Die Gartenlaube (1858)/Heft 15
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No. 15. | 1858. |
Durch die einsamen Gänge des Thiergartens schritt in heller Mondscheinnacht ein Mann in einen Mantel gehüllt und näherte sich einem Hause, das, abgesondert von den andern Häusern, in einer Gruppe von Bäumen stand. Die Bäume waren entlaubt, der Balkon des Hauses und die Stufen des Eingangs mit Schnee bedeckt. Es war im März und ein ungewöhnlich reichlicher Schnee gefallen. In der Vertiefung der Hausthüre kauerte eine Gestalt in Lumpen, die sich erhob, als der Mann sich näherte, und die ihm entgegen trat, um ein Almosen bittend.
„Du bist dieselbe Kleine, die ich bereits zwei Mal beschenkt habe; zu oft darfst Du mir nicht kommen,“ sagte der Herantretende und wollte vorübereilen, allein das Bettelkind erfaßte seinen Mantel.
„Herr! Die Mutter hat mich hinausgetrieben, mit leeren Händen darf ich nicht zurückkommen, es ist spät, es schenkt mir Niemand etwas in dieser abgelegenen Gegend; erbarmt Euch meiner!“
Der Herr stand auf der Treppenstufe still. Der Mantel war zurückgeschlagen und der Mond schien in ein bleiches, wohlgebildetes, ernstes Mannesantlitz, die Blicke waren auf die Kleine gerichtet und mit einer Stimme, der es nicht an Weichheit und Wohlklang mangelte, sagte er:
„Deine Mutter war früher beim Theater, hast Du mir gesagt. Wenn es wahr ist, komm’ morgen gegen Mittag, wenn ich in die Stadt gehe, und zeige mir den Weg zu dem Hause, in dem sie wohnt; ich will sie sehen und sprechen. Jetzt geh’ und nimm das. Die Kleine empfing das Geld dankend und lief frierend in die Mitternacht hinaus. Der Mann trat in das Haus, auf den Ton einer Klingel erschien eine alte Magd, die ihn in sein Zimmer leuchtete, in welchem der Ofen brannte und in welchem es wohnlich und behaglich aussah. Bilder hingen an der Wand, ein Teppich deckte den Boden und gegenüber dem Schreibtische, der in der Nähe der beiden hohen, mit Vorhängen geschlossenen Fenster stand, bildeten ein Flügel und eine Harfe eine geschmackvolle Verzierung. An der Harfe hing ein frischer Blumenkranz. In der Nähe des Ofens stand ein hoher Lederstuhl, in welchem eine Katze lag, die sich in ihrem Schlummer durch das Erscheinen des Lichtes und des Hausherrn nicht stören ließ. Alles in diesem Zimmer drückte Stille, Frieden und poetische Zurückgezogenheit aus.
Nur in dem Geiste und Gemüthe des Bewohners dieser Räume, schien es, war dieser Friede und diese Ruhe nicht zu finden. Er setzte sich an den Schreibtisch, überlas flüchtig die Adressen der angekommenen Briefe und versank dann, das Haupt auf den Arm gestützt, in Träumereien.
Es schlug zehn Uhr. Ungewöhnlich früh war diesmal das Schauspiel beendet gewesen. Die Alte kam, um das Abendbrod aufzutragen, sie setzte eine Flasche Wein und einen Teller mit kalter Wildpretpastete auf das Tischchen, das vor einem Sopha stand, das die Wand gegenüber dem Flügel einnahm. Die Katze erwachte beim Geruch der Speisen aus dem Schlummer und kam, ihrem Herrn die Aufwartung zu machen, eigentlich aber aus der egoistischen Absicht, an dessen Abendmahl Theil zu nehmen. Es meldete sich hierzu noch ein Gast. Die Thür öffnete sich und ein ältlicher Herr in einem Pelz, dessen Kragen ihm über die Mütze hoch hinaufragte, trat ein und ward lebhaft und herzlich bewillkommnet. Der Hausherr schob einen Stuhl an das Sopha heran und befahl, ein zweites Glas zu bringen. Bevor jedoch der Gast sich setzte, öffnete er den Vorhang des einen Fensters und, den vollen Mondstrahl über sich herübergleiten lassend, sagte er:
„Ich will zuerst sehen, ob wir schon Vollmond haben, denn Du weißt, beim Vollmond fängt das gichtische Ziehen in meinem linken Beine an.“
Der Hausherr erwiderte nichts, aber er lächelte und zertheilte die Stücke der Pastete. Dann kam der Gast und setzte sich an seine Seite.
„Das Schauspiel schon zu Ende?“ begann er.
„Wir fangen jetzt früher an wegen des Unwohlseins der Königin. Sie bleibt nur kurze Zeit und geht bald wieder fort,“ erwiderte der Hausherr.
„Wie war’s?“
„Frostig.“
„Wie? Eine Deiner besten Rollen? Der Shylock und – frostig?“
„Man hat mich satt. Ich bin ihnen nichts Neues mehr. Die Kritik hat mich zum Krüppel geschlagen und Krüppel mag man nicht sehen.“
Eine Pause herrschte. Der Collaborator Roland, so hieß der Gast, kostete an seinem Weine, prüfte ihn, fand ihn gut und setzte das Glas bedächtig hin, indem er sagte:
„Das freut mich.“
„Das freut Dich?“
„Ja, denn es ist Hoffnung da, daß Du in diesem Falle an den Rhein zurückgehst, von wo Du gar nicht hättest weggehen sollen.“
[202] Der Hausherr seufzte. Sein Blick glitt unwillkürlich auf die Harfe und den daran befestigten Kranz.
„Hast Du nichts von Laura gehört?“ fragte er.
„Sie muß noch immer das Zimmer hüten, allein an Deinem Benefiztage hofft sie das Theater besuchen zu können.“
„An meinem Benefiztage? Man wird diesen Tag benutzen, um mich vollends niederzuwerfen. Es wird daran gearbeitet, mir eine Demüthigung besonderer Art zu bereiten. Ich weiß es, aber ich fürchte mich nicht. Man darf diesem Volke nicht Kleinmuth zeigen, dann ist man verloren. Soweit kenne ich denn doch nun schon meine Leute. Stolz, dreist und zuversichtlich will ich ihnen bis zu der letzten entscheidenden Stunde entgegentreten. Sie sollen mir den Kranz von der Stirne reißen, anders bekommen sie ihn nicht. Es sind ohnedies Lorbeeren, die in diesem märkischen Sandboden nicht gewachsen sind. Man soll nicht sagen: der Iffland ist an den Mückenstichen der Berliner Kritik gestorben.“
„An den Rhein, an den Rhein mit Dir!“
„Nun soll es mir an Kälte, an Schärfe, an Objectivität fehlen; nun soll ich zu weich sein, zu sehr mich selbst spielen! Und beim König Lear hieß es wieder, ich vergäße gänzlich, daß der Grundzug im Charakter jenes Unglücklichen Weiche und Gefühlstiefe sei. O, man möchte selbst wahnsinnig werden einem Publicum gegenüber, das den Genuß tödtet in der Kritik!“
„An den Rhein mit Dir, zurück an den Rhein!“
„Und immer werden mir Fleck’s Verdienste vorgehalten, weil er der Abwesende ist und ich der Gegenwärtige! Sie gleichen dem Hunde in der Fabel, der den Bissen, den er im Munde hat, fallen läßt, um nach einem Schatten zu haschen. Doch immerhin, sie mögen so toll, so unverständig sein, als sie immer wollen und können, weiß ich doch, daß Eine da ist, die mich versteht, die, wenn ich meine ganze Seele hingebe, sie entgegennimmt mit jener weichen Liebeshand, die sich hütet, mir hier eine kaum vernarbte Wunde, dort einen vibrirenden Nerv zu berühren. Wenn ich mein suchendes Auge zu ihrem Platze sende und ich finde ihn leer, entsinkt mir sogleich der Muth, und das hundertäugige Ungeheuer, Publicum, das ich vor mir gelagert sehe, preßt mir ein Beben der Angst und des Entsetzens ab. Finde ich aber Sie, dann ist das Spiel ein Spiel, dann gleiten mir, wie von unsichtbaren Händen mir abgefordert, die köstlichsten Perlen aus dem Liebesreichthum der Seele. Ich empfinde, und was ich empfinde, ist – Sie! Sie ist’s, die mir den Athem versetzt, wenn ich auf die Bühne stürze als Franz Moor; ich zittere, indem ich die Schrecken der Hölle ihr vor das Auge bringen soll, ihr, der Reinen, und wenn ich als Wallenstein die ewigen Sterne befrage, ist’s wieder Sie, die mich an die Wahrheit des ewigen Himmels glauben lehrte. Ach, daß diese Frau eine Frau ist, daß dieses süße Gebilde kein geschlechtsloser Genius ist, dann wäre er mein, ich könnte ihm Altäre bauen, und Niemand dürfte mir verargen, wenn ich laut vor allem Volke mich mit dem Göttlichen vermählte. Der Künstler mit seiner Gottheit! Was wollt ihr? Ist das nicht ganz in der Ordnung? So aber steht sie auf einer unnatürlichen Höhe, sie, die Liebenswerthe, ist dem Liebesbedürfniß entrückt, die irdisch Fühlende ist mit einer kalten Glorie des Standes umgeben. Kann man einen ärgern Hohn aussprechen, als das Geschick ihn sich hier ungestraft erlaubt: das allgemein Begehrte ist zugleich das Allen Versagte! Mein Auge füllt sich mit Thränen – ich muß schweigen.“
„Wenn das Theater nur nicht so zugig wäre,“ hub der Collaborator nach einer Pause an, während der Schauspieler, sein Haupt auf die Hand stützend, vor sich hinsah – „ich sage Dir, Freund, es gibt da Thüren, Thüren ohne Vorhänge, die Dante in seiner Hölle nicht passender hätte anbringen können, um eine neue Qual seiner Verdammten, einen teuflischen Rheumatismus beizubringen. Das ist auch der Grund, weshalb ich so selten in’s Theater gehe. Es thäte der alten Bude gut, wenn eine wohlthätige Feuersbrunst sie mit einem Schlage vom Leben zum Tode brächte. Anders werden wir den Jammer nicht los. Im Zugwinde zu sitzen ist aber das Schlimmste, was einem armen Adamskinde begegnen kann.“
„Alter,“ fuhr Iffland zornig empor, „Du wirst mir auch gar zu philisterhaft! Hast Du denn gar kein Wort für meine Leiden? Mann der Jämmerlichkeit, ist denn Deine Seele wie Dein Ohr mit Kampherstöpselchen verpfropft? Sonst wußtest Du doch zu schwärmen. Erinnere Dich, wie wir in Mannheim an den Ufern des Rheins bis spät in die Nacht Arm in Arm dahinflogen? Wie ich, auf der Rheinbrücke stehend, einst den Fiesco mit Dir spielte, Dich, den Fiesco, von der Brücke stieß, so daß Du mit einem Beine bereits in der Fluth zappeltest!“
„Ach, und ich hatte Nankingbeinkleider an,“ jammerte der Collaborator – „Du Entsetzlicher, das rührte Dich nicht!“
„Wenn der Mantel fällt, muß der Herzog nach!“ declamirte Iffland und brach dann in ein schallendes Gelächter aus. „O, das waren Zeiten! Man sollte das jetzt mit Dir versuchen, Du Liebling des Apothekers, Du Sohn des Rhabarbers, Du Buhle der Wärmflasche, Du im Geheim mit der Flanelljacke Getrauter! Geh – geh! Wenn ich nicht wüßte, daß unter Deinen Pflastern und Umschlägen noch eine Seele steckt, ich würde Dich als wurmzerfressenes altes Möbel längst in die Plunderkammer geworfen haben.“
„Was wirst Du zu Deinem Benefiz geben?“ fragte der Gescholtene, indem er lächelnd sein Glas leerte und nach dem Ofen sah, um sich zu überzeugen, daß er noch in voller Gluth sich befinde.
„Ich habe da einen Gedanken,“ entgegnete Iffland. „Ich will die Hand daran legen, ein neues Jugendproduct wieder in’s Leben zu rufen.“
„Ein Jugendproduct?“
„Ja, meine Jäger. Es ist mir in diesen Tagen ein wunderliches Ereigniß zugestoßen. Allein es will sich nicht schicken, daß ich jetzt schon davon spreche. Alles liegt noch in der Knospenhülle. Aber, so viel sage ich, Leid und Lust früherer Tage ist wieder wach in dieser Brust geworden. Ich habe in ein redlich Herz geschaut, in ein Herz, wie Gott es liebt, in ein Herz, das seine Schmerzen brav erträgt, männlich mit der Sünde kämpft, mit einem Worte, einen Jüngling hab’ ich geschaut, gerade wie ich ihn damals suchte und ihn nicht fand, als ich den treuen Anton seiner Mutter an’s Herz und seiner Liebsten in die Arme legte. Du sollst sehen, wie ich jetzt ganz anders den Oberförster spielen werde. Ich freue mich darauf, wie auf ein Fest.“
„Deine alten Jäger? Aber, das ist ja keine Neuigkeit, wunderlicher Mann!“
„Meine alten Jäger! Ich sage Dir, sie sollen Dir so jung erscheinen, als wären sie erst in dieser Nacht aus dem gährenden Becher der Phantasie gestiegen. Aber, wie gesagt, vorzeitig Plaudern liebt die Muse nicht. Du wirst sehen, und wenn Du wirst gesehen haben, wird Dir der Glaube in die Hand kommen. Und übrigens, hat man mir wohl Zeit gelassen, etwas Neues zu dichten? Angespannt an den Karren, wie ich die letzten Wochen über war, stets fertig dastehend, wenn die Pfeife des Intendanten erscholl und irgend ein fremder Prinz sich vor den Thoren blicken ließ. Ich will und muß Ruhe haben, wenn ich auf’s Neue von den Himmlischen ein Geschenk erbitte. Was ich die letzte Zeit geschaffen, ist ohnedies halb und halb eine Versündigung gegen meinen Genius.“
„Ja, Du hast Teltower Rüben geschaffen,“ schaltete der Gast ein, „aber für den märkischen Sand, sollte da etwas Besseres taugen?“
Iffland war von Neuem in Träumereien versunken. „Morgen zum Minister,“ sprach er vor sich hin; „ich will Urlaub haben zu einer Reise. Der Intendant schlägt ihn mir ab, das weiß ich, aber die Excellenz, die Frau Ministerin, meine schöne Gönnerin und Schülerin, hinter die muß ich mich stellen, dann wird’s gehen. Ich muß ein paar Athemzüge frische Luft schöpfen, ich muß meinen Anton besuchen bei den Seinigen. Im Walde wird mir wohl, im Walde bin ich gern. Wenn das Waldhorn tönt! – Ah – diese Klänge! Und dann am Bachesufer liegen, zurückgelehnt dem Zuge der Wolken nachsehen und der Tage gedenken, die dahin sind! Und eine junge, warme, volle Brust an der meinigen! Das ist etwas für den alten Stadtmenschen, für die Häusermilbe, für den Lampenburschen, dessen Welt sich allabendlich hinter den gemalten Rosenhecken aufbaut, der hinter Pappendeckeln schwärmt und in einen ölgetränkten Mond hinaufschaut. Alter Bursch, alter Spaßmacher, da geh’ und weine Dein Thränlein, daß nichts Besseres aus Dir geworden.“
„Jetzt im Walde!“ rief der Collaborator entsetzt, „im Walde im Schnee liegen an einem gefrornen Waldbach! Welch’ ein Gedanke. Mensch, Du weißt nicht, was ein Rheumatismus ist.“
„Der Frühling ist ja bald da!“ rief der Freund, „wir sind im März und darum hinaus, ihm entgegen. Kommst Du nicht mit?“
[203] „Nein,“ entgegnete der Collaborator trocken. „Ich spüre keine Anlage zur Narrheit in mir.“
„So spricht Fiorlinens Geliebter?“
„Ach, woran mahnst Du mich! Wie kommt der Name Dir plötzlich?“
„Weil ich vorhin von dem Fiesco und den Nankingbeinkleidern sprach. Hast Du denn gar keine Nachricht von ihr?“
Der Collaborator schüttelte das Haupt und griff nach seiner Pelzmütze und seinem Stocke.
