auch öfters an Nasenbluten leiden.“

„Bitte, kommen Sie doch einmal hier vor den Spiegel und zeigen Sie mir das Blut, was Ihnen so viele Beschwerden macht. Sie finden keines! und da auch im Innern Ihres Köpfchens nur wenig anzutreffen sein würde, darum lassen Sie sich vorläufig gesagt sein, daß zu wenig Blut im Gehirne fast ganz dieselben Kopf- und Nervenerscheinungen (wie Kopfschmerz, bisweilen blos auf dem Scheitel, Migräne d. i. ein hartnäckiger halbseitiger Kopfschmerz, Schwindel, Neigung zu Ohnmachten, Sinnestäuschungen, Schwarzwerden und Flimmern vor den Augen, sogar Schwäche der Sehkraft, Ohrensausen, eigenthümliche Geschmäcke, Nervenschmerzen, und Krämpfe aller Art) erzeugen kann, wie zu viel Blut darin, und daß Sie, als Blutarme, durch was immer für welche Blutverluste nur noch kränker werden müssen. Ebenso wird es Ihnen aber auch in Folge von Anstrengungen und stärkeren Erregungen (besonders durch kaltes Baden) ergehen, weil hierdurch ebenfalls, nur mittelbar, Blut (durch Verbrauch) verloren geht. Sicherlich bekommt Ihnen das Tanzen schlecht, auch werden Sie bei Ihrem weichen, schlaffen und welken Fleische (Muskeln), nicht lange dabei aushalten können, ja vielleicht sogar heftige (Muskel-)Schmerzen (rheumatische von ihrer Frau Mutter genannt) danach bekommen.

Doch um hübsch Ordnung in unserm Examen halten zu können, bitte ich Sie, mir nun auf meine Fragen zu antworten. Waren Sie vor Beginn Ihres Leidens stärker (dicker) und sahen munterer aus?“

„Allerdings! viel kräftiger, von weit festerem Fleische und von gesünderer Gesichtsfarbe.“

„Wie ist die Veränderung Ihres Körpers eingetreten, schnell oder langsam?“

„Bei meiner arbeitsamen Freundin ganz allmählich, bei mir ziemlich schnell, bald nach dem Magenkrampfe.“

„Was für Beschwerden nennen Sie Magenkrampf?“

„Die heftigen, gewöhnlich zusammenziehenden Schmerzen in der Herzgrube, die vorzüglich einige Stunden nach dem Essen (zumal fester Speisen) und nach dem Trinken kalten Wassers eintreten, bisweilen sogar mit Ausbrechen des Genossenen, ja selbst einige Male mit Blutbrechen verbunden waren.“

„Ist dies bei dem andern Fräulein auch so?“

„Nicht ganz! Die Schmerzen treten öfter bei nüchternem als bei vollem Magen ein, auch ist Brechen selten und noch niemals Blut weggebrochen worden.“

„Im Uebrigen sind Ihre Klagen dieselben?“

„Ja! Nämlich: fortwährende Kopfschmerzen, häufiges und starkes Herzklopfen, Kurzathmigkeit fast bei jeder Bewegung, Verdauungsstörungen, Gemüthsverstimmung, große Mattigkeit und öfteres Frösteln.“

Welche Veränderungen finden sich denn nun aber im Innern unserer Patientinnen? Denn dies zu wissen, ist für einen wirklich wissenschaftlich gebildeten und gewissenhaften Arzt zur Beurtheilung des Leidens ganz unentbehrlich, kann aber nur mit Hülfe der physikalischen Untersuchung (durch Befühlen, Beklopfen, Behorchen u. s. w.) ermöglicht werden. Wäre ich freilich Homöopath, da hätte ich ohne Weiteres schon längst zu meiner Apotheke und zu Pulsatilla, Calcarea oder Ferrum gegriffen, denn ein Homöopath quält sich nicht wie unser Einer mit der wissenschaftlichen Durchschauung einer Krankheit ab. Darum eben kann ja aber auch jede alte Frau, ein verdorbener Student der Medicin, ein Postsecretair (wie z. B. Herr Arthur Lutze in Köthen, s. Gartenl. 1856, Nr. 12.), ein Oekonom und Roßhändler, kurz jeder Laie, der einen homöopathischen Haus- und Familienarzt zu lesen im Stande ist, als homöopathischer Heilkünstler wirthschaften. In unserem Falle könnte freilich manchem Hahnemannianer mehr der Magenkrampf als die Bleichsucht (Blutarmuth) in die Nase stechen und dann würde ihm Qual aus der Wahl von Nux, Bryonia, Chamomilla, Coculus, Phosphor, Bismuth, Carbo, Belladonna, Pulsatilla, China, Arsen, Chelidonium, Baryt oder Ignatia. Doch weg mit solcher Laienblödsinnsmedicin. – Die physikalische Untersuchung ließ bei unsern Fräuleins trotz Kurzathmigkeit und Herzklopfens ebenso die Lungen wie das Herz als ganz gesund erkennen; das ununterbrochene summende Geräusch in den Halsblutadern, sowie das mit dem Pulse zusammenfallende Blasen im Herzen und in den großen Pulsadern rührten nur von der Blutarmuth her. Auffallend war die Schmerzhaftigkeit beim Druck in die Magengrube, die aber am meisten die Patientin empfand, welche früher einige Male Blut gebrochen hatte.

