Die Gartenlaube (1857)/Heft 40

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Onkel und Neffe.
Novelle von A. S.
I.

„Joseph, hast Du den Brief zur Post besorgen lassen, den ich gestern Abend geschrieben habe?“

„Ja, Herr Consul; er ist diesen Morgen neun Uhr abgegangen.“

„Um neun Uhr – wie spät ist es jetzt?“

„Elf Uhr, Herr Consul. Wann wollen Sie frühstücken?“

„Glücklicher Mensch, der Du an Essen und Trinken denken kannst! Ach, ich fühle mich heute wieder so krank, daß ich an andere Dinge denken muß. Wenn mir morgen nicht besser ist, werde ich mein Testament machen.“

„O, Herr Consul!“

„Da hilft kein Ach und O, mein lieber Joseph; wenn die Natur ihre Rechte fordert, kann sich Niemand weigern, zu zahlen. Geh, und hole mir eine Tasse heißen Kaffee.“

„Sehr wohl, Herr Consul!“

Joseph, ein langer hagerer Mensch mit einer großen Glatze und in dunkelblauer Livree, verließ das Zimmer wie ein Automat, der einem Mechanismus gehorcht. Der Consul. der noch im Bette lag, richtete sich empor, schob das Kopfkissen hinter den Rücken, um bequem sitzen zu können, und wartete. Trotzdem er, wie er so eben gesagt, sich krank fühlte, so schien er sich doch der besten Gesundheit zu erfreuen; er hatte ein volles, rothes Gesicht, das Joseph Abends zuvor glatt rasirt hatte, und ein starkes, schwarzes Haar, das unter der weißseidenen Nachtmütze wie ein Kranz hervorsah. Seine breite Brust und die starken Arme bekleidete eine Jacke von fleischfarbener Seide. Das Schlafzimmer des Consuls war mit Eleganz und Luxus ausgestattet, und das Bett mit den schweren Vorhängen, die durch eine starke Schnur zurückgehalten wurden, war ein Meisterstück. Dicht neben dem Bette stand ein Tisch mit Cigarren und Feuerzeug. Die Rouleaux an den Fenstern waren herabgelassen; von der Decke herab hing eine Ampel, in der unter blauem Glase die Nachtlampe noch brannte. Während draußen die heitere Herbstsonne Glanz und Licht verbreitete, herrschte in dem Zimmer eine matte Dämmerung.

Joseph kam mit dem Kaffee zurück.

„Herr Consul.“ sagte er.

„Was gibt’s?“

„Der junge Herr, der gestern schon einmal hier war, fragt schon wieder nach Ihnen.“

„Man weise ihn ab.“

„Ich habe ihm gesagt, daß Sie krank wären; er besteht darauf, mit Ihnen zu sprechen.“

„Hat er seinen Namen genannt?“ fragte der Kranke, ruhig den Kaffee trinkend.

„Alexander von Windheim.“

„Ein Edelmann!“

„Ja, Herr Consul!“ antwortete bestätigend der treue Diener.

„Joseph, einen Edelmann dürfen wir wohl nicht abweisen?“ fragte der Kranke, indem er die leere Tasse zurückgab.

„Wollen Sie aufstehen, Herr Consul?“

„Nein, ich werde den Besuch im Bette empfangen. Wenn der Edelmann sieht, daß ich krank bin, hält er sich nicht lange auf. Laß ihn eintreten.“

Zwei Minuten später führte der lange Joseph einen jungen Mann ein, dessen ganze Erscheinung den Edelmann verrieth. Er trug ein elegantes Reitcostüm und in der Hand eine Elfenbeinpeitsche. In seinem bleichen Gesicht prägte sich ein Ernst aus, der zu seinem Alter – er schien fünf bis sechsundzwanzig Jahre zu zählen – nicht paßte. Seine Toilette war elegant und nach dem neuesten Geschmacke; es war nicht zu verkennen, daß er große Sorgfalt darauf verwendete. Der Schnurrbart war zierlich gedreht, und das braune Haupthaar bildete ein gelungenes Toupet.

Der Consul saß aufgerichtet im Bette; sein volles Gesicht drückte Niedergeschlagenheit und Leiden aus.

„Verzeihung,“ murmelte er, „daß ich Sie in dieser Situation empfange; aber die traurige Verfassung meines Körpers macht es mir zur Pflicht, mich vor den Einflüssen der kalten Witterung zu wahren. Herr Alexander von Windheim ist mir willkommen. Ich bitte, nehmen Sie Platz und theilen Sie mir kurz und bündig den Grund Ihres Besuches mit.“

Joseph setzte einen Sessel neben das Bett und entfernte sich. Alexander von Windheim nahm Platz.

„Herr Consul,“ begann er, „zehn Minuten von hier, dort am Eingange des Waldes, liegt ein Gehöft –“

„Es ist das Forsthaus, das zu meiner Besitzung gehört.“

„Ein Forsthaus ohne Förster, unbewohnt, öde, dem Verfalle nahe!“ rief Alexander.

„Was geht Sie das an?“ murmelte der Consul, einen forschenden Blick auf den Besuch werfend.

„Das Forsthaus gefällt mir.“

„Mir nicht!“

„Ah, das trifft sich vortrefflich!“

„Warum?“

„Ich komme, Sie zu fragen, ob Sie das Haus, das Ihnen nicht gefällt, verkaufen wollen?“

[542] „Und wer ist der Käufer?“

„Sie sehen ihn vor sich!“ antwortete der Edelmann, sich verneigend.

Der Consul murmelte einige unverständliche Worte vor sich hin. Dann schob er seine Schlafmütze ein wenig zurück, daß das kurze schwarze Haar sich empor sträubte, und sagte:

„Zu welchem Zwecke wollen Sie das Forsthaus kaufen?“

„Um allein zu wohnen, mein Herr! Um Sommer und Winter, so lange ich lebe, darin zu wohnen. Das verfallene Gebäude mit den knarrenden Fensterladen, der verwilderte Garten, der traurige Tannenwald, der es umgibt, die Entfernung von dem Verkehre der großen Welt – Alles reizt mich, mein Leben in dieser Gegend zu beschließen. Fordern Sie einen Preis, Herr Consul, ich zahle ihn – auf der Stelle!“

Der Kranke sah den seltsamen Käufer verwundert an. Er schien Mißtrauen in die redlichen Absichten desselben zu setzen, auch wohl zu glauben, daß man ein Spiel mit ihm triebe. Aber das bleiche Gesicht des Herrn von Windheim war so ernst, sein großes dunkles Auge so treuherzig, daß jeder Argwohn schwinden mußte.

„Lieber Herr,“ murmelte der Consul, „die Sache erfordert Ueberlegung.“

„Wozu überlegen, wenn ich jeden Preis zahle? Bei Abschlüssen von Käufen handelt es sich in der Hauptsache um den Preis – fordern Sie, fordern Sie! Was ist Ihnen das Grundstück werth?“

Der Consul dachte einen Augenblick nach. Plötzlich fragte er: „Haben Sie sich das Forsthaus angesehen?“

„Nur von außen; aber das genügt.“

„Ist Ihnen dabei Nichts aufgefallen?“

„Nichts weiter, mein Herr, als daß es leer steht, daß sich kein Bewohner dazu findet.“

„Hören Sie mich an, Herr von Windheim,“ sagte ernst der Consul. „Als ich vor zehn Jahren das Landhaus kaufte, in dem wir uns befinden, wollte ich mir einen hübschen Sommersitz erwerben, und ließ es prachtvoll einrichten.“

„Aber wir sprechen ja von dem Forsthause?“

„Warten Sie nur, ich komme gleich dahin. Damals dachte ich nicht daran, daß ich je in den Fall kommen könnte, mich von der Welt zurückzuziehen. Ich kaufte also dieses Landhaus und den zwei Quadratmeilen haltenden Forst sammt zwei großen Teichen, um der Gesellschaft, die ich empfangen wollte, auch die Freuden der Land- und Wasserjagd bieten zu können. Der Graf von Zehrfeld, der vorige Besitzer, war gestorben, und seine Erben veräußerten die Besitzungen, um sich zu theilen. In dem fraglichen Hause nun wohnte der alte Förster Sibold, der eigentlich Trunkenbold heißen sollte, denn er war von Morgens früh bis Abends spät seiner Sinne nicht mächtig. Und dabei hatte er nicht weniger als sieben Söhne, rohe, ungeschlachte Burschen, die sammt und sonders bei dem Vater lebten. Ich überließ dem alten Sibold die Verwaltung meines Forstes, bis ich vor zwei Jahren hier meinen Wohnsitz für immer wählte, um mit der Welt, die ich aus tiefster Seele hasse, nicht mehr in Berührung zu kommen. Meine Gesundheit war schwach, mein Kopf angegriffen, so daß ich eine Gehirnerweichung fürchtete. Ich wollte Ruhe, Grabesstille um mich her haben, und floh in diese Einsamkeit. Aber wie hatte ich mich getäuscht! Die Försterfamilie machte einen Höllenlärm. Der Arzt hatte mir Bewegung in freier Luft anbefohlen, viel Bewegung, mein lieber Herr; ging ich nun aus, so begegnete mir einer dieser wüsten Gesellen – ich ärgerte mich; blieb ich zu Hause, so hörte ich das Knallen ihrer Flinten, vor denen kein Hase und kein Vogel sicher war. Selbst Nachts trieben sie ihr Unwesen, wie das wilde Heer – kurz, mein Herr, ich konnte diese Wirthschaft nicht länger ertragen und ließ dem Förster durch das Gericht ankündigen, daß er mein Haus räumen möge. Darob gerieth der Alte dermaßen in Wuth, daß er sich im Garten hinter dem Hause erschoß. Jedem der Söhne gab ich zweihundert Thaler – sie sind nach Amerika ausgewandert. Sie sehen, wieviel Anstrengungen es gekostet hat, das Forsthaus in den Stand der Ruhe zu bringen, in dem es sich jetzt befindet.“

„Diese Ruhe ist es ja eben, die mir das Haus so werth macht!“ rief der Edelmann. „Das Leben in der Gesellschaft ekelt mich an; ich will allein, ganz allein sein, wie Sie! Es soll selbst nicht einmal ein Mensch wissen, daß ich in dem alten Hause wohne.“

„Sind Sie verheirathet?“ fragte der Consul mit einem vielsagenden Seitenblicke.

„Verheirathet? Gott soll mich davor bewahren!“ rief Alexander von Windheim erregt. „Nach den Erfahrungen, die ich mit den Frauen gemacht, bleibe ich Junggeselle, so lange mir die Augen offen stehen. Ich will keinen Mann, aber noch viel weniger eine Frau sehen, und wäre sie schön wie Venus und keusch wie die heilige Jungfrau. Ich verheirathet! Herr Consul, in Ihrer Frage liegt eine gräßliche Ironie! Müßte ich zwischen einer Heirath und dem Giftbecher wählen, ich würde heute noch zur Leiche werden.“

„Brav, brav!“ rief der Consul, indem er sich höher emporrichtete. „Das höre ich gern. Wie es scheint, treibt Sie die Liebe, sich in Einsamkeit zu vergraben?“

„Nein, der Haß, mein Herr!“ rief Alexander mit großer Bitterkeit. „Ich hasse und verachte mich selbst, weil ich so dumm gewesen bin, einem Weibe zu trauen.“

„Ja, ja, die Weiber!“ rief seufzend der Consul.

„Hat sich dieses fürchterliche Geschlecht auch an Ihnen versündigt?“

Der Consul bewegte schmerzlich den Kopf, als ob er sagen wollte: ich weiß ein trauriges Lied davon zu singen.

„Mein lieber Herr,“ murmelte er dann, „ich bin Philosoph geworden; ich hasse zwar die Frauen nicht, denn sie sind in der Welt eben so nöthig, wie wir Männer – aber ich bemitleide diese schwachen Geschöpfe. Lassen wir das!“ unterbrach er sich plötzlich.

„Schwache Geschöpfe, sagen Sie? Dann muß mir das besondere Unglück geworden sein, mit lauter bösartigen zu thun gehabt zu haben.“

„Der Ausdruck ist zu stark, Herr von Windheim!“ rief der Consul.

Herr von Windheim schien in Feuer zu gerathen.

„Zu stark!“ rief er. „Urtheilen Sie selbst! Ich kann mir wohl schmeicheln, eine Figur in der Welt zu spielen, denn mein Aeußeres ist gerade nicht unangenehm und mein Vermögen beträchtlich genug, um ein glänzendes Haus zu machen. Ich bin der einzige Sohn meines Vaters, des Generals von Windheim. Sie sehen in mir den Letzten dieser erlauchten Familie. Nachdem ich von allen Frauen verrathen war, denen ich mich genähert, hatte ich endlich das Glück eine zu finden, die ich liebte und die mich wieder liebte – wenigstens schien es so. Aber das Unglück wollte, daß sie einen Vater hatte.“

„O Himmel, sie hatte einen Vater!“ rief der Kranke. „Armer Herr von Windheim, ich bedauere Sie!“

„Bedauern? Das ist zu wenig – bejammern Sie mich, Herr Consul! Dieser Vater hatte meine Geliebte einem Andern versprochen.“

„Wie gewöhnlich! Das ist eine alte Geschichte!“ rief der Consul, der nun auch lebhaft wurde.

„Das ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu!“

„Und wem sie just passiret, dem bricht sie das Herz entzwei!“ fuhr der Kranke murmelnd fort, indem er seine seidene Schlafmütze abnahm und sich damit eine Thräne aus dem Auge trocknete. „Wenn Heinrich Heine Nichts weiter geschrieben hätte, dieser einzige Gedanke würde ihn unsterblich machen!“

„Ganz recht; aber hören Sie weiter. Das Versprechen des grausamen Vaters schreckte mich indeß nicht ab. Ich bat meine Geliebte um ein Rendez-vous und erhielt es. Ich sprang über einen Bach, stieg über eine Mauer und kam in eine Geißblattlaube, wo ich die Geliebte meiner harrend antraf. In dem Schweigen der Nacht, bei dem bleichen Schimmer der Sterne, unter dem göttlichen Gesange einer Nachtigall, die über uns auf einer mächtigen Buche saß, schworen wir uns ewige Liebe. Wir wollten dem tyrannischen Vater Muth, Ausdauer und, wenn es sein müßte, auch Gewalt entgegensetzen. Noch drei Mal hatte ich die unbeschreibliche Wonne, die Gebieterin meines Herzens heimlich zu sprechen, dann rief mich ein Brief nach Florenz, wo mein Vater, auf einer Reise in Italien begriffen, um seine Gesundheit herzustellen, plötzlich schwer erkrankt war. Ich kam an. Mein Vater lag im Bette. „Bleibe bei mir, mein Sohn, bis ich genesen oder gestorben bin!“ rief er aus. Ich mußte bleiben; aber auch die Krankheit blieb, wie sie war – es trat keine Veränderung ein. Ach, mein Herr, ich lebte ein fürchterliches Leben. Wohl fünfzig Mal schrieb [543] ich an die Herrscherin meiner Gedanken; auf keinen meiner glühenden Briefe erfolgte eine Antwort. Nach fünf Monaten begrub ich meinen Vater unter einer prachtvollen Thränenweide auf dem Friedhofe von Florenz. Der Schmerz um den Verstorbenen und die Sehnsucht nach der Geliebten nagten mit gleicher Bitterkeit an meinem Herzen. Auf den Flügeln der Liebe eile ich in meine Heimath zurück. Da erfahre ich, daß der Vater meiner Geliebten gestorben sei, daß sie selbst seit einiger Zeit die Besuche eines jungen Mannes angenommen und eines schönen Tages mit ihm die Stadt verlassen habe. So viel ich auch forschte – nirgends war eine Spur zu finden. Da stand ich nun allein, ganz allein in der Welt. Mein Vater war todt, und die, in deren Liebe ich Trost über den herben Verlust zu finden hoffte, war mit einem jungen Manne verschwunden, obgleich sie mir ewige Liebe geschworen hatte!“

„Das ist hart!“ murmelte der Consul. „Ja, das ist mehr als hart!“

„Ich verwünschte die Frauen, die Väter, die jungen Männer, die ganze Welt – Alles ekelte mich an, war mir lästig, verhaßt. Ich floh in diese Berge, um mir ein einsames Haus in einem einsamen Thale zu suchen. Da erblickte ich das öde Forsthaus – man nannte mir den Besitzer und ich säumte nicht, mich Ihnen vorzustellen. Mein Herr, verkaufen sie mir das Haus – Sie werden sich über mich nicht zu beklagen haben, ich lebe still wie ein Anachoret und werde mich nur damit beschäftigen, meine Erlebnisse zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzuzeichnen.“

„Herr von Windheim,“ sagte der Consul, indem er ihm gerührt die Hand reichte, „ich beklage Sie um so inniger, da ich mehr als jeder Andere Ihre Gemüthsverfassung beurtheilen kann. Nehmen Sie das Forsthaus und arbeiten Sie darin Ihre Memoiren.“

„Nennen Sie den Preis, Herr Consul!“

„Wir sprechen darüber später. Sind wir nicht Männer von gleichen Lebensanschauungen, von gleicher Gemüthsverfassung?“

„Ohne Zweifel!“

„Darum werden wir eine Beruhigung finden, wenn wir uns von Zeit zu Zeit sehen.“

Der Edelmann erhob sich.