„Es war doch ein gar zierliches Geschöpf,“ fuhr der Freund lächelnd fort, „und ihr schient für das ganze Leben für einander geschaffen.“
„Theaterliebschaft!“ hüstelte der Roland. „Man kennt das.“
„Du wurdest Vater einer Tochter.“
„O weh, da zieht’s mir schon im Beine. Es kommt dieses Jahr früher, wie sonst. Nun gute Nacht, altes Menschenkind, gute Nacht.“
Die Magd leuchtete und vorsichtig tappend, in seinen Pelz gehüllt, verschwand der Collaborator in der Thüre. Iffland setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb bis tief in die Nacht.
Die junge Gemahlin des Ministers lag in der Morgenstunde in den Polstern des Sopha’s und quälte sich, eine Tragödie von Aeschylos zu Ende zu bringen, indem sie mühsam und unter Gähnen Seite für Seite umschlug.
„Aimée, wie viel ist’s an der Zeit?“
„Excellenz, noch nicht zwölf Uhr.“
„Ach, mein Gott!“
„Der Herr Minister sind eben zum Könige gefahren und haben hinterlassen, daß sie heute Mittag nicht nach Hause kommen werden.“
„So, das ist mir lieb zu hören. Schicke augenblicklich den François zu Herrn Iffland, er wird gerade jetzt in der Probe sein, ich ließe mir die Ehre ausbitten zu heute Mittag. Hörst Du?“
„So eben kommen der Herr Director die Treppe herauf.“
Die junge Dame sprang vom Sopha auf, und machte freudig und aufgeregt einen Gang durch’s Zimmer. Als sie den Eintretenden erblickte, eilte sie auf ihn zu, und reichte ihm graziös die Hand zu Kusse. „Wie gerufen, mein gutes Directorchen,“ rief sie, „ich wollte soeben zu Ihnen schicken. Aimée, sage im Vorsaal, daß man Niemand einläßt.“ Sie führte ihren Gast zum Sopha und rückte zugleich ein Tischchen heran, auf dem Bücher und Papiere lagen. „Wir sind heute unter uns,“ sagte sie lächelnd, „wir werden zusammen zu Mittag speisen, und ich werde Ihnen wie ein junger Student meine erste Tragödie vorlesen. Da wir Alle jetzt die Franzosen so gründlich hassen, so hab’ ich ein echtes altdeutsches Thema gewählt, und nenne meine Heldin Rodogune. Nicht wahr, das ist zur Genüge gothisch? Worüber erschrecken Sie?“
„Rodogune hieß das Stück, das ich als sechsjähriger Knabe sah, als ich zum ersten Male das Theater besuchte. Ich werde den Abend nie vergessen.“
„Ach, was Sie sagen! Als sechsjähriger Knabe? Amüsant. Welchen Eindruck machte die Pièce auf Sie?“
„Den allerstärksten. Ich spielte auf dem Boden unseres Hauses ohne Zuschauer die Rodogune, bekleidet mit einem Reifrocke meiner Großmutter.“
Die junge Dame fiel laut lachend in die Kissen.
„Welch’ ein spaßhafter Dämon,“ rief sie, „hat mich getrieben, gerade diesen Namen zu wählen! Ich schwankte lange zwischen Rodogune und Amaltrudis. Meine Kammerfrau versicherte mich, das letztere klinge noch gothischer. Aber was ist Ihnen? Sie schauen plötzlich so ernsthaft drein. Bangt Ihnen vor meiner Tragödie? Ohne Sorge, Freund, ich habe erst zwei Verse des ersten Actes fertig, alles Uebrige, unter uns gesagt, sollen Sie machen. Sie schütteln dergleichen aus dem Aermel. Natürlich muß Niemand erfahren, daß wir zusammen arbeiten. Ich will bei Hofe und in der Stadt als Schöngeist glänzen.“
„Ist der Herr Minister nicht zu sprechen?“
„Nein. Was wollen Sie von ihm?“
„Ich hatte den Plan, eine kleine Kunstreise –“
„Still davon, daraus wird nichts. Ich rühre nicht die Hand, um Ihnen Urlaub zu verschaffen. Die arme Königin, sie ist so niedergeschlagen, wer soll sie erheitern? Wie kann man so sehr Egoist sein, Director, und immer an sich denken, während die gerechtesten Ansprüche von allen Seiten erhoben werden? Nochmals, zählen Sie auf mich nicht, ich rühre nicht die Hand.“
„Diese schöne Hand!“ rief Iffland, und ließ einen freudig bewundernden Blick auf die Hand fallen. „Wenn sie nur eben so gefällig wäre, wie sie allmächtig ist.“
„Wollen wir zu meinem Trauerspiel übergehen.“
Iffland rückte mit dem Stuhl näher heran, und die Dame ergriff ein paar beschriebene Blätter. In diesem Augenblick öffnete leise der alte Haushofmeister die Thüre des Salons. Die Ministerin sah ihn unwillig an. „Was gibt’s?“
„Der neue Attaché der f– Gesandtschaft,“ flüsterte der Alte durch die Thürspalte.
„Graf Sylchon?“
Der Alte nickte und blieb, um einen Befehl zu erwarten.
„Das ist mein Liebling,“ sagte die Dame, „ich besinne mich, daß ich ihn zu heute herbestellt habe. Er ist der lächerlichste und eingebildetste Fant, den man sehen kann. Die Prinzeß Radziwill und ich, wir haben dieses Wildpret für unsere Tafel ausgesucht. Er darf nicht wieder entschlüpfen. Was beginnen wir, Director?“
„Ich denke, die Tragödie –?“
„Die entläuft uns nicht, wir wählen statt ihrer die Komödie.“
Iffland sah seine muthwillige Gönnerin fragend an, diese rief dem Diener zu: „Lasse Er ihn in den Saal eintreten, Excellenz der Herr Minister werden ihn sogleich vorlassen.“ Zu Iffland gewendet, setzte sie hinzu: „Haben Sie bemerkt, wie der alte Johann mich versteht? Er weiß, daß es auf einen Spaß abgesehen ist. Nun geschwind, mein Herr, den Minister gespielt, in aller Würde, in allem Anstand, und dem jungen Mann bei Gelegenheit etwas auf die Nase gegeben. Verstanden?“
„Aber – Excellenz – einen Scherz mit einem Attaché einer Gesandtschaft –?“
„Ah – fehlt es Ihnen an Muth? Directorchen, das hatte ich nicht gedacht. Ich sage Ihnen, dieser Fant ist seit den paar Tagen, die er hier ist, dem Hofe, der Gesellschaft wegen seiner Anmaßung, seiner Einfalt, seiner Zudringlichkeit verhaßt. Der König hat sich über ihn schon lustig gemacht, ein Wort von mir zum Gesandten und man schickt ihn fort. So stehen die Sachen. Ich weiß, mit wem ich spaßen kann. Also nun rasch den Minister gemacht, den übrigen Theil der Posse überlasse ich Ihnen; sie muß aber so lustig wie möglich werden, denn wir müssen etwas haben, um unsere gute Königin zu amüsiren.“
„Kann ich dann auf eine Gunst als Belohnung rechnen?“ fragte der berühmte Schauspieler mit einem eben so demüthigen als schlauen Lächeln.
„Wir wollen sehen. Also, mein Herr Gemahl –“
Iffland erhob sich, schob die Hand in die Weste auf der Brust, trat einen Schritt vor, und eine Prise nehmend, rief er Johann zu, der noch immer an der Thüre lauschte, und kein Wort von dem verloren hatte, was in dem Cabinete gesprochen: „Eintreten!“
Sogleich stand, gepudert, frisirt, in eine Atmosphäre von Eau de mille fleurs gehüllt, ein Männchen von vierundzwanzig Jahren in einem eleganten Morgencostüm da. Verbeugungen von der einen, beifälliges Nicken von der andern Seite. Die Ministerin bleibt auf dem Sopha liegen und fährt fort, in dem Aeschylos zu blättern, nebenbei aber über die Blätter nach den Beiden im Zimmer zu lauschen.
Iffland spielt den Minister vortrefflich. Er nimmt das Empfehlungsschreiben aus der Hand des jungen Mannes an; das Gespräch dauert zehn Minuten, aber trotz der Kürze der Zeit findet der Pseudominister doch Zeit, dem jungen Manne einige gute Lehren zu geben und einige Winke fallen zu lassen, wie man sich in diesem oder jenem Falle zu benehmen habe, sehr wenig erbaulich für die Eitelkeit des Zöglings der höhern Staatskunst, der sich für vollendet hält. Darauf entfernt sich Seine Excellenz, nicht ohne ein Zeichen des Einverständnisses mit der Dame auf dem Sopha gewechselt zu haben, die mit einer äußerst lustigen Miene in ihrer Lectüre fortfährt, hier und da eine kurze Erwiderung gebend auf die Anreden des jungen Diplomaten. Sie klingelt. Johann erscheint.
„Ist mein Wagen vorgefahren?
„So eben, Excellenz.“
„So geb’ Er mir meinen Mantel. Nun, was steht Er? Was hat Er?“
[204] „Hier ist ein Brief, der gnädige Herr hat ihn wohl aus der Tasche verloren.“
Der Graf erblickt erstaunt sein Empfehlungsschreiben, das er so eben dem Minister abgegeben, und das dieser in die Tasche gesteckt hat, in der Hand des Bedienten. Er weiß durchaus nicht, wie das zusammenhängt, indessen ist nicht Zeit, darüber nachzudenken, er gibt das Schreiben dem Diener mit dem Auftrage, es Seiner Excellenz einzuhändigen. Johann steckt den Brief ein. Die Dame hält das Taschentuch vor den Mund, entweder leidet sie an Zahnweh, oder sie versteckt ein Lachen. Johann legt ihr den Mantel um, sie enteilt mit einem flüchtigen Gruße, und durch die andere Thüre entfernt sich der Diplomat. Der Kutscher des Miethwagens ist auf einen Augenblick abgestiegen, jetzt kommt er aus dem nahen Keller hervor, wie es den Anschein hat, völlig berauscht, denn er kann kaum einen festen Schritt thun. Der junge Mann will in eine gewisse Gegend der Stadt fahren, der Kutscher fährt in die entgegengesetzte. Es gibt Zank, mehr als einmal will der Fahrgast aussteigen, aber der Kutscher, der jetzt laut auf dem Bocke zu singen anfängt und hin und her wankt, verhindert es. Endlich langt man vor dem Hause an, in dem der Graf wohnt. Gegenüber auf der anderen Seite der Straße hält, durch einen sonderbaren Zufall veranlaßt, der Wagen der Ministerin, sie sieht aus dem Fenster und scheint sich, der Himmel weiß, worüber, vortrefflich zu belustigen. Ja, sie klatscht sogar ein paar Mal Beifall, als säße sie im Schauspiel. Unterdessen zankt der Graf mit seinem Tölpel von einem Miethkutscher, der immer die Summe zu gering findet, die ihm geboten wird. Endlich schließt sich der Handel ab, und der Graf will in sein Haus.
„He, da hat der Herr eben etwas aus der Tasche verloren!“ ruft der Zudringliche, und gibt ein geöffnetes Schreiben ab.
Welch eine Scene nun! Der Graf erkennt abermals sein Empfehlungsschreiben, das er gewiß ist, dem Diener des Ministers übergeben zu haben, der es vor seinen Augen einsteckte, um es seinem Herrn zu übergeben. Dieser Brief ist jetzt wieder da und zwar in den Händen des Droschkenkutschers! Welch ein Teufel macht hier sein Spiel! Was ist das? Wie hängt das zusammen? Er sieht mit weit geöffneten Augen den Kutscher an, der dumm und ehrlich ihm sein breites Antlitz und darin die geröthete Nase zeigt, jetzt den Mund öffnet und ein höhnendes Grinsen zum Besten gibt. Die beiden Gesichter, das verblüffte des Grafen, das spottende des Trunkenbolds sind vortrefflich, keine Scene auf dem Theater kann mehr von Wirkung sein, und dieser Ansicht scheint auch die Dame in der Kutsche zu sein, vor lauter Entzücken wirft sie ein Kußhändchen – dem Kutscher zu. Der Diplomat sieht und hört nichts, er nimmt erröthend sein Empfehlungsschreiben und eilt die Treppe seines Hauses hinauf, indem er die Thür hinter sich zuschlägt.
Am andern Tage erzählt sich der Hof, erzählt sich die Stadt eine sehr belustigende Geschichte. Mit veränderten Namen rollt das Anekdötchen hierhin und dorthin. Iffland ist der Held der Geschichte, Iffland der Minister, Iffland der Kammerdiener, Iffland der Droschkenkutscher. Der Gesandte ist nicht der Letzte, der das Abenteuer erfährt. Da der König lacht, der Minister lacht, die Ministerin und auch der Gesandte lacht, so findet der Attaché es am passendsten, auch zu lachen, im Geheimen schwört er jedoch dem Komödianten eine eclatante Rache.
Drei Wochen später kündigte der Generalintendant dem Schauspieldirector Iffland an, daß auf hohe Verwendung ihm ein Urlaub auf zwei Monate bewilligt sei. Wer zuletzt lacht, lacht am besten, und dies war Iffland.
In einem Hause in der Köpenicker Vorstadt saß im ärmlichen Zimmer eine kranke Frau im Bette und vertrieb sich die Zeit, bei einem Stümpfchen Licht Briefe zu lesen, die sie aus einem Kästchen nahm und, wenn sie sie durchgelesen, sauber gefaltet wieder hinein legte. Ein Mann saß zu Füßen des Bettes im Schatten, das Haupt an die Wand gelehnt, und aus einer kleinen Thonpfeife Rauchwolken vor sich hin blasend. Es war stille im Zimmer, man hörte das Picken einer alten Uhr, die im Winkel am Fenster stand. Der Mond sah durch einen zerrissenen Vorhang in’s Dachzimmer.
Der Mann stand verdrießlich auf:
„Was hast Du nur für ein Vergnügen, Sophie, diese alten Briefe zu lesen!“ rief er. „Ich verstehe das nicht. Wenn man so alt ist und dazu so krank, könnte Einem wohl etwas Besseres einfallen, was zur Zerstreuung diente.“
Die Frau sah über ihre Brille hinüber den Fragenden an, und sagte dann mit einem höhnischen Lächeln:
„So alt? Wie alt bin ich denn! Und gerade, wenn man nicht mehr jung ist, hört man gerne von den Tagen sprechen, wo man sich bald auf diese, bald auf jene Weise belustigte. Diese Briefe ersetzen mir meine Freunde, die ich nicht mehr habe.“
„Rechnest Du mich für nichts?“ fragte gereizt der Mann.
Die Lesende gab ihm keine Antwort, sie durchflog wieder mit forschendem Auge die Linien eines sehr unleserlich geschriebenen Briefes, dessen vergilbtes Papier von seinem Alter und seinem langen Liegen im Kästchen Kunde gab.
„Dieser Brief ist von Iffland,“ sagte die Frau.
„Nenne mir diesen Namen nicht.“
„Er schreibt mir nach meinem ersten Auftreten auf der kleinen Bühne im Badeorte Birkenstein, wo ich die Agnes Bernauerin spielte. Wie lange ist das her! Willst Du hören, was er über mich sagt? Er prophezeit mir eine glänzende Zukunft, und sagt, daß ich einst die deutsche Clairon sein würde. Hier, diese Stelle ist rührend: Wenn wir uns einst wiedersehen nach langen Jahren, so wünsche ich nichts, als daß ich es sein dürfe, der den Kranz des Ruhms auf Ihre schöne Stirn drückt! – Du lieber Himmel – wenn er mich jetzt sähe – in dieser Umgebung! Gefurcht die Stirn, die er einst schön und eines Kranzes würdig nannte! O, Schicksal, Schicksal, wie spielst Du mit Deinen Geschöpfen!“
„Deshalb,“ hub der Mann wieder an, „finde ich’s thöricht, seine alten Briefe wieder hervorzusuchen.“
„Aber was soll ich denn sonst beginnen, um mit meinen traurigen Tagen zu Ende zu kommen?“ fragte die Kranke mit übler Laune. „Soll ich etwa stets und immer wieder Deine Klagen anhören? Dich bedauern, daß man Dich verkennt, Deinen Werth mißachtet, Dich in einem Winkel vermodern läßt? Glaube mir, ein schwacher Mann ist etwas Miserables.“
„Ich – schwach!“ rief der Gescholtene und erhob die dürre, zusammengedrückte Gestalt zu ihrer möglichsten Höhe. „Ich – der größte Mime Deutschlands und seiner Zeit – ein schwacher Mann? Sophie, versündige Dich nicht. Du bist schwach, warst immer schwach, und obgleich man sagt, die schwachen Weiber seien liebenswürdig, so machtest Du eine Ausnahme. Wie gut hättest Du Dich versorgen, wie trefflich und auf die Dauer die Männer, die sich Dir ergaben, an der Nase umherführen können! Aber Du wolltest immer ehrlich sein, und das nenne ich die erbärmlichste Schwäche.“
„Halte Dein müdes Rößlein an,
Trabe vorbei nicht, blanker Reiter,
Staubig und durstig Roß und Mann,
Rastet und trinkt und dann zieht weiter!“
Und der Reiter schaut mit Behagen
In der Dirne rosig Gesicht,
Läßt sich den Spruch nicht zweimal sagen.
