Die Gartenlaube (1858)/Heft 3

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 3. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Kranken-Engel.
Novelle von Max Ring.


I.

Es war im Jahre 1811 am frühen Morgen, als der Verwalter Hartmuth auf einem oberschlesischen Vorwerke die zur Arbeit für die Gutsherrschaft verpflichteten Bauern musterte und jeden bei dem Namen aufrief, um sich von seiner Anwesenheit zu überzeugen. Die in Preußen damals bestehende Erbunterthänigkeit war noch nicht aufgehoben, obgleich eine dahin zielende Cabinetsordre bereits erlassen und der Termin für dieselbe festgestellt war. Die ländliche Bevölkerung hatte von diesem wohlwollenden Vorhaben der Regierung unbestimmte Kenntniß erlangt und in ihrer Weise die ausschweifendsten Hoffnungen daran geknüpft. In der Dorfschenke wurde diese Angelegenheit lebendig hin und her besprochen. Die Mehrzahl dieser polnischen Bauern hielt sich von allen Verpflichtungen gegen ihre bisherigen Herrn frei; sie glaubten, daß ihnen widerrechtlich die noch zu leistenden Dienste zugemuthet würden. Es bedurfte nur eines geringen Anlasses, um eine offene Empörung hervorzurufen. Der Verwalter Hartmuth war von Natur ein strenger und jähzorniger Mensch; der kleinste Widerspruch konnte ihn in Wuth versetzen.

„Anton Kaziel!“ rief er mit lauter Stimme zum zweiten Male, da er keine Antwort erhalten hatte.

Statt des Gerufenen trat eine blasse, abgezehrte Frau in der dürftigsten Kleidung und demüthigsten Stellung hervor. Nach slavischer Sitte beugte sie sich, um den Rockschooß des gnädigen Herrn Verwalters zu küssen.

„Verzeihung!“ bat sie mit schwacher Stimme, „aber mein Mann ist krank; er liegt am Fieber und kann nicht aufstehen.“

„Ich kenne das,“ entgegnete der Verwalter finster. „Eure Krankheit ist die Faulheit, aber ich werde Euch schon curiren. Diese Medicin ist die beste für solch’ Gesindel, wie Ihr Alle seid.“

Dabei schwang er den gewichtigen Ochsenziemer, den er in seiner Hand hielt. Ein dumpfes Murmeln in dem Kreise der anwesenden Bauern wurde hörbar und reizte den Wüthenden nur noch mehr, statt ihn einzuschüchtern.

„Wer wagt es,“ schrie er laut, während das aufsteigende Blut sein gewöhnlich rothes Gesicht ganz dunkel färbte, „hier ein Wort zu sprechen? Den Ersten, der sich muckt, lasse ich in’s Loch werfen und ihm fünfundzwanzig aus dem Pfeffer und Salz aufzählen. Ihr wißt, daß ich Wort halte.“

Die Drohung des großen und starken Mannes, so wie die angeborene Furcht verfehlten auch diesmal ihre Wirkung nicht. Die Roboter ließen ihre Köpfe hängen und beugten sich vor der gewohnten Autorität. Als der Verwalter seine Augen im Kreise herumschweifen ließ, begegnete er nur dem Ausdrucke der alten, stupiden Unterwürfigkeit. Nur im Innern seiner Untergebenen knirschte der Haß, welcher sich nicht offen zu zeigen wagte. Nachdem die Ruhe auf diese Weise wieder hergestellt war, wandte sich Hartmuth gegen die arme Frau.

„Gut,“ sagte er mit rauher Stimme, „wenn Dein Mann krank ist, so mußt Du an seiner Stelle hier bleiben und seine Arbeit thun. Die Herrschaft kann und darf nicht darunter leiden.“

„Lieber, gnädiger Herr!“ flehte die Frau. „Das werden Sie doch nicht im Ernst verlangen. Mein Mann kann sich nicht von der Stelle rühren. Wer soll ihn pflegen, ihm einen Trunk reichen, wenn ich nicht zugegen bin? Und die Kinder, meine armen Kinder; sie müssen hungern und verkommen, wenn ich mich nicht um sie kümmere.“

„Das geht mich nichts an. Zum Teufel! Wer heißt Euch so viele Kinder in die Welt setzen, die Ihr nicht einmal zu ernähren wißt! Marsch! in die Scheune mit den Dreschern und wenn Du nicht Deine Schuldigkeit thust, so sollst Du mich kennen lernen!“

„Um des Himmels willen, sein Sie barmherzig! Ich muß nach Hause. Mein Mann wird ja gern, wenn er erst wieder gesund ist, doppelt so viel arbeiten und das Versäumte reichlich einbringen.“

Die geängstigte Frau umschlang mit ihren schwachen Armen die Kniee des Verwalters, um ihn zurückzuhalten, da er sich zum Fortgehen anschickte. Hätte er nur ihr bleiches, bekümmertes Gesicht gesehen, so würde er vielleicht milder gewesen sein. Aber der Widerstand, den er von ihrer Seite zu finden glaubte, versetzte ihn auf’s Neue in Wuth. Er wollte sich losreißen und da sie ihn noch immer festzuhalten versuchte, so stieß er sie mit Heftigkeit von sich. Sie fiel und unglücklicher Weise mit dem Kopfe gegen einen großen Stein, der in der Nähe lag. Als sie so niederschlug, erhielt sie eine große Wunde und das Blut rieselte in warmen, rothen Strömen über ihr dunkles Haar und die bleiche Stirn. Regungslos lag sie auf dem Boden; die umstehenden Bauern waren stumm vor Entsetzen und auch der Verwalter selbst schien seine vorschnelle That zu bereuen. Einige anwesende Frauen beugten sich mitleidig zu der Ohnmächtigen herab und bemühten sich, sie in’s Leben zurückzurufen.

In diesem Augenblicke trat ein junger Mann von kräftiger Gestalt aus der benachbarten Schmiede, welche zu dem Hofe gehörte. In seiner schwieligen Faust trug er noch den gewichtigen Hammer, womit er so eben ein Pferd beschlagen hatte. Eine [34] sonst dem oberschlesischen Volke mangelnde Energie drückte sich in seinen kühnen Zügen und in seiner festen Haltung aus. Das Geschrei der Frauen, die Verstörung der Männer und der Anblick des ohnmächtigen Weibes hatten seine Neugierde erregt.

„Was gibt es denn, was ist hier vorgefallen?“ fragte er die Zunächststehenden.

„Dort liegt Deine Schwester!“ antwortete ihm einer der Roboter.