Hiernach sind die Krankheitserschenungen bei unsern beiden Patientinnen, obschon ihre Beschwerden fast ganz dieselben zu sein scheinen, doch in Etwas verschieden. Denn während bei der Einen der sogen. Magenkrampf vor dem ziemlich schnell erfolgten Magerer- und Bleichwerden zum Vorschein kam, vorzugsweise nach dem Essen und Kalttrinken eintritt, mit Brechen (auch von Blut) verbunden ist und durch Druck erregt oder gesteigert wird, fand sich bei der Andern der Magenschmerz erst nach der allmählich sich steigernden Bleichsucht ein, zeigt sich häufiger bei nüchternem Magen, ruft seltener Brechen oder Brechneigung hervor und ist gegen Druck unempfindlicher. – Die Lebensweise Beider ist eine durchweg verschiedene. Die Arme muß in die Nacht hinein sitzen und arbeiten, ihre Nahrung besteht hauptsächlich aus Kartoffeln, Brod und Kaffee, und von verzehrenden Sorgen wird sie nie ganz frei; die Sorgenfreie schläft dagegen lange und gut, und könnte auch, wenn es der Magenkrampf erlaubte, viel und gut essen. – Unter solchen Umständen läßt sich mit ziemlicher Sicherheit behaupten: das arme Fräulein ist in Folge ihrer Armuth, die andere durch ein die Verdauung störendes Magenleiden krank und blutarm geworden und erstere könnte sehr leicht durch passende, besonders thierische Nahrung (Milch, Eier, Fleisch), gehörigen Schlaf und frische freie Luft zur vollen Gesundheit gelangen (s. Gartenl. 1853, Nr. 49.), während bei der letzteren zunächst das Magenleiden (das sogen. runde Magengeschwür als die häufigste Ursache des Magenkrampfes) durch eine richtige Magendiät (s. Gartenl. 1853, Nr. 42 und 1855, Nr. 31), also bei warmer, flüssiger und reizloser, aber trotzdem nahrhafter Kost (besonders gute Fleischbrühe und weiches Ei), geheilt wird (das Geschwür vernarbt). In beiden Fällen ist Arznei (selbst das Eisen) ganz unnütz, ein richtiges diätetisches Verhalten dagegen ganz unentbehrlich zur Heilung.

Denke sich der Leser nun einmal in die Stelle des Arztes; ist es für diesen nicht traurig, wenn er jenem guten, armen, arbeitsamen Mädchen gerade Das zu ihrer Wiederherstellung als durchaus nöthig und unersetzlich anrathen muß, was sich zu verschaffen diese nicht im Stande ist! nämlich: weniger Sorge, Schlaf und gute Kost. Deutlich zeigt sich ihm die trübe Zukunft der Patientin; sie fällt endlich als Opfer ihrer Verhältnisse. – Hätte ich Vermögen, ich machte eine Milch-Stiftung für arme Blutarme oder Bleichsüchtige, denn Milch über Alles! nieder mit der Kartoffel!
Bock.




Besuch einer Unterwelt über uns.

Die große Hauptinsel England sieht mit erhabenem Felsentrotz auf die Nordsee und die flachen Gestade Hollands, Belgiens und Frankreichs herab. Besonders trotzig und seit Jahrhunderten und Jahrtausenden den Schiffern und Fischern gefährlich und tödtlich zieht sich der Gebirgs- und Felsenrand Englands mit perpendiculär aufsteigenden Wunder-Blöcken und Schluchten von Flamborough Head bis Bempton an der Küste Yorkshire’s. Diese Festungen gegen das Meer mit ihren unzähligen Riffen, Zacken, Zinnen, Kanten und Kegeln, cyclopischen Mauern und neptunisch-vulcanischen, krystallisirten Ausbrüchen sind keines Menschen Freund, aber doch [304] dichter bewohnt, als irgend ein Theil des stark bevölkerten Landes, nämlich von Hunderttausenden, Millionen und Myriaden Seegeflügels. Wasserhühner, Tord-Alks oder Corsartaucher mit rasirmesserartigen Schnäbeln, schwarze Rhynchoper, Puffins oder Meer-Papageien, Tauchenten, Meven der verschiedensten Art und Größe, besonders isländische und unzählige andere Arten flügelstarker, traurig befiederter, wie Wolfsschlucht schreiender, kreischender und unmelodisch eintönig klagender Felsenbewohner und Seeräuber schießen und schweben an den Felsengebilden auf und ab und in die hochschlagenden, weißschäumend donnernden Wogen, stets sicher und mit Fang beladen auftauchend, während die Bewohner zerschmetterter Schiffe ohnmächtig umhergetrieben und unter dem gräßlichen Hohngeschrei der befittigten Schwärmer von tausend sich öffnenden Rachen des unersättlichen Meeres erbarmungslos hinuntergeschlungen werden. Jeder Ritz, jedes Klüftchen, jeder, auch der kleinste und schmalste Absatz an diesen Felsenmauern ist bewohnt und colonisirt. Ueberall stecken Eier und brüten deren Mütter und piepen deren Junge, während die lustigen Straßen zwischen dem Meere und diesen unerschütterlichen Ansiedelungen stets von An- und Abschießenden schwärmen und lärmen.

Ich hielt mich eine Zeitlang in deren Nachbarschaft auf, so weit Menschen oder vielmehr die Amphibien derselben, Fischer und Küstenschiffer, sich nähern konnten, und sah zu meinem Staunen, daß nicht blos unzählige Menschen mit keinem Fuß breit festen Landes ausschließlich aus dem Meere fortwährend reichlich ernten, ohne zu säen, sondern auch Hunderte kühner, handfester Kerle ausschließlich von diesem Meeresgeflügel leben, von deren Eiern. Diese sind nicht blos als Curiositäten, sondern auch als Nahrung sehr gesucht, und da sie stets in Massen vorhanden sind, vorausgesetzt, daß man so weit kommt, um zugreifen zu können, haben sich unzählige Leute in Yorkshire ganz geschäftsmäßig als Einsammler eingerichtet.