Tiefer Zug und frischer Trank
Unter dem Baum auf schatt’ger Bank
Streckt sich gemächlich der Reiter nieder.
Rößlein stehet im Sonnenstrahl,
Stechende Mücken es umschwärmen,
Muß des Mägdleins Herz sich härmen.
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Zweige bricht sie vom grünen Ast,
Legt sie zur Decke dem Rößlein über,
Schweift dabei mit verstohl’ner Hast
Sei nur, Reiter, auf Deiner Hut:
Mag dem Rößlein die Decke nützen,
Vor so schelmischer Augen Gluth
Kann kein Zweig den Reiter beschützen!
Albert Traeger.
Friedrich List lernt’ ich zuerst im Jahre 1845 im Redactionsbureau
der Allgemeinen Zeitung kennen, und zwar im Redactionszimmer
des verstorbenen Mebold, eines der wackersten, tüchtigsten
und dabei anspruchlosesten Männer, denen ich auf meinem Lebenswege
begegnet bin. Als ich mich beiden Männern (List las in
einer Zeitung, und Mebold schrieb an seinem französischen Artikel)
so plötzlich gegenübersah, bedünkte es mich fast, wenn dieser Vergleich
erlaubt ist, als sei ich in einen Löwenzwinger getreten; denn
beide breitschulterige und breitantlitzige Männer hatten wirklich etwas
in ihrer äußeren Erscheinung, was im Gegensatz zu der mehr leichtgliederigen
Generation unserer Tage an die breitmassige Complexion
des Löwen erinnern konnte. Dabei aber waren beide Männer die
gutmüthigsten Naturen, die gewiß keinem Kinde etwas zu Leide gethan
hatten. Bodenstedt, der im Jahre 1852 im „Deutschen Museum“
Erinnerungen an Friedrich List veröffentlichte, nennt ihn von
„markiger Gestalt“ und „ausdrucksvollem, offenen, aller Verstellung
unfähigem Gesicht.“ Und so war es auch.
Auf einem gemeinsamen Ausflug nach Donauwörth, in Gesellschaft Mebold’s und Levin Schücking’s, lernte ich dann List näher kennen; ich erinnere mich jedoch nur, daß seine Unterhaltung, ohne besonders zusammenhängend und fließend zu sein, doch belebend und belehrend war. Wenn es mir damals geahnt hätte, daß es mir je in den Sinn kommen würde, etwas über List zu schreiben, so würde ich mehr davon meinem Gedächtniß einzuprägen gesucht haben. Ich erinnere mich nur, daß List, als die Rede auf Leipzig kam, in Feuer und Flamme gerieth; er mochte Leipzig nicht leiden; er wähnte, hier unbillig und undankbar behandelt worden zu sein. Sonst war List ein sehr human gesinnter, nachsichtiger Mann, und selten oder nie habe ich über Personen aus seinem Munde ein hartes, absprechendes Urtheil gehört. Im Jahre 1846, vor seiner letzten Reise nach Baden, kam ich häufiger mit ihm zusammen, theils an gewissen Wochentagen beim Nachmittagskaffee in einem öffentlichen Local außerhalb der Stadt, theils in seiner, theils in meiner Wohnung. So rastlos thätig war der Mann, so wenig ließ es ihm im Bett Ruhe, daß er mich oft schon früh um fünf Uhr zu einem Spaziergange abholte, oder mich bat, ihn wegen einer Papierbestellung zu einem vor dem Thore wohnenden Papiermüller zu begleiten, der dann ebenfalls zu seiner nicht geringen Ueberraschung aus den Federn aufgestört wurde. Was ihn damals besonders beschäftigte, war der Plan, eine Nationalbuchhandlung zu begründen, die den Zweck haben sollte, die dafür thätigen Schriftsteller von den Buchhändlern unabhängig zu stellen und ihnen einen größeren Antheil am Gewinne zu sichern, als dies bei ihrer jetzigen Abhängigkeit von dem guten Willen und den Interessen der Verleger möglich ist. Die zu verlegenden Bücher sollten zu einem möglichst niedrigen Preise debitirt werden; doch dachte er dabei wohl zunächst nicht an Werke eigentlich literarischen Inhalts, sondern an populär-wissenschaftliche Schriften und überhaupt an solche, welche einer weiten Verbreitung im Volke fähig sind. Diesen Plan, bei dessen Ausführung er besonders auf meine Mitwirkung rechnete, besprach er wiederholt auf unsern Morgenspaziergängen mit größter Lebhaftigkeit. List hatte immer großartige Projecte im Kopfe und dachte sich, seiner sanguischen Natur gemäß, ihre Ausführung immer leichter, als sie war. Bei seinem Papierlieferanten hatte er ja Credit; Papier für den Druck war also da, und das Uebrige, meinte er, werde sich finden.
Als List im Sommer 1846 nach London reiste, um dort für gewisse nationalökonomische Pläne zu wirken und zu diesem Zweck mit Männern der Regierung zu verkehren, vertraute er mir, der sich bis dahin mit nationalökonomischen Fragen nur sehr wenig beschäftigt hatte, die interimistische Leitung seines „Deutschen Zollvereinsblattes“ an. List dachte niemals kleinlich; er wußte zwar, daß ich mich auf ganz andern Gebieten bewegt hatte; aber er war der Ansicht, daß ein sonst verständiger Mann, der Gewandtheit und einen offenen Blick besitze, fähig sein müsse, sich auch auf jedem ihm noch so fern liegenden Gebiete zurechtzufinden. Auch brauchte ich meine Thätigkeit nur auf die Ueberwachung des Blattes, auf Uebersetzungen aus auswärtigen Blättern, namentlich parlamentarischer Verhandlungen, und auf Herbeischaffung der nöthigen thatsächlichen Notizen zu beschränken. Dies konnte ich Wohl thun, ohne gegen mein mehr freihändlerisches Gewissen zu. verstoßen. Das Uebrige lieferte List von London aus. Interessant war es mir dabei, zu erfahren, wie List mit den Zahlen umsprang. Er rechnete immer nur nach 1/4, 1/3, 1/2, 3/4 Million; auf eine Ziffer von 10,000 oder 50,000 und selbst 100,000 mehr oder weniger kam es ihm dabei nicht an. So wirtschaftete er immer im großartigen Style.
Aus der Zeit seines Londoner Aufenthalts besitze ich von List noch mehrere, auf schmale Papierstreifen hingeworfene Briefe. Indem ich sie jedoch durchfliege, finde ich darin nichts, was für das große Publicum von Interesse sein könnte. Sie enthalten nur Fragen und Instructionen, die sich auf den geschäftlichen Theil der Redaction beziehen. Ich begegne aber auch darunter einem Blatt mit Reimversen, und es möchte manchem Leser neu und unerwartet sein, in Erfahrung zu bringen, daß List auch Verse gemacht habe. Sie sind freilich nur die Uebersetzung eines satirischen Gedichts, welches im „Punch“ nach dem Sturze des Peel’schen Ministeriums erschienen war. Hier nur eine Probe, die vielleicht auch jetzt noch deshalb von Interesse ist, weil die Namen Disraeli’s, der eben wieder zur Macht gelangt ist, und Lord John Russel’s, dessen Zeit vielleicht bald wieder kommen dürfte, darin figuriren. Die Stelle lautet:
Wer hat ihm (Peel) den Genickfang[1] versetzt?
„Ich,“ schreit Ben Isaak, „ich hab’ ihn zu Tode gehetzt;
Denn an dem Gallimathias, den ich gesprochen,
Ist ihm zuletzt das Herz gebrochen.“
(Herr Disraeli ist hier dargestellt, wie er auf’s Heftigste im Parlament gegen Peel declamirt.)
Wer aber nun setzt sich in die Stelle sein?
„Ich,“ schreit Lord John, „ich will hinein!“
Das will wohlverstanden eigentlich sagen:
„Säß’ ich nur erst fest drin, säß’ ich mit Behagen.“
(Abbildung, wie Lord John Rüssel von der Königin Audienz erhält.)
Schaut ’mal her, ihr Leut’, und seht,
Wie dem Lord John die neue Stelle steht.
Und wer kann bei dem Allem das Lachen noch halten?
„Ich!“ schreit der Punch u. s. w.
Schon vor seiner Abreise wollten diejenigen, die List schon von früher her kannten, eine auffallende Hast, Unruhe und in manchen Augenblicken eine gewisse Heiterkeit, die keine natürliche und gesunde zu sein schien, an ihm wahrgenommen haben. Nach seiner Rückkehr von London war eine Aenderung in seinem Wesen vorgegangen, die noch bedenklicher erschien. Nicht daß sich seine äußere und innere Unruhe gelegt hätte; aber Fragen und Angelegenheiten, die ihn sonst in Feuer und Leidenschaft zu versetzen pflegten, ließen ihn jetzt gleichmüthig; er war in gänzlich abgeschlagener und deprimirter Stimmung und in sich gebrochen. Seine Denkschriften und Vorstellungen waren, wie früher in Preußen, so nun auch in London ohne Erfolg geblieben. Der Absatz und der abnehmende Einfluß seines Blattes und die häufiger werdenden Angriffe auf sein System mochten ihm zeigen, daß, trotz der größeren Verbreitung seiner Methode in der Behandlung nationalökonomischer Fragen, seine Grundsätze an Terrain eher verloren als gewannen. Ernstliche Befürchtungen wegen der dauernden Existenz seines Blattes mochten in ihm aufsteigen. Er blickte rückwärts auf eine Reihe verfehlter Pläne und Projecte und vorwärts auf eine hoffnungslose Oede. Das Schicksal seiner Familie fing an, ihn zu bekümmern. Zwar hatten die süddeutschen Fabrikanten für ihn eine nach deutschen Verhältnissen nicht unansehnliche Summe aufgebracht, welche deponirt wurde; aber auch mit ihnen hatte es heftige Debatten gegeben, die ihn schon früher in eine exaltirte Stimmung versetzt hatten. Es war im Grunde eine nur kärgliche Abfindung für geleistete Dienste und Opfer, aber in Deutschland verbindet sich leider mit solchen Remunerationen für den Empfangenden von selbst ein drückendes Gefühl der Abhängigkeit.
Bei meinen Besuchen fand ich List oft noch um die Mittagszeit [207] im Bett, hochroth im Gesicht und unter der leichten Decke unruhig sich hin- und herwälzend. Er klagte über beängstigenden Blutandrang nach dem Kopfe. Die Angelegenheiten seines Blattes schienen ihn fortan wenig zu kümmern. Eingehenden Gesprächen über seinen Aufenthalt in London wich er aus. In diesen Tagen war es, wo ihn die schreckliche Vorstellung zu peinigen anfing, daß er wahnsinnig werden könne. „Lieber zehn Mal das Leben, als den Verstand verlieren,“ äußerte er. Noch am Tage vor seiner letzten Reise suchte er mich in meiner Wohnung auf, traf mich aber nicht und hinterließ mir nur, daß er im Begriff sei, eine Reise zu machen, zuvörderst nach München; wohin sie ihn weiter führen werde, wisse er selbst nicht.
Man weiß das Uebrige: List kehrte von dieser Reise nicht wieder nach Augsburg zurück. Sein tragischer Ausgang durch einen selbstmörderischen Pistolenschuß und Nicolaus Lenau’s Irrsinn waren ein schwerer Schlag für die in mancherlei oberflächlichen Illusionen sich wiegende höhere Gesellschaft und die solide Classe. Bisher hatte man in Deutschland solche traurige Lebensausgänge fast nur an solchen Männern der Oeffentlichkeit erlebt, welche nicht, wie Nicolaus Lenau, Angehörige und Lieblinge der Gesellschaft und nicht, wie List, praktische und solide Männer, sondern excentrische oder verlüderte Genies gewesen waren. Hätte List bis zum Jahre 1848 gewartet, so würden wir ihn ohne Zweifel in Frankfurt und in der Paulskirche thätig gesehen haben; die Enttäuschungen, denen er auch hier nicht entgangen wäre, hat er sich selbst erspart.
List’s Benehmen war äußerst gerade und einfach, fast amerikanisch unceremoniös. Bodenstedt erzählt, daß List eines Tages in die Gemächer des Fürsten von Oettingen-Wallerstein eingedrungen sei, ohne die Anmeldung durch den Portier abzuwarten und seine brennende Cigarre aus dem Munde zu thun. List habe sich dann lachend gegen den Fürsten über Bodenstedt beschwert, daß dieser seine Cigarre aus Artigkeit weggeworfen habe. Der Fürst benahm sich natürlich als grand seigneur, bot dem Begleiter List’s eine feine Cigarre an und ließ nicht eher nach, als bis Bodenstedt sie angenommen. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es bei dieser Gelegenheit war, wo auf einen Dichter der neueren Schule die Rede kam, der sich im Widerspruch zu den in seinen früheren Poesieen ausgesprochenen Ansichten in einen geschmeidigen Hofmann verwandelt hatte, und List davon Anlaß nahm, den Satz durchzuführen, daß die Poeten von Alters her immer einen Herrn brauchten, „dem sie wie ein Hündchen aufwarten müßten.“ List setzte diese seine Ansicht an Beispielen von Horaz und den Troubadours bis zu den Dichtern in Weimar auseinander. Mit unserer Zeit würde List auch den Triumph erlebt haben, eine Reihe schlagender Beispiele zur Erhärtung seiner Ansicht aus der nächsten Gegenwart entnehmen zu können. Doch ihm ist wohl, und es ist ihm vielleicht nicht so ganz übel zu nehmen, daß er es verschmähte, mit uns weiter zu leben.
Unter Vorkommen verstehen wir hier mit der Sprache der Wissenschaft die Art und die örtlichen Bedingungen, wie sich die Steinkohlen als ein Glied der vielfach zusammengesetzten Erdrinde finden. Die Steinkohlen selbst, wie die sie stets begleitenden Schieferthone und Sandsteine, sind fast immer sehr regelmäßig und deutlich geschichtet, und geben sich dadurch auf das unverkennbarste als eine Bildung auf nassem Wege zu erkennen, gegenüber anderen Gesteinen, z. B. dem Granit, Porphyr, Basalt, welche nicht geschichtet, sondern massig sind, und auf dem Wege der Schmelzung sich gebildet zu haben scheinen. Wenn daher die Schichten der Steinkohlenformation nicht durch spätere gewaltsame Störungen aus ihrer ursprünglichen Lage gebracht worden sind, so bilden sie ganz wagerechte mulden- und beckenförmige Ablagerungen, welche nur an den Rändern nach Maßgabe ihrer Unterlage etwas aufrecht gerichtet sind; ähnlich wie ein Bodensatz, der sich in einer flachen Schüssel abgelagert hat, am Rande auch immer dünner wird und an demselben- auch etwas emporsteigt. Man muß daher glauben, daß sich die Schichten der Steinkohlenformation in flachen Thalmulden, die freilich in einigen Fällen einen sehr großen Flächenraum hatten, abgelagert haben. Diese flachen Thalmulden scheinen entweder an großen Landseen oder am Meere Buchten gebildet zu haben. Diese letztere Verschiedenheit gibt sich durch die Art der Versteinerungen kund. Gewisse Kohlenbecken liegen immer zunächst über mehr oder weniger mächtigen Kalkschichten, welche man eben deswegen Kohlenkalk nennt, weil er nur in dieser Vergesellschaftung mit den Steinkohlenschichten getroffen wird. Er enthält stets nur Versteinerungen von Seethieren, woraus man eben schließt, daß solche Steinkohlenmulden, welche den Kohlenkalk unter sich haben, am Ufer eines ehemaligen Meeres gelegen haben. Eine solche ist z. B. die im vorigen Artikel unter 3. aufgeführte Aachener Kohlenmulde. Daß der Kohlenkalk noch zur Steinkohlenformation gehört, geht daraus hervor, daß an manchen Orten noch unter ihm kohlenführende Schichten liegen, wie z. B. bei Berwickshire, wo die ergiebigsten Steinkohlenflötze unter dem Kohlenkalk lagern.