„Meine Schwester!“ rief er erschrocken, indem er den Trupp durchbrach, der schon zur Seite wich. „Sie ist todt, gemordet! O! wer hat dies gethan?“

Keiner der Umstehenden wagte, den Verwalter laut zu beschuldigen. Nur ihre stummen Blicke und Winke klagten ihn als Thäter an. Ehe Hartmuth noch ein Wort zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte, hatte ihn der Schmiedegesell am Halse gefaßt und holte mit seinem Hammer zu einem furchtbaren Streiche aus. Er hätte ihn sicher getödtet, wenn nicht der Verwalter durch eine schnelle und geschickte Biegung dem Schlage ausgewichen wäre. Mit der ganzen Stärke, die er besaß, suchte er jetzt seinem Gegner die gefährliche Waffe zu entreißen. Beide waren einander an Kräften gleich und es entspann sich daher ein erbitterter Kampf, dessen Ausgang höchst zweifelhaft schien. Der junge Mann hatte den Hammer fallen lassen und rang mit dem Verwalter, den er um den Leib gefaßt hatte. Bald lag der Eine, bald der Andre auf dem Boden und schaute mit vernichtenden Blicken in das von Wuth verzerrte Gesicht seines Feindes. Die Roboter hatten einen Kreis um die Kämpfer geschlossen, ohne sich zu betheiligen, obgleich sie in ihrem Innern entschieden die Partei des Schmiedegesellen nahmen und ihm den Sieg wünschten. So groß aber war noch immer die Macht der Gewohnheit und ihr sclavischer Sinn, daß sie nicht einmal ein Zeichen der Aufmunterung zu geben wagten. Nur über ihre stumpfen Gesichter zuckte zuweilen ein Blitzen, wenn der Verwalter auf einen Augenblick unterlag; sonst verhielten sie sich stumm.

Es herrschte das tiefste Stillschweigen, von Zeit zu Zeit durch das Schnauben und Aechzen der beiden Kämpfer unterbrochen.

Endlich hatte Pawel, so hieß der Schmied, seinen Gegner, dem er an jugendlicher Geschwindigkeit überlegen war, vollkommen überwältigt. Er kniete auf der Brust des Verwalters und während er ihn mit der einen Hand am Halse würgend festhielt, streckte er den andern Arm von Neuem nach dem Hammer aus, um, wie er beabsichtigte, den entscheidenden Schlag zu thun. Hartmuth bemerkte die drohende Gefahr und stieß einen lauten Schrei um Hülfe aus. Der ihm ergebene Schaffner des Vorwerkes und einige Knechte hörten ihn und eilten herbei, doch die drohende Haltung des Bauern schreckte sie zurück.

Schon hob Pawel die furchtbare Waffe empor, um sie zerschmetternd auf das Haupt des Gegners niederfallen zu lassen, als ein schwacher Schrei in seiner Nähe ihn aufhielt. Es war die Stimme seiner armen Schwester, welche aus ihrer Ohnmacht erwacht war und die Augen aufschlug. Ihr erster Blick fiel auf den Bruder und ihren Peiniger, der dem Todesstreiche mit höchster Angst in dem verzerrten Antlitz entgegensah. Er war ganz braunroth im Gesicht; seine mit Blut unterlaufenen Augen und der schlaff herabhängende Unterkiefer verriethen die Furcht einer gemeinen Seele.

„Halt ein, morde ihn nicht!“ rief die Schwester, welche sich wieder erholt hatte und Alles sogleich begriff.

Sie war aufgesprungen und faßte nach dem Arme des Schmiedegesellen noch zur rechten Zeit, um die schreckliche That zu verhindern. Dabei sah sie ihn mit ihren sanften Augen so bittend an, daß er nicht zu widerstehen vermochte. Der Hammer entsank seiner Faust und, indem er seine Hand von dem Halse des Verwalters entfernte, benutzte dieser die unerwartete Gelegenheit, um sich vollends zu befreien. Sobald er sich der drohenden Gefahr entrückt glaubte, kehrte auch seine frühere Heftigkeit zurück. Pawel stand noch immer, seine wiedererstandene Schwester mit freudigem Erstaunen anblickend. Eben so schnell wie sein Zorn aufloderte, war auch derselbe wieder erloschen, als er die Todtgeglaubte noch am Leben fand. Nicht so Hartmuth, der kein anderes Gefühl als die Rache über den ihm angethanen Schimpf kannte.

„Greift den Mörder, bindet den Bösewicht!“ rief er dem Schaffner und den Knechten des Hofes zu.

Diese zögerten anfänglich, seinen Befehl auszuführen, da sie den Muth des kräftigen Schmiedegesellen und die Uebermacht der Bauern fürchteten, welche diesen zu beschützen Miene machten. Aber die Drohungen des gefürchteten Verwalters und seine wiederholten Mahnungen brachten sie bald zu dem alten Gehorsam zurück. Zwei Männer näherten sich Pawel, um ihn fest zu nehmen.

„Flieh, flieh!“ rieth ihm die besorgte Schwester. Einen Augenblick schien er unentschlossen, aber die Roboter wiederholten denselben Rath. Er hatte von ihnen erwartet, daß sie sich für ihn erheben würden, doch der oberschlesische Bauer kennt nur den passiven Widerstand; er ist durch langjährige Knechtschaft feig und muthlos geworden. Nur von Zeit zu Zeit bricht sein verhaltener Groll plötzlich und unvermuthet, wie die zerstörende Windsbraut, hervor. Noch war dieser Augenblick nicht gekommen und Pawel fand sich in der Noth von seinen Freunden verlassen. Der Instinct der Selbsterhaltung trieb ihn zur Flucht. Sobald seine Verfolger sich ihm näherten, sprang er auf wie ein gehetztes Wild und eilte davon.

„Schließt die Thore, laßt die Hunde los!“ schrie der Verwalter seinen Leuten zu.

Dieser Befehl wurde augenblicklich befolgt. Krachend fielen die schweren Thorflügel zusammen und sperrten ihm den Ausweg, während die von ihren Ketten befreiten Hofhunde, von Hartmuth gehetzt, heulend und zähnefletschend hinter dem Verfolgten herjagten. Der geräumige Hof war von einer hohen, unübersteiglichen Mauer umgeben, an die sich die verschiedenen Wirthschaftsgebäude anlehnten. Außer dem Thorwege gab es nur noch eine kleine Pforte, die in’s Freie und auf die angrenzenden Felder führte. Diesen Ausgang suchte Pawel zu gewinnen. Mit der höchsten Anstrengung seiner Kräfte lief er nach diesem Ziele. Trotz des vorangegangenen Kampfes war er noch keineswegs ermüdet, und die Angst vor der drohenden Gefahr verlieh seinen Gliedern neue Spannkraft. Nur noch wenige Schritte und er war wenigstens für den Augenblick gerettet. Mit banger Erwartung sahen die Bauern dieser seltsamen Jagd zu, während die Schwester mit gefalteten Händen der Gottesmutter von Czenstochau, der allgemein in Oberschlesien verehrten Heiligen, eine Wallfahrt gelobte, wenn diese den armen Pawel beschützte.