„Halt!“ rief der Kranke. „Gehen Sie in das angrenzende Zimmer. Ich stehe auf; wir frühstücken zusammen, dann führe ich selbst Sie nach dem Forsthause.“

„Sie wollen mich führen?“ fragte der erstaunte Alexander.

„Eine Bewegung in freier Luft ist mir nützlich. Bleiben Sie, mein Herr, wir müssen heute noch eine nähere Bekanntschaft anknüpfen!“

Er ergriff die Glocke, die aus dem Tische stand, und klingelte lebhaft. Joseph erschien.

„Führe den Herrn in das Wohnzimmer! Bestelle in der Küche ein gutes Frühstück! Dann komm zurück und kleide mich an! Fort!“ Den langen Diener wunderte die Aufregung seines Herrn nicht; ruhig und gemessen öffnete er die Thür des Nebengemachs und ließ den Gast eintreten. Nachdem er in der Küche das Frühstück bestellt, half er seinen Herrn ankleiden. Eine Viertelstunde später saßen der Consul und Herr von Windheim beim Frühstück, und wiederum eine Viertelstunde später traten sie den Weg nach dem Forsthause an.




II.

Eine kalte Herbstnacht lag über Bremen. Es war drei Uhr Morgens vorüber, als ein Briefträger rasch durch die stillen Straßen der freien Stadt ging, vor einem eleganten Hause am Walle stehen blieb und heftig die Klingel zog. Es dauerte lange, ehe eine Magd die Thür öffnete. Der Postmann fragte nach dem Particulier Wilhelm Dewald.

„Herr Dewald wohnt im ersten Stocke!“ war die Antwort.

„Ich muß ihn sprechen.“

„Gleich?“

„Auf der Stelle!“

Dir Magd führte den Briefträger die Treppe hinan und bezeichnete ihm die Wohnung des Gesuchten.

„Ist denn das so eilig?“ fragte die in ihrem Morgenschlummer Gestörte.

„Sehr eilig; lassen Sie die Hausthür offen, ich werde sogleich zurückkehren!“

Er zog die Glocke. Eine zweite Magd öffnete im nächsten Augenblicke; sie war noch völlig angekleidet und trug eine Kerze in der Hand.

„Ich suche Herrn Dewald!“

„Und ich erwarte ihn, er ist mit Madame auf einem Balle.“

In diesem Augenblicke ließen sich Schritte und fröhliche Stimmen auf der Treppe vernehmen.

„Da kommt meine Herrschaft!“ rief die Magd, indem sie mit dem Lichte an die oberste Stufe der Treppe trat.

Ein Herr und zwei Damen, tief in Mäntel gehüllt, erschienen. Sie waren erstaunt, den Briefträger um diese Zeit zu sehen.

„Herr Wilhelm Dewald?“

„Ich bin es.“

„Hier ist ein recommandirter, expresser Brief. Ich bitte, quittiren Sie!“

Die Ballgäste sahen sich verwundert an. Wilhelm Dewald ging rasch in sein Zimmer, quittirte den Empfang in einem Buche und sandte das Buch mit einem Trinkgelde für den Bringer zurück. Die Thür schloß sich, der Postbote verließ das Haus und die Ruhe der Nacht trat wieder ein. Der Particulier, ein junger Elegant von sechs bis siebenundzwanzig Jahren, warf rasch seinen Mantel ab, trat zu der Kerze, sah erschreckt das schwarze Siegel, riß das Couvert auf und begann begierig zu lesen. Das in seiner Hand zitternde Blatt enthielt folgende Zeilen:

 „Mein lieber Neffe!
Ich fühle, daß mein letztes Stündlein naht. Gegenwärtigen Brief schreibe ich auf meinem Schmerzenslager. Du bist mir stets ein guter Neffe gewesen, darum darf ich hoffen, daß Du meinem letzten Befehle treulich nachkommst. Ich befehle Dir nämlich, Louise Bronner, für die Du stets eine innige Neigung gehegt, auf der Stelle zu heirathen, damit Du sie mir als Deine Gattin vorstellen kannst, ehe ich diese Welt für immer verlasse. Louise ist ein schönes, gesittetes Mädchen, und ihr Vater, mein alter Geschäftsfreund, hat mir wichtige Dienste geleistet, ich kann wohl sagen, daß ich ihm die Grundlage zu meinem Vermögen verdanke. Der arme Mann hat viel Unglück gehabt, und als er vor drei Jahren starb, versprach ich ihm auf dem Todtenbette, für die Zukunft seiner einzigen Tochter zu sorgen. Freund Bronner hat sein Versprechen mit sich in das Grab genommen und ich muß es halten. In spätestens acht Tagen erwarte ich Dich mit Deiner Frau. Die gewöhnlichen Formalitäten einer Verheirathung kannst Du durch Geld beseitigen, darum beseitige sie, ich zahle alle Kosten. Jedenfalls gib mir sofort Nachricht von Deinem Entschlusse. Schließlich benachrichtige ich Dich, daß ich das Gericht bestellt habe, und daß die Fassung meines Testamentes von Deinem Entschlusse abhängt. Es erwartet Dich mit Sehnsucht

Dein Onkel 
Leberecht Dewald, Consul.

 Post scriptum:
„Sollte ich zufällig vor Deiner Ankunft schon gestorben sein, so beunruhige Dich nicht, ich habe an Alles gedacht, Alles vorgesehen. Du wirst mit mir zufrieden sein.“

Verwunderungsvoll lächelnd betrachtete der junge Mann noch das Blatt, als die beiden Damen in das Zimmer traten. Sie befanden sich in Balltoilette; die Ungeduld trieb sie, zu erfahren, was für Nachrichten der expresse Brief gebracht habe.

„Ein schwarzes Siegel!“ rief die Brünette, indem sie das Couvert ergriff.

„Wer ist gestorben?“ fragte die Blondine, ein reizendes junges Mädchen von zwanzig Jahren.

„Niemand!“ antwortete Wilhelm lächelnd. „Lies den Brief laut vor, liebe Albertine, damit Fräulein Louise den Inhalt, der auf sie Bezug hat, kennen lernt.“

Die junge Frau – Albertine war Dewald’s Gattin – las den Brief. Dann sah sie die Freundin an, die tief erröthete.

„Das ist ein origineller Onkel!“ rief Albertine.

„Ohne Widerrede!“ fügte Dewald hinzu. „Meine liebe Frau, wir befinden uns in einer sehr verhängnißvollen Lage. Der alte Onkel ist ein guter Mensch, aber er hat einen eigensinnigen, verschrobenen Kopf. Man muß ihn eigenthümlich behandeln.“

„Was ist zu thun?“ fragte die junge Frau.

„Ja, was ist zu thun?“ fragte auch Louise.

[544] Dewald ging im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen und fragte:

„Sind die Damen müde?“

„Der Brief hat mir den Schlaf verscheucht!“ antwortete Albertine.

„Und ich würde nicht schlafen können, auch wenn ich zu Bett ginge!“ sagte Louise.

„In diesem Falle schlage ich vor, daß wir auf der Stelle einen Rath abhalten. Nehmen Sie Platz und hören Sie mir zu, ich werde als Jurist alle Verhältnisse zusammenfassen, damit wir einen Schluß ziehen können.“

Die Damen setzten sich in den Sopha, und Wilhelm, dessen Humor durchaus nicht beeinträchtigt war, ließ sich vor ihnen auf einem Stuhle nieder.

„Fräulein Louise,“ begann er, „ist meiner Albertine eine so vertraute Freundin und dabei Interesentin bei vorliegender wichtiger Angelegenheit, daß ich offen mit der Sprache herausgehen kann. Mein verstorbener Vater, der Bruder des bizarren Consuls, hat mir ein kleines Vermögen hinterlassen, das bis auf einige Hundert Thaler aufgezehrt ist. Ich bekenne offen, daß ich bei meiner Verheirathung auf den kinderlosen Onkel gerechnet habe. Jetzt droht er mit Enterbung, wenn ich Louisen, die Tochter seines Geschäftsfreundes, nicht heirathe. So wie ich ihn kenne, hält er sein Wort. Seit drei Jahren lebt er auf seiner Villa, die er Solitüde nennt; er hat sich nicht um mich, ich habe mich nicht um ihn gekümmert, und so ist es gekommen, daß er von meiner vor sechs Wochen geschlossenen Heirath nichts weiß.“

„Hast Du denn das Heirathsproject Deines Onkels gekannt?“ fragte Albertine.

„Nein; er hat zwar oft mit großer Verehrung von seinem Freunde Bronner, aber nie von einer Verheirathung seiner liebenswürdigen Tochter gesprochen.“

„Ich begreife Ihren Onkel nicht,“ sagte Louise; „seit drei Jahren hat er sich nicht um mich gekümmert, und nun will er mich plötzlich verheirathen. Er muß doch wohl recht krank sein, da er sich so entschieden ausdrückt und große Eile empfiehlt.“

„Gewiß, gewiß!“ murmelte Dewald. „Er beschließt sein bizarres Leben mit einer großen Bizarrerie. Hätte er mich unter der Bedingung zu seinem Universalerben eingesetzt, daß ich Fräulein Bronner einen gewissen Theil des Vermögens abtrete, so würde ich Alles erklärlich gefunden haben – –“

Die blonde Louise ergriff die Hand der jungen Frau.

„Meine liebe Freundin,“ flüsterte sie bewegt, „Du hast Dich meiner, der armen Waise, so großmüthig angenommen, und nun muß ich, ohne es zu wollen, Deinem Glücke entgegentreten!“

„Messe ich Dir die Schuld bei, Louise?“

„Herr Dewald, was kann ich thun, um Ihnen nützlich zu sein?“ fragte Louise treuherzig.

Eine Pause trat ein.

„Mein Herr Onkel ist ein ausgemachter Narr,“ rief Dewald, „und als solchen müssen wir ihn behandeln! Ich glaube nicht daran, daß er schwer krank liegt. Fräulein Louise, mir ist ein kühner, aber ein praktischer Gedanke gekommen – wollen Sie mir in der Ausführung desselben behülflich sein?“

„Zählen Sie auf mich!“ rief eifrig die junge Dame.

„Niemand kennt den seltsamen Onkel besser, als ich, und darum weiß ich ihn zu nehmen. Wir müssen ihm einen kleinen Betrug spielen. Wie er auch ausfallen möge – mehr als eine Enterbung kann uns nicht treffen. Uebrigens geht meine Absicht nur dahin, Zeit zu gewinnen, daß der Consul meine Albertine kennen und lieben lernt.“

„Und wenn ihn der Tod daran hindert?“ fragte die junge Frau.

„Ich glaube weder an seine Krankheit noch an seinen Tod.“

„Aber wenn ich ihm mißfalle?“

„Das ist unmöglich!“ rief Louise.

„Aber nehmen wir den Fall an!“

„Dann werde auch ich ihm mißfallen!“ rief Louise entschlossen. „Herr Dewald, theilen Sie uns Ihren Plan mit.“

„Er ist einfach der, daß ich auf der Stelle schreibe: mein bester Onkel, ich bin glücklich, Ihrem Befehle zuvorgekommen zu sein – Louise Bronner ist bereits seit acht Tagen meine Frau.“

„O Himmel!“ riefen die beiden Damen.

„Morgen bereiten wir uns vor und übermorgen treten wir die Reise nach der Solitüde an.“

„Abgemacht!“ rief Louise. „Ich werde so lange Madame Dewald sein, als es nöthig ist.“

„Und welche Stelle hast Du Deiner Frau zugedacht?“ fragte Albertine.

„Du bist Albertine, die unzertrennliche Freundin meiner Frau.“

„Ich werde meine Rolle nach besten Kräften spielen!“ rief die heitere Louise. „Es sollen nicht vierundzwanzig Stunden verfließen, und der Onkel wird ein gründliches Mißfallen an Madame Dewald finden – nämlich an der falschen Madame Dewald!“ fügte sie lächelnd hinzu. „Ich werde alle Untugenden zur Schau tragen, die eine Frau unleidlich machen: Koketterie, Uebermuth, Stolz und Tollheit! Und Du, meine liebe Albertine, gibst Dich, wie Du bist, mehr bedarf es ja nicht, um einen Sieg zu erringen. Ist der Onkel nun zornig auf mich, dann können wir vielleicht ein Geständniß wagen, und wir sind am Ziele!“

„Wie gut bist Du, Louise!“

„Ich erfülle nur meine Pflicht. Mein Herr Gemahl,“ wandte sie sich zu Dewald, „Sie werden zuvorkommend, zärtlich und aufmerksam gegen Ihre Frau sein, ohne zu vergessen, daß Sie nur den Titel meines Gatten führen. Seien Sie galant, damit man keinen Verdacht schöpft. Und Du, Albertine, verbanne die Eifersucht, wenn Du die Zärtlichkeiten meines Mannes siehst! Du weißt ja, daß mein Herz nicht mehr frei ist.“

Die beiden Frauen zogen sich in ihr Schlafzimmer zurück. Wilhelm Dewald schrieb dem Onkel einen Brief, den er am nächsten Morgen früh zur Post sandte.

(Fortsetzung folgt.)




Die Todtengewölbe unter der St. Stephanskirche in Wien.

Die Erlaubniß, diese Katakomben zu besuchen, war schon vor einigen Jahren sehr erschwert, jetzt ist sie den Fremden völlig versagt. Als der Aufzeichner dieser Zeilen in diese merkwürdigen Gewölbe hinabstieg, diente ihm ein Mann mit einer Fackel zum Führer, ein zweiter blieb bei dem Eingänge stehen, um uns zu Hülfe zu eilen, wenn es dessen bedürfte. Unsere Gesellschaft war klein und es befand sich nur eine Dame darunter, die trotz dessen, daß man ihr abgerathen, doch nicht unterlassen konnte, uns in die Unterwelt zu folgen. Wir alle hatten das Buch einer Engländerin gelesen, die vor nicht langer Zeit hier hinabgestiegen war und eine Beschreibung von dem gegeben hatte, was sie hier erblickt. So aufregend und erschütternd diese Skizze auf den Leser wirkte, so läßt sie doch die Wahrheit weit hinter sich. Noch nie ist die Phantasie im Stande gewesen, auf diesem düstern Felde die Wahrheit zu erreichen; das Reich der Nacht hat seine Schrecken, die man anschauen, aber nicht beschreiben kann. Deshalb sollen auch nur wenige Worte dem Bilde folgen, das, an Ort und Stelle flüchtig dem Papiere anvertraut, später beim Licht des Tages seine gehörige Ausführlichkeit erhielt.

Es ist bekannt, daß Wien von einer sehr hartnäckigen und in ihren Verwüstungen fast unermeßlichen Pest heimgesucht wurde, und von dieser Schreckensperiode her haben sich hier diese kolossalen Massen von menschlichen Gebeinen angesammelt, die man damals, wie es scheint, um ihrer nur rasch los zu sein, in die tiefen Grabgewölbe mehr hinabstürzte, als sorgsam legte. Drei Stockwerke zählt dieser unterirdische Bau und alle drei sind mit diesem grausenvollen Inhalte gefüllt. Es ist nicht möglich, bis in die unterste Katakombe hinunterzusteigen, eine solche Entdeckungsreise wäre zu gefährlich, nur bis zur zweiten Abtheilung konnte man damals gelangen, und auch dieses hatte seine Schwierigkeiten. Nicht die geringste darunter war die Menge der zusammengeschütteten Gebeine, die hier ohne Ordnung über und unter einander lagen. Die Luft war eine dumpfe Kellerluft, nicht gerade mit Moderdüften geschwängert, der Proceß der Verwesung war,

[545]

Die Todtengewölbe in der St. Stephanskirche[WS 1] in Wien.

da er über zwei Jahrhunderte lang Zeit gehabt sich zu entwickeln, vollkommen geendet und die animalischen Stoffe hatten sich verflüchtigt. An einigen Gebeinen, besonders solchen, die in einer bestimmten Richtung hin, wo sie einem Luftstrom ausgesetzt waren, aufgeschichtet lagen, fand man das Fleisch mumienartig eingetrocknet, und diese Leichname waren es, die für den Beschauer einen besonders auffälligen und, wenn man will, schreckvollen Eindruck machten, denn diese Körper scheinen beim Lichte der Fackeln zu leben, und ihre entfleischten Züge, gehüllt zum Theil in morsche Tücher, uns entgegenzustrecken. Unser Führer wählte seinen Platz dicht neben einem Pfeiler, der ein grobzugehauenes Crucifix enthielt, und indem er uns auf dieses alte Bildwerk aufmerksam machte, gebrauchte er die eigenthümliche List, plötzlich mit seiner Fackel hinabzuleuchten, wo wir denn dicht vor uns ein Skelet erblickten, in einer Allongenperücke und in einem schwarzen Sammtmantel mit theilweise noch erhaltener Goldstickerei. Diese Figur, die abgesondert von den andern hier am Pfeiler lehnte, war der sogenannte „schöne Mann“ oder der „Kammerherr“, wie ihn der Führer nannte. Im Leben mochte dieser Mann allerdings sehr groß gewesen sein, denn seine, obgleich zusammengesunkene, Gestalt überragte doch noch die des Führers. Das Gesicht dieses Phantoms war zur Erde gesenkt, als wolle es nicht von dem [546] Scheine des Lichts belästigt sein, seine Arme hingen herab, gleichsam wie bei Einem, der ermüdet ausruht. Die Dame, die uns begleitete, äußerte den Wunsch, ein Stückchen von dem schwarzen Mantel des Kammerherrn zu besitzen, allein der Führer erklärte, daß er nicht in diesen Raub willigen dürfe. Eine Engländerin, wie er hinzu setzte, hatte bei einem Besuche unvermerkt einen Handschuh des schönen Mannes eingesteckt, aber er war ihr beim Hinausgehen wieder abgenommen worden. „Denn,“ sagte der Führer, „unser schönes Exemplar muß unangetastet bleiben, wen hätten wir denn sonst den Fremden zu zeigen, der hier die Honneurs des Wirths vom Hause machte?“ Mit diesem Einfall mochte der gute Mann schon oft die Herumzuführenden bedient haben, es war nicht zu leugnen, daß das Scherzhafte, das in diesen Worten lag, einen besondern Contrast mit den Schrecken der Umgebung machte.