Das eigentliche kohlenführende Schichtensystem besteht, wie schon vorhin gelegentlich angedeutet wurde, nicht lediglich aus Steinkohle, ja diese ist der Masse nach nur ein untergeordneter Bestandtheil desselben. Die Hauptmasse wird aus Schieferthon- und Sandsteinschichten gebildet, welche oft sehr vielmal mit den Kohlenschichten abwechseln, „wechsellagern“ wie es die Wissenschaft nennt. Nach dem Sprachgebrauche des deutschen Bergmanns, aus welchem die Wissenschaft Vieles angenommen hat, nennen wir die nur von Steinkohle gebildeten Schichten oder Lagen „Flötze“, indem man den Namen Flötz einem Lager oder einer Schicht dann gibt, wenn es von einem nutzbaren Mineral gebildet wird. Die zwischen den Steinkohlen eingeschalteten Schieferthon- und Sandsteinschichten nennt man die „Zwischenmittel“ des kohlenführenden Schichtensystems.
Gewöhnlich enthält ein solches Schichtensystem eine mehr oder weniger große Zahl von Kohlenflötzen mit dazwischen lagernden Zwischenmitteln, woraus auf eine mehrmalige Unterbrechung der Steinkohlenablagerung an dem betreffenden Orte geschlossen werden muß. Wir werden später einige Thatsachen kennen lernen, aus denen sich ergibt, daß zwischen der Bildung zweier Flötze, die mir durch ein Zwischenmittel getrennt sind, dennoch zuweilen ein langer Zeitraum verflossen sein muß. Man kennt Kohlenmulden, in denen die Zahl der Flötze sehr groß ist. Am Donetz in Südrußland sollen 225 Flötze übereinander vorkommen, welche alle am Rande der Mulde nebeneinander zutage „ausstreichen“, und eine Gesammtmächtigkeit – der Bergmann nennt die Dicke einer Schicht ihre „Mächtigkeit“ – von 400 Fuß haben. Das Saarbrücker Bassin hat zwischen Bettingen und Tholey 164 Flötze mit 338 Fuß Gesammtmächtigkeit. Das Westphälische Becken zählte an verschiedenen Punkten 20 bis 70, das Niederschlesische 12 bis 80, das Zwickauer 9 bis 10, das Potschappler 4 verschiedene Flötze.
Die Mächtigkeit der Flötze ist nicht minder verschieden als ihre Zahl. Oft sind sie sehr schwach, bis papierdünn (die sogenannten Kohlen-Schmitze oder Säume) und dann natürlich nicht „bauwürdig“. Gewöhnlich, aber es ist dies keine ausnahmslose Regel, sind die Flötze mächtiger, wenn eine Kohlenmulde deren nur wenige enthält, und weniger mächtig in flötzenreichen Mulden. Bei der nicht mehr zweifelhaften pflanzlichen Abstammung der Steinkohle gibt es uns einen Begriff von der außerordentlichen Fülle der zu ihr verwendeten Pflanzenwelten, wenn man bedenkt, daß man Kohlenflötze bis zu 100 Fuß Mächtigkeit kennt. Das im allgemeinen kohlenarme Spanien hat gleichwohl, und zwar im Königreich Leon, die mächtigsten Steinkohlenflötze, die man kennt, da sie 10, 60, ja bis 100 Fuß erreichen. Sonst gelten Flötze von 12 bis 20 Fuß schon für sehr mächtig und selbst noch viel schwächere werden abgebaut.
Die Flächenausdehnung der Flötze ist zuweilen in doppelter Beziehung staunenerregend; einmal durch den ungeheuren [208] Flächenumfang, den ein Flötz einnimmt, und dann durch die Gleichmäßigkeit seiner Mächtigkeit auf weite Erstreckung, was beides eben so sehr von mächtigen wie von schwachen Flötzen gilt. In der großen nordamerikanischen Kohlenformation ist ein 10 Fuß mächtiges Flötz, welches seiner ungeheuren Ausdehnung wegen den besondern Namen des Pittsburger Flötzes erhalten hat, über einen Flächenraum von 690 geogr. Geviertmeilen ausgebreitet. Auf diesem ungeheuren Gebiete kann man überall mit sicherem Erfolg nach Steinkohlen graben, dafern nicht zu hohe Ueberlagerung mit jüngeren Formationen es verhindert. Auch in Europa gibt es Flötze, welche man in ihrem Schichtensystem wie einen rothen Faden im Gewebe meilenweit verfolgen kann. Diese Erscheinung ist um so bemerkenswerther, wenn sich ihr die andere eben hervorgehobene beigesellt, wenn hunderte und tausende von Lachtern weit ein Kohlenflötz genau dieselbe Mächtigkeit mit der größten Stetigkeit inne hält und dasselbe die Zwischenmittel und die benachbarten Flötze thun, so daß man das Gebirge auf einem Querdurchschnitt wie mit Zirkel und Lineal in verschiedenfarbige Bänder abgetheilt findet. Es ist dies sehr schön zu sehen an einem langen tiefen Durchstich der Saarbrücker Eisenbahn.
Wenn diese Art des Vorkommens der Steinkohlen auf eine ruhige Ablagerung der dazu verwendeten Pflanzenmassen deutet und ganz dazu angethan ist, daß wir diese Art der Entstehung uns recht gut vorstellen können, so zeigt sich andererseits noch ein Vorkommen, welches schwerer zu erklären ist. Es ist dies das stockförmige Vorkommen. Eine Gebirgsart bildet dann einen „Stock“, wenn sie nicht in horizontalen oder geneigten eine weite Ausdehnung gewinnenden Schichten auftritt, sondern von einem anderen Nebengestein rings umschlossen mehr oder weniger senkrechtstehende oder liegende Massen (stehende oder liegende Stärke) bildet, bald von mehr kugliger, länglicher oder selbst linsenförmiger oder unregelmäßiger Gestalt. Solche Steinkohlenstöcke finden sich dann von den gewöhnlichen, uns bekannten Begleitern der Steinkohlenflötze in gebogenen Schichten umschlossen.
Figur 1., 2. und 3. zeigen uns das flötzförmige und das stockförmige Vorkommen der Steinkohlen. Figur 1. ist ein Profil
(d. h. ein senkrechter Durchschnitt) der Potschappeler Kohlenmulde; Fig. 2. ein Profil eines Kohlenstockes aus dem Becken von Creuzot (Dep. Saône und Loire), welches von jüngeren Schichten seicht bedeckt ist. Es steht etwas geneigt und schickt von seinem Stamme nach rechts zwei Flügel aus. Einen Horizontalschnitt durch diesen
Stock in die Linie CD, also einen Grundriß des Stockes, stellt die Fig. 3. dar, an der wir sehen, daß wir wirklich einen Stock und kein Flötz vor uns haben.
Wenn schon solche Kohlenstöcke vielleicht durch störende Einwirkungen unmittelbar nach der Ablagerung der Kohlenmasse ihre Stellung und Form erhalten haben, so haben andererseits die eigentlichen Kohlenmulden mit flötzförmiger Einschaltung der Kohle oft die gewaltsamsten Störungen erlitten, wobei wir es jetzt dahin gestellt sein lassen, ob diese durch Einsturz der Schichtenfolge oder durch unterirdische Emporhebung veranlaßt worden seien. Sie haben vielleicht lange Zeit nach erfolgter Ablagerung des Schichtensystems stattgefunden. Schon in der Potschappeler Kohlenmulde (Figur 1.) bemerken wir eine allgemeine Krümmung und an der rechten Seite ist, wahrscheinlich durch das Empordringen des Grünsteins oder des Porphyrs, die Schichtenfolge zerbrochen werden, wobei drei Stücke derselben aufwärts getrieben wurden, von denen wir zwei schmal und keilförmig sehen. Von Hein in der Mulde als breites schwarzes Band angedeuteten Flötz sehen wir darum rechts drei losgerissene Strecken, weshalb man sagt, das Flötz ist „verworfen.“
Eine vielfache Verwerfung einer kohlenführenden Schichtenfolge zeigt uns Fig. 4., welche einen Durchschnitt einer Stelle des Hauptflötzes von Blanzy im Bassin der Saône und Loire darstellt. Wir sehen das 30 bis 36 Fuß mächtige Flötz – eigentlich durch
ein schmales mittles und zwei mächtigere Seitenflötze zusammen angesetzt – vier Mal verworfen und dabei das eine Mal durch eine breite, mit Trümmergestein ausgefüllte Kluft auseinander gerissen und in der rechts hiervon liegenden Strecke „verdrückt.“ Im großen Maßstabe sehen wir die Schichtenstörungen an dem Aachener Kohlenbecken. (Fig. 5.) Wir unterscheiden darin zwei größere und zwei ganz kleine Kohlenmulden (KKK), welche vielleicht ursprünglich
zusammengehangen haben und horizontal gelagert waren. Die unter der Steinkohlenformation liegende Uebergangsformation (Ue) sehen wir in ihren Schichten emporgestiegen und dabei die Kohlenformation gehoben und zerrissen. Die vielleicht dadurch erst isolirte Worm-Mulde (links) ist in ihrem ganzen Schichtenbau vielfach zickzackfaltig gebrochen, die Eschweiler Mulde (rechts) einfach muldenförmig gebogen worden. Solche Zickzackfaltungen haben gleichwohl den Verlauf der Flötze nicht unterbrochen, sondern in vielen Fällen kann man selbst ganz schwache Flötze auf weiten Strecken durch alle Faltungen hindurch verfolgen, was auf eine gewisse Biegsamkeit des ganzen Schichtensystems zur Zeit der Störung schließen läßt. Ein Blick auf unsere Figuren, namentlich auf Fig. 4. lehrt uns, daß diese Störungen der Schichtensysteme der Steinkohlenformation die Gewinnung der Steinkohlen vielfach erschweren muß, wenn man [209] auch meist bald lernt, wo man die Fortsetzung eines verworfenen Flötzes zu suchen habe.
Zum Schluß dieser Abtheilung unserer Betrachtung der Steinkohle möge noch Einiges über die Gesammtmächtigkeit des kohlenführenden Schichtensystems und über einige andere nutzbare Einschlüsse der Formation hinzugefügt werden. Natürlich ist diese Mächtigkeit nicht in allen bekannten Kohlenbecken gleich und auch noch nicht von allen bekannt. Die größte bis jetzt nachgewiesene Mächtigkeit zeigt das kohlenführende Schichtensystem von Saarbrücken, in welchem das tiefste bekannte Flötz, bei Bettingen nordöstlich von Saarlouis, bis 20,656 Fuß unter den Meeresspiegel hinabreicht. Es braucht nicht erst bemerkt zu werden, daß diese Tiefe, die der Höhe des Chimborazo oder beinahe einer geographischen Meile gleichkommt, nicht unmittelbar gemessen ist, denn diese Tiefe wird kaum bis zum siebenten Theile vom Bergbau erreicht. Die Messung gründet sich auf Berechnung des Einfallens des Flötzes an beiden Rändern der Mulde. Als eine sehr werthvolle Zugabe zu den Steinkohlen bietet ihre Formation noch verschiedene Eisenerze, namentlich den thonigen Sphärosiderit, welcher an manchen Orten, z. B. im Saarbrücker Becken einen großartigen Hohofenbetrieb beschäftigt. Reich an Sphärosiderit ist in Sachsen das Zwickauer Becken. Wenn diese Eisenerze vornehmlich in der thonigen Zwischenfolge ihren Platz haben, so ist dagegen der vorhin erwähnte Kohlenkalkstein oft sehr reich an Blei und anderen Metallen, namentlich in England, weshalb die Engländer ihn metalliferous limestone (metallführenden Kalkstein) nennen.
Die Halsbandgeschichte.
Speit die Revolution ihre Todten aus? Oeffnet sie ihre Gräber, um den tollen Spuk der Gegenwart durch die unheimlichen Gespenster der Vergangenheit zu vermehren?
Während die stets gepanzerte Regierung Frankreichs aus den Rüstkammern der Revolution das Schreckenssystem der Jacobiner hervorsucht, um es als gute Wehr’ und Waffe gegen Unzufriedene und Verdächtige jeder Farbe zu gebrauchen, erhebt sich plötzlich aus seinem Grabe der geheimnißvolle Schatten eines der scandalösesten Vorspiele der Revolution. Wir würden es nicht glauben, wenn es nicht schwarz auf weiß gedruckt wäre und in allen Zeitungen stände: Die Halsbandgeschichte der Königin Marie Antoinette spielt noch einmal vor den Pariser Gerichtshöfen. Die Rechtsverfolger der Herren Boehmer und Bassange, Hofjuweliere unter Ludwig XVI., führen in diesem Augenblicke einen Proceß gegen die „Prinzen“ Rohan, die Schuldforderung betreffend, die durch den Verkauf des weltberühmten Halsbandes entstanden ist. Sie klagen gegen die Letzteren auf Anerkenntniß und Bezahlung der betreffenden Rechnung, die mit dem übrigen Activ- und Passivvermögen der Firma Boehmer und Bassange in ihren Besitz übergegangen ist.
Alle Welt kennt oder glaubt die berüchtigte Halsbandgeschichte zu kennen, die in der Chronique scandaleuse der achtziger Jahre eine Hauptrolle gespielt hat. Aber wer kann von sich sagen, er erkenne die einzelnen Fäden dieses verwickelten Intriguengewebes und sei im Stande, jeden von Anfang bis zu Ende zu verfolgen? Ist es doch selbst der gewissenhaften und unparteilichen Geschichtsforschung nicht gelungen, alle dunkeln Partien in diesem Drama aufzuhellen, und manche dürften unauflösliche Räthsel bleiben, da die betheiligten Personen aus Furcht oder Eigennutz das wahre Sachverhältniß verheimlicht oder entstellt haben. Prüfen wir unbefangen die Quellen, ziehen wir sorgfältig die besten Gewährsmänner zu Rathe, so überzeugen wir uns mehr und mehr, daß es eine Person gab, durch deren Mund die volle Wahrheit an den Tag kommen konnte – die Königin Marie Antoinette. Sie hat nicht gesprochen, den Schleier nicht gelüftet, die Verleumdung nicht Lügen gestraft. Das Geheimniß ruht in ihrem Grabe und reizt den Scharfsinn des Geschichtsforschers, der in den vorhandenen Berichten vergebens nach einer befriedigenden Lösung sucht.
Wenn wir nun hier eine kurze Darstellung der Halsbandgeschichte zu geben versuchen, so geschieht dies keineswegs in der Absicht, um ein neues Licht über dieses Intriguenspiel oder einzelne dunkele Partien desselben zu verbreiten. Jedermann hat in den Zeitungen die Nachricht von dem Proceß gegen die Prinzen Rohan gelesen, die Erinnerung an die Halsbandgeschichte ist wieder aufgefrischt, und der Leser wird es uns vielleicht Dank wissen, wenn wir seinem Gedächtniß zu Hülfe kommen.
Die Personen des scandalösen Drama’s waren: Marie Antoinette, Königin von Frankreich; der Prinz Rohan, Bischof von Straßburg, Großalmosenier und Cardinal; die Gräfin de la Motte, Abenteurerin und Intriguantin; ihr Mann, der angebliche Graf de la Motte, Garde-du-corps Monsieur’s; Demoiselle Oliva, „Cameliendame“; ein gewisser Rétaux de Villette und der berühmte Graf Cagliostro.
Der Schauplatz war der Hof von Versailles, die Zeit der Handlung das Jahr 1785.