Aber die Hunde folgten ihm auf den Fersen und in demselben Moment, wo er bei der Thür anlangte, stürmten auch sie von allen Seiten auf ihn ein. Die wüthende Meute sprang auf ihn, packte ihn, riß ihn nieder und faßte ihn mit den scharfen Zähnen. Vergebens versuchte er, sie von sich abzuwehren, sie klammerte sich fest an ihn an und ließ ihn nicht mehr los, bis der Verwalter mit den Knechten herankam und ihm mit schnell herbeigeholten Stricken die Hände auf den Rücken zusammenschnürte. Widerstandslos mußte sich Pawel die empörendsten Mißhandlungen gefallen lassen. Hartmuth schlug mit seinen Fäusten ihm in’s Gesicht und überhäufte den Unglücklichen mit den gröbsten Schmähungen.

„Ich will Dich lehren,“ schrie er laut, „gegen Deine Vorgesetzten, gegen Deine Obrigkeit Dich aufzulehnen. Und Ihr Uebrigen sollt Euch ein Beispiel daran nehmen. Wehe demjenigen, der nur einen Laut von sich gibt! Ihr sollt mich noch kennen lernen. O! ich weiß, was in Euren Köpfen spukt; aber ich werde Euch den Freiheitsschwindel schon austreiben. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

Mit gesenkten Häuptern hörten die Roboter seine Worte an. Keiner wagte Etwas zu erwidern oder dem Gefangenen nur durch einen Blick seine Theilnahme erkennen zu lassen; obgleich sie in ihren Herzen den Verwalter verwünschten. Nur die Schwester näherte sich dem armen Pawel weinend.

„Und das Alles,“ sagte sie schluchzend, „mußt Du um meinetwillen dulden.“

„Weine nicht, Jadwiga!“ tröstete er sie. „Grüße Deinen Mann und Deine Kinder. Mir wird Gott helfen, denn die Menschen sind Alle schwach und schlecht.“

Dabei warf er einen halb verächtlichen, halb schmerzlichen Blick auf die Bauern, welche regungslos daneben standen.

Mit boshaftem Lächeln weidete sich Hartmuth an den Leiden des Schmiedegesellen, darauf befahl er, ihn vorläufig in einen Keller zu sperren, um später erst seine Rache an ihm vollends zu befriedigen.

[35]
II.

Trotz der scheinbaren Apathie, womit die Bauern die Behandlung Pawel’s mit ansahen, verfehlte doch das Ereigniß nicht, eine mächtige Aufregung in dem ganzen Dorfe hervorzurufen. Der Schmiedegesell hatte eine zahlreiche Verwandtschaft und war durch seine persönlichen Eigenschaften bei aller Welt beliebt. Mit einem gewinnenden Aeußern verband er eine große Gutmüthigkeit. Nie hatte er seine bekannte Körperkraft mißbraucht; er war im Gegensatz zu den andern Burschen des Dorfes so friedlicher Natur, daß er stets die Uebrigen von Händeln zurückhielt. Dabei übte er eine gewisse geistige Ueberlegenheit aus; er besaß jenen scharfen Verstand und die schnelle Fassungsgabe, welche weit öfter bei den oberschlesischen Bauern angetroffen wird, als man gewöhnlich glaubt. Freilich wird ihnen nur selten die Gelegenheit geboten, diese Gaben der Natur weiter auszubilden, und unter den drückenden Verhältnissen muß jeder bessere Keim zu Grunde gehen, wenn ihn nicht schon die angeborene Indolenz und Trägheit im Aufkommen hindert. Nur in einzelnen, begabten Naturen bricht das Licht der Seele aus den verhüllenden Wolken hervor.

Von Jugend auf zeigte Pawel einen Drang nach Erkenntniß, ein Streben, das er mit einer unter solchen Umständen bewunderungswürdigen Beharrlichkeit verfolgte. Er konnte nicht nur polnisch lesen, sondern auch schreiben und verstand sich in der deutschen Sprache ziemlich geläufig auszudrücken. Diese Wissenschaft verdankte er nicht dem noch heutzutage höchst mangelhaften Schulunterrichte, sondern weit mehr dem Zufall, den er zu benutzen verstand. Als Knabe fiel er durch seine körperlichen Vorzüge und eine gewisse Anstelligkeit dem katholischen Geistlichen des Dorfes auf, der ihn unter die Zahl der sogenannten Administranten aufnahm, welche während des Gottesdienstes kleine Verrichtungen verschen, das Weihrauchfaß schwingen und mit den Glöckchen zur Messe läuten. Diese kirchliche Stellung brachte ihn vielfach mit den Caplänen und dem Pfarrer in Berührung, deren Theilnahme vortheilhaft auf seine Bildung und Moralität einwirkte. – Sein Wohlthäter hatte sogar die Absicht, ihn studiren zu lassen und zum Theologen zu bestimmen. Leider starb derselbe, ehe er diesen Plan ausführen konnte, und Pawel, der unterdeß herangewachsen war, mußte sich entschließen, die Kanzel und den Beichtstuhl mit dem Ambos und dem Hammer zu vertauschen.

Auch in seiner neuen Lage bewahrte er jene Sehnsucht nach Erkenntniß, die er freilich jetzt nur wenig oder gar nicht befriedigen konnte. Jeder Unterricht hatte für ihn aufgehört; aber die Schmiede des Dorfes ist nächst dem Wirthshause der einzige Ort, wo ein lebhafter Verkehr stattfindet und ein gewisses Leben herrscht. – Hier kommen die Bauern zusammen und während der Meister und seine Gesellen den schadhaften Pflug oder den Wagen ausbessern, unterhalten sie sich über ihre Verhältnisse. Der Kutscher und die Bedienten des gnädigen Herrn bringen ein Pferd, um es beschlagen zu lassen, und theilen Neuigkeiten vom Schlosse mit. Zuweilen verirrt sich ein Reisender hierher, ein Hausirer mit seinem Gespann; der erzählt, wie es in der weiten Welt aussieht. –

So fehlte es Pawel auch hier nicht an Anregung und seinem lebhaften Geiste nicht an Nahrung. Er wurde wenigstens vor der Verdummung geschützt, welcher die meisten Landleute in ihrer Abgeschlossenheit und Beschränkung erliegen. – Mit gespannter Aufmerksamkeit horchte er auf all’ die Berichte, während er das Feuer schürte oder das glühende Eisen mit gewaltigen Streichen auf dem Ambos bearbeitete. Oft schaute er sinnend in die zuckenden Flammen, während der Blasebalg sauste, und träumte von einem andern Leben, von einem Schicksale.