Die Schilderungen der Leute regten mein höchstes Interesse auf, so daß ich beschloß, sie einmal zu begleiten und wo möglich die Wohnungen und Wochenstuben der Scheermesserschnäbel und Meven-Papageien selbst aufzusuchen. Dies gelang mir freilich nur bis zu einem oberflächlichen Grade, da ich in meinem Versuche, zu meiner Schande und zum Gelächter der Eierkletterer, bald ohnmächtig und halb bewußtlos hinaufgewunden ward. Man wird nämlich an Tauen von den Kanten und Spitzen oben an den senkrechten Felsenmauern hinuntergelassen, die in ungeheurer Tiefe und Breite grimmige Gesichter schneiden, während das Meer aus unendlicher Ausdehnung fortwährend heraufschäumt und mit weißem Gischt der Wuth heraufzuangeln scheint, um den kühnen Menschen zu fangen und zu verschlingen.

Wir waren ihrer Vier, die drei üblichen Eierkletterer von Profession, die stets in Association zu je dreien arbeiten, und ich der Laie. Alle Drei trugen schwere Lasten von Tauen und Rollen und Bastkörbe. Als wir uns an einen Rand oben hinaufgewunden hatten, wickelten sie ihre eigenthümlichen Taucherapparate auf und arrangirten sie für den Dienst. Eine Eisenbarre ward ganz am Rande oben in ein schon früher gemeißeltes Loch getrieben und das Ende des dicksten Taues daran befestigt, das andere Ende gleitete hinunter. Der eine von den Dreien stieg nun in eine Art von hanfenen Hosenträgern mit den Beinen und schnallte deren Ring um seine Taille fest. In diesem Ringe oder Gurt sind zwei Löcher, in welche kleinere Taue befestigt wurden. Die beiden Andern hielten letztere in der Hand, während der Dritte an dem starken Taue hinunterkletterte und aus den Händen der Zurückbleibenden mit den Tauen unterstützt ward. Das große Seil ist seine Hauptstraße oder vielmehr das Mittel, seinen Bewegungen Sicherheit zu geben, während die andern ihn balanciren und im Hinaufklettern unterstützen. So gleitete er hinunter. Mit eigenthümlichem Gefühl von Schwindel und Grauen bog ich mich vorsichtig über, um den Mann so lange als möglich hinunter tauchen zu sehen. Manchmal ward er ganz unsichtbar; er kroch in Felsenspalten hinein. Dann gab er sich wieder an hervorragenden Kanten abprallende Stöße mit den Füßen, so daß er absprang, um bald rechts, bald links wieder zu verschwinden. Einige Male sah ich ihn die offen auf Kanten liegenden grauen, scheckigen Eier wegnehmen und massenweise in den Bastkorb hinter sich werfen. Nach etwa einer Stunde zuckte er an dem dünnen Seile und ward heraufgewunden. Der Korb strotzte von mehr als hundert der seltsamsten Eier. „Das ist ’n glücklicher Platz,“ sagte der Eine, als er eine große Menge Eier von Tord-Alken und Wasserhühnern darunter bemerkte. Ich erfuhr, daß diese die beliebtesten seien, nicht wegen ihres feineren, aromatischeren Inhalts,, sondern blos der Schale wegen. Die Schalen sind nämlich so hart, daß sie am Leichtesten und Bequemsten, also am Wohlfeilsten transportirt werden können. Die Eier anderer Meeresvögel sind zum Theil viel feiner und wohlschmeckender, aber weder bei den Sammlern noch den Händlern so beliebt, als die wegen ihrer außerordentlich harten Schalen am Sichersten versendbaren Eier der Wasserhühner und Tord-Alken. Das Wasserhuhn legt sein einziges Ei, zudem unbedeckt und ohne Nest, auf den nackten, kahlen Felsen, so daß es leicht zu sehen und wegzunehmen ist. Die Meer-Papageien oder Puffins, wie sie der Engländer nennt, und die Tord-Alken verstecken die ihrigen zwischen Ritzen und Klüfte, so daß sie oft schwer aufzufinden und nicht leicht zugänglich sind. Die isländische Meve, Kittiwake von den Engländern genannt, legt ihre zwei gefleckten Eier in ein Nest von trocknem Gras und Schilf. Die Kletterer und Sammler verkaufen ihre Ernten in je zwanzig Stück (das ist ihr Mandel) an Händler und Wiederverkäufer gewöhnlich für 6 Pence, 5 Sgr., letztere für einen Penny das Stück, also mit mehr als 300 Procent Profit. Und doch leben die Kletterer davon und lieben, wie es mir schien, ihre lebensgefährliche, mühsame Arbeit mit „Hangen und Bangen in schwebender Pein“.