Wenn das Auge sich von den ziemlich erhaltenen Mumien abwandte, erblickte es oben einen Gegenstand, der noch heftiger die Sinne ansprach. Die Wand eines Gewölbes war in Folge der Zeit, vielleicht auch weil sie nicht im Stande war, die Last der in diesen Raum hinabgeworfenen Todten zu tragen, geborsten und ein Bündel Leichname, ineinander verschlungen, war aus der Oeffnung hinausgestürzt und zeigte sich jetzt drohend über unserm Haupte, als wollte ein Schwarm Todter mit Gier auf uns Lebende herfallen. Der Anblick war zum Entsetzen, besonders war ein Arm erschreckend, der aus der Höhe herablangte. An der Wand, die der Fackel gegenüberstand, war ein in Tücher gehüllter Körper in eben der Weise aufgestellt, wie jene erste beschriebene Mumie, allein da die Figur verhüllt war, konnte man von ihrem Aeußern nicht urtheilen, sie erschien wie eine alte gebeugte Frau, die eben im Begriff war, auf ihre Krücken gestützt, mühsam sich fortzubewegen. Ihr zu Füßen lag ein Gerippe, das der Zufall in eine Lage gebracht hatte, daß es scheinen konnte, als sähe sich der Todte unwillig und verwundert nach uns um. Ein Gewölbe enthielt auch eine Anzahl Särge, die noch nicht ganz aus ihren Fugen gewichen waren, und an denen noch einzelne Schilder und Embleme prangten.

Ein Herr unserer Gesellschaft entfernte sich gegen den ausdrücklichen Befehl unseres Führers in einen Gang hinein, der niedriger wie die andern gewölbt war und an dessen äußerm Bogen, eine Tafel befestigt war. Kaum hatte er einige Schritte gethan, als der Boden unter ihm zu weichen begann, und er mit einem Schrei zurücksprang. Es hatte sich ein Stein gelöst, der jetzt mit dumpfem Gepolrer in das untere Gewölbe rollte. Wäre dem Verwegenen der Rettungssprung nicht geglückt, so hätte er sein Grab in der Tiefe finden können, denn in die unterste Katakombe, die vermauert war, gab es kein Mittel einzudringen. Unsere kleine Gesellschaft war nicht wenig außer Fassung gesetzt, als der Führer uns diese, glücklich abgewandte Gefahr erklärte. Eine andre, nicht minder unheilbringende Situation ist die, wo das Licht durch Unvorsichtigkeit, oder durch einen Luftzug erfaßt, erlischt, allein dem ist vorgebeugt, indem der zweite Führer, der zurückbleibt, durch den Hülferuf zu erreichen ist, und seine Fackel mitbringt. Es ist nur einmal vorgekommen, daß das Licht erlöscht ist, doch von einem Sturz in die Tiefe wußte der Führer doch schon ein paar Beispiele zu erzählen.

Eine Stunde ungefähr brachten wir in diesem Reiche des Todes zu, alsdann war es uns ein Bedürfniß, wieder an die Oberwelt hinaufzusteigen. Ein düsteres Gewölbe der Kirche erschien uns nach diesem Anblick wie ein lichter Tempel, und eine Weile dauerte es, ehe wir uns überzeugten, daß es hier keine finstern Winkel gab, aus denen hervor Schrecknisse lauerten. Wir nahmen vom Geschlechte früherer Jahrhunderte Abschied und stiegen zu der Sonne unserer Tage empor, des schönen Lichtes uns freuend, das seine Strahlen über unsere Häupter, auf denen noch kein Staub der Gruft lag, hingleiten ließ. Schillers Vers kam unwillkürlich vor den betrachtenden Geist: „Dort unten aber ists fürchterlich! Und nimmer begehre der Mensch zu schauen, was die Götter gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.“
v. S.





Elternliebe in der Thierwelt.

Es geht ein großer, versöhnender Zug durch die oft in Kämpfen so gewaltig aufgeregte Natur, und seine Spur wird selbst bei den grausamsten und beutegierigsten Thieren nicht vermißt; es ist der Zug der Elternliebe zu den Jungen, oder in Ermangelung von Eltern, die Liebe der Pflegeeltern zu den verlassenen Jungen.

So weit das Auge theilnehmender Naturforscher gefolgt ist, hat man bis in die niederen Thierclassen hinab, bis in die Reihen der Spinnenthiere, diese offen bethätigte Liebe beobachtet, wobei wir noch immer alle instinctmäßige Vorsorglichkeit bei Seite lassen.

Wir rechnen z. B. nicht mehr zu der bewußt- und absichtsvollen Elternliebe das den Alten durch den Instinct gebotene und darum unabweisbare Fürsorgen betreffs eines sichern Brutplatzes, der den ersten Schutz und die erste Nahrung zugleich bietet. Denn der Instinct ist nichts, als der angeborne Trieb, Alles zu thun, was zur eignen Erhaltung und im Allgemeinen zur Erhaltung der Jungen nöthig ist.

Nach ihm sucht das Kind – denn auch der Mensch besitzt Instinct – bald nach der Geburt von selbst die Mutterbrust; nach ihm sucht das eben geborne Böcklein unter vielen Trinkgefäßen sich nur das Milchgefäß aus; nach ihm bauen sich gewisse Vögel immer und in jedem Falle Beutelnester; nach ihm liegen die Schmeißfliegenmaden im Fleische und die Zwiebelfliegenmaden in den Zwiebeln; nach ihm kleben die jungen Flußmuscheln, um vor Stößen gesichert zu sein, mehrfach in den Höhlungen der Ufersteine. Ja, ich fand sie mehrfach in Scherben, in dem hohlen Raume zwischen dem hervortretenden Bodenreife einer zerbrochenen Tasse oder Vase haften.

Alles dies kommt auf Rechnung des Instincts und der instinctmäßigen Mutterliebe. Es gibt aber auch der besondern Fälle gar viele, wo Ueberlegung, wo eine Art Gefühl, wo Erfahrung sichtlich wird, wo die Alten nicht gerade so handeln mußten, und wo man es auch ihnen zum Verdienste anrechnen könnte. Es ist uns hier darum zu thun, eine Reihe von fremden und eignen Beobachtungen vorzuführen, an denen bedachte und absichtlich einwirkende Elternliebe sichtlich ist, neben jener allgemeinen und instinctmäßigen, die Jeder, auch der einfachste Mann, ohne Loupe und Mikroskop auf seinen Spaziergängen finden kann.

Wie alte Hausthiere schon die Jungen pflegen, können wir täglich beobachten. Wie ängstlich geleiten nicht manche Tauben die Ihren zum ersten Fluge! Schafe finden unter hundert ihrer Brüder das Junge heraus, bleiben aber mit besonderer Treue oft bei Schwächlichen stehen. Stampfende Pferde schonen auf oft auffällige Weise ihr herumtölpelndes Füllen; selten und meist nur verschüchtert verletzt das Hornvieh seine Jungen. Eine alte Ziege ermunterte das von ihr niedergeworfene Junge nachdrücklichst zum Aufstehen, als wenn dies ein Beweis des Wohlbefindens wäre. Dazu trat die Alte mit den Vorderbeinen dicht an’s Junge heran und stieß gelind mit der Nase in dessen Weichen. Katzen schleppen oft ihre Jungen im Maule in die entlegensten Schlupfwinkel, wenn ihnen der alte Platz unbehaglich wird. Eine Katze, die in dem Winkel einer viel benutzten Küche Junge gesetzt hatte, schleppte dieselben, weil ihr das Fleischhacken widerlich schien, den neunten Tag in einen Holzschuppen, wo trocknes Reisig lag. Die Nacht war rauh und kalt; das Spalier hatte wenig Schutz geboten, und der nächste Tag fand die Katze mit den ihr gelassenen zwei Jungen unter dem Fenstertritte, der nach einer Seite offen war. Andere Hausthiere, z. B. manche Hunde, lassen sich kaum ihre Jungen ohne Gefahr rauben. Gänse und Enten wachen ängstlich über die Jungen; man weiß, daß alte Gänseriche den Verfolgern auf den Leib geflogen sind und sie empfindlich verletzt haben. Sprichwörtlich ist die Liebe einer Haushenne zu ihren Jungen geworden und Mutterliebe hat, wenn auch nicht eine ganze Sprache, so doch eine ziemlich lange Reihe von Lauten, mit denen die alte Glucke die Jungen heim oder zum Futter ruft oder vor Habichten sichert.

Noch ergreifender und oft viel wichtiger sind die Beobachtungen an den frei lebenden Thieren, sowohl in den Reihen der oft so lieblichen Gliederthiere, wie auch in dem Haufen der mehr aristokratischen Knochenthiere. Wie wohlthuend, wie gewinnend ist’s nicht, zu sehen, wie aus Mutterliebe die kleine Fledermaus des Abends beim Beutezuge ihr Junges in den warmen, häutigen Mantel [547] einhüllt, um nicht auf so lange von ihrem Lieblinge getrennt zu sein! Welche Mutter unter den Menschen, die ihres Kindes, wenn auch in Augenblicken der Noth, vergessen konnte, sollte sich nicht an solch’ einer Liebe aufrichten? Und wie grundlos und völlig maßlos ist unser Ausdruck: „Gefühllos sein wie ein Thier!“ – Sollte eben der doppelten Quälerei und des vielfachen Nutzens der Fledermäuse wegen nicht diese Gattung bei uns unter die polizeilich geschützten Thiere aufgenommen werden, gleich den Singvögeln, Schwalben und Schlupfwespen (deren Eierhäufchen zunächst, welche an Baumstämmen gleich umsponnenen Getreidekörnchen kleben) und den Ichneumonen, Störchen, Ibissen, Eiderenten u. s. w. anderwärts?

Der Reisende C. A. Geyer, der sich größtentheils in Aufträgen in den Wildnissen Nordamerika’s während sieben wechselvoller und entbehrungsreicher Jahre umherschlug und, in der Heimath angelangt, viel zu früh in Meißen starb, erzählt, wie bei den Waldbränden in den wildschönen, südwestlichen Districten des großen Missourigebietes, hinwärts nach dem Flusse Arkansas, oft die Mustangpferde, ihre Fohlen treibend, über riesige Cedern hinwegsetzen, indeß seitwärts der blutgierige, löwenähnliche, nur weit feigere Puma sein eigenes Junges im Maule davon trägt, der versengenden Lohe zu entfliehen.

Gerade die katzenähnlichen Raubthiere vertheidigen ihre Jungen mit der höchsten Wuth und jener Fall, den Herr Bowley berichtet, bezeugt dies in der Entwickelungsreihe der Zehenläufer bis zum Königstiger hinauf. Eine Truppe Jäger hatte ein Tigerlager geplündert, und die zwei Tigerkätzchen mit sich genommen, als plötzlich das Rachegeschrei der Tigerin erscholl. Die Reisenden retteten sich in ein Felsenloch, dessen Eingang sie nothdürftig mit großen Steinen verrammelten. Wüthend war das Gebahren der Mutter, als der unvorsichtige Diener die indeß erdrosselten jungen Tiger der Alten hinaus geschleudert hatte, und nach längerer Zeit erst, in welchem das Leben der Jäger auf dem Spiele stand, gelang es, mit einem wohlgezielten Schusse dem machtvollen, heißathmigen Thiere den Garaus zu machen, als es sich eben durch die Felsblöcke zwängen wollte.

Aber auch in der Heimath, im deutschen Lande, gibt’s der schlankleibigen Zehenläufer, deren Mutterliebe sich klar genug bethätigt. Wie zärtlich führt nicht das Steinmarderweibchen die ein Vierteljahr alten Jungen aus zum Rauben und Schmausen, wenn im Gehöfte Herr und Knecht schlummern! Wie besorgt trägt nicht das Hermelin, das auch bei uns in Steinklüften wohnt, die erbeuteten Mäuse, Hamster, Kaninchen, oft auch Geflügel, selbst aus weiter Entfernung zum Neste, wobei selbst beobachtet worden ist, daß es die Eier unter dem Kinne fortträgt. – Die Bärenmutter führt ihre Jungen bis in’s zweite Jahr und noch darüber, wohl am längsten unter allen ihren Verwandten, aus. – Wie sorglich hängt im Gegentheile die winzige Zwergmaus des nördlichen Deutschlands ihr künstliches Nestlein gleich einem Vogelneste im dichten Schilfe auf, wie es Gloger selbst in Schlesien noch fand. – Im vorigen Jahre hatte ich Gelegenheit, an unserm gemeinen Eichhörnchen die Mutterliebe zu beobachten. In unsern Buchen- und Kieferwaldungen, wo es häufig haust, hatte ich eine Familie dieser Springer entdeckt, welche sich, wie gewöhnlich, nicht mit einer Wohnung begnügt, sondern deren drei, vier und mehr in den höheren Astgabeln baut. Es war Anfang Mai, und nach dem eigenthümlichen „Murxen“, wie unsere Jäger sagen, mußten wohl Junge da sein. Jener eigenthümliche, halb unterdrückte Laut wird nämlich gerade immer bei Beängstigungen des Thieres vernommen. Als ich aber gar am Stamme zu rütteln und zu stoßen anfing, und mein Begleiter einige Steine zum Schreck zu den niederen Aesten hinaufwarf, da war die arme, geängstigt Mutter schnell entschlossen. Sie trug ihre gefährdeten Jungen eins nach dem andern höchst gewandt im Maule oder abwechselnd in dem linken Vorderbeine, welches sie gegen die Brust drückte, bis in das ziemlich weit davon entfernte, in einer Stammhöhlung befindliche Nest. Und wir hatten genug erfahren, um das Thier nicht hier noch zu beunruhigen. – Wie besorglich um seine Jungen auch das Edelwild ist, zeigt das Reh. Die Rike führt die Jungen, indeß der Rehbock echt ritterlich der Erste hinaus ist auf’s Feld und der Letzte wieder zurück in’s Gehölz. Die Rehmutter ist’s ja auch, die nach sorgfältigen Beobachtungen die Jungen sich schüchtern niederducken lehrt, wenn diese kindlich-einfältig und ohne Argwohn im Saatfelde gerade dastehen. Und dem Rehbock wiederum wird seine Kindesliebe zum Verderben, indem der Jäger das „Fiepen“ der Jungen nachahmt, worauf ihm der Bock zuläuft. Der Jäger nennt dies Verfahren bekanntlich „auf’s Blatt laufen“, weil er gewöhnlich auf einem Birken- oder Buchenblatt fiept.

Am meisten Gelegenheit, die Elternliebe der Thiere zu beobachten, gibt wohl die Classe der Vögel. Schon im Verse ist’s gesungen, daß selbst die Raubvögel ihre Jungen innig lieben: Wie ein Adler sein Gefieder über seine Jungen schlägt etc. Wüthend vertheidigen die Geier ihren Horst, und als im Glarner Freiberge ein Jäger die Jungen des Lämmergeiers ausnahm, verfolgten ihn die Alten noch vier Stunden weit, so daß er sich ihrer mit Macht erwehren mußte.