Ein unbestimmter Thatendrang schlummerte in dieser halberwachten Seele; sie sehnte sich heraus aus dem engen Kreise, um ihre verborgenen Kräfte zu entfalten. Es gab Tage und Stunden, wo der einfache Schmiedegesell von einer Ahnung jener dem Menschen angeborenen Freiheit ergriffen wurde, welche gewaltsam an ihren Ketten rüttelt. Gedanken kamen und zogen an ihm vorüber, für die er keine Worte, keinen Ausdruck fand. – Vielleicht hätten die Zeit und der lähmende Einfluß seiner Umgebung auch diesen entzündeten Funken seines Geistes ausgelöscht, vielleicht wäre er auch der allgemeinen Stumpfheit seines Dorfes verfallen, wenn nicht die Ereignisse fast wider seinen Willen ihn fortgerissen hätten. Ein natürliches Rechtsgefühl und die Liebe zu seiner mißhandelten Schwester hatten ihn fast zum Mörder gemacht. Eine schwere Strafe erwartete ihn für seine unbedachte That. – Er lag jetzt in dem feuchten, dunklen Keller, der ihm vorläufig zum Gefängnisse angewiesen war. Anfänglich fühlte er nur die Erschöpfung, welche auf die höchste Anstrengung folgte, und den physischen Schmerz, den ihm seine Wunden verursachten. Die Hunde hatten ihn zerfleischt und die Stricke, mit denen er gebunden war, schnitten in die Muskeln seiner Arme. Zu diesen körperlichen Schmerzen gesellte sich das Gefühl der Demüthigung über die schimpfliche Behandlung, welche er erlitten. Er knirschte mit den Zähnen, wenn er daran dachte, und alle seine Gedanken athmeten Rache für den angethanen Schimpf.

Während Pawel solche Qualen duldete, sann seine Schwester, welche sich als die alleinige Ursache seines Unglücks betrachtete, auf Mittel und Wege, um den Bruder zu befreien. Nachdem sie in der Scheune schwer gearbeitet hatte, ging sie nach Hause, um nach ihrem kranken Manne zu sehen, und den Kindern das dürftige Abendbrod zu bereiten. Mit ihren Thränen benetzte sie das schwarze Brod, das sie für die Kleinen schnitt. Sobald der vom Fieber erschöpfte Kaziel und die Kinder schliefen, eilte sie trotz der späten Abendstunde auf das Schloß. Sie hoffte die Begnadigung ihres Bruders zu erlangen, da sie einige Zeit als Magd im Dienste des Gutsherrn gestanden hatte und daher ihm und seiner Familie persönlich bekannt war. Ihr größtes Vertrauen setzte sie auf das gnädige Fräulein, das Veronika hieß, und dessen Herzensgüte im ganzen Dorfe gepriesen wurde.

Der Baron von Koslowsky war der echte Typus eines oberschlesischen Edelmanns. Lebenslustig, gastfrei und von Herzen eher gutmüthig, als bös, besaß er eine überaus hohe Meinung von sich und seiner Stellung. Den größten Theil seines Lebens brachte er auf dem Lande zu; nur von Zeit zu Zeit fuhr er nach der benachbarten Kreisstadt, wo ihn seine Geschäfte hinriefen. Dort verkehrte er mit einigen jüdischen Kaufleuten, an die er sein Korn und seine Wolle verhandelte. Für die kleinen Vortheile, die er ihnen zuwendete, bezeigten sie ihm die tiefste orientalische Unterwürfigkeit. Ueber seine Bauern herrschte er unumschränkt, wie ein König; auf seinem Gute betrachtete er sich als die höchste und einzige Autorität. Sein Umgang bestand aus einigen gleichgesinnten Edelleuten, dem Pfarrer des Dorfes und dem Justitiarius, der in seinem Dienste stand, und daher nur selten oder nie dem Baron zu widersprechen wagte. Kein Wunder daher, daß er in seinen Vorurtheilen bestärkt wurde und kein anderes Gesetz kannte, als seinen Willen.

Das Schloß, welches er bewohnte, lag auf einer kleinen Anhöhe, und war ein großes stattliches Gebäude im Style des vorigen Jahrhunderts. Im Verhältniß zu den erbärmlichen Hütten der Bauern konnte es sogar imposant genannt werden. Diesem Eindrucke schadete nur eine gewisse Unsauberkeit und Vernachlässigung, welche man mit dem Namen der „polnischen Wirtschaft“ zu bezeichnen pflegt. So war die Mauer hier und da schadhaft, der Kalkbewurf abgefallen, ohne daß daran gedacht wurde, nur die geringste Ausbesserung vorzunehmen. Auf dem weiten Gehöfte trieb sich das Vieh ohne jede Aufsicht herum. Die Mitte desselben wurde von einem großen Tümpel eingenommen, auf dessen schmutzigschillerndem Wasser eine Entenheerde laut schnatternd schwamm, während in dem Morast des Ufers sich mehrere fette Schweine mit Behaglichkeit herumwälzten. Hohe Misthaufen lagen zu Bergen aufgethürmt und verbreiteten jene eigenthümlich ländliche Atmosphäre, welche den Städter zum schnellen Vorübergehen zwingt. Ein bei schlechtem Wetter fast bodenloser Weg führte zu dem herrschaftlichen Wohnhause. Nur der eine Flügel des weitläufigen Gebäudes war bewohnt, der andere dafür dem gänzlichen Verfalle überlassen, der sich durch eine Unzahl zerbrochener Fensterscheiben schon von außen ankündigte. Der Hausflur, mit Steinen gepflastert, befand sich jedoch in einem höchst gefährlichen Zustande; da man unterlassen hatte, die ausgefallenen Fließe durch neue zu ersetzen, so waren allerlei Löcher und Abgründe gebildet, welche bei dem mangelhaften schwankenden Lichte einer kleinen Oellampe in der Dunkelheit schon manchen arglosen Fuß zum Fallen gebracht.

In der ersten Etage lagen die Staats- und Empfangszimmer des Barons und seiner Familie, die aus seiner Tochter und einer bejahrten Schwester bestand, welche seit dem Tode seiner Frau die Oberaufsicht führte. Tante Kascha, die polnische Abkürzung für Katharina, war eine resolute Dame mit fast männlichen Zügen, zu denen noch ein schwarzer Schnurrbart kam, um den sie ein [36] Fähnrich sicher beneiden durfte. Sie hatte mit ihrem Bruder die größte Ähnlichkeit. Dasselbe apoplektische, roth gedunsene Gesicht, dasselbe Doppelkinn, dieselbe starkknochige Figur. Sie brauchte nur ihr schreiend bunt carrirtes Kleid mit seinem grünen, mit Schnüren besetzten Rocke zu vertauschen, um ihm vollends zu gleichen. Im Hause trug sie heruntergetretene Pantoffeln von einem merkwürdigen Umfange; wenn sie bei schlechtem Wetter über den Hof ging, pflegte sie die Wasserstiefel des Barons anzuziehen, die ihr bis über die Schenkel reichten. Knechte und Mägde zitterten vor ihrer barschen Stimme und noch mehr vor ihrer gewichtigen Hand.