Ermuthigt von dem lachend Emporgezogenen und seiner seltsamen, kunterbunten, reichen Ernte, beschloß ich, auch eine kleine Luftfahrt hinunter zu machen, um die Meven und Rasirmesserschnäbel u. s. w. in ihrer Häuslichkeit kennen zu lernen. Ich zog also muthig die hanfenen Hosenträger und Hosen an, ließ die beiden Seile in den Händen der Beiden, die ihren Collegen so glücklich hinuntergelassen und heraufgezogen hatten, faßte das dicke Seil, das an einer andern, weniger gefährlichen Stelle (es war etwa 60 bis 70 Fuß tief ein ziemlich breiter Absatz) angebracht war, und fing an, muthig zu schweben und die Füße gegen die Felsenmauer zu stemmen. Freilich summte und schwirrte es unheimlich um meine Ohren, und die beschwingten, privilegirten Eigenthümer dieser unwirthlichen Klippen und Klüfte krächzten und klagten dämonisch weit und breit umher. Die Scene und Descension hatte für mich etwas unsäglich Erhabenes und Schauerliches. Dies nahm zu, je tiefer ich mich von meinen Haltern und Lenkern entfernte, so daß es immer dünner und leiser klang, was sie mir von Oben zuriefen. Das Meer, das, von Oben gesehen, sich ganz ruhig bläulichgrün in unergründliche Ferne spiegelte, tobte und klatschte und spritzte gleichwohl wüthend unter mir. Tausende, ja viele Tausende von grauem, schwarzem und traurig geflecktem Meeresgeflügel umkreischten mich und schossen mit jedem Schritte, den ich abwärts kletterte, hell aufkreischend gleichsam aus allen Poren der Klippen hervor, die meisten in schnurgeraden Linien, wie aus einer Kanone geschossen. Nur die Meven klagten in herzzerreißendem Jammergeschrei in der Nähe umher in einer Art von cirkelförmigem oder vielmehr schraubenartigem Gewinde. Die Wasserhühner schossen geradlinig hinab in’s Meer und tauchten dort unter. In einer mäßigen Tiefe fand ich plötzlich einige kleine Felsenbänke so dicht mit Eiern besäet, daß ich hinaufzuckte und schrie, man möge mich aufhalten. (Sie haben eine ganze Telegraphenzeichensprache durch Art und Zahl von rechten und linken Zuckungen an den Windeseilen. Ein einziger Ruck heißt wohlweislich, da man in diesem Falle nicht viel Zeit und Ueberlegung hat, „äußerste Gefahr, zieht mich hinauf!“)

Es waren Mevennester in ganzen Dörfern und Städten dicht bei einander, einige mit Jungen, die meisten aber voller Eier. Ich ging, so weit die Seile und Bandagen es erlaubten, einige Schritte auf der Felsenbank hin und her, und sah auf der einen Seite einen ganz schmalen Streifen von Abhang, kaum 5–6 Zoll breit. Auf diesem lagen die Eier der Wasserhühner ganz kahl und unbedeckt, so daß ein Windstoß sie in den Abgrund kollern mochte. Seltsame Häuslichkeit und Wochenstube! Während Baum- und Feldvögel ihre Nester nicht sorgsam, weich und warm genug bekommen können, sucht das Wasserhühnerpaar sich nicht einen einzigen Strohhalm zur Bettung ihrer Nachkommenschaft. Und doch kommt sie und gedeiht und fliegt gleich fort aus dem Eie. Glückliche Proletarier! Die Eier lagen auch alle einzeln. Für jedes war ein besonderes Paar. Das Wasserhuhn begnügt sich stets damit, ein einziges Ei zu legen. Nur wenn es ihm weggenommen wird, bequemt es sich, ein anderes zu bringen. Wenigstens erzählten mir so die „Climbers“, wie sich die kletternden, schwebenden Eiersucher nennen.

Ich war erstaunt über die bunte Schönheit und Verschiedenheit [305] dieser Eier. Keins hatte dieselbe Farbe, keins war gleich wie ein Ei dem andern. Die meisten spielten in Grün mit schwarzen Flecken oder Streifen, noch andere wechselten mit Grün und Braun. Begierig, mir einige dieser prächtigen Curiositäten anzueignen, schrie ich hinauf, man möge mich rechts nach der Stelle hinziehen. Ehe sie sich dazu verstanden, schrien sie warnend herunter, ich müsse mich in Acht nehmen und nicht aufwärts blicken, damit nachbröckelnde Felsenstücke mir auf die dick wattirte, blos bei diesen Gelegenheiten getragene Mütze, und nicht in’s Gesicht fielen. Einem seien auf diese Weise schon einmal mehrere Vorderzähne eingeschlagen worden, ein Anderer sei von einem solchen Schlage betäubt worden, in der Besinnungslosigkeit umgekippt, und so aus seiner hanfenen Trage in das Meer hinabgestürzt. Das durchrieselte mich schauerlich, so daß ich, vor den schmalen Abhang hingeschwungen, in gerader Linie hinunter in das aufschäumende Meer blickend, nur eben noch Zeit hatte, einen einzigen Ruck zu thun. Wie ich hinauf kam, weiß ich nicht. Ich besinne mich nur noch, daß ich zitternd vor die Füße meiner drei Climbers hinfiel und sie jämmerlich ansah, wie sie mich auslachten und zugleich gutmüthig bemitleideten.

Doch bald hatte ich wieder Nerven genug, um noch dem schwarzen Seeraben einen Besuch abzustatten. Es fanden sich Nester desselben in einer von oben auf gewöhnlichem Wege zugänglichen Kluft, sehr sorgfältig und solid von Reisig, Halmen und Wolle gebaut mit Eiern darin, die wie unregelmäßige Kalkstücke aussahen. Unter der rauhen Kalkkruste, die ich mit dem Federmesser abschabte, enthüllte sich erst das schöne, maigrüne Ei. Die Rabenmütter, die uns drohend umschwebten, sind glänzend schwarz mit glänzend grünen Streifen am Gefieder. Doch konnte ich keinen in der Nähe sehen. Ich bewunderte nur ihr fabelhaftes Tauchertalent unten. Sie schossen in’s Meer hinein und blieben oft mehrere Minuten lang verborgen, nicht eher, als mit einem gefangenen Fisch wieder hervorschießend, und scheinbar trocken aufschwebend. In der Kluft ihrer Nester roch es, wie in einer Guano-Niederlage, was ich nicht lange aushielt, so daß ich oben wieder brausende, scharfe Felsenluft von Holland, vom alten lieben Deutschland her genoß, während die drei Climbers ihr Geschäft fortsetzten, bis sie nach ihrer Berechnung Jeder „drei Schillinge gemacht“ hatten. Mein Profit war der größte: die Erinnerung daran ist mir ein seltsamer, fabelhafter, kostbarer Schatz, den die größten Capitalien und Banquiers nicht aufbringen können.