Auch an andern sonst so kaltblütigen Raubvögeln hat man dieselbe warme Elternliebe beobachtet. So an den räuberischen Würgern, die oft selbst kleineren Sängern in’s Nestlein einbrechen und die Jungen rauben und verzehren; sie verfolgen keck die sich nähernden größern Raubvögel und verführen dabei ein solches Geschrei, um überall, gleich befugter Polizei, vor den Strolchen zu verwarnen, daß sie schon von Alters her die Namen „Wächter, Warner“ erhielten. Ja, der kleine, schwarz gestirnte Neuntödter, der ebenfalls ein jämmerliches Lamento beginnt, wenn sich Feinde dem Neste nahen, ist jenen schon in’s Gesicht entgegen geflogen. Ebenso verfahren die größeren Drosseln bei der Vertheidigung ihrer Jungen, ängstlich wie der Ziemer ihr Quirik rufend, so daß es den Stein erbarmen möchte. In der höchsten Verzweiflung aber stechen sie wohl gar, ihr Leben wagend, gegen Hunde und selbst gegen Kinder. Wie gewinnend schon ist die Fürsorge der echten Singdrossel, der Drustel des Thüringers und der Zippe des Sachsen und Preußen. Ich habe ihr Nest mehrere Jahre hintereinander beobachtet, wie es in der Nähe eines Wässerchens, dicht an einem sehr begangenen Spaziergange des öffentlichen „großen Gartens“ bei Dresden, sich in das etwa reichlich mannshohe, wenngleich kahle Ruthenwerk einer Buche versteckt hatte. Das Nest war von dem dahinter liegenden Stamme kaum bei einem flüchtigen Blicke zu unterscheiden; Rindenfasern, Würzelchen, Stengelchen und Halme waren hier so verbunden, daß die Farbe des Stammes täuschend nachgeahmt war. Der Vogel saß brütend auf den grünlichblauen, getüpfelten Eiern, unverwandt die Kommenden im Auge. Kein Ruf, kein Flügelschlag, kein Zucken verrieth die ängstliche Mutter mit ihrer Brut; sie glaubte sich ungesehen, Aber leise folgte uns mit behutsamer Wendung der so treu fürsorgende Blick der freier aufathmenden Vogelmutter, wenn wir weiter gingen.

Ebenso haben mir alte Vogelsteller versichert, daß es eine Kunst sei, das Nest eines Blaukehlchens, welches nach denselben Grundsätzen baue, aufzufinden; das Blaukehlchcn und die Sperbergrasmücke seien einmal „scheue Nestvögel.“

Eine andere große Gruppe von Vögeln versucht es, durch ängstliches Flattern und lärmendes Geschrei nach einer ganz andern Stelle, als wo sich das Nest befindet, abzuleiten. Folgt der Verfolger ihnen aber nicht, sondern sucht weiter, dann halten sie wehklagend fast über ihm Stand. So der Kiebitz mit seinen Verwandten, den Regenpfeifern. Hastigen, aber gewandten Flugs bittet dann der schöne, gehäubte Kiebitz kläglich: „gäh nit, gäh nit!“ – Gehen aber z. B. Hunde dennoch auf das Nest im Rasen, so werden sie oft blutig gestochen zurückgewiesen.

Noch viel listiger wissen es die Grasmücken oder auch Rebhühner und Wachteln anzustellen. Werden deren Nester überfallen, so stäuben die Jungen auseinander; am kläglichsten geberdet sich dann die Alte und scheint wie verletzt, mit verrenktem Bein oder verletztem Flügel, nicht mehr fortzukommen. Damit aber zieht sie die Aufmerksamkeit des Verfolgers eben auf sich; weiter hinkend und weiter flatternd, entfernt sie ihn so weit vom Neste, bis die junge Brut Zeit gewonnen hat, sich zu sichern. Man muß namentlich eine Rebhuhnmutter in solchem Falle gesehen haben, um sich auch von der List eine Vorstellung zu machen, welche die Mutterliebe hier anwendet.

Andere Vögel, welche Brut im Neste haben, bewachen gemeinsam oder abwechselnd die Jungen; so der Storch. Von ihm ist’s sogar bewiesen, daß der Gatte wiederum das Weibchen ängstlich bewacht, wenn es brütet, und daß er ihm auch die Nahrung zuträgt. Graue Kraniche, die ihr Nest gern versteckt in Erlen- und Weidenbrüchen anlegen, gehen Tags über nie gerade auf ihr Nest los; sondern sie krümmen und ducken sich bis dahin, fliegen jederzeit entfernt davon auf und nieder, nur um die [548] innig geliebte Familie nicht zu verrathen. Selbst die sonst stumpfsinnigeren Vögel, wie Säbelschnäbler und Lappentaucher lieben ihre Brut auf’s Zärtlichste. Die Eiderente Islands und Norwegens, welche die fürstlichen Dunenbetten liefert, rupft sich, nur um den geliebten Jungen ein warmes Obdach zu bereiten, ihre weichen Brustfedern selbst zweimal weg, wenn die ersten Federn von beutegierigen Menschen genommen wurden. Sind aber gar für ein drittes Mal bei einer und derselben Brut Federn nöthig, so opfert auch das Männchen bereitwilligst seinen Brustschmuck und Schutz auf.

Aber nicht nur die Vögel bewachen die Brut; man weiß selbst von Fischen, daß sie sorglich ihre Nachkommenschaft bewahren. So die Kaulköpfe und Stichlinge. Die Weibchen legen den Laich in ein erst gescharrtes Loch des Grundes, worauf sie ihre Nachkommenschaft bis zum Auskriechen bewachen. Ja, die schwarze Meergrundel des Mittel- und atlantischen Meeres, die sich für ihre Fischbrut Furchen in den Meeresschlamm, am liebsten im Thonboden wühlt, weiß ihre Jungen, die sich bei Gefahr gern hinter Seepflanzen bergen, geschickt zu vertheidigen. – Selbst die plumpen, ekelhaften Amphibien oder Lurche wollen nicht zurückbleiben, und eine Kröte des heißeren Amerika’s macht sich bemerklich, indem sie gar ihre eigenen Jungen spazieren trägt, ähnlich den Beutelratten wärmerer Klimaten.

Aber auch hiermit schließt jener Zug der Elternliebe nicht ab; im Gegentheile wäre im Insectenreiche und unter den Spinnen noch viel Raum zur Beobachtung. Wollte doch Jeder nur seine Beobachtungen an einzelnen Thieren laut werden lassen, denn es fehlt noch gar sehr an Monographien! Zum Beobachten aber gehört eben keine Gelehrsamkeit, kein schwieriger Apparat, sondern nur redlicher Wille, Lust an der reichen Erdenwelt und strenge, wahre Ausdauer. Freilich muß man aber auch nüchtern bleiben und darf keinerlei Schmuck und Voraussetzung in solche Beobachtungen hineintragen. Ich kenne genug schlichte Leute, einfache Arbeiter, die solcher Weise Verdienst haben, und ein achtenswerther Verein hat mehrfach als Vorbilder solchen Strebens einen Schuhmacher und einen Fabrikarbeiter hingestellt. Andere kennen einen Koch, dem die Gelehrtenwelt Vieles dankt, und doch liegen solche Beobachtungen dem Berufe jener Männer eigentlich fern. – Namentlich dient die Insectenclasse wegen ihrer Farbenpracht und ihrer Verwandlungen als Gegenstand der Jagd, und gewiß gibt’s auch hier Beweise von seltener Elternliebe. Wie gewaltig ist nicht zuweilen der Kampf der Ameisen um ihre Brut, um die Puppen (fälschlich Eier genannt), die der Vogelliebhaber ihnen wegnimmt. Auch hat man erfahren, wie die Maulwurfsgrille ihre Jungen bewacht. – Vor wenigen Wochen fing Schreiber dieses eine Sackspinne, von der er die zärtliche Sorgfalt gegen die Brut rühmen hörte. Diese schwarzbraune, weißlinirte und an den Beinen gelblich geringelte Spinne, die ihren Eiersack mit sich umherträgt, fing ich unter einem Steine. Als ich ihr, der gehässigen, blutgierigen Spinne, den Eierbeutel entreißen wollte, regte sich alles Feuer der Mütterlichkeit in ihr. Sie schlug ihre Fußklauen heftiger in das Gewebe, und zog die Ihrigen unter ihren Leib, als wollte sie sagen: durch ihn geht der Weg zu meinen Kindern. Ich setzte die Spinne an den Rand einer Trichtergrube vom Ameisenlöwen; die Spinne rutschte im losen Sande hinab, und ahnte alsbald die drohende Gefahr. Kaum merkte der bis an die Greifzangen eingewühlte Räuber die Nähe des Opfers, so wurde er sichtbar und fing die Spinne, die ich augenblicklich wieder befreite. Dabei aber schleppte sie erschreckt das Eierbündel nach, und ich konnte nicht verhüten, daß der lauernde Räuber es zerriß, und etwa ein Drittel oder Viertel der Eier sein wurden. Den Rest packte die Spinne schnell, die, von mir unterstützt, den Rand des Trichters erreichte, aber da droben umherirrte, um die Verlorenen zu suchen. Ja, kaum konnte ich sie abhalten, daß sie nicht von Neuem in die Fallgrube hinabrutschte.

Aber die Fürsorge der Eltern für erziehungsbedürftige Junge ihres oder eines verwandten Geschlechts erstreckt sich noch weiter; denn sie hat auch ein ordentliches Pflegeelternwesen ausgebildet, ohne daß es dazu eines Geheißes oder Adoptivbriefes bedürfe. Es gibt genug Waisenkinder in der Welt. Jeder Kukuk ist eigentlich ein solches; er, der uns so liebe, ist nicht von seinen Eltern erzogen worden; er kennt sie kaum, obgleich sie Reviervögel sind und keinen andern ihres Gleichen in ihrem Reviere dulden. Das Kukuksweibchen hat ihrer Zeit verschiedenen kleinen Vögelchen, z. B. Grasmücken (diesen besonders gern), Bachstelzen, Goldhähnchen, Zaunkönigen und Rohrsängern, also gerade der allerkleinsten Gesellschaft, die Eier einzeln in die Nester gelegt. Das Kukuksweibchen hat die Nester geschickt aufgefunden, legt das Ei darein oder trägt’s gar, bei zu engem Eingange, im Schnabel herzu und schiebt es hinein. Haben die, mir nichts, dir nichts erkornen Pflegeältern den Kukuk kommen sehen, so machen sie ihm ehrerbietigst Platz; denn er ist ja ein großer Herr. Nicht selten werden die Eier der eigentlichen Nestinhaber beschädigt, oder wegen Mangel an Platz hinausgeworfen, obwohl solch’ ein Kukuksei nicht größer als ein Sperlingsei ist; die Schale ist nur etwas fester und glänzender, grünlichweiß und mit närrischen bräunlichen Kritzeln und Zickzacks verziert. Der junge Herr wächst nun auf, seinen kleinen Pflegeeltern über den Kopf, die ängstlich vor ihm in der Entfernung sitzen und ihm sein Räuplein (meist Borstenraupen) hinreichen. Aber wenn er so recht hungrig „iß iß iß!“ ruft, da läuft auch die ganze Nachbarschaft ängstlich herzu. Ammern, Zaunkönige, Grasmücken, Sperlinge, Zeisige, Berg- und Edelfinken, Pieper, Steinschmätzer und Bachstelzen drängen sich; der bringt einen Schmetterling, der eine Made und der eine Fliege, so daß der junge Schnapphans gar nicht sogleich weiß, wohin? –

Woher das aber kommt, daß der Kukuk sein Ei stets in fremde Nester legt? – das wissen die wenigsten Leute zu sagen, und es geht so zu: das Kukuksei bedarf gewöhnlich ziemlich einer Woche (6–7 Tage) zu seiner Reife; nach einer Woche kommt das andre und so fort jede Woche eins, bis 4–6 Eier „in die Welt gesetzt sind.“ Da nun das Weibchen mit dem Legen allein 4–6 Wochen zubringt, würden die sogar verschiedenalten Jungen der verschiedensten Pflege und des größten Nestbaus, wohl auch mehrerer Ernährer bedürftig sein. Die Natur hat sich darum auf so merkwürdige Weise geholfen. Jedenfalls hat auch der gar große Magen und seine schnelle Verdaulichkeit Einfluß auf die Entwickelung der Eier. Aber das sehen wir deutlich, daß für das scheinbar Verlassenste in der Welt am reichlichsten gesorgt wird. – Auch daß Sumpfmeisen für Kohlmeisen gesorgt haben, hat man schon bemerkt. Möglich, daß auch diese Sumpfmeisen ihre Jungen verloren hatten. – Man hat ferner ein Rohrsängermännchen, wie R. Brehm erzählt, vom Neste weggeschossen; nach ein paar Tagen war ein anderes Männchen einer andern Art Rohrsänger beschäftigt, die Jungen mit aufzufüttern. – Wie ängstlich läuft die Henne als Pflegmama um den Teich, in der die von ihr ausgebrüteten jungen Enten wohlgemuth umherschwimmen! – Eben so wissen Jäger und Jagdliebhaber oft recht gut, daß verwaiste Eulen (Strix otus), Schneeammern und Eisvögel von fremden Weibchen und Männchen ihrer Gattung gepflegt wurden. – Tüchtige Kenner des Vogellebens, wie Naumann sen. und R. Brehm, versichern ebenso, daß oft Junge der ersten Brut die zweite mit aufziehen helfen. So ist’s von Kanarienvögeln und Meisen bekannt, daß die erste Brut, als das ältere Geschwister, den Eltern in der Erziehung treulich beistand. Der ältere Naumann hat sogar bei dem grünfüßigen Rebhuhne gesehen, daß die Jungen der ersten Brut die der zweiten führten. Ebenso fanden die beiden Brehms. daß einige alte Meisen von einem Jungen erster Brut auf’s Eifrigste in der Verfolgung einer nahen Eule unterstützt wurden. Auch gefangene Vögel zeigen Aehnliches. Nicht bloß die Gartengrasmücke, sondern auch Kanarienvögel füttern fast jeden gefangenen jungen Vogel auf. – Zuletzt erwähnen wir, daß auch die Insectenclasse genug der Pflegeeltern aufweist. Der Bienenstaat, selbst der Ameisenhaufen, in dem wohl ein Mandel ganz anderer Thierarten als Miethsbewohnerschaft wohnt, gelten hier als Beispiele. Vor allen Dingen fällt die Larve des Goldkäfers, unseres grünen und goldglänzenden Rosenzerstörers auf, die als grauer Engerling mehrere Jahre freie Kost und Wohnung im Ameisenhaufen fand. Sie ist also ein Waisenkind unter den Insecten. Ungestört, ja gehätschelt darf sie unter den kleinen bissigen Tyrannen nebst vielen andern „Geduldeten“ wohnen. Endlich bricht der Parvenu als goldiger Käfer durch den Bau hindurch, ohne daß er verfolgt wird. Nein, Eins brauchte das Andre und hat sich nun sattgebraucht. In Fried und Freud scheiden die ehrlichen Klausner. Einheit und strenge Ordnung wie in dem saubersten Räderwerk! Das aber ist eben der nicht immer verstandene Gedanke des großen Organismus auf weiter, schöner Erdenwelt.
H. Stiehler.



[549]
Eine Stunde in einem türkischen Gerichtssaale.

Wir kamen eine Stunde früher, ehe Aslan Pascha Audienz gab und zu Gericht saß, im Divan an. Der Bote, welcher gesandt worden war, uns zum Pascha zu geleiten, theilte uns mit, daß wir im Bureau des Aufsehers willkommen sein und den Pascha finden würden. Und da fanden wir ihn richtig, auf seinen Knien kauernd, umgürtet von den Gewändern seiner Würde.

„Khosch bulduk“ (Wohl gesunden) rief unser Führer Sarim Bey. „Burum!“ (Willkommen!) rief der Pascha.

Man winkte uns zu einem Sitze, den wir sofort einnahmen. Tschibuks mit dicken Bernsteinspitzen wurden uns gereicht und mit würziger Kohle angebrannt, worauf wir mit echt muselmännischer Apathie und Schweigsamkeit rauchten, wie der Pascha.

„Wie gehts?“ fragte endlich Sarim.

„Giedillah, Effendim“ (ich bin sehr krank) antwortete der Pascha, seine dicke gelbe Spitze einen Augenblick aus dem Munde nehmend.

„Min Allah!“ (Das wolle Gott nicht!) rief Sarim.

„Es ist wahr!“ versetzte der Pascha.

Langes Schweigen nur durch Tschibukdampfen unterbrochen.

„Was haben Sie jetzt für Arbeit vor?“ fragte Sarim nach langer Pause.

„Bosh!“ (Nichts!) entgegnete der Pascha zugleich mit einem Paff.

„Das ists – deshalb ist er krank,“ rief der Kadi, ein Unterrichter, der in des Paschas Abwesenheit Recht spricht. „Mein Herr ist der Herr und ich bin sein Sklave. Haben wir nicht den Schurken, der Bokschaliks (Geld aus der Zeit Mahmuds) nachmachte?“

„Benezer, Sie sind ein Esel, Kadi,“ war des Paschas Antwort. „Maschal’lâh, was kommt bei einem solchen Processe heraus? Die Arbeit lohnt nicht. Wahrscheinlich trägt der griechische Hallunke alle seine Piaster auf dem Rücken (d. h. er hat nichts). Unsere Casse ist niedrig, und wir brauchen Kläger und Verklagte, die ihre Gerichtskosten aus voller Börse bezahlen können. Deshalb sag’ ich noch einmal, Benezer, daß Sie ein Esel sind und der Sohn eines Esels.“

„Auch ist ein reicher Pascha unterwegs,“ fuhr der Kadi fort, ohne den ihm zugesprochenen Stammbaum in Frage zu stellen, „um die Hülfe des Lieblings vom Padischah (dem Sultan), Ihre Hülfe, mein Gebieter, anzuflehen. Ich weiß, daß er reich ist, wie König Karuun (der Crösus des Ostens), und seine Piaster umherstreut, als wären sie Feigenstaub!“

„Tschok tschai“ (das ist viel), erwiderte Aslan. „Und Sie glauben, daß er Geld hinter sich lassen wird?“

„Mein Gebieter ist weiser, als ein Karabasch. Sein Scharfsinn dringt in den Mittelpunkt aller Dinge, und nichts ist verborgen vor seinen Augen. So ist’s, wie mein Gebieter gerathen.“

„Es ist gut!“ entgegnete der Pascha. „Wenig sind der Piaster, die letzthin ihren Weg in den Schatz gefunden haben. Inschal’lâh (ich hoffe zu Gott), daß es so sei, wie Sie gesprochen, Benezer. Die Achtung vor der Gerechtigkeit muß im Verfall sein, sonst würden wir nicht so magere Geschenke bekommen. Ein Bokschah oder Anali (Taschentuch oder Handspiegel), das hält man jetzt für entsprechende Spenden an die Vertreter des Herrn der drei Meere. Doch nun vorvärts. Es ist Zeit. Gel!“ (Komm!)