Neben dieser männlich starken Tante bildete die weiblich zarte Nichte den größten Gegensatz, welchen man sich denken kann. Veronika trug die sanften Züge ihrer verstorbenen Mutter, einer trefflichen Frau, die mit hingebender Geduld die Rohheit des Barons erduldete. Die Tochter hatte ihr blaues, frommes Auge, ihre milden Züge und ein Herz voll aufopfernder Liebe geerbt. Der Baron, der sich einen Sohn gewünscht, konnte es daher seiner Gattin nie verzeihen, daß sie seine Hoffnungen getäuscht. Jahre vergingen, ehe er sich mit der Geburt der Tochter ausgesöhnt hatte. Sie war erst seit einigen Monaten in das elterliche Haus zurückgekehrt aus dem Kloster der Ursulinerinnen in Breslau, denen sie zur Erziehung übergeben war. Die frommen Schwestern, welche sich mit dem Unterricht des weiblichen Geschlechts beschäftigen, hatten nur die angeborenen Tugenden des Mädchens entwickelt, und ihrem Geiste eine zwar einseitige, aber durchaus weibliche Richtung gegeben. Herzensgüte und Sanftmuth waren die hervorstechenden Eigenschaften ihres Wesens, das sich in ihren freundlichen Mienen und Blicken kund gab.

Auch an diesem Abend leistete wie gewöhnlich der Pfarrer, ein wohlbeleibter Herr mit salbungsreichen Gebehrden, und der Justitiar, ein kleiner, pfiffig darein blickender Mann, dem Baron bei Tische Gesellschaft. Auf der reich besetzten Tafel standen mehrere Flaschen mit schwerem, feurigen Ungarwein, dem, nach den gerötheten Gesichtern zu urtheilen, fleißig zugesprochen wurde. Das Gespräch drehete sich um die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, Trotzdem der Baron den königlichen Erlaß bereits in dem Amtsblatte, der einzigen von ihm gelesenen Druckschrift, gesehen hatte, konnte er sich doch nicht entschließen, die Möglichkeit einer solchen Maßregel zu glauben. So sehr war er in seinen Vorurtheilen befangen, daß er die Nachricht für eine unverschämte Lüge hielt, und den schüchternen Einwand des Justitiars nicht beachtete.

„Wird sich viel gedruckt,“ sagte er in seinem gebrochenen Deutsch, „was nicht wahr ist. Kann Regierung, kann König nehmen, was mein ist? Bauer ist mein Eigenthum, Hab ich von meinem Vater, und kann machen damit, was ich will.“

„Aber die Cabinetsordre mit der königlichen Unterschrift –“ warf der Justitiar dazwischen ein; hielt jedoch wieder inne, als der Baron mit der geballten Faust auf den Tisch schlug, daß die Gläser klirrten und der Wein überfloß.

„Hol der Teufel Cabinetsordre. Ganze Geschichte ist nur von dem verfluchten Schreibervolk gemacht. Die wollen sehen, was wir Edelleute uns gefallen lassen. Aber haben Rechnung ohne Wirth gemacht. Ist nicht wahr, lieber Pfarrer?“

Dieser nickte beistimmend, indem er behaglich aus seinem Glase den Wein schlürfte.

„Die Bauern,“ fügte er nachdenklich hinzu, „werden nun leider durch derartige verfrühte Mittheilungen schwierig gemacht. Der Respect vor der von Gott eingesetzten Obrigkeit geht verloren.“

„Richtig!“ schrie der Baron. „Mein Verwalter hat heute Geschichte erlebt, wie noch nicht vorgekommen. Hat ein gewisser Pawel ihn mit Hammer todt schlagen wollen. Justitiarius! Der Kerl muß exemplarisch gestraft werden.“

„Versteht sich,“ pflichtete dieser bei. „Die ganze Strenge des Gesetzes soll in Anwendung kommen. Verlassen Sie sich auf mich, Herr Baron!“

In diesem Augenblick erschien Veronika in dem Zimmer.

„Was gibt’s?“ fragte der Baron seine Tochter.

„Draußen,“ antwortete sie verlegen erröthend, „steht eine arme Frau, die Dich sprechen will.“

„Wer ist sie und was will sie?“

„Unsere frühere Magd, die gute Jadwiga. Sie kommt wegen ihres gefangenen Bruders.“

„Was untersteht sich die Hexe? Sie soll mich ungeschoren lassen! Warum hast Du sie vorgelassen?“ brummte der Baron.

Veronika hob ihre frommen Augen bittend zu dem Vater empor, der trotz seiner Rohheit ihrem sanften Flehen nicht zu widerstehen vermochte.

„So laß sie in drei Teufelsnamen eintreten!“ rief er ärgerlich.

An allen Gliedern zitternd nahete die Bäuerin, sich in der Thüre angstvoll haltend.

„Tritt näher!“ herrschte der Baron.

Sie gehorchte und küßte, ehe sie ihr Anliegen vorbrachte, den anwesenden Herren nach der Reihe die Hände; die größte Ehrfurcht jedoch erwies sie dem Pfarrer, in dem sie ihren geistlichen Seelsorger, den Stellvertreter Gottes auf Erden sah.

„Rede getrost, meine Tochter!“ sagte dieser in salbungsvollem Tone.

Seine Worte gaben ihr den nöthigen Muth, um den Vorfall treu und wahr zu berichten. Ihre Erzählung wurde häufig von heißen Thränen und lautem Schluchzen unterbrochen. Voll Theilnahme hörte Veronika zu, während der Baron seine Ungeduld und Entrüstung deutlich dadurch zu erkennen gab, daß er bald mit dem einen, bald mit dem andern Fuß auf den Boden stampfte.

„Dein Bruder ist Bösewicht, der eigentlich hängen muß,“ polterte er. „Nicht wahr, lieber Justitiar?“

„Allerdings!“ erwiderte dieser beistimmend. „Das Gesetz für einen derartigen Fall ist noch immer nicht streng genug.“

„Und die heilige Schrift,“ setzte der Pfarrrer hinzu, „sagt: du sollst unterthan sein deiner Obrigkeit.“

Die arme Jadwiga ließ sich indeß nicht abschrecken, und bat immer von Neuem um Gnade für den Schuldigen.

„Ich kann Dir nicht helfen,“ sagte der Baron, indem er ihr den Rücken zukehrte.