Der Prinz Rohan, ein geistreicher, eitler, prachtliebender, den sinnlichen Genüssen ergebener Mann, war in Ungnade gefallen, weil er sich als Gesandter in Wien einige bittere Aeußerungen über Maria Theresia erlaubt hatte, die zur Kenntniß der Königin kamen und ihm deren Haß zuzogen. Obwohl er dessen ungeachtet nacheinander zum Großalmosenier, Cardinal, Abt von St. Waaß d’Arras und zuletzt zum Rector der Sorbonne ernannt ward, ertrug der eitle Hofmann doch nur seufzend eine Ungnade, die seinen ehrgeizigen Plänen keineswegs förderlich war. Er versuchte mehrmals, sich zu rechtfertigen, ward aber schnöde abgewiesen, und schon gab er die Hoffnung auf, die verlorene Gunst der Königin wieder zu erwerben, als ein Umstand eintrat, der sein Vorhaben mächtig zu fördern und einen gewissen Erfolg in Aussicht zu stellen schien.
Er hatte in Straßburg den berühmten mystischen Gaukler Cagliostro kennen gelernt und war nach dessen Ankunft in Paris sein fanatischer Anhänger geworden. Ihm vertraute er den tiefen Kummer, den er über die Fortdauer der königlichen Ungnade und die Fruchtlosigkeit seiner Rechtfertigungsversuche empfand. Der große Magier, der mit einer ungemeinen Menschenkenntniß die gemeine Berechnung eines Gauners verband, ließ dem Cardinal eine Frau vorstellen, die zwar zunächst nur eine Geld-Unterstützung nachsuchte, aber durch ihre Herkunft, ihr romantisches Geschick, ihren Geist, ihr feines Benehmen und ihr pikantes, reizendes Aeußere befähigt war, sowohl den Cardinal für ihre Person zu interessiren und sein Vertrauen zu gewinnen, als auch die Rolle einer Vermittlerin zwischen ihm und der Königin, und sei es auch nur zum Schein, zu spielen. Diese Frau, die in gerader Linie von Heinrich II. abstammte und sich deshalb Valois nannte, war die Tochter eines Landmannes, der ein nicht unbedeutendes Vermögen durchgebracht und sein Leben als Bettler in einem Pariser Spital beschlossen hatte. Nach seinem Tode nahm sich die Marquise von Boulainvilliers der armen Verlassenen an, sorgte für ihre Erziehung und verschaffte ihr einflußreiche Gönner und Freunde. Die junge Valois eignete sich bald den feinen Ton der höheren Gesellschaftskreise an, ward als letzter Sproß des königlichen Geschlechts der Valois förmlich anerkannt, erlangte als solcher eine Pension, und war seit Kurzem mit dem Grafen de la Motte verheirathet, als sie sich mit einem Gesuch um Unterstützung an den verschwenderischen und mildherzigen Cardinal wandte. Dieser, schon im Voraus durch das Gerücht von ihrer Herkunft und ihrem Geschick günstig für sie gestimmt, überließ sich dem Zauber, den das anmuthige und einschmeichelnde Wesen der jungen, mit allen leiblichen und geistigen Vorzügen ausgestatteten Abenteurerin auf ihn ausübte. Er beklagte sich gegen sie über die ungnädige Behandlung, die ihm die Königin zu Theil werden ließ, und als nun die Lamotte wie zufällig äußerte, daß es ihr bei ihren bis in die höchsten Hofkreise hinaufreichenden Verbindungen gelingen dürfte, die Gunst und das Vertrauen der Königin zu gewinnen, ging er bereitwillig auf diese Idee ein und redete ihr zu, ihre Bewerbungen um den Schutz der Königin zu beginnen. Darauf hatten die Lamotte und ihr Helfershelfer Cagliostro gewartet. Sie entwarfen sogleich ihre Gaunerpläne, die sie denn auch, soweit es die Umstände gestatteten, mit vollendeter Meisterschaft ausführten.
Der Cardinal erfuhr alsbald von der Gräfin den glücklichen Erfolg ihrer Bemühungen. Sie war der Königin vorgestellt worden, hatte Zutritt zu ihr und besaß in gewisser Hinsicht ihr Vertrauen. Hocherfreut über diese Nachricht und in vollem Glauben [210] an den wachsenden Einfluß der Gräfin, bat der Cardinal um ihre Vermittelung bei der Königin, mit der er sich um jeden Preis zu versöhnen wünschte. Bereitwillig übernahm die Gräfin die ihr angetragene Vermittlerrolle, und ihre angeblichen Verhandlungen mit der Königin hatten zunächst den Erfolg, daß dem Cardinal gestattet ward, sich zu rechtfertigen. Er händigte der Gräfin ein ehrfurchtsvolles Schreiben an die Königin ein und erhielt bald eine eigenhändige Antwort derselben mit den gnädigsten Zusicherungen. Der Cardinal schrieb wieder und die Gräfin ließ abermals eine Antwort an ihn gelangen, die nichts weniger als Haß und Verachtung athmete und wohl geeignet war, den eiteln, nichts argwöhnenden Mann zu dem Glauben zu verleiten, daß die Königin ihn heimlich liebe. Diesen verderblichen Wahn benutzte vorerst die Gräfin, um dem Cardinal nach und nach die Summe von 120,000 Livres abzuschwindeln. Sie gab ihm nämlich zu verstehen, durch Geldvorschüsse würde er sich der Königin, die sich manchmal in Geldverlegenheit befinde, ganz besonders verbinden. Wahrscheinlich theilte sie die geraubte Summe mit Cagliostro, dem als intellectuellem Urheber der saubern Intrigue ein Trinkgeld gebührte.
Kühn gemacht durch den guten Erfolg seiner schriftlichen Gunstbewerbungen, wagte der Cardinal, um eine geheime Zusammenkunft mit der Königin zu bitten. Diesen Wunsch zu erfüllen, ließ die Lamotte eine gewisse Demoiselle Oliva, die der Königin in Gestalt und Haltung ähnlich war, von Paris nach Versailles kommen und arrangirte hierauf folgende Scene. Der Cardinal mußte sich zwischen elf und zwölf Uhr Nachts in den Schloßpark begeben. Dort fand er an einer bestimmten Stelle eine tiefverschleierte Dame, die ihn erwartete und ihm mit den Worten: „Sie wissen, was das bedeutet,“ eine Rose überreichte. Während er die Rose an seine Brust drückt und auf eine Antwort sinnt, flüstert ihm eine unbekannte Stimme zu: „Fliehen Sie! dort kommen Madame und die Gräfin von Artois.“ Es war die Lamotte, die ihm gefolgt war und ihn jetzt fortzog.
Der Cardinal war nun soweit vorbereitet, daß die Gräfin zur Ausführung ihres Hauptplanes schreiten konnte. Auch hierbei war ihr Cagliostro behülflich, indem er Rohan’s wachsende Leidenschaft für die Königin, von der er geliebt zu sein wähnte, in feiner Orakelmanier durch geheimnißvolle Bedeutungen und Winke mehr und mehr entflammte.
Die Hofjuweliere Boehmer und Bassange hatten ein kostbares Halsband von Diamanten, dessen Werth sie auf 1,600,000 Livres anschlugen, anfertigen lassen und wiederholt der Königin zum Verkauf angeboten. Als sie im Jahre 1778 ihr erstes Wochenbett hielt, schien der König geneigt, ihr das Halsband zu schenken, sie lehnte es aber auf das Entschiedenste ab. Nach ihrer zweiten Niederkunft im Jahre 1781 wiederholte der König sein Anerbieten, erhielt aber auch diesmal eine abschlägige, fast zornige Antwort. Die französische Staatsschuld war schon damals zu einer ungeheueren Summe angeschwollen, die öffentliche Meinung murrte laut über die kolossalen Verschwendungen des Hofes, man glaubte daher den Grund einer sonst unerklärlichen Weigerung in der übeln Finanzlage zu finden, die der Königin die Pflicht auferlegte und vielleicht auch die erwünschte Gelegenheit bot, vor den Augen der Welt ein Opfer zu bringen, über das sie im Stillen seufzte.
Die Juweliere gaben die Hoffnung nicht auf, daß die Königin doch zuletzt das kostbare Kleinod kaufen würde. Auf Cagliostro’s Rath wandten sie sich Ende des Jahres 1784 an die Lamotte und versprachen ihr ansehnliche Geschenke, um sie für den Handel zu interessiren. Die Gräfin that anfangs etwas spröde, aber kaum war der Cardinal von seinen Gütern im Elsaß nach Paris zurückgekehrt, so stellte sie ihm vor, die Königin wünsche das Halsband zu kaufen, könne es aber wegen Geldmangel nur in Terminen aus ihrer Privatchatoulle bezahlen und würde es ihm Dank wissen, wenn er in ihrem Namen den Kauf mit den Juwelieren abschlösse und ihnen die Terminalzahlungen zusagte.
Bereits am 24. Januar 1785 konnte die Lamotte den Juwelieren anzeigen, daß der Cardinal zu ihnen kommen würde, um das berühmte Halsband für die Königin zu kaufen. Der angekündigte Besuch fand in der That statt, der Cardinal besah den Schmuck und ließ ihn zwei Tage später in seine Wohnung schaffen, wo dann der Kauf förmlich abgeschlossen wurde. Da aber die Juweliere Bedenken hinsichtlich der Bezahlung äußerten und wohl Anstand nehmen mochten, dem verschuldeten Cardinal den werthvollen Schmuck ohne Sicherstellung zu überlassen, zeigte er ihnen zu ihrer Beruhigung ein Handschreiben der Königin, worin die Kaufbedingungen genau angegeben waren: „Genehmigt, Marie Antoinette von Frankreich.“ Uebrigens zweifelte weder der Cardinal noch die Juweliere an der Echtheit dieses Handbillets, obwohl der Erstere als Prinz, Großalmosenier und ehemaliger Gesandter Frankreichs in Wien wissen mußte, daß Marie Antoinette niemals mit dem Zusatz „von Frankreich“ unterzeichnete.
Der Cardinal hatte also das Halsband und nun lag ihm daran, es der Königin durch eine zuverlässige Person zukommen zu lassen. Zu dem Ende begab er sich am 1. Februar 1785 Abends mit dem Schmuckkästchen in die Wohnung der Lamotte zu Versailles. Kaum war er hier angekommen, als sich ein Mann anmelden ließ, der von der Königin gesendet zu sein vorgab. Die Lamotte ließ den Cardinal in einen Alkoven treten, dessen Thür halbgeöffnet war, und aus diesem Versteck sah er, wie ein Mann eintrat und der Gräfin ein Billet überreichte, das diese dem Cardinal zusteckte. Es enthielt den Befehl, dem Ueberbringer das Schmuckkästchen zu übergeben. Der Bote war ein Kammerdiener der Königin, Namens Lesclaux, und von Person dem Cardinal bekannt, weshalb dieser kein Bedenken trug, ihm das Schmuckkästchen anzuvertrauen.
War das Kleinod auf diese Weise wirklich in den Besitz der Königin gelangt? Die Anhänger des Prinzen Rohan, und unter ihnen namentlich sein Vicar Georgel, behaupten es ganz entschieden. Dagegen wird von anderer Seite geltend gemacht: der Cardinal habe zuversichtlich erwartet, die Königin am ersten Pfingsttage mit dem Halsbande geschmückt zu sehen; da diese Hoffnung nicht erfüllt werden konnte, habe ihm die Gräfin mitgetheilt, die Königin finde den Preis zu hoch und wolle, wenn er nicht ermäßigt würde, den Schmuck zurückgeben.
Wir haben hier nicht zu untersuchen, ob diese oder jene Behauptung richtig sei, da es nicht unseres Amtes ist, die Welt von der Schuld oder Unschuld der Königin zu überzeugen. Wir halten uns lediglich an die geschichtlichen Daten, die actenmäßig feststehenden Thatsachen, und dürfen daher nicht verschweigen, daß die erwähnte Mitteilung der Gräfin allerdings durch einen Brief bestätigt wird, den der Cardinal Ende Juni an die Juweliere richtete. Der Kaufpreis ward in der That um 200,000 Livres ermäßigt und die Königin davon in Kenntniß gesetzt durch ein Schreiben, das sie in ihrem Bibliothekzimmer aus Boehmer’s Händen empfing. Sie las es ganz unbefangen der Madame Campan vor, ohne auch nur durch ein Wort oder eine Miene Erstaunen über ein solches Schreiben auszudrücken, dann hielt sie es gleichgültig an eine brennende Kerze und verbrannte es, wie man ein werthloses Stück Papier verbrennt.
Indessen rückte der verhängnißvolle Tag heran, an welchem die erste Abschlagszahlung geleistet werden mußte. Noch vor Ablauf der Frist theilte die Gräfin dem Cardinal mit, daß die Königin nicht in der Lage sei, die erste Rate an dem bestimmten Tage zu zahlen. Natürlich sollte nun wieder der Cardinal aushelfen, dessen Vermögensverhältnisse, wie schon erwähnt, keineswegs glänzend waren. In seiner Verlegenheit ließ er die Juweliere kommen, eröffnete ihnen, daß die Königin die für den ersten Termin versprochene Zahlung erst im October leisten könne, und bot ihnen vorläufig 30,000 Livres als Zinsvergütung an. Diese Summe wurde denn auch angeblich im Namen der Königin den Juwelieren ausgezahlt.
Dies geschah im Juli 1785. Am 3. August erschien plötzlich Madame Campan bei den Juwelieren unter dem Vorwande, daß sie einige Schmucksachen zu sehen wünsche. Dann knüpfte sie mit Boehmer ein Gespräch an, erkundigte sich im Laufe desselben gelegentlich nach dem Halsbande und erfuhr nun von dem Juwelier den ganzen Handel, den wir schon kennen. Zugleich aber gestand ihr Boehmer, daß er sich seit einiger Zeit genöthigt sehe, zur Beruhigung der Personen, von denen er Geld geborgt habe, die schriftlichen Befehle der Königin vorzuzeigen. Die Sache war also schon ruchbar geworden. Indessen beeilte sich die Campan keineswegs, die Königin von den Mittheilungen des Juweliers in Kenntniß zu setzen, und als sie sich endlich dazu entschloß, war bereits die ganze Intrigue dem Polizeiminister Breteuil hinterbracht worden. Dieser, ein Todfeind des Cardinals, begab sich eilig zur Königin und erstattete einen Haß und Rache athmenden Bericht. Die Königin war entrüstet über den schändlichen Mißbrauch ihres Namens; sogleich wurde Boehmer herbeigeholt und nach dessen Vernehmung über die zu treffenden Maßregeln Rath gepflogen. Die Furien des Hasses und der Rache schienen bei dieser Berathung den Vorsitz zu führen, und das [211] Resultat war ein öffentlicher Scandal, der das Unheil nur verschlimmerte und der Verleumdung neue Nahrung zuführte.
Am 15. August 1785, einem Festtage, als der Hof zum feierlichen Kirchgange versammelt war, ließ plötzlich der König den Cardinal in sein Cabinet rufen. Hier fand er außer dem Könige die Königin, den Großsiegelbewahrer und den Baron von Breteuil, und in deren Gegenwart sollte er Rechenschaft geben über den Kauf des Halsbandes. Darauf war er freilich nicht vorbereitet. Er gerieth in Verwirrung, stotterte einige Worte zu seiner Entschuldigung und betheuerte seine Unschuld. Allein weder diese Versicherung, noch die Rechtfertigungsschrift, die er sogleich in einem Nebenzimmer aufsetzen mußte, vermochten den einmal gefaßten Beschluß zu ändern. In dem Augenblick, als er aus dem Cabinet des Königs trat, ward er auf Befehl des Barons von Breteuil vor den Augen des Hofes verhaftet. Er ward nach der Bastille gebracht, fand aber unterwegs Gelegenheit, einen schriftlichen Befehl zur Vernichtung aller ihn compromittirenden Briefe an seinen Vicar Georgel in Paris abzusenden. Dann wartete man auffallender Weise noch volle vier Stunden, ehe man zur Haussuchung schritt, und so mußte denn freilich der eigentliche Hergang der Sache für alle Zeiten ein undurchdringliches Geheimniß bleiben.
Drei Tage später, am 18. August, ward die Lamotte in Barsur-Aube verhaftet. Sie hatte bereits ihre Papiere, darunter mehrere Briefe des Cardinals, verbrannt. Da sie sich durch ihren Helfershelfer Cagliostro verrathen glaubte, schob sie alle Schuld auf diesen, der nun ebenfalls festgenommen ward.