Louvre und Tuilerien.

Heute beschloß ich, in Gesellschaft einiger Freunde dem alten Louvre und den Tuilerien einen Besuch abzustatten, und zugleich die neuen Bauten des Kaisers in Augenschein zu nehmen.

Mirabeau   Maria Antoinette
  nach einer Handzeichnung von David.   nach einer Handzeichnung von de Ville, Hofmaler Ludwig XVI.

Nichts ist bequemer, als die Geschichte Frankreichs an seinen Monumenten zu studiren; jede Regierung hat sich bemüht, ihre Spuren wenigstens in Erz und Marmor zurückzulassen, und Napoleon der Dritte beeilt sich, es seinen Vorgängern wo möglich noch zuvor zu thun. Man baut mit rasender Schnelligkeit in Paris, weil man nie weiß, was der morgige Tag bringen kann. Der Kaiser hat ein wahres Riesenwerk, die Vereinigung des Louvre mit den Tuilerien, geschaffen. Weder die dazwischen liegenden Straßen noch Häuser hielten ihn auf, ebenso wenig ließ er sich von den ungeheuren Kosten und Hindernissen zurücksckrecken; er hat sie beseitigt, wie er die Presse, die Wahlfreiheit und die Republik beseitigt hat. Schon Heinrich der Vierte, der beste aller Könige, hatte denselben Plan; durch Ravaillac’s Mörderhand wurde die Ausführung vereitelt. Keiner seiner Nachfolger nahm denselben auf, bis der jetzige Napoleon diese Vereinigung durch sein Machtgebot zu Stande brachte. Jetzt reichen sich die Riesenpaläste die Arme; ihre Arcaden und Gallerien schmiegen sich aneinander und verschmelzen ihre Marmorglieder. Der Place du Carousel, auf dem wir standen, bietet mit dem Arc de Triomphe und den ungeheueren Façaden der beiden Königshäuser einen Anblick, der sich kaum in Worten wiedergeben läßt. Die großartigsten architektonischen Verhältnisse, eine Fülle von Säulen, Pavillons, Arcaden und Gruppen, welche das Auge kaum zu überwältigen vermag und das Alles beleuchtet vom hellsten Sonnenschein!

Wer vermag sich diesem Zauber zu entziehen? Besonders aber zieht der alte Louvre uns durch seine historische Bedeutsamkeit an. Hier in diesen prächtigen Sälen, welche Franz [306] der Erste im üppigen Renaissancestyl erbauen ließ, wohnte die berüchtigte Katharina von Medici. Am 19. August 1572 wurde im Louvre die Hochzeit Heinrich des Vierten von Navarra mit Margaretha von Valois gefeiert, wozu die Häupter der Hugenotten eingeladen waren. Fünf Tage später gab die Glocke das Zeichen zu der furchtbaren Bartholomäusnacht. Stumm und schweigend lag der Louvre in mächtigen Schatten, aber in seinem Innern herrschte ein unheimliches Leben. Katharina begab sich anscheinend zur Ruhe, um ihre Pläne besser zu verheimlichen; sie hatte sich zu ihrem Sohn, König Karl dem Neunten, geschlichen, um ihm den Befehl zum Mord der Protestanten zu entreißen. Leise trat sie in das königliche Gemach in Begleitung ihres Lieblingssohnes, des Herzogs von Anjou, und der vier Räthe, welche mit im Complote waren. Sie schmeichelte und drohete, sie drängte und überredete, bis der schwache König endlich seiner Mutter nachgab. Alsbald erschallte das verabredete Zeichen, Alles war bereits vorbereitet, die Mörder lauerten in den Höfen des Louvre und stürzten sich auf ihre nichts ahnenden Opfer; zunächst nach dem Hause des ehrwürdigen Admiral Coligny, der unter ihren Streichen fiel. Der Prinz von Condé und der eben vermählte König, Heinrich von Navarra, eilten erschreckt zum Könige und flehten um ihr Leben. Der junge Tiger war bereits berauscht von Blut und ließ ihnen die Wahl zwischen der Messe und dem Tod. Aus einem Fenster des Louvre schoß er selbst auf seine protestantischen Unterthanen und das Bett seiner Schwester Margaretha von Valois wurde von dem Blute ihrer eigenen Glaubensgenossen bespritzt, die man unter ihren Augen mordete.

Napoleon Bonaparte
in Ajaccio, 16 Jahre alt, von einem       in Paris, nach einer Kreidezeichnung       in Longwood 1821, nach einer Skizze
Jugendfreunde gezeichnet.   von Gérard.   in Rothstift von Antomarchi.

Hier in die Gemächer des Louvre wurde der blutige Leichnam Heinrich des Vierten, nachdem er von Ravaillac’s Mörderhand gefallen war, hergebracht und feierlich ausgestellt. Unter Ludwig dem Dreizehnten wurde beim Eintritt in den Louvre der Marschall d’Ancre von dem Baron de Vitry ermordet. Die Königin hörte den Pistolenschuß, welcher ihren Günstling tödtete; sie schickte ihre Kammerfrau, um nähere Erkundigungen einzuziehen. Als diese mit der Trauerbotschaft zurückkehrte, rief Katharina unter Thränen: Ich habe sieben Jahre regiert, von nun an hoffe ich nur noch auf die himmlische Krone. Eine andere Königin, Henriette von England, die Tochter Heinrich des Vierten, die Gattin des hingerichteten Karl Stuart, lernte im Louvre das traurige Loos der Verbannung kennen. Der geizige Kardinal Mazarin, der damalige allmächtige Minister von Frankreich, versagte der Tochter Frankreichs die nöthigen Mittel zu ihrer Existenz. Als der Kardinal von Retz sie besuchte, fand er sie und ihr Kind im Bette, weil sie aus Mangel an Holz in der strengen Winterkälte kein Feuer anzünden konnte.