„O mein Gott!“ seufzte sie. „Er hat mich für todt gehalten, und darum übermannte ihn der Zorn. Verzeihen Sie ihm nur dieses einzige Mal noch, und ich will, so lang ich lebe, für Sie beten.“

„Zum Teufel, halte mich nicht länger auf, sonst laß ich Dich von meinen Leuten hinauswerfen. Ich habe weder Zeit noch Lust, Dein Geheule länger anzuhören.“

Erst von dieser Drohung eingeschüchtert, schwankte das unglückliche Weib zur Thüre hinaus, worauf der Baron die Karten bringen ließ, um seine gewöhnliche Solopartie mit den Herren zu spielen.

„Man muß ein Exempel statuiren,“ bemerkte er gleichsam zu seiner eigenen Beschwichtigung. „Jadwiga thut mir leid, aber der Bursche verdient seine Strafe, damit anderes Volk nicht Respect verliert.“

Draußen in der Halle brach die Elende unter der Last ihres Kummers zusammen. Die Füße wollten sie nicht mehr tragen; sie mußte sich an die Wand stützen. So wurde sie von Veronika gefunden, welche ihr nachgeeilt war, um die Härte ihres Vaters durch ein freundliches Wort wieder gut zu machen.

„Da, nimm!“ sagte das gute Mädchen, indem sie ihr verstohlen ein Geldstück in die Hand drückte.

„Gott lohne es, mein gnädiges Fräulein! Ich wollte nicht Geld, sondern die Loslassung meines Bruders.“

„Behalte nur die Kleinigkeit, und kaufe für Deinen kranken Mann eine Stärkung. Ich selber will mich für Pawel verwenden, wenn der Vater allein ist.“

„Sie kennen ihn ja, Paninka![1] Er ist ein guter Junge, der keinem Kinde etwas zu Leide thut; aber als er mich blutend liegen sah, da wußte er nicht, was er machte.“

„Sei ruhig! Es soll ihm nichts geschehen. Ich stehe Dir dafür.“

„Tausend Segen über Ihr gutes Herz.“

(Fortsetzung folgt.)



[37]
Einige Stunden in der k. k. Irrenanstalt in Wien.
Von Dr. A.

Die k. k. Irrenanstalt in Wien.

Irrsinnige haben, wenn für den Menschenfreund etwas Trauriges, für den Arzt und Menschenkenner stets auch etwas Interessantes, denn erforscht er an den Gesunden die Lichtseite, so bieten ihm die Geisteskranken die Gelegenheit dar, die Schatten- oder wohl gar die Nachtseite des menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens zu erspähen. Durch sie lernt er einsehen, wie sie ihre Gefühle oft seltsam verkörpern und personificiren, die Romane ihres Gehirns darstellen, Vorstellungen buntscheckig und ohne irgend ein Gesetz der Association aneinander reihen und überhaupt ein Seelenleben zeigen, das sonst weder erdacht, noch irgendwo anders gefunden werden kann. Darum sind die Psychiatriker (Seelenärzte) mit den meisten Novellen und Theaterstücken, in denen Irrsinnige Rollen spielen, unzufrieden, weil die auch noch so reich begabte Phantasie des Dichters die Wirklichkeit und Wahrheit eines wahnsinnigen Lebens nicht zu treffen im Stande ist. Der einzige Shakespeare macht hier eine Ausnahme, und seine Ophelia in Hamlet ist das Größte, was hier in diesem Fache existirt. Ein berühmter Psychiatriker, der zugleich mit mir die Aufführung im k. k. Hofburgtheater in Wien sah, machte denn auch die Bemerkung: Shakespeare hat seine Ophelia nach der Natur, d. i. an einer Irrsinnigen studirt, sonst hätte er diesen Charakter, obgleich ein so großes Genie, doch nicht so wahr und natürlich zeichnen können. Auf die Einwendung, daß ein Genie ja gerade das Eigenthümliche habe, sich ganz und gar in die Situation zu versetzen, entgegnete er:

„Nun und nimmer mehr, eben weil es ein gesundes und kein krankes Genie ist.“

Eben dieser große Psychiatriker wies die Schauspielerin, welche, anerkannt von allen Recensionen, die Rolle der Ophelia gegenwärtig am besten spielt, und die sich an ihn wendete, um sie ihr noch verbessern zu helfen, von sich und sagte ihr:

„Die Recensenten und Psychiatriker sind mit Ihnen zufrieden und so wird es das Publicum auch sein.“

Auf meiner Reise durch Wien suchte ich die k. k. Irrenheil- und Pflegeanstalt auf und fand bei dem Medicinalrath und Director derselben, Dr. Riedl, freundliche Aufnahme. Es ist ein zweistöckiges großes Gebäude, auf dem sogenannten Brunlfelde nächst der Hernalserlinie noch innerhalb der Stadtmauer gelegen, mitten in einem großen Parke auf einer Area von 60,000 Quadratklaftern und sieht mehr einem Lustschlosse, als einer Irrenanstalt gleich. Die Aussicht, die man auf dieser Anhöhe genießt, ist wirklich reizend; südwestlich die schönen Gebirge von Klosterneuburg, Grinzing, Dornbach; nordöstlich das ungeheuere Häusermeer der Residenzstadt, von der man einen großen Theil der Vorstädte überschaut. Sie liegt auf einem der schönsten Punkte, die Wien hat.

Nach Besichtigung der Anstaltscapelle, die mit kaiserlicher Pracht ausgestattet ist, nahmen wir das Innere der Anstalt in Augenschein. Die Gänge sind weit und groß, die Zimmer und Säle hoch und luftig. Zu ebener Erde sind die Handwerksstätten und Conversationssäle, im ersten Stock die Schlafstätten, in einem [38] Saale zehn bis funfzehn Betten. Im zweiten Stock sind Wohnungen für die vornehmen Patienten. Ein Patient erster Classe hat ein Zimmer für sich und ein Vorzimmer für den Bedienten, der zweiter Classe wohnt mit noch zwei oder drei Anderen zusammen. Alle diese Wohnungen sind sehr nobel eingerichtet, mit Sopha, polirten Kästen u. s. w. In den Conversationssälen sind Billards, Fortepiano’s, Zeitungen, Bücher u. s. w. zur Unterhaltung der Patienten.