Die scandalöse Verhaftung des Cardinals hatte überall das größte Aufsehen erregt und die Gemüther erbittert. Seine zahlreichen und hochgestellten Verwandten, die Geistlichkeit, ein großer Theil des Adels, ja selbst die Tanten des Königs protestirten feierlich gegen die schonungslose und unwürdige Behandlung eines Prinzen und Kirchenfürsten. Aber als man erfuhr, daß der Cardinal die Gnade des Königs abgelehnt, und sich der Jurisdiction des Parlaments unterworfen habe, bildeten sich zwei Parteien, die je nach der Verschiedenheit ihrer Interessen Verdruß oder Freude an den Tag legten. Am meisten frohlockte das Parlament, denn es fand einmal Gelegenheit, die Kirche und die Geburtsaristokratie, seine beiden Hauptgegner, in der Person eines Cardinals und Prinzen zu demüthigen, ja – was noch wichtiger war – es sollte zugleich über die Ehre des Königs entscheiden. Der Triumph des Parlaments mußte natürlich den Stolz den Adels beleidigen, und erfüllte ihn mit Zorn gegen die Königin, durch deren blinde Leidenschaftlichkeit einer der glänzendsten Namen der französischen Adelsaristokratie dem Tagesgespött preisgegeben war. Auch der Klerus war in hohem Grade entrüstet, und donnerte gegen das Parlament, das einem Geistlichen den Proceß zu machen wagte. Der Papst drohte den Cardinal zu suspendiren, weil er sich einem weltlichen Gerichtshöfe unterworfen hatte. Alle besonnenen und verständigen Anhänger der Monarchie verwünschten die Verblendung des Hofes und weissagten dem Könige nichts Gutes von dem Ausgange eines Processes, der den letzten Nimbus der Krone, den fleckenlosen Ruf der Königin und die Ehre Ludwig’s XVI., zerstören mußte.
Endlich begann der für die Bourbonendynastie so verhängnißvolle Proceß, und nun fanden die Parteien reichen Stoff, sich gegenseitig anzugreifen und zu verleumden. Ein Theil des Adels und der Geistlichkeit erklärte sich für den Cardinal, die Mehrzahl der Hofleute hielt es mit der Königin, die große Menge, die Alles nur nach dem äußern Schein zu beurtheilen pflegt, beschuldigte die Königin, mit ihrer Ehre und dem Cardinal ein frevelhaftes Spiel getrieben zu haben, und ihre Erbitterung gegen dieselbe verwandelte sich nach und nach in förmlichen Haß.
Nach Verlauf mehrerer Monate ward durch die Untersuchung festgestellt: daß die Oliva nach den Weisungen der Lamotte in der uns bekannten Parkscene die Rolle der Königin gespielt; daß ein gewisser Rétaux de Billette, ein Bekannter des Grafen de la Motte, auf Anstiften und in Gegenwart der Gräfin das oben erwähnte Handbillet der Königin und die Unterschrift: „Genehmigt, Marie Antoinette von Frankreich,“ verfertigt; endlich, daß der Graf de la Motte an den Juwelier Gray in London für 10,000 Pfund Sterling Diamanten verkauft hatte.
Diesen wichtigen Ermittelungen zum Trotz leugnete die Lamotte beharrlich alle Schuld, und wußte sich mit vielem Geschick zu vertheidigen. Sie behauptete nämlich, die Anfertigung des königlichen Handschreibens, das Arrangement der nächtlichen Parkscene, Alles sei mit Bewilligung der Königin geschehen, um den Cardinal zu mystificiren und seine Discretion auf die Probe zu stellen. Die Diamanten, die ihr Mann in London verkauft hatte, gab sie keck für ein Geschenk der Königin aus.
Obwohl diese Erklärungen nicht förmlich zu Protokoll genommen wurden, gelangten sie doch in die Oeffentlichkeit, besonders durch Flugschriften, welche die Lamotte von London aus verbreiten ließ, und wurden zu den abscheulichsten Insinuationen gegen die Königin benutzt. Die öffentliche Meinung war einmal gegen die „Oesterreicherin“ eingenommen und ergriff begierig die Gelegenheit, den Ruf und die Ehre der Königin durch scandalöse Verdächtigungen zu besudeln. Die Königin ihrerseits versuchte nicht, sich von dem Verdacht zu reinigen, der an ihrer Person haftete, sie setzte allen Anklagen und Verleumdungen schweigende Verachtung entgegen und bedachte nicht, daß sie dadurch ihre Lage nur verschlimmerte. Das Schlimmste aber war, daß Niemand dem geistreichen und scharfblickenden Prinzen Rohan, der mit seltener Gewandtheit die diplomatischen Geschäfte in Wien geführt hatte, genug Geistesbeschränktheit und Einfalt zutraute, um sich von einer gemeinen Intriguantin anführen zu lassen. War Rohan nicht betrogen, so blieb nur die Alternative: entweder hatte er das Halsband für sich, oder im Namen und auf Befehl der Königin gekauft. Eine furchtbare, aber unvermeidliche Alternative!
Nun stand aber actenmäßig fest, daß der Cardinal die Juweliere aufgefordert hatte, das Benachrichtigungs- und Denkschreiben an die Königin zu richten, und dieser Umstand – so meinte man – bewies zur Genüge, daß der Cardinal nur im Auftrage der Königin und für sie das Halsband gekauft hatte. Die Schuldfrage war also von vorn herein so gestellt, daß die Freisprechung des Cardinals ein Schandfleck für den Ruf der Königin sein mußte.
Zum Unglück für Marie Antoinette war das Parlament von feindseligen Gesinnungen gegen den Thron erfüllt, und ergriff begierig die Gelegenheit, den König und die Königin zu demüthigen. Vor Allem bemühte sich der Hauptreferent d’Epremeuil, die Schuldfrage so zu formuliren, daß sich die oben erwähnte verhängnißvolle Alternative einem Jeden von selbst aufdrängen mußte. Dazu kam, daß die Rohan’sche Partei Alles aufbot, um das Parlament zu Gunsten des Cardinals zu stimmen. Alte, grauköpfige Parlamentsräthe wurden von jungen, schönen Bittstellerinnen bestürmt, und wo der Zauber eines reizenden Augenpaares nicht verfing, da bediente man sich des bekannten goldenen Schlüssels. An den Sitzungstagen stellten sich die Condé, die Rohan, die Soubise, die Guemenée in schwarzer Trauerkeidung vor dem Justizpalast auf, und begrüßten ehrfurchtsvoll die eintretenden Mitglieder des Gerichtshofes. Alle Bemühungen Breteuil’s, das Parlament für seinen Racheplan gegen den Cardinal zu stimmen, hatten keinen Erfolg.
Am 31. Mai 1786 versammelte sich das Parlament, um das Urtheil zu fällen. Der Cardinal ward von der Anklage entbunden, die Lamotte zu Staupbesen, Brandmarkung und lebenslänglichem Gefängniß verurtheilt, desgleichen ihr Mann in contumaciam; die Oliva und Cagliostro wurden freigesprochen, letzterer jedoch des Landes verwiesen; Billette ward auf immer verbannt.
Paris jubelte über die Freisprechung des Cardinals. Der ehedem unpopuläre Mann ward plötzlich vom Volke vergöttert. Als er in den Wagen stieg, um vorläufig nach der Bastille zurückzukehren, stritt man sich eifrig um die Ehre, seine Kleider zu küssen.
Für die Königin war das Urtheil ein furchtbarer Schlag. Sie überließ sich rücksichtslos ihren Zornausbrüchen gegen das Parlament und rächte sich auf eine beklagenswerthe Weise, indem sie es dahin brachte, daß der Cardinal seines Amtes als Almosenier entsetzt und vom Hofe verbannt ward.
Die Lamotte fand Gelegenheit, aus dem Gefängnisse zu entkommen, und begab sich zu ihrem Manne nach London. Dort ließ sie eine Denkschrift drucken, für deren Vernichtung der französische Hof ihr 200,000 Livres auszahlen ließ. Eis Exemplar blieb jedoch übrig, das Buch ward neu gedruckt, und gelangte in die Oeffentlichkeit.
Auf die Höfe von Europa machte der Ausgang dieser cause célèbre einen sehr üblen Eindruck; ja selbst die nächsten Verwandten der Königin, wie z. B. der Kaiser Franz II., ihr Neffe, zweifelten an ihrer völligen Schuldlosigkeit.
Es wird erzählt, unmittelbar nach der Urteilsverkündigung am [212] 31. Mai 1786 habe der Generalprocurator zu einem der Richter, einem eifrigen Vertheidiger des Cardinals, geäußert:
„Sie haben soeben die Grundpfeiler der Monarchie erschüttert.“
Das war nun freilich eine lächerliche Uebertreibung, die Grundlagen der Monarchie werden nicht in Frage gestellt durch die Chancen eines Processes. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß unter den secundären Ursachen der Revolution die Halsbandgeschichte eine der wichtigsten und wirksamsten war. Die Sittenverderbniß der Großen, die lüderliche Wirthschaft am Hofe, der Antagonismus zwischen den höchsten Staatsgewalten, die absichtliche Verdunkelung aller Rechtsbegriffe, die Willkürherrschaft, der Volkshaß gegen die Träger der höchsten Gewalt, die Ohnmacht der Krone – kurz, alle Mängel und Schwächen der Bourbonenmonarchie kamen durch diese Gaunergeschichte und den sich daran knüpfenden Proceß an den Tag. Die Namen des königlichen Paares wurden mit Gaunern und Intriguanten in Verbindung gesetzt; es war geschehen um den Nimbus des Thrones Ludwig’s XIV.
So weit die Wissenschaften zurückreichen, so lange hat man auch den Buchhandel gekannt; konnte er auch ursprünglich nicht in der ausgeprägten Gestalt der Gegenwart auftreten, so weiß man doch, daß sein Ausgang zunächst bei den alten Griechen zu suchen ist. Das buchhändlerische Geschäft mußte aber so lange bedeutungslos bleiben, als ihm nicht die Mittel zu Gebote standen, die Wissenschaft zum Gemeingut zu machen. Da trat gleich einer glanzvollen Sonne aus dem erwachten Morgenroth die große Geburt unseres Jahrtausends, „Gutenberg’s Buchdruckerkunst,“ hervor und sie ist es, welche dem Buchhandel erst seine hohe Bedeutung gegeben hat.
Von Deutschland aus eröffnete die Kunst zuerst mit ihren Erzeugnissen den Handel, weshalb es auch als die Wiege des eigentlichen buchhändlerischen Verkehrs zu betrachten ist. Außer den zahlreichen Klöstern, Stiftern und den hohen Schulen, waren es vorzugsweise die im Aufblühen begriffenen Messen, wo die damaligen Buchdrucker den Hauptabsatz für ihre Preßerzeugnisse fanden. Vorzüglich bildete Frankfurt a. M. seit dem ersten Viertel des sechzehnten Jahrhunderts den Mittelpunkt des deutschen Bücherverkehrs. Als aber Luther, der große Kämpfer für Denk- und Glaubensfreiheit, erschien, der sich in Schrift und Rede gegen die zahlreichen Mißbrauche der Kirche erhob, und seine kräftige Stütze in der Buchdruckerpresse fand, begann in Folge der Reformation die Culturwanderung des deutschen Geistes nach Norden, und der vielbesuchte Meßplatz Leipzig wurde für den Buchhandel des Nordens, was Frankfurt für den Süden war. In Frankfurt wurde der Buchhandel durch die Einführung einer kaiserlichen Büchercommission immer mehr beschränkt und belästigt, und es konnte daher in der That nicht Wunder nehmen, daß das durch eine eigene, so wie durch die nahe Wittenberger Universität und von der sächsischen Regierung in Bezug auf Bücherwesen vor Frankfurt hochbegünstigte Leipzig nach und nach den literarischen Verkehr immer mehr an sich zog.
In dem Herzen Deutschlands[WS 1] gelegen, bietet Leipzig für den Osten und Norden Europa’s den wichtigsten Vereinigungspunkt handeltreibender Nationen; für den deutschen Buchhandel aber ist es die Pulsader des Verkehrs aller Länder geworden, welche Literatur verbrauchen oder produciren.
Und so finden wir gegenwärtig hier nicht weniger als 168 Buch-, Kunst- und Musikalienhandlungen, zum Theil Verleger, als Producenten, zum Theil Sortimentshändler, als Vermittler der Verleger und des Publicums, oder Commissionshandlungen, als Vermittler des eigentlichen geschäftlichen Verkehrs der Buchhandlungen aller Länder unter sich. In naturgemäßer Folge dieser speculativen und industriellen Ausbildung mußten auch alle diejenigen Geschäftszweige einer höhern Blüthe und Vollkommenheit zugeführt werden, welche im Dienste des Buchhandels stehen, die Buchdruckerkunst und die Schriftgießerkunst, sowie alle die graphischen und technischen Künste, welche zur Herstellung literarischer und künstlerischer Objecte Anwendung finden, oder zu deren Ausführung mitwirken. So zählt Leipzig gegenwärtig 38 Buchdruckereien und 10 Schriftgießereien.
Für Jeden, der nach Erkenntniß und Belehrung strebt, muß es vom höchsten Interesse sein, einen tiefern Einblick in die Stätten zu thun, aus denen ihm die geistige Nahrung in einer für die weiteste Verbreitung geeigneten Form zugeführt wird. Nur Wenige mögen bei dem Lesen eines Schriftstückes sich bewußt sein, welche Stadien dasselbe zu durchlaufen hat, bevor es an die Oeffentlichkeit hervortreten kann, in seiner Vollendung den gesteigerten Anforderungen zu genügen, welche gegenwärtig der in den weitesten Kreisen ausgeprägte Kunstsinn an typographische Erzeugnisse macht. Es wird daher gewiß vielen unserer Leser willkommen sein, wenn, wir sie auffordern, uns in die Werkstätten der Kunst und Industrie zu begleiten, deren Aufgabe es ist, die Producte des Geistes zu vervielfältigen und das, was der menschliche Geist des Einzelnen gedacht und erforscht, zum Gemeingut Aller zu machen.
Wir wählen zu diesem Besuch die Officin von F. A. Brockhaus, welche eine Vereinigung fast aller auf dem Gebiete der typographischen Production mitwirkenden Geschäftszweige aufweist und uns Gelegenheit bietet, die Herstellung der Schriftstücke von der rohen Schriftmasse bis zu ihrer Vollendung als fertige Bücher in allen Stadien zu verfolgen, um ein lebendiges Bild der gesammten typographischen Thätigkeit vor uns aufzurollen.
Die Buchdruckerkunst verdankt ihre Entstehung dem Bedürfnisse, die Schrift durch Farbendruck leichter und schneller zu vervielfältigen, als dies durch Wiederholung mit der Hand und der Feder möglich ist. Als Vorläufer der Buchdruckerkunst ist die Holzschneidekunst zu betrachten, vermittelst welcher die Schrift in Holztafeln erhaben geschnitten wurde. Das Buchstabenalphabet der Sprachen führte aber bald darauf hin, die ganzen Holztafeln zu zerfällen und die Buchstaben einzeln in Holz, Blei oder Zinn zu schneiden, um aus denselben Druckformen für die Schrift zusammenzusetzen, welche nach gemachtem Gebrauche auseinander genommen und zu einer neuen Form wieder gebraucht werden konnten. Durch dieses Zerfällen erst entstand die zweite Verfahrungsweise, die sogenannte Typographie.
Die Lettern oder Buchdruckertypen sind vierseitig prismatische, aus Schriftzeug oder Schriftgießermetall gegossene Stäbchen, deren Begrenzungsflächen in rechten Winkeln zu einander gestellt sind, und deren Höhe ganz gleich sein muß, damit ihre obern Flächen nach Vollendung des Satzes in einer und derselben Ebene liegen und bei dem Abdrucke mit dem Papiere gleichmäßig in Berührung kommen. Auf der obern Fläche des Typenkörpers befindet sich das abzudruckende Zeichen erhaben und in verkehrter Stellung. Eine Anzahl Lettern so mit einander verbunden, daß sie abgedruckt einen bestimmten, zusammenhängenden Text geben, bildet einen Schriftsatz oder kurzweg Satz. Da nun diese Typen, um den Schriftsatz herzustellen, geeignet sein müssen, in jede beliebige Ordnung gebracht zu werden, so kann natürlich eine Type in der Regel auch nur ein einziges Schriftzeichen darstellen.