Unter Ludwig dem Vierzehnten sah der alte Louvre das bisher gefürchtete Parlament vor dem jungen Könige zittern, der mit der Reitpeitsche in der Hand unter die ehrwürdige Versammlung trat und schon damals den Grundgedanken seines Lebens „l’etat c’est moi“ bethätigte; eine Maxime, welche Frankreich unendlich viel kostete und die Revolution heraufbeschwor. Noch einmal verwandelte sich der Louvre in einen Schauspielsaal. Molière hatte mit seiner Truppe die Ehre, vor dem Könige und dem ganzen Hof die Tragödie „Nikomedes“ aufzuführen. Der König vertauschte hierauf den bisherigen Palast mit dem neu aufblühenden Versailles; der Louvre wurde verlassen und nur noch zur Unterbringung von Archiven und für die Akademie, die königliche Druckerei u. s. w. benutzt. Zur Zeit der ersten Republik verlegte die Convention das Nationalmuseum in die leer stehende Räume. Diesem Zwecke dient zum Theil noch gegenwärtig das alte Haus der Könige von Frankreich, welches jetzt die Könige der Kunst, die Fürsten der Maler, einen Raphael, Giulio Romano, Leonardo da Vinci u. s. w. in ihren Werken beherbergt. Die Museen des Louvre sind weltberühmt und enthalten wirklich Schätze von unverkennbarem Werth, obgleich nach meiner Ansicht auch hier der Ruf bedeutend übertrieben hat und manche deutsche Gallerie, besonders die Dresdner, den Vergleich noch immer aushalten können. Freilich [307] zu den Zeiten des ersten Napoleon, wo die werthvollsten Bilder aller Länder sich gezwungen hier zusammen fanden, mag der Anblick ein außerordentlicher gewesen sein und aus jenen Tagen noch der andauernde Ruhm der Gallerie des Louvre stammen. Seitdem sind aber viele Bilder in die Hände der rechtmäßigen Besitzer zurückgekehrt und das Museum, welches früher die Beute von ganz Europa enthielt, auf ein anständiges Maß beschränkt worden. Noch immer enthält der Louvre Meisterwerke der Kunst und besonders in seinen verschiedenen Sälen die interessantesten historischen Reliquien, zu denen wir vor Allen die Erinnerungen an den ersten Napoleon rechnen, das weltgeschichtliche Hütchen, welches den größten Kopf seines Jahrhunderts bedeckte, den Degen, welcher in unzähligen Schlachten den Sieg erkämpfte. Mit einem natürlichen Schauer der Ehrfurcht betrachteten wir diese sorgsam bewahrten und ausgestellten Gegenstände. Darunter befand sich auch ein prachtvoller türkischer Säbel und eine orientalische Pferdedecke, über und über mit Gold, Perlen und Edelsteinen in einer Verschwendung bedeckt, die unseren ganzen europäischen Luxus dagegen nur ärmlich erscheinen läßt. Das Ganze erinnerte an die fabelhaften Schätze der Tausend und eine Nacht, an den Orient mit seinen Wundern und an den Zug des Consuls nach Egypten, wo er den tausendjährigen Pyramiden gegenüberstand und mit arabischen Priestern unter Palmen über die Weisheit des Korans sich unterhielt.

Der neue Louvre und die Tuilerien aus der Vogelperspective.

Wo man hier hinblickt, tritt einem sein Bild entgegen, als General der Republik mit scharfen Zügen, abgemagert von geistiger Anstrengung und vom Ehrgeiz verzehrt, mit glühendem Adlerblick und feinen, verschlossenen Lippen, das Geheimniß der Zukunft tief vor aller Welt verbergend. Als Kaiser, von dem berühmten Gérard gemalt, dem Einzigen, der, wie Napoleon selber sagte, ihn zu malen verstand, zeigt sein Portrait eine festere Haltung; die antiken Formen sind plastisch mehr abgerundet und eine classische Ruhe spricht aus dem festen Imperatorengesicht.

Am meisten dürfte aber den Beschauer das Bild des sechszehnjährigen Knaben Napoleon, von einem Jugendfreunde mit Kreide gezeichnet, beschäftigen; es trägt die einfache rührende Inschrift: „Mio caro amico Buonaparte, Ajaccio 1785. Die jugendlichen Züge haben bereits den Stempel des Genius, aber über das Ganze ist ein wunderbarer Hauch von weicher Schwärmerei gegossen, der im Feuer der Kanonen und im Weltgewühl sich in harten Menschen verachtenden Stahl verwandelt hat. Den Schluß dieser Reihe bildet Napoleon auf Longwood, mit Rothstift gezeichnet und mit der Unterschrift: Antomarchi 1821. St. Helena. Dieses Portrait wurde vom Arzte des Kaisers skizzirt, während derselbe sein Testament niederschrieb, nur wenige Monate vor seinem Tode. Welch ein Unterschied zwischen dem Sechszehnjährigen voll Hoffnung und dem gefangenen Kaiser am Ende seiner Laufbahn, verrathen von seinen Freunden, eingekerkert auf einer wüsten Insel, wie Prometheus an einen Felsen geschmiedet und von dem Geier der Erinnerung zernagt.