In dieser Anstalt herrscht die Einrichtung, daß Jeder arbeiten muß, der arbeitsfähig ist, daher man ein müßiges, geschäftsloses Leben durchaus nicht trifft; der Bauer arbeitet auf den Feldern und in den vielen Gärten der Anstalt, der Maler und Bildhauer in seinem Atelier, der Compositeur componirt in einem Saale, in dem die nöthigen musikalischen Instrumente sich vorfinden, der Schriftsteller studirt und schreibt[2], kurz Jeder beschäftigt sich mit dem, was er vor seiner Krankheit gewohnt war und was daher auch tauglich ist, ihn in sein vorhergewohntes Leben wieder einzuführen. Dieses Alles geschieht in solcher Ordnung und so geräuschlos, daß man vergißt, in einer Irrenanstalt zu sein und sich eher in eine große geschäftige Haushaltung versetzt glaubt. Von Zwangsjacken sah ich auch nicht eine Spur an den vielen Patienten, die frei auf- und abgingen, und ich konnte nicht begreifen, wie denn eine solche Menge von Kranken (in der Heilanstalt befinden sich gegen 500 mit 80 Wärtern und Wärterinnen, in der Pflegeanstalt über 300 mit 30 Bediensteten) in solcher Ruhe und Ordnung erhalten werden konnten. Ich sah unter ihnen nur selten Anzeichen von Irrsinn, die Meisten redeten[WS 1] und betrugen sich ganz vernünftig. Auch war ihre Kleidung dem jeweiligen Stande angemessen; die ehemalige Anstaltsuniformirung ist hier längst verbannt. Je länger ich darin herumwandelte, desto mehr stieg meine Verwunderung über das schöne Betragen der Kranken. Auf meine Verwunderung hierüber entgegnete mir der Director:

„Hier sehen Sie nur die Reconvalescenten, die so vernünftig sprechen und sich benehmen, wie jeder Verstandsgesunde, im Falle man ihre schwache Seite nicht berührt und sie zu beherrschen versteht; die schweren und gefährlichen Kranken sind von ihnen abgesondert und befinden sich in Corridors, wohin ich Fremde nicht gern zulasse.“

Das war freilich ein Wink, diesen Ort unbesichtigt zu lassen, aber so ist schon der Mensch: nitimur in vetitum … meine Neugierde nach den Corridors wurde dadurch nur noch gesteigert. Ich wollte eben die Gefährlichen, die Tobsüchtigen, die Könige, Millionäre u. s. w. in ihrem Wesen sehen, ihre Gespräche hören und ihr ganzes Benehmen betrachten. Nach meiner motivirten Bitte, daß nicht Neugierde, sondern Wißbegierde mich dazu bestimme, diesen Ort zu besuchen, versprach mir endlich der Director, mich in die Corridors zu führen. Nachdem wir auf dem Wege dahin die verschiedenen Werkstätten, die sich von den gewöhnlichen in der Welt draußen in gar nichts unterscheiden und daher nicht weiter zu besprechen sind, besucht hatten, gelangten wir an eine verschlossene Thür. Der Director öffnete sie mit seinem Schlüssel, den er stets bei sich trägt, und wir traten ein. Ein oblonger Saal mit zwölf Seitencabineten faßte ungefähr dreißig Patienten, unter denen wieder kaum vier oder fünf die Jacke hatten, die Uebrigen gingen frei herum. Sie kamen alle auf uns zu, grüßten uns höflich und ich konnte ihre Anhänglichkeit an den Director nicht genug bewundern; sie umgaben ihn so vertraulich, wie Kinder einen Vater und redeten so ziemlich vernünftig mit ihm. Nur drei machten eine Ausnahme, die ich zur Unterhaltung des Lesers etwas näher bezeichnen werde. Der Erste war ein kleiner dicker Mann, ungefähr vierzig Jahre alt, von außerordentlich wildem Aussehen, im Gesichte mit Bart und Haaren ganz verwachsen und von trotzigem Aussehen. Er saß an einem langen Tische, der in der Mitte des Saales stand, und sah trotzig vor sich hin. Der Mann interessirte mich ungemein und während der Director mit seinen Patienten sich unterredete – jeder hatte ihm ein Anliegen mitzutheilen – ging ich auf ihn zu und fragte:

„Wie geht’s, mein Herr?“

Er sah mich seltsam an und antwortete:

„Wie’s geht? Gar nicht, ich sitze. Müßiges Leben in dieser Hundshütte, keine Jagd.“

Ungeachtet des menschlichen Elendes, das hier herrschte, mußte ich doch herzlich lachen, so komisch kam mir seine Antwort und die Art und Weise vor, mit der er diese räthselhaften Worte sprach. Sie sollten sich aber bald enträthseln. Auf mein Lachen entgegnete er:

„Sie haben gut lachen, Sie sind ein Mensch, aber ich bin durch den Zauberer“ – der Name ist mir entfallen – „in einen Hund verwandelt worden.“

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, stand auch schon der Director an seiner Seite und sprach:

„Was schwatzen Sie da wieder für albernes Zeug, Herr N.N.?“ Er sprach diesen seinen Vor- und Zunamen mit Betonung aus. „Wie oft schon habe ich Ihnen das verboten!“ fuhr er fort. „Wie heißen Sie? Wer sind Sie? Wie alt?“ u. s. w.

Er fragte ihn sein ganzes Nationale aus, welches der Patient auch getreu angab. Den Zweck der Fragen erräth nach diesen Antworten Jeder, nämlich das menschliche Bewußtsein des Patienten wachzurufen und zu befestigen. Nachdem dies geschehen war, wurde denn auch der Patient, der sich hierauf ganz verständig benahm, ermahnt, sich ja nicht mehr beifallen zu lassen, seinen Wahnideen nachzuhängen, sondern er möge sich Gewalt anthun, vernünftig zu denken und zu reden und sich zu benehmen, so werde man ihn auch als einen Vernünftigen behandeln.

Wie kam der Patient auf den Wahn, ein Hund zu sein? Eine körperliche Krankheit überzog seine Haut mit Schuppen, und behaart war er ohnehin sehr stark.

Der zweite Kranke war ein baumstarker, hoher Mensch von höchst imponirender Gestalt, etwa 30 Jahre alt. Er lehnte in einer Ecke des Corridors und gesticulirte vor sich hin, indem er stets von Geld und hohen Summen phantasirte. Als wir zu ihm traten, sprach er eben: „Vier Millionen Bankactien 1/4, nein 1/8, also doch endlich gestiegen? Verdammt, nein, gefallen“ u. s. w.

Unglückliche Börsenspeculation machte ihn zum Bettler, und der Wahnsinn war die Folge davon. Bald bildete er sich ein, vier Millionen und ungeheure andere Reichthümer zu besitzen, bald wieder an den Bettelstab gekommen zu sein. Im letzten Falle verweigert er zu essen, indem er bei den Aufmunterungen dazu stets sagt: „ich kann’s ja nicht bezahlen, und schuldig will ich nichts bleiben.“ – Um ihn zum Essen zu zwingen, muß die hierzu neuerfundene elektro-magnetische Maschine angesetzt werden, die, an einen Muskel des Schlundes gebracht, ihm den Mund öffnet. Nebenher gesagt, sind die Maschinen und Apparate in dieser Anstalt bewundernswürdig, sie aber hier zu beschreiben, würde zu weit führen.