Um diese Typen hervorzubringen, muß man zuvörderst ein Original des gegossenen Buchstabens (Stempel) haben, welches das Schriftzeichen ebenfalls erhaben und verkehrt enthält. Dieser Stempel wird, als Vater der Schrift, Vaterbuchstabe oder Patrize genannt. Da nun aber zum Gießen der Lettern eine Form erforderlich ist, welche das Schriftzeichen vertieft enthält, damit die darin abgeformten Lettern wieder erhaben erscheinen, so werden die aus Stahl gefertigten Schriftstempel in ein weicheres Metall und zwar gewöhnlich in Kupfer eingeschlagen. Diese Abschläge nennt man Mutterbuchstaben oder Matrizen.
So vorbereitet, treten wir nun in den Gießersaal ein, wo wir sieben Gießöfen und an jedem drei bis vier Gießer beschäftigt finden. In dem Feuerungsraume des Gießofens hängt ein gußeiserner Kessel, welcher das geschmolzene Metall in flüssigem Zustande enthält. Das Schriftmetall besteht aus einer Legirung von Blei mit Antimonium Regulus. Das Gießen der Lettern wird vermittelst einer besonderen Form, des sogenannten Gießinstruments, ausgeführt, in welches die Matrize so hineingelegt wird, daß das [213] Schriftmetall durch eine Oeffnung einfließen kann. Der Gießer steht an dem inmitten des Ofens eingesetzten Kessel, in seiner linken Hand das geschlossene Instrument, und in der rechten den Gießlöffel, mit welchem er den Zeug faßt und in das Instrument gießt. Sobald dies vor sich geht, macht er mit dem Instrument eine rüttelnde Bewegung (Wendung), wodurch der Schriftzeug durch den Einguß und den innern freien Raum hindurch in die unten anliegende Matrize fließt. Ein geschickter und fleißiger Schriftgießer kann bis 4000 Buchstaben in einem Tage gießen.
Als das Maschinenwesen für die praktische Ausübung der Künste und Gewerbe immer größere Bedeutung und Anwendung fand, wurden auch mehrfache Versuche gemacht, das Gießen der Lettern durch Maschinen auszuführen. Applegath in London und Andere construirten die ersten Maschinen, die aber sämmtlich ihrem Zweck nicht entsprachen. Endlich wurde in Amerika eine solche Maschine gebaut, von welcher ein Modell durch E. Hänel in Berlin in der Werkstatt von F. A. Brockhaus aufgenommen und so wesentlich umgewandelt und verbessert wurde, daß die jetzt allgemein verbreiteten Letterngießmaschinen daraus entstanden, mit welchen durch einen gewöhnlichen Handarbeiter in einer Stunde 12–1500 ganz fehlerfreie Buchstaben gegossen werden.
Nachdem der Buchstabe gegossen ist, hat er zwar schon die Form, in der er später zum Druck verwendet wird, aber er besitzt noch an der der Bildfläche entgegengesetzten Seite einen pyramidalen Anhang, welcher sich im Einguß des Instrumentes bildet und abgebrochen werden muß. Der von dem Gießzapfen befreite Buchstabe gelangt nun zum Abschleifen, wodurch der Grat von den beiden Seitenflächen entfernt wird, damit die Buchstaben im geschlossenen Satze dicht neben einander zu stehen kommen. Zur Vollendung der gegossenen Schrift müssen die Typen noch einer letzten Arbeit unterworfen werden, welche das Fertigmachen genannt wird und in einem eigenen Instrumente, dem Bestoßzeuge, ausgeführt wird. Zu diesem Behufe werden die Typen in einem Winkelhaken der Art aufgestellt, daß die Bildfläche nach unten, der Fuß aber nach oben gerichtet ist; der so angefüllte Winkelhaken wird dann in das Bestoßzeug gebracht und mittelst eines Hobels das überflüssige Metall an dem Fuße der Lettern abgestoßen, so daß sich eine rinnenartige Aushöhlung, der Ausschnitt, bildet. Nachdem der Kopf der Lettern noch einer besonderen Behandlung unterworfen und die Kegelseiten derselben mit einem zweischneidigen Schabemesser von dem darauf befindlichen Grate befreit worden sind, damit die ganze Typenreihe auch hier als eine glatte Ebene erscheint, wird die Stärke derselben (der Kegel) geprüft, wozu man sich eines besondern Justoriums (des Systems) bedient. Die so fertig gemachte Schrift wird nun nochmals sorgfältig durchgesehen, die darunter befindlichen untauglichen, sogenannten bösen Buchstaben werden entfernt und die guten in ein Schiff, wie es der Setzer braucht, aufgestellt, mit einem Bindfaden darin eingebunden und in Packete verpackt zum Gebrauch in die Druckerei geliefert.
Mit der Schriftgießerei in genauer Verbindung steht die Stereotypie oder das Verfahren, vermittelst dessen der ganze Schriftsatz einer Columne nicht wie gewöhnlich aus einzelnen Theilen (Lettern etc.) besteht, sondern in einer einzigen Platte dargestellt wird.
Die ersten Versuche der Buchdruckerkunst bestanden bekanntlich in dem Abdrucke ganzer Platten, auf welchen der Text erhaben geschnitten war, und auf dieses Grundprincip ist somit das Verfahren der Stereotypie zurückgeführt. Anfänglich ließ man den Schriftsatz von Werken, die in kurzer Zeit wieder gedruckt werden sollten, stehen, um den Satz dann nicht auf’s Neue herstellen zu müssen; indessen führte das Verfahren des sogenannten stehenden Satzes (stehende Lettern) vielfache Schwierigkeiten und Nachtheile mit sich, denn es konnten aus dem Schriftsatze leicht Lettern herausfallen und eine große Anzahl Columnen beanspruchte zur Aufbewahrung viel Raum, sowie die dazu verwendete Schrift auch so lange einer weitern Verwendung entzogen blieb, als sie nicht aus ihrer augenblicklichen Ordnung genommen werden konnte. Diese und noch andere Uebelstände führten bald darauf hin, die zu einem Schriftsatze zusammengefügten Lettern in eine feste Platte zu vereinigen, um sie später durch den Abdruck vervielfältigen zu können. Nach mehrfachen Versuchen, die größtentheils darauf hinausliefen, die gesetzte Schrift hinten zusammenzulöthen, gelangte Firmin Didot zu Paris (1794) auf das Verfahren des Abformens, welches Lord Stanhope endlich im Jahre 1804 einer solchen Vollkommenheit zuführte, daß es jetzt unter dem Namen der englischen Methode am Meisten verbreitet ist.
[214] Um von dem Schriftsatze ganzer Seiten Platten zu gewinnen, welche einen einzigen Körper bilden, ist es zuvörderst nöthig, daß derselbe auf die gewöhnliche Weise, welche wir weiter unten näher kennen lernen werden, aus beweglichen Typen hergestellt wird. Man legt um die aus Typen gesetzte, sorgfältig corrigirte und geschlossene Columne einen Formenrahmen, der den Schriftsatz soweit überragt, als die Matrize stark werden soll, bestreicht den Satz mit Knochenöl und bringt dann eine dünne Schicht mit Wasser eingemachten Gypses darauf, die in alle Vertiefungen gehörig eingeführt wird, worauf dann der Formenrahmen selbst mit Gypsbrei gefüllt und mit einem Lineale abgeglichen wird. Dieser Gypsabguß, der sehr schnell verhärtet und die Buchstaben des Satzes vertieft, die Zwischenräume aber erhaben wiedergibt, gelangt nun in den Trockenofen, wo ihm noch alle zurückgebliebene Feuchtigkeit entzogen wird.
Von diesen Matrizen werden die Stereotyptafeln auf zweierlei Art gewonnen, wovon die eine das oben erwähnte englische und die andere das französische Verfahren (nach Daulé) genannt wird. – Nach dem ersten wird die ausgetrocknete Matrize in eine eiserne Pfanne mit Deckel gelegt an deren vier Ecken sich Eingußöffnungen befinden, und mit dieser so lange in die geschmolzene Masse versenkt, bis dieselbe alle Räume vollständig ausgefüllt hat. Nach 15 bis 30 Minuten zieht man die Pfanne wieder in die Höhe und läßt sie auf feuchtem Sande sich abkühlen; ist dies geschehen, so wird die Pfanne geöffnet, der Guß herausgenommen und die Stereotypplatte von der Matrize getrennt. – Nach dem französischen Verfahren werden die Stereotypplatten in einem senkrecht angebrachten eisernen Gießinstrument gegossen, welches aus zwei Theilen besteht und sich mittelst einer Charnière öffnen und schließen läßt; in diesem wird die Matrize sammt dem sie umschließenden Rahmen auf die hohe Kante gestellt und der Schriftzeug mit einem Gießlöffel durch den oben am vordern Theile befindlichen schrägen Einguß in das Gießinstrument gegossen.
Die auf beide Arten gewonnenen Stereotypplatten gelangen nun in die Hände besonderer Arbeiter, welche diese sorgfältig durchsehen und alle Unebenheiten zwischen und in den Buchstaben entfernen. Um die Platten für den Abdruck in der Buchdruckerpresse geeignet zu machen, werden sie auf einer Hobelmaschine gleichmäßig abgehobelt und durch eine mechanische Vorrichtung auf die gewöhnliche Schriftfläche zugerichtet, so daß sie nun wie eine gewöhnliche Form aus beweglichen Lettern zum Abdruck gelangen.
Die Erfindung der Stereotypie bietet dem Verleger bei Herstellung von Druckwerken, welche einer großen Verbreitung fähig sind, wesentliche Vortheile dar. Diese bestehen hauptsächlich darin, daß nicht, wie es in der Regel geschieht, die ganze Auflage eines Werkes mit einem Male abgedruckt werden muß, sondern daß man den Abdruck in beliebiger Anzahl von Exemplaren so oft erneuern kann, als es eben der Erfolg nöthig macht, wodurch bei wiederholten Auflagen die Herstellungskosten für Satz und Correctur erspart werden. Außerdem hat man bei dem ganzen Werke gleichsam neue Schrift, die sich, da sie eben nicht wieder zu andern Zwecken benutzt werden kann, gleichmäßig abnutzt, und endlich kann man auf die vollkommenste Correctheit des Textes rechnen, denn wenn derselbe einmal gesetzt, genau corrigirt und stereotypirt ist, so darf man der unfehlbaren Gleichheit aller Abdrücke gewiß sein, was bei dem gewöhnlichen Drucke der Fall nicht ist, wo bei dem Schwärzen der Form die beweglichen Lettern nur zu leicht herausgerissen oder in Unordnung gebracht werden.
Man vervielfältigt übrigens durch die Stereotypie nicht allein Lettern, sondern erlangt auch mittelst derselben Clichés von Holzstöcken und ähnlichen für den Buchdruck bestimmten Gravuren.
„Dann müßte auch noch ein Färbehaus gebaut werden,“ fuhr der alte Herr zerstreut nach einer Weile fort, während er noch immer am Fenster stand und Mathilden den Rücken zukehrte, „ja, das wollte ich Dir eigentlich mittheilen, Mathilde, wir werden bauen, viel bauen, – Karl wird bauen, das Geschäft wird fast noch einmal so groß werden, – aber Schwindel, Schwindel, wenn wir nicht Geld haben, – wir brauchen viel Geld, Mathilde, – Du bist ein gutes Mädchen, – und Karl – ich sehe das ein, –“
Er wendete sich jetzt um, ging hin zu Mathilden und fragte mild und väterlich:
„Hast Du meinen Karl lieb?“
Ueber Mathildens Lippen ging kein Laut. Sie senkte das Haupt, – ein neuer Gluthstrom überbrannte ihr Angesicht.
„Und hat Karl Dich lieb?“
Tiefer senkte das Mädchen das Haupt, – keine Antwort erfolgte.
„Ich kenne doch so Einiges, – ich erinnere mich an so Manches, – hat er Dich lieb, Mathilde? hat Karl Dich lieb?“
„Ich weiß es nicht.“
Das war so leise gesprochen, daß der Alte es kaum hörte, – es klang wie das Beben einer Saite, – und die Arme, die es sprach, senkte noch tiefer das Haupt, – ihre Hände zitterten, weil ihre Seele zitterte.
„Seit längerer Zeit hat er nicht mit Dir geredet,“ fuhr der alte Herr fort, während er seinen Gang durch die Stube von Neuem unternahm, „hat es vermieden, Dich zu sehen, Dir zu begegnen, – weiß wohl, Mathilde, – und ’s ist ihm schwer geworden, ist ihm an’s Herz gegangen, – glaubst Du’s, Mathilde?“
Er blieb bei diesen letzten Worten vor ihr stehen. Mathilde aber erhob ihr Haupt, als habe sie einen himmlischen Gruß gehört mit himmlischer Bürgschaft. Aus ihren Augen leuchtete es feucht, wie Thränen, – ein stilles Entzücken flog über ihr Antlitz, indem sie leise fragte:
„Es ist ihm schwer geworden, ist ihm an’s Herz gegangen?“
„Kannst es glauben, Mathilde,“ versicherte der wiederum Umherwandelnde, „schwer geworden, schwer, – aber hat er nicht Recht? nur kein Unternehmen auf Schwindel gegründet! nur festen, sichern Boden, eine Capitalunterlage! und da hat er Recht, – und doch, und doch, wenn’s ihm schwer wird, und wenn’s Dir schwer wird, –“
Als müsse er sich einen Augenblick lang erst stärken, hielt er an und sprach dann schnell weiter, indem er nach dem Hofe hinabblickte:
„Mathilde, Du siehst, es wird auch mir schwer, recht schwer, – aber gibst Du ihm nicht Recht? Du dauerst mich, er dauert mich, – doch die Vernunft, die Vernunft! Karl hat Recht, – so schwer es ihm wurde, er scheint doch mit sich fertig zu sein, – und wenn Du nun auch mit Dir fertig wärst, so wollte ich Dir etwas sagen, Mathilde. Soll ich, soll ich Dir etwas sagen?“
„Wie Sie wollen,“ sprach kaum hörbar Mathilde und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht, als wolle sie den Blitz nicht sehen, der unter Donnerschlag jetzt niederfahren mußte.
„Jawort, – Cölestine, – Karl, –“
In diesen und noch wenigen Sylben lag Blitz und Donnerschlag, – er fuhr nieder.
Mathilde stand scheinbar ruhig, stand wie eine schöne Bildsäule. Hielt sie auch die kleinen Hände vor’s Gesicht, der Blitz hatte doch durchgeleuchtet, war niedergefahren in das Blumenbeet des Herzens. Schnell hatten sich die Knospen zu Blüthen geöffnet, – noch schneller lagen sie zerschmettert, – zusammengedrängt Alles in wenige Minuten, Alles, Sonne und Nacht, – Sonne der Hoffnung, Nacht der Entsagung.
Der alte Herr, der bis jetzt am Fenster und von Mathilden abgewendet gestanden, drehte sich um.
„Bist erschrocken, armes Kind, sehr erschrocken?“ sprach er mitleidig. „O, nimm doch die Hände vom Gesicht, brauchst Dich vor mir nicht zu schämen, gutes Kind, – wie mich’s dauert! habe [215] Dich lieb, – hätte nichts dagegen gehabt, wenn Karl – aber der Bau, die Maschinen, die ganze neue Einrichtung – ohne Capital würde Alles ein Schwindel sein, der uns in’s Unglück stürzen müßte. Das willst Du nicht, Mathilde, – bist Du bös auf mich? bist Du bös auf Karl? O, nur nicht hinein in den jetzigen Geschäftsstrudel ohne Capital! Denke an unsere Firma, an unsere Ehre, an unsere Verbindungen und Verbindlichkeiten, – Mathilde, bist Du bös auf mich und Karl? Und nimm doch die Hände weg, schäme Dich nicht, – bist Du bös auf uns?“
Langsam zog sie die Hände vom Gesicht. Die schönen Augen schwammen in Thränen.
„Nicht bös,“ sagte sie still, „nicht auf Sie, – nicht auf den jungen Herrn.“
„Aber auf Fräulein Cölestine?“
Schweigend schüttelte die Arme ihr Haupt, aber ein tiefschmerzlicher Zug ging über ihre Stirn.
„Gib mir Deine Hand darauf, – also nicht bös, nicht bös auf uns Alle, – auch nicht bös auf den lieben Gott, der es so haben will, weil er uns Vernunft gab, – freilich, freilich,“ setzte er seufzend hinzu, „er gab uns auch ein Herz.“
Da brach Mathilde in lautes Weinen aus, – aber sie reichte dem alten Herrn die Hand.