Der Pascha arbeitete sich mit großer Anstrengung auf seine Füße, wobei ihm zwei Nefers[1] wörtlich unter die Arme griffen. Als diese ihn wie einen Leuchter oder eine Puppe auf die Füße gebracht hatten, unterstützten sie den Gapsenden und Wankenden unter den Ellenbogen und machten es dem „Günstling des Padischah“ möglich, vorwärts zu schreiten. Ihm folgten sechs Soldaten der Garde und ein Officier, außerdem sein Schwertträger, sein Oberster der Kaffeebereiter, der Spiegel- und Börsenträger, der Träger und Füller der Pfeife, zwei Mantelträger, ein Träger des großen Mantels, sein Hauptmann des Marstalls, der Inspector, der Aufseher, der Executor und Henker und noch viele untergeordnete Beamte.

Langsam und feierlich ließen ihn die Nefers auf die weichen, einsinkenden Kissen des Divan am obern Ende der Audienz- und Gerichtshalle nieder. Die Menge der Kläger und Verklagten, welche am Eingange zu beiden Seiten standen, falteten demüthig über die Brust ihre Hände, breiteten dann die innern Handflächen nach oben aus, und stürzten sich mit der Stirn gegen die Erde. Die Beamten an der Thür trieben dann die Leute heran, den Saum des Gewandes vom Pascha zu küssen. Aber der Pascha war sehr gnädig und herablassend, und gab den Nahenden freundlich die Hand. Jeder nahm diese mächtige Hand mit vieler Andacht, beugte sich nieder, und legte sie sich ein Weilchen auf seinen Kopf.

„Lah illàh el il l’Allàh! Muhamed il resul Allàh!“ (Es gibt keinen Gott, als Gott! Muhamed ist der Prophet von Gott) rief der Secretair des Gerichts mit singender Feierlichkeit. „Allàh schekier! (Lob sei Gott) Die ganze Erde muß kommen für Gerechtigkeit in diese Zuflucht vor das Auge des Schattens vom Padischah. Laßt nun Alle, die Gerechtigkeit wollen, darum bitten und sie sollen die Gabe erhalten!“

Als der Secretair diese Worte gesprochen, machte sich ein ältlicher Türke mit grauem Bart aus der Menge los, schritt rasch durch die Halle bis in die leere Mitte, warf sich auf seine Kniee und murmelte dreimal: „Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!“

Der Secretair breitete Pergament auf seinen Knieen aus, tunkte die Feder in das Tintenfaß an seinem Gürtel, und hielt sich bereit, die Sprüche des Spiegels der Gerechtigkeit niederzuschreiben.

„Wer ruft um Gerechtigkeit? Sprich! Wir hören!“ sagte der Pascha.

„Möge das Leben meines Herrn sein, wie seine Macht, ohne Ende und sein Schatten nie abnehmen!“ rief der alte Türke. „Der Ruf meines Herrn hat sogar die Thore von El Masr (Cairo) erreicht, und das Licht seines Scharfsinnes entdeckt Geheimnisse, verborgen in der Finsterniß der Mitternacht. Deshalb bin ich gekommen, ich Suleiman, der Specereihändler von Divan Yuli (Divanstraße), um den Richterspruch des Widerscheines vom Padischah gegen Ibu Scheitan Kahuur, den schwarzen Sclaven, der meine Casse hat in meiner Abwesenheit, zu erflehen.“

„Gut. Du sollst haben, was Recht ist. Denn bin ich nicht hier wie der Padischah selbst, die Sonne der Gerechtigkeit und der Schatten des Universums?“ rief der Pascha.

„Taibin! Taibin! (Ausgezeichnet! Sehr gut!)“ schrieen die Beamten in seiner Nähe, und ein Beifallsgemurmel lief durch den ganzen Saal.

„Mein Herr, der Pascha,“ nahm der alte Türke wieder das Wort, „haben ohne Zweifel den Ruf Suleimans vernommen, der die kaiserlichen Essenzen bereitet. Ich habe die Eigenschaften wohlriechender Pflanzen zu meiner Wissenschaft gemacht, bis ich alle Gelehrten dieses Faches herausfordern konnte. Selbst die Wissenschaft der Franken ist nur ein Stäubchen in der Sonne meiner Wissenschaft von allen wohlriechenden Essenzen. Vor einigen Wochen erfand ich nach hundert kostbaren Versuchen eine neue Essenz, deren Vorzüge alle andern Essenzen unter dem Himmel zusammengenommen übertrafen. Ein einziger Zug davon mit dem Athem war wie der Eingang in’s Paradies. Ein Fläschchen davon blos zu öffnen, gab so viel Wonne, wie die Bekehrung aller Ungläubigen. Sie war geboren aus dem Geist der Rose, und wer sie roch, brauchte lange Zeit, um vor Entzücken wieder zu sich zu kommen. Dieser Sohn hier eines verbrannten Vaters stahl mir nun die einzige Flasche dieser Essenz, klein wie eine Erbse, verkaufte sie an einen listigen Franken, der die Natur dieser Essenz entdeckte und nun nachmacht. Dieser Kahuur hat mich und die höchsten Harems und die Houris im Paradiese um die höchste Wonne gebracht.“

„Kahuur, tritt vor!“ befahl der Pascha.

Der schwarze Nubier ward hervorgestoßen. Er warf sich winselnd auf den Boden und schrie um Gnade. Aber auf des Pascha’s Befehl ward er in eine Ecke gebracht, an den Füßen entblößt und an eine Holzstange gebunden, die von zwei Männern gehalten wurde, während sie mit den freien Händen dicke lederne Riemen hervorzogen, um wechselsweise die nackten Füße zu schlagen. Der Schwarze schrie fürchterlich, seine Augen rollten entsetzlich vom Boden herauf, in welchen er biß, den er mit den Handen kratzte. Die beiden Diener der Gerechtigkeit fuhren ruhig fort, die Füße [550] des Schuldigen zu bearbeiten, bis der Pascha sein Themum! (Genug!) rief. Der Schwarze ward jetzt losgebunden, und auf den Händen kriechend zur Thür hinausgelassen.

Jetzt warf sich ein alter Jude hervor und begann seine Klage: „Ich rufe zur Glorie der Wahrheit! Werd’ ich rufen vergebens zu dem allmächtigen Pascha, welcher der Athem ist in den Nasenlöchern seines Sklaven? Ich machte ein Geschäft mit dem schmutzigen Griechen Angiolo.“

„Angiolo trete vor!“ rief der Pascha, und es geschah. Der Jude fuhr fort:

„Ich kam mit ihm überein, o Rose der Gerechtigkeit, ihn zu machen zum Eigenthümer von zwei Packeten meiner feinsten Bokschäs für –“

„War die Steuer darauf bezahlt?“ unterbrach ihn der Pascha.

„Die Weisheit des Spiegels der Gerechtigkeit ist wunderbar!“ rief der Jude. „Alle Geheimnisse liegen vor ihm, wie die Erde um Mittag vor der Sonne. Wer kann etwas bergen vor der Sonne aller Wissenschaft? Bei den Gebeinen Abrahams, würde ich nicht thörichter sein, wie ein Hund, wollte ich etwas zu bergen suchen, der ich weniger bin als ein Sklave in seinen Augen? Ich brachte die Tücher in’s Zollhaus, aber Namik, an welchen ich alle Steuern zahle, war abwesend. Ich zeigte die Tücher seinem Secretair und sagte ihm, daß ich schon einen Käufer für sie habe, und die Steuer später bringen werde.“

„Latitscha,“ rief der Pascha dem Secretair zu, „schreib, daß der Jude 100 Piaster Strafe wegen Umgehung der Steuer zu zahlen hat, und Angiolo, der Grieche, 50 Piaster wegen Ankauf unversteuerter Waare. Wo verkauftest Du die Tücher, Ungläubiger?“

„Im Bazaar,“ jammerte der Jude händeringend.

„Also in der Stadt, Latitscha, schreib, daß der Jude außerdem 100 Piaster zu zahlen hat wegen verbotener Geschäfte in der Stadt. Hebräer, Deine Sache ist abgethan. Nein! Latitscha, schreib, daß der Jude noch andere 100 Piaster Avania wegen grundloser Klage zahlen muß. Nun ist’s gethan.“

Unter allgemeinem Beifall wand sich der alte, weißbärtige Jude zum Saale hinaus, in welchem jetzt ein Beamter eine jener alten Weiber vorführte, die man in türkischen Städten so häufig als Hausirer mit Blumenbouquets, Zauberformeln, Parfümerien und „Geheimnissen für die Harems“ antrifft.

„Welche Klage liegt gegen dieses Weib vor?“ frug der Pascha den Beamten Saider.

„Keine,“ antwortete das Weib, „keine, Effendiman!“ (mein Meister).

„Dies Weib,“ antwortete Saider, „ist schon öfter wegen ihrer Missethaten vor Gericht gewesen. Es ist die bekannte Seinip Hanum.“

„Was hat sie gethan?“ frug der Pascha.

„Nichts, Effendiman,“ antwortete sie zuversichtlich. „Saider gibt mir Schuld, was eine Tochter von einem Kamal gethan, welche gewisse Botschaften in den Harem von Saraf Pascha einschmuggelte.“

„Thaten Sie nichts Aehnliches?“ frug Aslan.

„Nicht jetzt, mein Auge! Nicht daß ich leugnen sollte, früher solche Dienste, für manchen Sikdam (jungen Herrn) der Stadt geleistet zu haben. In den feinsten Harems hab’ ich Kleinodien verkauft, mit den Worten der Leidenschaft darauf von Goldstaub auf Rosenblättern. Ich habe –“

„Maschallah, sie spricht von Dingen, die schandbar zu hören sind. Was soll’s mit diesem Weiber-Bosch?“

„So sagen sie Alle öffentlich,“ erwiderte die unerschütterliche Seinip. „Aber sehen Sie, Effendiman! Seinip weiß Diamanten von Kohle zu unterscheiden und falschen Zorn von wahrer Leidenschaft. Seht, was ich für Kostbarkeiten in meinem Korbe habe! Seidene Shawls, umgeben von Liebesballaden des Hafiz in echtem Golddruck, Specereien von Arabien und fernern Ländern über den Meeren, Bilder mit Rahmen voller Herzensergießungen und Calams (Federn), deren Worte, wenn discret damit geschrieben, sanfter athmen, wie der Duft von Rosen, Bouquets zum Schutz gegen das böse Auge, Zaubersprüche und Ringe und Amulets und – was ich Ihnen besonders empfehle, Effendiman, ein Kästchen mit Essenzen und Liebesgetränken, mit einem Zauberspruch am Boden, durch welchen, wenn das Kästchen bei abnehmendem Monde die Nacht hindurch ungeschlossen bleibt, am Morgen jedesmal hundert Piaster gefunden werden.“

„Inschallah, Ihr Geheimniß ist werth zu lernen!“ rief der Pascha.

„Effendiman, mein Auge, da ist es!“ rief das Weib, indem sie das Kästchen ihm hinauf reichte.

„Latitscha!“ rief jetzt der Pascha, „schreib: Saider hat 50 Piaster Strafe wegen falscher Anklage gegen eine gute Muhamedanerin zu zahlen.“

Nach diesem Spruche des Lichtes der Gerechtigkeit entstand eine große Bewegung im Saale. Eine junge Dame in feinster Kleidung trat plötzlich aus einem Nebengemache hervor mitten in den Saal.

Der Pascha und alle seine Beamten sahen mit verstohlenen Blicken auf die reizende Creatur. Ihre großen, schwarzen Augen strahlten mit dem unheimlichen Feuer, den die Schönen vornehmer Art auf Kosten ihrer Gesundheit durch den Gebrauch der Belladonna erkaufen. (Auch Arsenik gibt unnatürlichen Augenglanz, wie viele englische Damen wissen und beweisen.) Die Wangen glänzten weiß und marmorn aus dem feinen Nebelschleier ihres Yasschmack, mit röthlichen Hauchen in der Mitte. Die langen Aermel ihres Mantels waren zurückgeschlagen und enthüllten runde, alabastern scheinende Arme. Ein Kranz von Perlen und Blumenzweigen band einen Theil ihres sonst frei fließenden, lockigen schwarzen Haares in reizendem Contraste zu schneeweißen Schultern.

„Salam Aleikum!“ (Friede sei mit Euch!) rief sie ohne Spuren der Demuth und Sklaverei, und fuhr mit gebieterisch erhobenem Finger fort: „Pascha, ich verlange Ihren Schutz gegen meinen Gatten!“

„Inschallah!“ rief dieser. „Ein Weib hat kein Recht, die Wünsche ihres Gatten zu bestreiten, außer in Fällen von Blödsinn oder Grausamkeit. Er ist ihr Herr und sie dagegen Bosch, weniger als Bosch in seinen Augen.“

„Wallah!“ rief die Schöne mit höher erhobenem Finger. „Er ist ein Grausamer und Blödsinniger dazu, seinem Weibe so zu begegnen. Ich hatte eine Sklavin, Saida Hanum, vor meiner Verheirathung und brachte sie mit. Er sah auf sie mit unverschämtem Auge. Ich sandte sie deshalb fort zu einer Freundin. Aber er fand sie aus, und brachte sie zurück.“

„Warum zeigten Sie ihm nicht die Sohlen Ihrer Schlafschuhe?“

„Ich that es, mein Herr, und hatte schon Lust, sie auch mit seinen Ohren in Berührung zu bringen.“

„Guzel! Guzel!“ (Sehr gut! Sehr gut!) rief der Pascha, während die Schöne einen schweren Beutel Geldes hervorzog und ihn zu ihm hinauf befördern ließ.

„Wenn weitere Kosten entstehen,“ setzte sie hinzu, „laßt sie durch den Secretair einziehen. Ich brauche hier nicht zu sparen.“

„Guzel! Guzel!“ rief der Pascha nochmals, und setzte hinzu: „Die Sache ist sehr ernst, wenn ein Weib, ruhig und harmlos, wie Sie sich zeigen, genöthigt wird, den Boden ihres Schlafschuhs gegen die Ohren ihres Gatten zu bringen. Ich sehe, daß Sie im Rechte sind, an Ihrer Ruhe, denn diese ist blos mit dem Gerechten. Ich will ein Schreiben an Ihren Gatten senden, welches ihm das Recht zeigen soll. So lange der Günstling des Padischah zu Gericht sitzt, soll kein Weib ungerecht von ihrem Gatten behandelt werden.“

Die Schöne machte ihr graziöses, würdevolles „Salam“, der Pascha erwiderte es, und sah der leise Abtretenden entzückt nach. Dann erklärte er sich für zu müde, um noch weiter Recht sprechen zu können. Er übergab also die weitere Rechtspflege dieses Tages und seinen Platz dem Kadi. Von seinen Nefers geführt und halb getragen, von seinen Beamten und Dienern umgeben, zog sich der Pascha wankend und wackelnd zurück. Wir folgten ihm, hinlänglich belehrt und unterrichtet über türkische Rechtspflege.



[551]
Die Dattelpalme.