Noch zwei historische Gemälde zogen uns im höchsten Grade an; Mirabeau, von David gezeichnet, und die unglückliche Königin Maria Antoinette von de Ville, Hofmaler Ludwig des Sechzehnten. Die ganze französische Revolution trat uns aus [308] den beiden Bildern verkörpert entgegen, die schöne, lebenslustige Königin, Tochter Maria Theresia’s, auf den ersten Thron der Welt berufen, mußte ihr blondes Lockenhaupt unter dem Beil des Henkers beugen; sie wurde vor ein Tribunal geschleppt, die Frauen der Halle saßen auf den Gallerien und genossen mit Triumph das seltene Schauspiel, eine Königin angeklagt und gerichtet zu sehen. Sie haßten in Maria Antoinette das lebendige Herrscherthum, die Aristokratin, die Oesterreicherin. Ganz in ihrer Nähe hängt derselbe Mirabeau, welcher mit seinen Donnerworten die Pforten der Revolution aufgesprengt und das absolute Königsthum durch die Kraft der bloßen Rede niedergeschmettert hat. Maria Antoinette haßte anfänglich diesen Mann, später suchte sie ihn zu versöhnen und, wie behauptet wird, durch Geld und Schmeicheleien zu bestechen. Es war zu spät; selbst ein Mirabeau vermochte nicht mehr die durch ihn hervorgerufene Revolution in ihrem Laufe aufzuhalten, selbst wenn er es gewollt hätte, denn die Ereignisse sind mächtiger, als der Mensch. Mirabeau’s Gesicht zeigt eine wahre geniale Häßlichkeit; er selbst schrieb an eine Dame, welche wissen wollte, wie er aussehe: „Madame, stellen Sie sich einen Tiger vor, der von den Blattern zerfressen ist.“ Sämmtliche geschilderte Portraits sind von größter Bedeutung für die neuere Geschichte und werden wie Heiligthümer bewahrt.

Noch unter dem mächtigen Eindruck dieser großen historischen Erinnerungen verließen wir den Louvre, um auch den Tuilerien einen kurzen Besuch abzustatten. Der Anblick war entzückend. Welch eine Masse von herrlichen Gebilden! Wenn man sich an die Seite des Triumphbogens stellt, und die ganze Flucht der beiden neuen Flügel übersieht, bis dort, wo sie sich im Hintergrunde dem alten Louvre anschließen, so wird es schwer, sich von dem überwältigenden Totaleindrucke loszureißen und dem Einzelnen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Der kleinste Theil dessen, was wir nur flüchtig erfassen, würde genügen, um bei genauerem Eingehen Stunden und selbst Tage auszufüllen. Nichts wiederholt sich hier und doch steht jedes Einzelne mit dem Ganzen in genauestem Einklang; jeder Marmorbogen zeigt neue Formen, jeder der sechs zu drei und drei sich gegenüberstehenden Pavillons vereinigt eine Fülle der zierlichsten Arbeiten des Architekten und Bildhauers. Es ist eine Unmöglichkeit, die unzähligen historischen und symbolischen Bezüge zu verfolgen. Vor Allem aber fesseln uns durch ihre imposante Größe und Stellung die zwei Pavillons Turgot und Mollier, welche als Eckpfeiler der beiden Flügel zuerst in’s Auge fallen. Was Säulenschmuck, Reliefgebilde und Sculpturen Reizendes zu bieten vermögen, das ist hier auf einem Punkte verschwendet. Das Schönste sind unstreitig die Arcaden, welche die Flügel rings umgeben und die Zwischenräume der Pavillons zur vollkommensten Befriedigung ausfüllen. Säulengetragene Marmorbogen mit reichbelaubten Capitälern, weiterhin die herrlichsten Rosetten mit sinnigen und zarten Reliefs abwechselnd, endlich der vorragende Schmuck des Frieses winden um die ganze Mitte des Baues einen üppigen, marmornen Blumenkranz, aus welchem der Palast erst prachtvoll in die Höhe steigt. Ueber den Arcaden stehen in langer Reihe die ernsten Gestalten der größten Männer und Genien Frankreichs im Costüme ihrer Zeit. Endlich schauen vom Dachfriese symbolische Figuren und niedliche Amorettengruppen; dazwischen erscheint der dunkelblaue Schiefer, und coquette Schlote und Rauchfänge erheben sich keck in die Luft, wie schlanke Federbüsche auf stählernen Helmen.

Während wir noch in Bewunderung versunken dastanden, rollte aus dem Thore eine Reihe von Hofwagen an uns vorüber. Goldbordirte Garden trabten vorauf, in scharlachrothen Reiterjacken und weißen Kappen. Ein höherer Offizier ritt rechts neben der zweiten prächtigen Carosse; die Gardinen waren zurückgeschlagen und drinnen saßen zwei Frauen, eine Hofdame, neben ihr eine kräftige Amme im burgundischen Landescostüme, auf ihrem Schooße ruhte ein lächelndes Kind in himmelblauen Sammet gekleidet; l’enfant de France, der Sohn des Kaisers. Die Pariser Straßenjugend schrie aus voller Kehle: vive le prince! wie sie einst à bas Napoléon, à bas les Bourbons und vive la république gerufen.

Wir sahen den glänzenden Zug vorübersausen, und nahmen von dem Louvre und den Tuilerien Abschied, welche bereits so viele wechselnde Geschicke der Könige gesehen. Im Stillen drängte sich uns die Frage auf: Wo wird einst dieses Kind sein Haupt niederlegen?

Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Ein zahmer Schmetterling. An einem kalten, düstern Novembermorgen, dem Monate des Selbstmords in England, wenn der Himmel wie ein aschiger, feuchter Sack über trägem, dichtem Nebel hängt, ging eine zarte Dame zum ersten Male wieder aus ihrem Krankenzimmer in einen anstoßenden Raum, wo sie vom Fenster draußen mit der Empfindung eines Genesenden, sich nach Außen Sehnenden einen heitern, bunten Schmetterling bemerkte. Erstaunt, die zarte Creatur der Blumen und des Sonnenscheins in einer so traurigen Situation zu finden, beobachtete sie dessen Bewegungen und Operationen. Manchmal brach die Sonne etwas durch und glänzte und wärmte einige Minuten an den Scheiben. Jede dieser kostbaren Minuten benutzte die aus Sonnenschein und Blumenduft gewobene, zarte, verspätete Creatur, um sich noch seiner letzten Augenblicke zu freuen. Er flatterte lustig auf und gab so dem Zimmer inwendig und der schwachen Dame einen warmen Anflug von Heiterkeit und Hoffnung. Gegen Abend freilich war’s aus. Nasse, trübe Kälte wehte gegen das Fenster und das zarte Gebild schien still darin zu ersterben. Die Dame bemitleidete ihn, nahm ein warmes Glas, stellte es über ihn und nahm ihn dann im Glase herein in’s warme Zimmer, wo er über dem Kamin übernachtete. Am Morgen lag er anscheinend todt auf dem Boden des Glases. Die reconvalescente Dame, bekümmert, daß die erste flatternde Fahne des Lebens draußen, welche sie gestern begrüßte, das heitere Symbol der Unsterblichkeit und der Auferstehung, so bald gestorben sein sollte, machte verschiedene Versuche, sein zartes Leben wieder zu erwecken. Sie setzte ihn auf ihre warme Hand und beathmete ihn. Diese warmen Lebenshauche waren bald von Erfolg. Er regte sich und wurde in einem verdeckten Glase am offenen Feuer bald wieder ganz lebendig und lustig. Als die Sonne gegen die Scheiben glänzte, ward er herausgelassen, und das bunte, elegante, kleine Wesen freute sich in seinem warmen Lichte jedes Strahles. Als die Sonne verschwand, fiel das Thierchen wieder traurig zusammen auf den Boden. Wieder in’s Leben gehaucht und warm übernachtet flatterte er den folgenden Tag wieder lustig im Sonnenschein, bis er wieder anscheinend todt niederfiel. So wechselten Tod und Leben mehrere Tage hinter einander, bis das dankbare, kleine Wesen ganz zahm ward und seine Wohlthäterin zu kennen schien. Wenn sie am Fenster ihre Finger hinhielt, flog oder kroch er selbst darauf. Wenn sie las oder schrieb, blieb er oft Stundenlang an ihrem Halse oder auf ihrer Hand sitzen. Er speiste und trank von ihrer Hand, einen Tropfen Honig und einen Tropfen Wasser am Finger – alle zwei oder drei Tage. So lebte der Schmetterling den ganzen Winter und einen Theil des Frühlings hindurch als dankbare, graziöse Gespielin der Dame, bis im April seine bunten Schwingen die Farbe verloren und durchsichtig wurden. Die Sonne des Frühlings lockte ihn nicht mehr aus dem Glase. Er saß ruhig dann, bis er eines Morgens ganz todt war.




Das erste Dampfschiff. Nach der gewöhnlichen Annahme wurde das erste Dampfschiff 1809 in Schottland gebaut und wirklich damit gefahren, aber von der englischen Presse und dem gebildeten Publicum niedergespottet, so daß es verfaulte. Als es schon beinahe verfault war, kam ein Amerikaner herüber, studirte es und ließ in New-York ein anderes bauen, auf welchem er 1811 unter allgemeinem Hohne zum ersten Male fuhr, aber mit Erfolg. Dies ist Alles richtig, aber das waren nicht die ersten Dampfschiffe. Einmal hörte ich, über ein Jahrhundert früher sei schon bei Nürnberg ein deutscher Professor mit einem Dampfschiffe gefahren, aber ermordet worden. (Wer weiß etwas Bestimmtes darüber?) Noch weiter zurück geht das Fahren mit Dampf in Spanien. Nach Documenten der spanischen Geschichte von Señor Ravarrete („Geschichte der vier Reisen des Columbus“), die sich auf Originale in Simanca beziehen, steht es fest, daß im Mai und Juni 1543 von Blasco de Garay, Marine-Capitain Kaiser Karl’s V., in Barcellona Versuche gemacht wurden, „mit zwei Rädern, die von kochendem Wasser gedreht wurden,“ Schiffe zu treiben, und am 17. Juni desselben Jahres Blasco de Garay mit einem Dampfschiffe von 200 Tonnen Last in See gegangen sei und eine Legua in der Stunde zurückgelegt hatte. Der berühmte Arago sprach darüber 1828 in seinem „Annuaire du Bureau des Longitudes“ und meinte nur, daß es darauf ankäme, die Echtheit der von Navarrete benutzten Documete zu prüfen. Seitdem ist aber nichts in der Sache geschehen, so daß wir über eine noch neue, in die gebildeten Zeiten der Schriftsprache und Zeitungen fallende, welthistorische Erfindung noch nichts Positives wissen. Wie jetzt die Sachen stehen, ist das erste Dampfschiff in Spanien, in Deutschland, in Schottland und in Amerika gebaut worden, so daß die Erfindung in alle möglichen Länder und in den Zeitraum dreier Jahrhunderte fällt. Wir wissen nur, daß sie überall, wo sie zum ersten Male auftrat, vom gebildeten Volke und den „Sachverständigen“ verhöhnt und niedergespottet ward, so daß die gebildeten Völker und Sachverständigen die Rolle alter, fabelhafter Tyrannen übernahmen, welche Erfindern die Augen ausstachen oder sie einmauern oder morden ließen, damit die Erfindung nicht bekannt und auch Andern nützlich werde. Völker und „Sachverständige“ müssen auch jetzt noch auf ihrer Hut sein, daß sie in stolzem Unverstande des Bestehenden nicht zu Henkern gegen den „Fortschritt“ werden.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beichsucht