Mochte der alte Herr es fühlen, daß er in seiner Gutmüthigkeit immer wieder einriß, was er aufbaute, – oder erschrak er über das heftige Weinen, das er nicht erwartet hatte? Genug, auch er konnte sich jetzt nicht länger mehr halten, – er fing an, in eine Weichheit zu verfallen, welche die Verwirrung in seinem Innern noch größer machte, als sie schon war. Sein Gang wurde schneller, ängstlich fuhr er mit den Händen in die Rocktaschen, brachte bald den „Ernst Heiter“, bald das seidene Taschentuch heraus, mit welch’ letzterem er sich die Thränen abtrocknete, die er nicht länger hatte zurückhalten können. Dann las er einige Secunden lang in dem Zeitungsblatte, – aber es wollte nicht gehen. Es schwirrte und funkelte ihm vor den Augen, – in seinem Innern gährte und wogte es durcheinander, – er fühlte seine Schwäche und rang doch nach dem Siege. Auf das weinende Mädchen wagte er kaum noch hinzublicken.
In den Hof herein hörte man jetzt einen Reiter sprengen. Der alte Herr lief erschrocken nach dem Fenster und rief: „das könnte Karl sein!“
Mathilde aber erschrak wohl noch weit mehr, als der Alte. Sie stürzte nach der Thür, wollte fort, trocknete sich schnell noch die Augen, – aber als ihre Hand nach der Klinke griff, stand auch der alte Herr schon da und hielt und zog das Mädchen zurück und rief halb bittend, halb befehlend und doch in Angst: „bleibe da! verlaß mich nicht, Kind; bleibe, bleibe!“
Schon hörte man Schritte in dem anstoßenden Saale. Nach der Thür, die dort hereinführte, blickte bebend das Mädchen, und floh, als wolle sie sich dem Auge des Kommenden so lange als nur irgend möglich entziehen, an’s Fenster, das in den Hof ging. Kaum hatte sie dasselbe erreicht, und kaum hatte der alte Herr die Hände auf den Rücken gelegt, um seinen vorigen Gang anzutreten, da öffnete sich auch schon die Saalthüre.
„Guten Abend, Vater! Da bin ich wieder; Cölestine läßt Dich schön grüßen!“
Heiter und schnell erklangen und verklangen diese Worte, ehe sich der Saal wieder schloß. Der Sprecher trat ein, – der alte Herr antwortete nicht, sondern ging ängstlich zerstreut auf und ab.
„Ist etwas vorgefallen?“ fragte Karl.
„Vorgefallen, eingefallen, aufgefallen, aufs Herz gefallen! – dort, dort!“ sprach nun der Alte und schlenkerte die Hände vom Rücken hervor und streckte sie unter Thränen nach dem Fenster hin, wo mit gesenktem Haupt das zitternde Fabrikmädchen stand. Karl erschrak, – wurde roth, – sah schnell hinweg, dann wieder hin und bewegte grüßend den Hut.
„Also auch erschrocken? wieder erschrocken? Karl, Karl, das ist nicht gut! Ihr wird es schwer, mir wird es schwer, Dir wird es schwer! Fort mit den Maschinen, fort mit dem ganzen Kram, fort mit dem Schwindel! Hier, hier!“
So rufend im schnellen Eifer, lief er zu dem Mädchen, führte oder zerrte es an der Hand bis auf die Stelle, wo Karl stand, und fuhr, indem er rasch auch dessen Hand ergriff, hastig fort:
„Hier, hier, nehmt Euch! – Fort mit dem Schwindel!“
„Vater!“ rief zürnend der junge Mann und entriß dem Alten die Hand.
Aber auch Mathilde entzog dem Alten ihre Hand und stürzte fort nach der Thür.
„Entschuldigen Sie, Mathilde, – der Vater allein –“
Mehr konnte Karl nicht nachsenden, – Mathilde war verschwunden; aber an den Vater richtete er die Worte:
„Was ist denn geschehen? Vater, weißt Du, was Du thust? Wozu diese schmerzlichen Possen? Du warst ja heute früh so vernünftig, – ich freute mich, –“
„’s mag nun gut sein, Karl,“ fiel der alte Herr ein und strich die letzte Thräne aus den Augen. „Ich konnte mich nicht lassen, – das Herz ließ mich nicht, – es mußte sein Recht haben, so gut wie die Vernunft. Jetzt ist mir wohler, – und wenn’s denn durchaus nicht geht, wenn’s nicht geht, Karl, – aber das Mädel dauert mich, – Mathilde weiß Alles, ich habe ihr Alles gesagt, – es wird ihr schwer, sehr schwer, – schwerer als Dir, – ich habe ihr auch erzählt, daß Dir’s schwer an’s Herz ginge, –“
„Das hast Du gethan, Vater?“ versetzte Karl tadelnd. „O, was das für Dinge sind! Du drücktest dem Mädchen Dornen in’s Herz, die Du nicht wieder herausziehen kannst!“
„Auch Du nicht? – Gar nicht möglich, Karl?“
„Vater,“ entgegnete verletzt der Sohn, „Vater, ich werde ganz irre an Dir! Wie kann Dir noch ein einziger Gedanke beigehen, daß ich meinen Plan aufgebe!“
„Der Plan ist nicht übel, – nun, laß es gut sein, Karl, – komm, wir gehen in den Garten, dort will ich Dir erzählen, wie Alles geschah, – wirst das arme Kind ja ebenfalls bedauern.“
Achselzuckend fragte Karl:
„Wozu soll das nützen und wohin soll es führen? – Vater,“ setzte er lächelnd hinzu, „wir wollen eine Fabrik bauen, nicht aber ein Theater oder Narrenhaus.“
„Narrenhaus?“ versetzte beleidigt der alte Herr. „Dann brauchen wir gar nicht in den Garten zu gehen, Karl, – und bauen, bauen, wir müssen Geld haben, wenn wir bauen wollen, sonst bauen wir ein Schwindelhaus, – wird Fräulein Cölestine Dir jetzt schon – ich meine die nöthige Beschaffung, das nöthige Capital –“
„Sei ganz außer Sorge, Vater, der Bau beginnt!“ versicherte Jener.
„So laß uns in den Garten gehen, Karl,“ schloß der alte Herr und nahm den Sohn an der einen Hand, während er mit der andern den „Ernst Heiter“ aus der Tasche langte und dabei erklärte, es könne und werde ja der Papierkram, von welchem der Dichter rede, nicht lange mehr halten.
So kamen sie in den Garten. Karl bat den Vater, ihm nun mitzutheilen, wie es mit Mathilden sich zugetragen. Das that der alte Herr, that es treu, gewissenhaft, umständlich. Oft wandelte ihn dabei jene Rührung an, welcher er nicht auszuweichen vermochte, und daran knüpfte er immer einen neuen Versuch auf das Herz seines Sohnes. Er blickte dabei nicht selten hinauf zu den Bäumen, wo die Vögel für diesen Tag die letzten Halme zum Nesterbau trugen und ihr Abendlied sangen, und der Alte sprach dann von glücklicher Ehe, – von der Ehe, in welcher auch er gelebt, und erinnerte den Sohn an die verstorbene Mutter.
Der Sohn war kindlich, – blieb aber fest.
„Karl,“ hob der Alte zuletzt noch an, „eins haben wir vergessen, eins. Damit könnte man’s thun, und es wäre doch kein Schwindel. Fünftausend – und nicht in modernen Papieren, nicht in Lumpen, – Karl, Fünftausend blankes Capital – Mathilde hat es, bringt es, gibt es. Das wäre doch auch etwas –“
„Reicht kaum aus für die Dampfmaschine,“ entgegnete der junge Mann.
„Müßten Alles kleiner – nicht eine so großartige Erweiterung – Karl, mit Fünftausend könnten wir doch schon etwas anfangen.“
„Lassen wir das, lieber Vater, es führt zu nichts,“ erklärte Karl. „Und gute Nacht, Vater! es dämmert schon, ich will nach der Stadt, Du weißt, daß ich noch zu schreiben habe.“
Und Beide schritten der Gartenthür zu. Noch ehe sie dieselbe erreichten, trat der Werkführer ein, welcher der Packstube vorstand.
„Mathilde läßt sich empfehlen – und hier –“ sagte der Werkführer, indem er ein Billet in die Hand des alten Herrn legte, „sie hat ihre Sachen gepackt, wird dieselben abholen lassen.“
„Und ist fort?“ fragte erschrocken der Alte, während er das Papier erbrach.
[216] „Seit einigen Minuten,“ erklärte der Werkführer.
Betroffen drückte Karl den Hut in die Augen – er that langsam einige Schritte in den Sandgang zurück – dann wendete er wieder um – der Vater gab ihm das Billet. Dasselbe war an den alten Herrn gerichtet und lautete:
- „Es dürfte sicher für Alle das Beste sein, wenn ich aus Ihrem Hause ginge. Darum will ich gehen. Nehmen Sie meinen Dank für die große Güte, mit welcher Sie mich allezeit behandelten, und vergeben Sie mir auch meine Fehler. Mathilde.“
„Fehler, Fehler, Du gutes, gutes Kind, was hast Du denn für Fehler?“ sagte der alte Herr, in Thränen schluchzend, und winkte und rief, daß der abgegangene Werkführer zurückkommen solle.
Karl aber gab Gegenbefehl, und bat:
„Mache kein Aufsehen, Vater! Du weinst.“
„Thränen sind kein Schwindel, Karl, – so will ich selbst fort, – ich hole sie noch ein, – ich bringe sie zurück.“
„Laß sie, mein Vater,“ mahnte bewegt der Sohn, und hielt seinen Vater fest, „laß sie ziehen – sie handelt groß und schön – o, ich habe mir’s gedacht, daß sie das kann.“
„Groß und schön!“ wiederholte der Alte, „würde das Cölestine auch können? – Groß und schön – Karl, laß mich, ich hole sie noch ein! Groß und schön – und einige kleine Maschinen, Karl, das wäre besser, als großartige Einrichtung mit schön gebautem Haus! Ich will Deine Mathilde wiederholen!“
„Sie ist nicht mein – sie kann nicht mein werden!“ versetzte der Sohn; „ich will Dir von Cölestine erzählen, die ist mein!“
„Und würde sie auch so handeln, Karl? Groß und schön – wie unsere, wie meine Mathilde? Laß mich los, Karl, ich bringe sie zurück!“
Der Sohn aber ließ nicht los, Arm in Arm ging er mit dem Vater tiefer in den Garten hinein, ohne auf die Frage zu antworten. Da ließ auch der Alte nicht los von der Frage, und wieder und immer wieder hob er an:
„Würde sie auch so handeln?“
„Wie kann ich das wissen!“ versetzte endlich Karl, „die beiden Charaktere sind verschieden. Aber Eins weiß ich, ich komme mit ihr an’s Ziel! Vater, wie wird dann unser Haus im Glanze stehen! Wie wird an unsere Firma, in einem weit höheren Grade, als jetzt, sich Gewinn, Ehre, Ruhm – mit einem Worte: das Geschäftsglück knüpfen!“
„Geschäftsglück, Sohn!“ sprach der alte Herr, „machst in Papieren und in Noten kühn, und Deine Zettel, Deine Lumpen blüh’n!“
„Das brauchen wir eben nicht, wenn ich Cölestinens Capital habe!“ tadelte Karl, „Vater, wende doch Ziffer und Zahl an, wie ganz anders wird sich Alles formiren!“
Und er redete nun und schilderte; er erzählte von Cölestinen und deren häuslichen Tugenden, sprach von den jungen Fabrikbesitzern, die ja auch um Cölestinens Hand sich beworben, und dieselbe doch nicht gewonnen hatten, – er pries sein Glück, er malte den Glanz der Zukunft. – Es war, als wolle er nicht nur den Hauptzweck dieser Ansprache – die Beruhigung des alten Herrn – erreichen, es war auch, als brauche er dieses Schildern und Malen für sich selbst, für sein Herz, welches ja doch aus der errungenen Ebbe gehoben und wenigstens von einzelnen Fluthwellen bewegt wurde, seit er wieder heim war in die Fabrik.
Hauptzweck und Nebenzweck seiner Rede wurde erreicht. Nicht nur der alte Herr, auch Karl fühlte sich nach einer Stunde weit ruhiger, als vorher. Der letztere konnte auf seine wiedergewonnene Ruhe mit ziemlicher Sicherheit bauen, – für seinen Vater aber mochte er nicht bürgen, hier war ein Rückfall möglich. Um den Vater zu überwachen, beschloß daher der Sohn, heute nicht nach der Stadt zu reiten.
Arm in Arm verließen Beide den Garten, durchgingen nochmals die Arbeitssäle – die lärmvolleren und die stilleren – auch die Packstube. Dann ward Feierabend – Feierabend, wie er oben auf den Bäumen lag, wo die Vögel schliefen, und wie er unten sich ausbreitete auf Wiese und Garten, – friedliche Stille überall. –
Einige Wochen sind vergangen. Wie arbeiten Maurer und Zimmerleute! Ein stattliches Fabrikgebäude erhebt sich neben den schon stattlich stehenden; ein neuer, hoher Schornstein gesellt sich zu den schon dampfenden. Der Bau hat nicht nur begonnen, er ist schon weit vorgeschritten, und Maurer und Zimmerleute scheinen zu wetteifern mit den Fabrikarbeitern drinnen in den alten soliden Sälen, und Axt- und Hammerschlag verbindet sich mit dem Surren und Schnurren der Maschinen in einer Weise, welche nicht jedem Ohre so wohlklingen mag, wie es dem Ohre Karls klingt, der bald draußen bei dem Bau, bald drinnen in den lärmvollen Sälen sich befindet.
Der alte Herr geht im Garten auf und nieder. Bedenklich bleibt er oft stehen, – er liest Briefe, welche er mit letzter Post aus Amerika erhielt. – Er ruft nach dem Werkführer in der Packkammer, – nach demselben, der ihm vor einigen Wochen das Billet von Mathilden überbrachte.
Sprechen wir einige Worte erst von ihr. Sie wohnt bei einer Verwandten. Das Haus steht auf der Höhe, ganz am Ende des Dorfes. Die Stube, die Mathilde dort inne hat, ist blank und sauber, wie sie selbst es ist. Ihre Sachen ließ sie längst abholen aus der Fabrik; sie näht und strickt für die Leute, lebt still und eingezogen. Gegen Abend unternimmt sie zuweilen einen Gang nach dem Walde hin, welcher die Höhe begrenzt, auch wohl hinein in den Wald – so weit, bis man hinabsehen kann in das Thal, in welchem die hohen Schornsteine rauchen. Sie blickt hinab in das Thal, betrachtet Gebäude, Garten, Wiese, – still kehrt sie heim.
Weder den jungen noch den alten Herrn hat sie wieder gesehen, seit sie aus der Fabrik schied. Aber von dem alten Herrn hatte sie vor nicht zu langer Zeit ein Briefchen bekommen, in welchem blos die Worte standen:
„Ich denke recht oft an Dich, Du fehlst in der Packstube und im Garten, – Mathilde, ich glaube, auch Karl denkt an Dich, aber er gesteht es nicht – weder sich selbst, noch mir. Antworte nicht, sondern komme selbst und arbeite wieder bei uns.“
Dieses Briefchen hatte der alte Herr heimlich geschrieben, – deshalb, weil er dem jungen Herrn versprechen mußte, Mathilden nicht zu besuchen, sie nicht wiederzuholen, nicht mit ihr zu reden. – Das Alles wußte Mathilde nicht, aber sie kannte ja den alten Herrn, und dachte sich so halb und halb, wie es gewesen sein mochte.
Bei Ernst Keil in Leipzig erschien:
Albert Traeger, den Lesern der Gartenlaube durch seine Beiträge, namentlich durch die eben so sinnigen, wie tief gefühlten Lieder:
- „Wenn Du noch eine Heimath hast – Das Mutterherz – Wie stirbt es schön sich in der Kindheit Tagen – Wenn Dich die Welt an’s Kreuz geschlagen“ u. s. w. u. s. w.
hinlänglich bekannt, bietet in seinen gesammelten Gedichten noch viele schöne Gaben, die sich durch Tiefe des Gemüths und eine edle vollendete Form auszeichnen.
- ↑ List schreibt „Knikfang.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Deutschands