Ein Araber hatte mit der größten Aufmerksamkeit einem Engländer zugehört, wie er die Schönheiten Großbritanniens rühmte, die Dampfmaschinen, die Eisenbahnen, die Gaserleuchtung, die elektrischen Telegraphen u. s. w. und fragte dann sehr lebhaft: „Gibt es auch viele Dattelbäume in Ihrem Lande?“ Der Engländer antwortete ihm, daß man einige Exemplare auf nationale Kosten im Palmenhause zu Kew unter Glas und Rahmen pflege, sonst aber keine Dattelbäume zu finden wären. Mit dem lebhaftesten Mitleiden sah er den Engländer an und zeigte von da an nie wieder Lust, etwas von dem Abendlande zu hören. Was ist dem Araber ein Land ohne Dattelpalmen? Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, dampfgetriebene Spindeln zu Millionen, Tausende, Hunderttausende von Gaslichtern, der grüne, blumenbesternte Erdenhimmel von Wiesen, Eichenwälder – was sind sie ohne Palmen? „Womit erquickt Ihr Eure Augen in Sonnengluth, wenn keine hoch oben wiegenden Palmenzweige Kühlung herabfächeln? Womit vergleichen Eure Dichter die Taillen ihrer Schönen, wenn nicht mit Palmenwuchs? Nun versteh’ ich erst, warum sich jedes Jahr mehr Franken nach Egypten und den Nil herauf drängen.“

So schloß der Araber sein aufrichtiges Mitleiden mit Europa. Die Dattelpalme ist das Rennthier der brennenden Wüste, Feld, Garten, Speisekammer, Weinkeller und allgemeine Lebensbedingung Arabiens, Egyptens und der meisten asiatischen und afrikanischen Wüstenvölker. Die arabische Sage läßt den Dattelbaum von dem Thone entstehen, den Gott Allah übrig behielt, als er die ersten Menschen aus Thon modellirt und gemeißelt hatte. „Liebe den Dattelbaum wie Deine Eltern,“ sagt der Araber und ist stolz auf den fast wörtlich sich bestätigenden Glauben, daß er blos in Ländern der Gläubigen des Islam wachse. Der Araber stellt den Dattelbaum sich selbst, dem ganzen Menschengeschlechte gleich: „Wie der Mensch sich vor allen anderen Geschöpfen durch seinen aufrechten Gang auszeichnet, so erhebt die Palme schlank, stolz und gerade ihre Hauptkrone gen Himmel. Welches Geschöpf ist so schön wie der Mensch, und welcher Baum prächtiger im Walde, als die Palme? In ihrem Haupte quillt das schönste Gehirn, wie in dem Kopfe des Menschen. Schneide der Palme und dem Menschen diesen Kopf ab und es wächst kein anderer, wie anderen Bäumen. Schneide der Palme die Zweige ab und sie wachsen eben so wenig wieder, wie ein abgehauener Arm. Das Haupt der Palme hat einen haarigen Schmuck, wie der Kopf des Menschen. Die Geschlechter sind abgesondert, so daß der einzelne Dattelbaum oder Mensch zu ewiger Unfruchtbarkeit verdammt sind. Der männliche Palmbaum steht unter den weiblichen, wie der Sultan in seinem Harem. Die weiblichen haben aber mehr Freiheit mit ihrem Herzen. Manche solche Schönheit verschmäht es, sich von der nächsten männlichen Palme befruchten zu lassen und streckt ihre sehnsüchtigen, welken Zweige nach einer benachbarten Oase. wo der Geliebte ihres Herzens sich schlank in maijestätischer Schönheit erhebt. Ein solcher liebesiecher Baum kann nur geheilt werden, wenn man Blüthen von dem Geliebten in ihre Zweige bindet.“ – Letztere Sage ist beinahe eben so poetisch, wie die Heine’schen Königskinder und schöner als der im Norden einsam trauernde Tannenbaum, liebesüchtig träumend von einer südlichen Palme. –

Kein Mitglied der vegetabilischen Welt spielt eine so schöne und wichtige Rolle in Religion, Geschichte, Kunst und Poesie, als die Palme, nicht die indische oder egyptische Lotosblume, nicht der celtische Mistelzweig oder die französische Lilie oder der normännische Ginster. In der heiligen Schrift, besonders im neuen Testamente, schmücken Palmenzweige die schönsten und erhabensten Scenen, aus denen die „Palmen des Friedens“ bis in unsere Zeiten und in unsern Norden eingedrungen sind. In der östlichen und classischen Mythologie und Blumensprache ist die Palme Symbol alles Schönen und Siegenden. Sie umwehete den Tag des Triumphes, den Christus auf Erden feierte. In der christlichen Sprache bedeutet sie oft den Sieg über Hölle und Tod und die Auferstehung, wie im alten Griechenthume, das den „Phönix“ (zugleich griechischer Name der Palme) und sein aus eigener Asche hervorgehendes neues Leben zur Veranschaulichung des Auferstehungsglaubens erfand. Das segensreiche Leben der Palme ist in deren Krone, weshalb sie sinnreich zur Krone des Märtyrers, dessen Lohn ewiges Leben und ewige Dankbarkeit der Nachwelt ist, gewählt ward.

Die erhabene egyptische Baukunst verdankt ihre kolossalen Formen der Palme. Sie war das erste Muster für die alten egyptischen und griechischen Colonnaden. Der vollendetste Tempel Egyptens in Edfou verdankt seine Erhabenheit der treuesten Nachahmung schlanker Palmen mit luftiger Blätterkrone und schwer niederwiegenden Früchten. Selbst während der Zeit vollendetster Baukunst lernten die Egypter und Griechen noch von der Palme. Die hohen Säulen Egyptens und der Akropolis von Athen nehmen nach oben in dem Grade zu, als die zunehmende Entfernung, vom Auge deren Umfang scheinbar verkleinert, so daß sie nun von unten gleichmäßig groß erscheinen. Dieses optische Anwachsen ist zum Theil getreu dem nach oben anschwellenden schlanken Palmenstamme entnommen.

Der Einfluß, den die Palme von jeher auf die Er- und Empfindung der Menschen ausübte, ist leicht erklärlich. Sie ist der stolzeste, schönste, segensreichste, individuellste Baum. In letzterer Eigenschaft konnte sie Goethe zum Repräsentanten aller klimatischen Einflüsse auf den Menschen, d. h. des wesentlichen Theils ihrer Nationalität, Geschichte und Cultur machen. „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen.“ Das heißt: von den Klimaten ist das Palmen-Klima das stärkste, mächtigste über den Menschen und am schärfsten begrenzt. Aber Niemand wandelt auch unbelohnt unter Palmen. Man mache sich ein Bild von der unerschöpflichen Fülle ihrer Schönheit und Lebensquellen im Palmenklima. Der Wüstenreisende – und die Palme ist wesentlich Krone und Bedingung aller Oasen – kennt nichts Schöneres und Erhabeneres als den Palmenhain. Er ist hart, unempfindlich, aber die aus der Ferne winkende Palme macht ihn weich und andächtig und beflügelt seine ausgebrannten Schritte, wie ein himmlischer Zauber. Seine Karavane hat sich Tage, Wochen, Monate lang durch die baumlose, weglose, spurlose, wasserlose Wüste, durch Wogen glühenden Sandes, durch Wogen glühender Luft unter dem glühenden Himmel hingewunden. Kein Grashälmchen, keine Spur eines fliegenden oder nur kriechenden Lebens, keine Abwechselung als dunkler, glasiger Fels mit gelbem, haltlosem, heißem Sande, Gluth und Licht strahlend und die Augen des Arabers zusammenziehend zu Knopflöchern mit einem kleinen, blitzenden Diamanten dazwischen und das Gesicht selbst der Jugend zu tausend Falten verschrumpfend, Sand am Tage den Fuß verbrennend und in der Nacht eisige Kälte ausstrahlend. Endlich entdeckt das schärfste Auge aus dieser ewigen Sandwüste hervorschimmernd eine dunkele, hervorragende Stelle, vom lebhaften schreitenden, hoch und weithinschauenden Kameele schon erspäht. Die ausgeglühtesten, hinwankenden Wanderer eilen mit neuer Kraft den schneller schreitenden Kameelen nach. Der vorher todesmüde, stumme Marsch wird mit jedem Schritte rascher, lebendiger und stürzt sich endlich mit jauchzendem Galopp unter das lustige, duftige Säulenwerk der Palmen-Oase. Kein dicker Urwald ist so erquickend, als der von oben mit graziösem Blätterrauschen gegen den Sonnenstrahl geschützte und von allen Seiten jedem Luftzuge offene Palmenhain der Wüste, dieses Leben mitten im weiten Tode. Der Wind säuselt seiden und schilfig durch die dichten Fächer der Palmenkronen, Vögel zwitschern und schillern lustig dazwischen und langgeschwänzte Jerboa’s reißen die lustigsten Possen und riskiren ohne Risiko die fabelhaftesten gymnastischen Kunststücke an deren schlanken Stämmen. Der Boden unten ist auf die kostbarste Weise persisch beteppicht mit der delicatesten Vegetation, zwischen welcher unzählige Arten von Koleopteren freudig umhersummen. Das aus der Wüste hier verdichtete, warme Naturleben genießt sich hier voller, freudiger und üppiger, als in den Paradiesen ununterbrochener Blüthe und Fruchtbarkeit.

Aber das sind blos die geringsten, nur ästhetischen Genüsse, die der Wüstensohn seinen Palmen verdankt. Sie sind die Bedingung seines physischen Lebens und fast die einzige Quelle desselben. Alles, was er ißt und trinkt und als Erquickung oder Luxus genießt, liefert ihm die Dattel-Palme. Deren Frucht ist frisch und getrocknet, roh oder gekocht die angenehmste, nahrhafteste Speise des Pflanzenreichs. Die fleischige Wurzel der jungen Blätter in der Krone des Stammes liefert Gemüse zu dem Dattelfleische

[552]

Die Dattelpalme.

und ist zugleich das kräftigste Mittel gegen Scorbut und andere Krankheiten. Das weiße Mark oder Gehirn der Krone liefert ein Mahl für sechs bis acht Menschen. Alle Hausthiere, Pferde, Schafe, Hunde, Kameele, Ziegen u. s. w. lieben jeden Theil der Dattelpalme und gedeihen davon. Die langen Dattelsteine liefern gestoßen und gemehlt das nahrhafteste Brod für Kameele und Kühe. Die „Haare“ der Dattelpalmenkrone geben Flechtwerk für Matten, Körbe, Tücher u. s. w. Von den Blattrippen macht man große Packkörbe, Bogen, Meubles, Stöcke, von den ganzen Blättern schattige, kühle Dächer und Ueberhänge zu Verandas in Wüstendörfern, von den dünnen Enden derselben vortreffliche Besen. Die fibröse Masse, welche zwischen dem Stamme [553] und den Blätterzweigen wächst (lif), wird zu Badeschwämmen verfilzt oder zu Bindfaden, Stricken und Tüchern versponnen und verwoben. Der Stamm selbst gibt vortreffliches Bauwerk für den luftigen Styl der Araber und Beduinen, ein Bauholz, das sich, wie der starke, freie, von außen und oben belästigte Mann, nicht niederdrücken läßt unter Druck, sondern aufwärts beugt, wie schon Plutarch erzählt. So wird der ganze Baum von der Wurzel bis zum Gipfel der Bevölkerung ein immerwährender Segen und von der Krone aus just zur Wasser- und Erquickungsquelle, die unten fehlt. Die aufgeschnittene Krone der Dattelpalme liefert je drei bis vier Monate lang täglich etwa eine Gallone süßen milchigen Saftes, das Lieblingsgetränk der Araber. Am ersten Tage süß wird er von Allen getrunken, am zweiten Tage säuerlich und moussirend dient er den lockeren Gesellen zur Berauschung, zumal da er am dritten Tage zu Essig wird und deshalb kein Grund zum Schonen eintritt. Dieser „lagby“ ist Nahrungs- und Erquickungs-, respective Berauschungsquelle. Auch macht man von den Datteln selbst Most und Wein und später Spiritus, den der Koran nicht verbietet, wie den Traubensaft.

Von der Dattel macht die arabische Hausfrau ihrem Herrn und Gebieter je einen ganzen Monat lang täglich ein ganz neues, anderes Gericht, was bei uns mit der armseligen, in allen möglichen Maskirungen verwendeten Kartoffel kaum möglich ist. Und dabei bleibt die Kartoffel immer Kartoffel; die Dattel aber ist schon von Geburt eine der edelsten und hochgeborensten schönen, braunen Töchter des tropischen Pflanzenreichs.

In unsern kartoffelunseligen Regionen kennt man die Dattel nur aus Kisten in zerquetschter, schrumpflicher Backbirnform und nur als Luxusartikel, obwohl wir sie, wenn’s überall mit rechten Dingen zuginge, so wohlfeil wie Kartoffeln essen könnten. Wenn man auf Kartoffelfeldern mit besseren Producten Geld machte, würden wir unsere Kartoffelvermäckerung los und äßen und tränken dafür süße, nahrhafte Palmenbrode. In England kann man zuweilen schon ein Pfund Datteln für den Preis eines Pfundes Brod kaufen, in der Regel freilich durch zweite und dritte Hand nur für sieben bis zehn Silbergroschen. Aber die Palmengegenden sind so groß und culturfähig, daß alle Menschheit Datteln für Kartoffeln oder gar Brod essen könnte. Datteln sind verdaulicher und nahrhafter, als das dreifache Gewicht von Brod, sehr zuckerhaltig und angenehm belebend. Das ganze ungeheuere Nilthal und ein großes Oaseninselmeer durch die Wüste von Egypten bis Fezzan ist dattelpalmengünstig und könnte, wenn ordentlich bepflanzt, ganz Europa mit so viel Datteln versehen, daß es sich damit auf die nobelste Weise von dem Uebel der Kartoffelnahrung zu erlösen im Stande sein würde.

Ein angesehener Egypter, früher Director der Agriculturschule Mehemet Ali’s und Eigenthümer eines großen Grundstücks bei Cairo, widmet sich besonders der Ausbreitung der Dattelpalmen-Cultur aus Saamenkernen und hat schon jetzt die Erfahrung gemacht, daß in dortigen Gegenden nichts lohnender ist, als dieser Feldgartenbau. Die luftige Palme beeinträchtigt mit ihrem Schatten keinerlei Saat darunter. Auch die fast senkrecht tief in den Boden treibenden Wurzeln nehmen oben keine Nahrung weg, so daß die Araber mit Vortheil unter Palmenreihen säen. Im fünften Jahre fangen die Früchte an, vom funfzehnten an bis zum zweihundertsten liefert jeder gesunde Baum jährlich für fünf bis sechs Thaler Früchte (abgesehen von aller übrigen Verwerthbarkeit). Dabei thut der Baum der Getreide-, Baumwollen- und Zuckerernte nicht den geringsten Schaden. Bei Anlegung und Zucht von Palmenhainen kämpft man bis jetzt nur noch mit der Schwierigkeit, die rechte Zahl und Mischung von männlichen und weiblichen Bäumen, ohne welche keine Fruchtbarkeit möglich ist, zu erzielen. Man ist jetzt in Egypten eifrig damit beschäftigt, in den Saamenkernen den künftigen männlichen oder weiblichen Baum zu erkennen. Die Behauptung, daß die Art der Zahnung an dem Kernschlitze das Geschlecht des Baumes verrathe, bedarf noch der Bestätigung. Wissenschaftliche Botaniker Europa’s würden jedenfalls bald im Stande sein, genaue Symbole des männlichen und weiblichen Kerns zu entdecken und sich so um die Palmencultur, also mittelbar auch um unsere Nahrungsveredelung, verdient zu machen. Der Vorschlag eines Engländers, das Geschlecht der Palmenbäume durch wundärztliche Operationen zu forciren, wurde von dem Egypter verlacht und wie jeder andere Vorschlag verworfen, da er blos auf eigenem experimentalen Wege zu einem erwünschten Ziele zu kommen hofft. Es wäre aber gut, wenn das Mikroskop wissenschaftlicher Botaniker dieser egyptischen Cultur, also auch unsern Tischen und Nahrungsmitteln, zu Hülfe käme.

Es gibt wenigstens 150 verschiedene Arten der Dattelpalme, jede klimatisch beschränkt und eigen. Früchte tragen sie blos zwischen dem achtzehnten und dreißigsten Grade nördlicher Breite, am liebsten in offenen, warmen und heißen Ebenen mit einer Thonschicht unterhalb des Sandes, ungern in der Nähe des Meeres und unter den heftigen tropischen Regengüssen. Das eigentliche Palmenklima erstreckt sich von den südlichen Theilen Persiens und Indiens über Nordafrika hin bis zu den kanarischen Inseln, wo zum Theil kein menschliches Leben ohne Palmen möglich wäre. Die Süßigkeit, Größe und Schönheit der Dattel hängt vielfach von menschlicher Kunst und Arbeit ab. Die künstlichen Datteln von Beled-el-dscherid (Biledulgerid), Siva, Medina und Yemen sind süße Früchte sauern Schweißes und sorgfältiger Schulung. Die Bäume werden dort künstlich bewässert, gedüngt und gezogen. Dort liefert eine vollständig ausgebildete Palme jährlich zwischen drei- und sechshundert Pfund Früchte, die der Eigenthümer für fünfzehn bis dreißig Thaler verkauft und der Europäer im Detail mit fünfzig bis hundert Thalern bezahlt – also zugleich ein mächtiger, profitabler Handelsartikel. Die größesten und berühmtesten aller Datteln sind die von Ibrim am Nil oben in Nubien, wo einige Bäume je funfzehn kolossale Trauben, jede bis sechzig Pfund schwer, mit drei Zoll langen Früchten trägt. Süß sind diese Lasten und ein wahrhaft erhebender Anblick, wenn sie aus den schlanken, säuselnden, graziösen Bäumen herausquellen und sich allmählich mit heiterm Gelb am blauen Himmel und zuletzt mit der schönsten, strahlenden Goldbronze überhauchen und den magern, sehnigen Schnitter einladen, die federleicht in der Luft hängende Last zu ernten und als schweren Schatz des Himmels und der Erde hinabzusenken.

Das ist die Dattelpalme, „ein Baum, gepflanzt an den Ufern der Wasser, zeitig seine Früchte bietend mit Blättern, die nicht vergilben und verwittern und mit Allem, was der Baum thut, erfolgreich und voll Segen.“

Der Pulsschlag und die Nerventelegraphie aller Cultur besteht wesentlich in der sich ausgleichenden Spannung zwischen den verschiedenen Gütern dieser Erde. Je mehr wir z. B. Datteln lieben und vor Liebe aufessen, desto kartoffelfreier und cultivirter werden wir zugleich durch Beförderung der Cultur unter den größtentheils räuberischen oder diebischen Palmenvölkern. Warum sind diese Räuber? Weil wir nicht genug Datteln essen und ihnen für unsern Ueberfluß abkaufen. Die Politik hält lieber Kriegsschiffe gegen sie und sucht sie zu erobern, statt sie durch ehrliches Handeln zu Menschen zu machen und statt ihren Culturtrieb, d. h. den Trieb, auch etwas Anderes neben den Datteln zu genießen, durch Angebot unseres Ueberflusses gegen Dattelaustausch zu befriedigen. Mit einigen afrikanischen Stämmen haben’s die Engländer versucht. Sie kaufen ihnen Palmenöl ab und machen die Neger zu braven Menschen und sich Lichter davon; in allen übrigen Beziehungen halten sie immer noch Raub, Plünderung, Mord und Todtschlag für die einzig ehrenvolle, auswärtige Politik und lassen deshalb In- und Ausland verwildern.




Eine Erinnerung an Schillers Familie.[2]

Einer der besten Schüler des berühmten Forstmanns Cotta, Georg König, zu der Zeit, wo Cotta Eisenach verließ, eisenachischer Förster in Ruhla, begann noch in demselben Jahre dort eine kleine Lehranstalt, die nach wenigen Jahren wegen des Zuströmens zahlreicher junger Forstpraktikanten erweitert werden mußte. Sie ist ungefähr vierzehn Jahre später nach Eisenach verlegt worden, [554] wo König als großherzogl. Forstrath angestellt wurde, und blüht noch heutigen Tages unter der Leitung eines nicht minder wissenschaftlich gebildeten Forstmannes. Die Zöglinge dieses Instituts von seinem Beginn bis zum Herbst 1817, wo ich meinen Geburtsort verließ, machen einen großen Theil meiner schönsten Jugenderinnerungen aus. Nicht, daß ich mich ihres Umgangs oder auch nur ihrer Aufmerksamkeit zu erfreuen gehabt hätte (eine später näher zu bezeichnende Aufmerksamkeit ausgenommen), dazu war ich doch zu jung, zu unbedeutend, zu knabenhaft blöde, aber ich durfte doch Herz und Sinn an der frischen Jugendkraft, an der schönen Gestalt und dem noblen Wesen dieser zumeist aus sehr vornehmen Familien stammenden Jünglinge ergötzen. Größtentheils kamen sie weit her, besonders aus dem Norden, aus Preußen, Meklenburg, Dänemark, Schweden, Rußland; Grafen, Barone, Edelleute, reich, schön, stolz und voll keckem Jugendmuth und glühender Lebenslust. Es war ein ungemein erfreulicher Anblick, die herrliche Berggegend, die üppigen Wälder von diesen jugendlichen Jagdgesellen belebt zu setzen, von denen wohl mancher, wie weiland sein berühmter Standesgenosse Endymion, das Herz einer keuschen Diana in Flammen zu setzen vermocht hätte. Wenn nun auch keine Diana da war, so waren doch genug holde und reizende Rühler Waldmädchen vorhanden, die ihre Herzen an die stattlichen und noblen Forsteleven verloren. Die Berge und Wälder dort bieten sich gleichsam von selbst zu Liebesversteck und Rendezvous, und ich glaube, die lauschigen süßen Plätzchen in der romanhaften Waldeinsamkeit sind damals zu zwei und zwei stärker besucht worden, als früher und später. Ebenso wurden die Tanzsäle im Orte und in der nächsten Umgegend zu Tempeln erhöhter Freude und Lust; denn wer tanzte schöner, wer war galanter, als der schlanke knapp gekleidete Forsteleve und eingedenk ihrer Geburt und ihres Standes zeigten sie sich ritterlich, kühn und tapfer, stets bereit, für die Ehre ihrer Damen einen Strauß zu bestehen. Daran fehlte es denn freilich auch nicht, und die Rühler Bursche hatten nicht selten Ursache, das Forstinstitut mit allen Eleven zum Teufel zu wünschen. Eifersüchteleien, Neckereien und Katzbalgereien gab’s genug, aber die jungen adligen Herren blieben auch hier wie fast überall und zu aller Zeit Sieger. Das demokratische Element konnte sich nur ärgern und abgetrumpft mit stillem oder lautem Grolle zurückziehen. Wollte es sich patzig machen, so bekam es Schläge. Ein Mal jedoch drehte sich der Spieß ganz unerwartet um und die Herren Eleven wurden ganz gewaltig durchgewalkt. Das war eine famose Geschichte, die sich folgendermaßen zutrug.

In Wilhelmsthal, dem idyllisch reizenden Sonnneraufenthalte des großherzoglich weimarischen Hofes, nur eine Stunde von Ruhla entfernt und zwischen beiden nur prächtiger Bergwald, hatte der neuerbaute komfortable Gasthof in einem Seitengebäude zwei stattliche elegante Tanzsäle, und in beiden zugleich wurde während der schönen Jahreszeit jeden Sonntag getanzt. Der eine hieß der Eisenacher, der andere der Rühler Saal, weil in jenem ein Musikchor aus Eisenach, in diesem eins aus Ruhla spielte, und dort gewöhnlich mehr Städter, hier mehr Bewohner des nahen Marktfleckens tanzten. Die Bauern aus den benachbarten Dörfern waren durchaus von beiden Sälen auf höchst unbillige und ungerechte Weise ausgeschlossen. Sie hatten in einem zweiten Seitengebäude ein drittes bei weitem nicht so hübsches Tanzlocal. Das „Volk“ wurde von der Geburts- und Geldaristokratie, Bureaukratie und Bourgeoisie, wie immer, so auch hier in den „Stall“ verwiesen. Plötzlich wollten sich die Bauern das nicht mehr gefallen lassen, und ich vermuthe nicht ohne Grund, es waren dabei „Hetzer und Wühler“ im Spiele, nämlich Rühler Bursche, die von den Eleven beleidigt und zu schwach, um auf eigene Faust Rache zu nehmen, sich hinter die Bauern gesteckt hatten. Genug, eines schönen Tages (wenn ich nicht irre sogar am Pfingstfeste) war ein ungeheures Menschenspiel in dem herrlichen Thale beisammen und in den Tanzsälen ein großes Gedränge. Die Forsteleven dominirten, wie immer, in beiden, vorzüglich aber im Rühler, wo sie mit den köstlich geputzten Gebirgerinnen sich lustig machten, während die Bursche das Zusehen hatten, aber mit boshaftem Lächeln. Man hatte in der allgemeinen Menschenmenge wohl nicht bemerkt, daß der Nährstand auch ungewöhnlich stark vertreten war. Wer kümmerte sich um den dummen Bauer! Plötzlich erschienen acht bis zwölf Paare, junge Bauern und Bäuerinnen im Rühler Saale und tanzten flott in den Reigen hinein. Die Eleven ließen sofort die Musik schweigen und geboten den Bauern, sich unverzüglich zu entfernen. Die Bauern versetzten trotzig: die Herren hätten ihnen nichts zu befehlen; sie (die Bauern) hätten hier dasselbe Recht, wie jeder Andere, mit ihren Mädchen für ihr Geld zu tanzen, und würden sich nicht vertreiben lassen.

Die Eleven machten kurz Federlesen, schlugen zu und wollten die Bauern hinauswerfen. Aber im Nu enthüllte sich die Verschwörung. Ein wildes und furchtbares Geschrei wurde gehört; die rasch zertretenen Stühle lieferten ihre Beine als „gute Wehr und Waffen“; Hunderte von Bauernburschen drängten mit rohen Knitteln bewaffnet die Treppe herauf in den Saal. Was von den Damen flüchten konnte, salvirte sich so gut es gehen wollte, viele mußten aber auf Tischen und Bänken der grausigen Keilerei beiwohnen, die nun losging. Die Forsteleven führten alle Mineralogenstöcke, welche bekanntlich stählerne Griffe haben, die auf der einen Seite einen Hammer, auf der andern ein Beil bilden. Ein kräftiger Schlag mit solch’ einem Stocke „fluscht“ denn gehörig. Aber was half’s, daß die adligen jungen Herrn den jungen Bauern mit den Beilen die Köpfe spalteten, was half’s, daß die Rühler Kaufmannssöhne zu ihnen hielten? ihre Partei war doch die schwächere und wurde mit ungemein erbitterter Heftigkeit aus dem Felde geschlagen. Blut floß von beiden Seiten, Verwundete wurden mit Füßen getreten und mit Mühe hinaufgebracht, die Mädchen, welchen das Blut nicht selten die Kleider bespritzte, kreischten und jammerten, Schläger und Geschlagene brüllten, und die wenige Polizeimannschaft, die herbeieilte, konnte nicht einmal in den Saal herauf, weil die Treppe dicht gestopft mit Bauern besetzt war, die Niemand passiren ließen. Viele Eleven sprangen aus der hintern Seite des Hauses zwei Stockwerk hoch auf das Feld; denn sie fürchteten, von der Wuth der Bauern todtgeschlagen zu werden. Und wahrlich, halb todt wurde manches hochadlige Mutterkind vom Platze getragen. Endlich gelang es den andringenden Gensd’armen, der Schlacht Einhalt zu thun. Nicht wenige von den Eleven lagen lange krank darnieder, von den Bauern kamen die Schlimmsten in’s Zuchthaus.

Eine angenehmere Erinnerung an die Forsteleven bewahrt ein schöner Granitfelsen auf einem lieblichen Plätzchen auf dem Glöckner (vulgo das Glöckel), einem der höchsten und beliebtesten Berge mit köstlicher Aussicht in das Werrathal und nach dem kleinen Bergzuge, welcher vor der Rhön liegt, das Feldethal bildet und seltsamer Weise keinen Namen hat, so wie auf die Gegend des Lustschlosses Altenstein. In diesen Felsen sind die Namenschiffern der damaligen Zöglinge des Instituts eingehauen, nebst den Worten: „1813 wurde hier gepflanzt für 1871.“ Diese Pflanzung, das Werk der Forsteleven, ist jetzt ein dichter prächtiger Tannenwald. Diejenigen, welche von den im Granit verewigten Jünglingen noch leben, sind jetzt Greise. Vielleicht kommt dem Einen oder dem Andern dieses Blatt zu Gesichte; dann mag ein bunt gefärbter lieblicher Jugendtraum an das grüne köstliche Ruhlathal mit seinen lieblichen Mädchengestalten vor seiner Seele auftauchen, vielleicht auch eure trübe Erinnerung an den heißen Tag, wo er in Wilhelmsthal von den Bauern blaugefärbt wurde, ihren Schatten hineinwerfen.

Im gewaltigen Granitblock mit der gemüthlichen Felsenbank an seinem Fuße stehen auch die Buchstaben C. F. v. Sch. Ob ich mich in den die Vornamen bezeichnenden Chiffern nicht täusche, kann ich nicht mit Sicherheit angaben. Mir ist, als hätte der bezeichnete Zögling Carl Friedrich geheißen. Genug, er war der älteste Sohn unseres großen Dichters Schiller, welcher später als königl. würtemb. Oberförster baronisirt wurde, und jetzt, so viel ich weiß, pensionirt in Stuttgart lebt. Herr von Schiller war damals zwanzig, höchstens zweiundzwanzig Jahre alt. Man sagte, er sähe seinem Vater ähnlich, doch waren seine Züge nicht geistreich. Ich erinnere mich auch, daß damals ältere Leute sich in meinem Beisein über ihn äußerten: er habe wenig vom Geiste seines Vaters geerbt. Er war hoch und schlank, trug lichtbraunes gelocktes Haar und blaue Augen. Von allen Eleven erinnere ich mich seiner am lebhaftesten, nicht gerade um seiner selbst willen, denn ich wüßte nicht, daß er mir je etwas Angenehmes gesagt oder erwiesen, oder daß er sich durch irgend etwas Außerordentliches ausgezeichnet hätte. Mein Interesse an ihm galt dem Sohne des Dichters. Auch ist er mir um deshalb merkwürdig, weil ich durch ihn zuerst mit den Gedichten seines Vaters bekannt wurde. In meinem elterlichen Hause wohnte nämlich ein Candidat der Theologie aus Eisenach, der in Ruhla ein Knabeninstitut hielt, [555] dessen Schüler ich war. Der Candidat ließ mich seine Wege besorgen und so mußte ich auch einst ein paar broschirte Bücher von Schiller holen. Es war die erste große Prachtausgabe der Schiller’schen Gedichte, noch nicht aufgeschnitten. Ich schnitt die Blätter aus und las.

Wie wäre es möglich, den entzückenden, berauschenden, träumerisch wunderbaren Eindruck zu schildern, welchen die brennend gefärbten Erzeugnisse der Schiller’schen Muse auf mich machten? Bleibt doch Schiller stets der gewaltige Hohepriester, welcher der deutschen Jugend die Pforten des erhabenen und prachtvollen Tempels der Poesie erschließt. Ich erinnere mich nur so viel, daß ich wochenlang gar nicht recht bei mir selbst war und daß meine Mutter, der ich nichts von den Genüssen, in welchen ich schwelgte, gestand, ernstliche Besorgnisse für meinen Verstand hegte. Außer den Gesangbuchsliedern, von denen mich Gellert’s fromme Schöpfungen am meisten ansprachen, und seinen beliebten Fabeln, kannte ich nur die von den Leierkastenmännern verkauften Volkslieder, „gedruckt in diesem Jahr.“ Einige Gedichte ihres Vetters F. W. Gotter hatte mir meine Mutter vorgesagt. Im Besitz von Gotter’s Gedichten war unser Haus aber so wenig, wie in dem irgend eines andern Dichters. Ich aber hatte bereits in meinem fünften Jahre meine ersten Verse gemacht. Ich kann wohl sagen, daß meine ersten Denk- und Schreibübungen gereimte Zeilen waren. Das Erstaunen der Leute, die sie lasen, prophezeite mir, daß ich auch ein bedeutender Dichter werden würde. Wie sehr haben sie sich getäuscht! Es ist nur ein unbedeutender Romanschreiber aus mir geworden. Aber die Empfänglichkeit für die Größe unserer bedeutenden Dichter lag in meiner Kinderseele. Wie ein Flammenstrahl in ein Zunderfaß zuckte Schiller’s erhabener Genius in sie. In meiner, aus den fürstlichen Möbeln des eisenacher Herzogshauses auf dem Boden meines Vaterhauses aufgebauten poetischen Stadt, oder in einer ganz geheimen kleinen Kammer, die ich mir in das auf unserem Heustadel aufgebauste Heu gegraben hatte, las ich immer wieder die Gedichte, bis ich viele davon auswendig wußte. Von jenen Tagen an ging eine große Veränderung in mir vor. Ich fühlte, daß ich, wenn auch noch ein Kind an Jahren, aber gewiß der Gesinnung und dem Gefühl nach kein Knabe mehr war. Mein Auge war plötzlich für die Schönheit der mich umgebenden Natur geöffnet; meine Seele hatte von Schiller’s Genius den Adelsbrief erhalten, ich fühlte mich erhaben über das Gemeine und Alltägliche. Wie viel „schillernde“ Gedichte hab’ ich wohl damals niedergeschrieben! Ich besitze sie nicht mehr. Zwei starke Bände derselben sind mir, jeder auf andere Weise, entwendet worden. Die Welt hat sicherlich nichts an ihnen verloren. Ich schwamm in einem Meere von Poesie und unaussprechlichem Glück; ich entsinne mich, daß ich Abends auf den Bergen in das verglimmende Abendroth starrte, die Brust so voll Wonne und Weh, daß sie mir zu zerspringen drohete, und mich dann auf den Rasen oder das dürre Laub niederwarf, um mich fast todt zu weinen.

Da standst Du neben mir, leuchtende Gottheit, die Du die Wirklichkeit der Dinge mit dem magischen Strahlenschleier der Dichtung überhauchst, und berührtest mich leise mit Deiner Hand.

Ein Gedicht Schiller’s blieb mir ganz unverständlich, weil ich seinen Wallenstein nicht kannte, „Thekla eine Geisterstimme.“ Als ich die Bücher Herrn von Schiller zurückbrachte, überwand ich meine Schüchternheit und erlaubte mir, ihn über die Bedeutung dieses mich so ungemein ansprechenden Gedichtes zu befragen. Er gab mir aber keine Erklärung, sondern fertigte mich kurz und barsch ab. Nichtsdestoweniger war er ein Gegenstand meiner schier abgöttischen Verehrung; denn er war ja der Sohn des Mannes, der mir für einen mit Erdenstaub überkleideten Gott galt. Wie aber erst wurde mir, als ich erfuhr, daß seine Mutter mit seinen Schwestern zu ihm zum Besuch gekommen sei! Ich vergaß Essen und Trinken und lag auf der Lauer, um die Frau zu sehen, die der Unsterbliche geliebt. Ich wich nicht, bis sie aus dem Hause trat, um mit ihren Kindern in der Esplanade vor dem Forsthause spazieren zu gehen. Ich stand einige Minuten wie versteinert und verschlang Mutter und Töchter mit den Augen; dann trabte ich nach und blieb ihnen zur Seite, um sie immer fort anzustaunen und womöglich den Ton ihrer Stimme zu vernehmen, wenn sie miteinander sprechen würden. Die Frau Hofräthin von Schiller war damals eine ungemein beleibte hohe und starke Dame. Ich war über dieses Embonpoint fast bestürzt, denn ich hatte mir Schiller’s Gattin als ein ätherisches Wesen gedacht, so eine Art „Mädchen aus der Fremde.“ Desto besser gefiel mir eine der Tochter; sie war schlank und und von sehr weißem zarten Teint. So ungefähr hatte ich mir die Engel vorgestellt.

Auch den jüngeren Sohn meines vergötterten Dichters sah ich mehrmals bei seinem Bruder in Ruhla, er studirte gerade in Bonn die Rechte. Von Gestalt war er zarter und schmächtiger als der Forsteleve. Auch ist er früh und, wenn ich nicht irre, gerade im Alter des Vaters als Regierungsrath in Düsseldorf gestorben.

In Bezug auf Schiller, Vater und Sohn, erlebte ich eine artige Anekdote, die der Mittheilung nicht unwerth erscheinen dürfte.

Ein starkbesuchter Vergnügungsort und Erfrischungshaus war der Heil’genstern, eine halbe Stunde nordwestlich von Ruhla im Thale abwärts gelegen. Jetzt steht ein großer schöner Gasthof an anderer Stelle, aber auch das alte Haus existirt noch, wie ich es im „Vörwerts-Häns“ beschrieben. Man traf dort täglich Gesellschaft, und Forsteleven waren stets Gäste des Wirthes Schenk. An bestimmten Tagen waren auch die Töchter der Honoratioren aus Ruhla und der Umgegend da zu finden. Und das waren natürlich Stelldichein für die Eleven.

An einem solchen Tage hatte mich mein Lehrer mit auf den Heil’genstein genommen. Das Zimmer füllte sich. Ein Dutzend Eleven (darunter Schiller), Kaufleute, Förster, Pfarrer, Aerzte, Beamte, Damen stellten sich ein, hübsche liebe Mädchen. Eine davon war meine Geschwisterkindsmuhme, vielleicht vier oder fünf Jahre älter als ich, also reife Jungfrau und in voller schönster, Jugendblüthe, jüngste Tochter eines angesehenen Kaufmannshauses, das ich auch in „Vörwerts-Häns“ eingeführt, ein holdes Kind und nicht ohne Geist. Sie ist dreißig Jahre später als unglückliche Frau eines ihrer unwürdigen Mannes einen schrecklichen Tod gestorben[WS 2] und mein Schmerz mag der Armen gern diese Blume der Erinnerung weihen. Ich glaube, Schiller und meine Cousine hatten einander gern; er unterhielt sich wenigstens weit lieber mit ihr als mit mir. Meine Cousine Caroline war eine kleine Gefühlsschwärmerin und sie hatte Schiller’s Gedichte nicht vergebens gelesen. Der junge Schiller war oft in ihrem elterlichen Hause, denn ein Bruder Carolinens war ebenfalls Forsteleve. Auch er ist längst schon und noch als Jüngling gestorben.

Unter den anwesenden Gästen war auch der Wundarzt von Ruhla, ein gewandter und zungenfertiger Mann, aus Ostpreußen gebürtig, mit Namen Schumann. Wie die meisten Chirurgen pfuschte er, namentlich nach dem Tode meines Vaters, in die ärztliche Heilkunst, war über alle Dinge gleich mit seinem Urtheile fertig und bei der Hand und genoß deshalb bei der großen Menge der geistig Unmündigen eines nicht kleinen Ansehens, das er denn auch zur rechten Zeit und am rechten Orte stets mit Nachdruck und nicht ohne Geschicklichkeit geltend zu machen wußte. Es versteht sich demnach, daß er zu den Honoratioren des Ortes gezählt wurde und sich selbst dazu zählte. Die Forsteleven waren alle seine guten Freunde und Bekannte, weil er ihnen die jungen Bärte abnahm, resp. abnehmen ließ.

Die Unterhaltung hatte sich auf Schiller’s Abkunft gewendet, und meine Cousine brach in[WS 3] die begeisterten Worte aus: „Sie, Herr von Schiller, können doch vor allen andern Herrn Forsteleven auf Ihre Abkunft stolz sein. Welcher von den Herren Adligen hat einen Vater wie Sie? Der Adel des Geistes steht ja doch weit höher, als der des Standes; Ihres Herrn Vaters Name wird bis zur spätesten Nachwelt glänzen, wenn alle andern Adelsnamen längst vergessen sein werden.“

Mit diesen feurig gesprochenen Worten waren die Schleußen einer wahren Lob- und Preisfluth gezogen, und sie ergoß sich aus mehr als einem Munde in das gemeinsame Wasserbecken. Es versteht sich, daß die gewöhnlichen banalen Phrasen und Redensarten geliefert wurden. Herr Schumann saß stumm horchend dabei, aber als die Fluth einigermaßen verlaufen war, wandte er sich mit der Frage an Schiller:

„Aber erlauben Sie mir doch, Herr von Schiller: wer war denn eigentlich Ihr Herr Vater?“

Zwar war der große Schiller zu jener Zeit erst acht Jahre todt, und sein Ruhm noch nicht so in die niedern Volksschichten eingedrungen, wie heutigen Tags, aber man durfte doch voraussetzen, daß alle Deutschen, die sich zur gebildeten, vornehmen Classe zählten, den Namen des großen Dichters und seine Bedeutung kannten. Die unerwartete Frage des Chirurgen erregte deshalb [556] kein geringes Erstaunen in der kleinen Gesellschaft. Alles schwieg eine Minute lang, bis plötzlich ein allgemeines Gelächter losbrach. Herr Schumann zeigte ein böses, beleidigtes Gesicht, und mein Lehrer, der Candidat der Theologie, fand sich veranlaßt, sich mit den Worten an ihn zu wenden:

„Und das wissen Sie nicht, Herr Schumann? Ei, ei! Das hätte freilich hier Niemand von Ihnen erwartet.“

Der Nachdruck, welchen der Candidat auf das „Sie“ und „Ihnen“ legte, brachte den bestürzten Wundarzt aus aller Fassung und, wie aus seinen nächstfolgenden Worten hervorging, auf den Gedanken, Schiller, der Vater, möchte ein berühmter Arzt oder Wundarzt gewesen sein, dessen hohe Verdienste um die Kunst und Wissenschaft nicht zu kennen, ihm, dem Jünger, oder wie er sich wohl dünkte, dem Meister derselben, zur Schande gereiche. Schumann nahm sich also zusammen und sagte schnell:

„Ah, jetzt fällt’s mir ein; er ist ja ein großer Arzt und Wundarzt gewesen! Ich habe seine Werke selbst studirt. War er nicht Professor an der Universität in Jena?“

Jetzt wurde das Lachen zum Gebrüll; die Meisten wollten sich ausschütten, und Schumann gerieth in so grenzenlose Verlegenheit, daß er aufsprang, um aus der Stube zu laufen. Wie sehr erstaunten aber die Lacher, als Schiller den beleidigten Chirurgen bei der Hand zurück hielt und ruhig sagte:

„Sie haben ganz recht, Herr Schumann, mein Vater war so gut Chirurg wie Sie, wenn auch kein großer und berühmter. Auch hat er wirklich ein chirurgisches Werk geschrieben. Sie haben es aber jedenfalls in der Heilkunst weiter gebracht, als er.“

Die Andern sahen den Sprecher zweifelhaft an, denn Niemand hatte gewußt, daß der unsterbliche Dichter Doctor der Chirurgie gewesen war.

Schiller fuhr mit derselben Ruhe fort: „Ich gebe den Herrschaften mein Ehrenwort, mein Vater war Arzt und Chirurg, und auch darin hat Herr Schumann Recht, daß mein Vater Professor in Jena gewesen ist.“

Diese Zusammenstellung und die schelmische Ruhe, mit welcher das Alles vorgebracht wurde, riefen einen so ungemein komischen Effect hervor, daß das Lachen nun über alle Schranken brach, und Schumann wüthend und scheltend aus dem Zimmer floh.

Bald suchte ich am Berge hinter dem Hause andere Unterhaltung; dort stellte mich Herr Schumann mit der Frage:

„Sag’ mal, weißt Du denn, was des Herrn von Schiller Vater gewesen ist?“

„Ein Dichter.“

„Ein Dichter?!“ rief der Chirurg mit verächtlicher Verwunderung. „Ein Dichter!“ wiederholte er mit zorniger Geringschätzung. „Nun seh mir einer das dumme Geschwätz des Candidaten an! Was hat sich der Esel zu moquiren, daß ich das nicht weiß! Was in aller Welt gehen mich denn Menschen an, die Verse machen? Ich habe mein Leben lang wichtigere Dinge zu thun gehabt, als mich um solche Narren zu bekümmern, die sich und Andern die Zeit verderben. Und nun muß ich mich von den Gänsen drin auslachen lassen, als hätt’ ich die größte Albernheit begangen.“

Der verständige Heilkünstler ging in großer Alteration nach Hause, und er hat sich später noch bitter genug über den ihm angethanen Schimpf ausgesprochen.

Herr von Schiller folgte bald darauf dem Aufruf der sächsischen Regierungen zur Bildung eines Freiwilligencorps gegen den corsischen Usurpator, und trat in die Reiterschaar des sogenannten sächsischen Banners. Nach dem Feldzug sah ich ihn wieder in der Uniform, die ihm gut stand, in Ruhla, aber ich glaube nicht, daß er wieder als Eleve in das Institut trat. Ich habe später weder ihn, noch ein anderes Glied seiner Familie wieder gesehen.[3]




Blätter und Blüthen.

Eine indische Wittwenverbrennung. Der Regent von Tanjore, Ameer Jung, starb vor einigen Jahren. Sobald er todt war, kleideten sich zwei seiner Weiber in ihre reichsten Kleider, bedeckten sich mit ihren kostbarsten Juwelen, traten dann in das Zimmer, wo die Leiche lag, und nach dreimaliger Niederwerfung vor derselben setzten sie sich zu ihren Fußen nieder und erklärten dem ganzen, um die Leiche versammelten Hofe, daß sie sich entschlossen hätten, sich mit ihrem Gemahle den Flammen zu übergeben.

Die jüngste von beiden Weibern allein war seine rechtmäßige Frau, etwa zwanzig Jahre alt und ohne Kinder; die zweite war von niederem Range, sechsundzwanzig Jahre alt und hatte vom Regenten eine vierjährige Tochter. Die Väter und Brüder beider Frauen waren in der Versammlung anwesend, sie gebrauchten die dringendsten und rührendsten Vorstellungen, um sie von diesem widernatürlichen Vorsatze abzubringen. – Der englische Resident in Tanjore wurde von dem Vorhaben dieser Damen benachrichtigt, und da er nicht selbst hinkommen konnte, so hatte er seinen „Hircarrah“ hingesandt, um alle möglichen Bemühungen, nur die absolute Gewalt ausgenommen, anzuwenden und dieses abscheuliche Opfer zu verhindern. Als die Verwandten der Damen alle ihre Bitten für unnütz halten mußten, unterstützten sie die Vorstellungen des Hircarrah; aber auch dessen Drohungen mit dem Unwillen der Regierung machten nur einen schwachen, vorübergehenden Eindruck. Die anwesenden Mahratten-Officiere erklärten, daß die englische Compagnie sich bisher noch nie in ihre religiösen Ceremonien gemischt habe und daß das Opfer der Weiber in Tanjore nichts Seltenes sei, daß es zwar zweckmäßig sei, jede Überredungskunst und Bitte anzuwenden, um die Damen zu bewegen, ihren Entschluß aufzugeben, daß man aber, wenn sie dabei beharren wollten, nicht Gewalt gebrauchen dürfe, um sie zu verhindern.

Die Weiber verachteten die Drohungen des Hircarrah, als er ihnen sagte, daß sie ihre Väter und Brüder dem Zorn der Regierung aussetzen würden; die jungen Wittwen bemerkten ziemlich keck, daß es nicht die Gewohnheit der englischen Regierung sei, eine Person für die vermeintlichen Fehler einer anderen zu bestrafen, und, auf ihren Vater zeigend, der sich im Uebermaße des Schmerzes zu ihren Füßen geworfen hatte und ihre Kniee umklammerte, fragte die jüngere, rechtmäßige Gattin den Hircarrah, ob er glaube, daß irgend ein Beweggrund ihren Entschluß verhindern könne, wenn der Schmerz ihres Vaters es nicht vermöge? – Der jüngere Bruder der anderen Frau begab sich in die Gemächer der Weiber, brachte seiner Schwester Kind in seinen Armen und legte es zu ihren Füßen nieder – aber so groß war die Entschlossenheit dieses außerordentlichen Weibes, daß man ihr nicht einen einzigen Ausdruck der Reue, weder einen Seufzer noch eine Thräne entlocken konnte. Eine einzige solche Schwachheit würde sie des Rechtes beraubt haben, sich mit der Leiche verbrennen zu lassen, und die angestrengten Bemühungen der Verwandten gingen deshalb dahin, ihnen eine solche Schwäche zu entlocken. Hier war es aber vergebens; – als Antwort auf eine Bemerkung des Hircarrah, daß, wenn der selige Regent es vorausgesehen hätte, er es ihnen unfehlbar verboten haben würde, sagten beide Frauen, daß sie diesen Entschluß schon vor einem Jahre gefaßt und ihrem Gemahl mitgetheilt hätten, daß dieser damals Alles angewendet sie davon abzubringen, es ihnen aber endlich erlaubt habe.

Der Hircarrah entschloß sich jedoch, die Ceremonie so lange als möglich zu verzögern, bis der Resident selbst kommen würde. Die beiden Frauen erwarteten geduldig bis Abends sieben Uhr ihr Schicksal, ohne etwas Anderes zu genießen, als dann und wann etwas Betel zu kauen; dann schickten sie zu dem Hircarrah und ließen ihm sagen, daß sie Argwohn über die Ursache dieses Aufschubs gefaßt hätten und entschlossen wären, wenn die Procession sich nicht auf der Stelle auf den Weg machte, sich vor seinen Augen zu tödten. Ihre Verwandten verzweifelten nun daran, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, und die großen Herren des Hofes, welche sich bis dahin nicht in die Sache gemischt hatten, erklärten nunmehr, daß die beiden Weiber das Recht hätten, ihren Willen auszuführen, und man sie nicht länger daran verhindern solle. Der Hircarrah zog sich daher zurück und die Procession begab sich auf den Weg.

Die jüngere, rechtmäßige Gattin bestieg den Holzstoß, auf den der Körper ihres verstorbenen Mannes gelegt war, und sie wurden mit einander verbrannt; das Schicksal der anderen Frau, die kein Recht zu dieser Ehre besaß, weil sie unrechtmäßig mit dem Manne gelebt hatte, schien noch schrecklicher zu sein. Eine acht Fuß tiefe und sechs Fuß im Viereck haltende Grube wurde ungefähr zwanzig Schritt vom Holzstoß entfernt gegraben, mit brennbaren Materialien angefüllt und dann angezündet als die Flammen hoch aufloderten, wurde erst der Holzstoß angezündet, wo die junge Wittwe mit der Leiche eingeschlossen war. Die andere Frau spazierte allein ohne Unterstützung dreimal um die Flammengrube und, nachdem sie sich gegen den Holzstoß tief verbeugt hatte, stürzte sie sich in die Mitte des Feuers und man sah und hörte nichts mehr von ihr.



Allgemeiner Briefkasten.

E. Fr. in Mgdbg. Wir besitzen Ihr in Prag erschienenes Buch nicht, und bitten um Uebersendung.
W. in Berlin. Was Ihnen mißfallen, hat vielen Tausenden unserer Leser einen großen Genuß verschafft.
G. Schm. in Basel. Der Verfasser des offerirten Artikels über die Schöpfungsgeschichte ist jedenfalls ein kleiner Spaßvogel, denn im Ernst kann doch heutzutage ein vernünftiger Mensch solchen Unsinn nicht aufstellen wollen. Für die Gartenlaube müssen wir wenigstens sehr danken.
K. in D. Eine interessante Erzählung von Temme, dem Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“ wird mit Ende dieses Monats in der Gartenlaube erscheinen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Nefers sind Männer von besonderer, vermeintlicher Reinheit. Sie tragen Weiberhaar um Hals und Schultern.
  2. „Medaillon“ aus Storch’s ungedruckten Denkwürdigkeiten.
  3. Herr von Schiller starb am 21. Juni dieses Jahres als königl. würtembergischer Oberförster in Stuttgart.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: St. Stehphanskirche
  2. Vorlage: gegestorben
  3. Vorlage: in in