Die Manipulation des Directors mit diesem Millionär-Bettler war ganz eigenthümlich, und in kürzester Zeit brachte er ihn zum Bewußtsein seines wahren und eigentlichen Charakters. Fragen und Antworten, also die sokratische Methode, wurden stets und zwar in eminentester Weise gehandhabt, worüber ich mich nicht genug verwundern konnte. Der Director aber entgegnete mir lächelnd: „Die Wirkung dieser Moralisation ist von keiner besonderen Bedeutung und nützt nicht viel, so lange der Patient noch körperlich krank ist, die somatische Heilung durch Bäder, körperliche Bewegungen u. s. w. ist die Hauptsache. So lange der Irre seine krankhafte Empfindung und sein abnormes Gemeingefühl behält, nützt alles Zureden wenig und in den meisten Fällen gar nichts.“

Der Dritte war ein Wahnsinniger und aus unglücklicher Liebe redete meist in Versen (er litt auch an Reimwuth, Metromanie) von seiner Geliebten.

Mit jedem Patienten benahm sich der Director anders, und war ein wahres Chamäleon. Noch nie sah ich einen Menschen, und ich sah die größten Schauspieler, der seinen Charakter so schnell, hier nach der Individualität des Kranken, verändern könnte, als der Director dieser Anstalt; wahrlich, dieser Mann verdient seinen großen Ruf, den er unter den Psychiatrikern genießt, schon hierin!

Hierauf führte er mich in eines der zwölf Cabinete. Ein Tischchen, ein Stuhl daneben, ein Bett und ein Nachtstuhl, jedes dieser Stücke mit eisernen Spangen an den Boden befestigt, machten die ganze Einrichtung aus. Das große Fenster, durch welches [39] das Licht einfiel, konnte durch eine Maschinerie in wenig Secunden geschlossen werden, und nach Verschluß der Eingangsthüre in diese Zelle kann auch nicht ein Lichtstrahl eindringen, so daß die größte Finsterniß herrscht, eine stockfinstere, künstliche Nacht zur Mitigation exaltirter Patienten. Ich gestehe offen, daß mir selbst bange wurde, da ich mich in dieser Finsterniß befand.

Die Frauenseite, streng von der der Männer getrennt, ist von dieser nur insofern verschieden, als statt der Handwerkstätten Locale für Näherinnen, Strickerinnen, Strohhutflechterinnen und zum Waschen eingerichtet sind. Auch hier herrschte große Ordnung, und ein nach der Tagesordnung von 6 Uhr früh bis 7 Uhr Abends geschäftiges Leben. Die Irren speisen gemeinschaftlich in großen Sälen und, was mir höchlich auffiel, mit Messer und Gabel, ohne daß je ein Unfall vorkam; in den Corridors ist dies aber nicht der Fall, und von Schneideinstrumenten kann da keine Rede sein.

Ich verließ diese Anstalt mit dem freudigen Bewußtsein, daß Oesterreich im Irrenfache seit einem Decennium große Fortschritte gemacht und endlich einmal eingesehen hat, daß es hierin dem Auslande nicht nachstehen darf, was leider vorher nicht der Fall war; denn wer, der Wien besuchte, erinnert sich nicht des zum Sprüchwort gewordenen runden Thurmes, welcher die einzige Heil- und Pflegeanstalt für die Irren durch so viele Jahre war?




Ein unaufgelöstes Räthsel.
(Fortsetzung.)

Gefrühstückt wurde an diesem Tage nichts. Es war noch Nacht und im Dunkel gingen Bertha und Caroline eine weite Strecke durch den Wald. Der Tag war seit geraumer Zeit angebrochen, als sie vor einem einzelnen Hause ankamen, vor dem mehrere herrschaftliche Wagen (Chaisen) ohne Pferde standen. Bertha führte Carolinen in ein Zimmer dieses Hauses, wo sie kurze Zeit verweilten, ohne etwas zu genießen. Inzwischen hatte einer der Wagen zwei Pferde erhalten und nahm die Beiden auf. Er war auf beiden Seiten mit Thüren versehen, in denen Glasfenster waren. Die Reise dauerte 13 Tage und 12 Nächte. Beobachtungen stellte Caroline während dieser Zeit nicht an, da nur der eine Gedanke sie erfüllte, recht bald zu ihrer Mutter zu kommen. Man hielt immer vor einem Hause an, zuweilen unter einem Dache (Vorbau, Schuppen?). Das eine Haus kann oft zu einem Dorfe oder einer Stadt gehört haben, ohne daß Caroline, ganz von ihren Gedanken in Anspruch genommen, etwas davon merkte. Wenn man auf längere Zeit anhielt, brachte Bertha Speisen und Wasser und Caroline aß und trank in der Kutsche. Einige Male blieb die Wärterin Stunden lang weg und Caroline konnte dann vor Furcht nicht schlafen. In ein Bett kam sie während dieser ganzen Zeit nicht und verlangte auch nicht danach.

Nach dem angegebenen Zeitraume hielt die Kutsche einmal, als die Nacht nicht mehr fern war, auf einem Wege dicht an einem Walde. Bertha stieg mit Carolinen aus und die Kutsche fuhr schnell fort. Die Wärterin übergab dem jungen Mädchen ein Tuch mit Brod und Schweinefleisch und befahl ihr, am Rande des Waldes stehen zu bleiben und sie zu erwarten. Sie küßte sie darauf traurig und weinend und entfernte sich in derselben Richtung, welche der Kutscher eingeschlagen hatte, in den Wald. Die Verlassene wartete einige Zeit und ging dann in den Wald, um nach Bertha zu sehen. Als sie Niemand wahrnahm, ging sie an die ihr angewiesene Stelle zurück und wiederholte dies mehrere Male. Zuletzt drang sie tiefer in den Wald, rief lauter und lauter, aber Niemand antwortete. Sie sollte Bertha, den Kutscher und den Wagen nie wiedersehen.

Von der Hoffnung beseelt, mit ihrer Mutter vereinigt zu werden, sah sich die Arme jetzt auch von Bertha, ihrer Pflegerin und mütterlichen Freundin, verlassen. Ihr Gemüthszustand muß ein entsetzlicher gewesen sein. Drei Tage und vier Nächte brachte sie in dem Walde zu, ohne einen Menschen zu sehen, ohne die Fleisch- und Brodvorräthe ihres Tuches zu berühren. Es fror sie während dieser Zeit so anhaltend und in so hohem Grade, wie noch niemals, obschon sie warm gekleidet war und das Wetter während jener Tage im Verhältniß zur Jahreszeit angenehm genannt werden konnte. Am vierten Tage fand sie sich aus dem Walde hinaus und kam zu einem Wege, der an diesen angrenzte. Sie hatte sich hier niedergesetzt, als ein erwachsenes Mädchen mit einer Reisetasche am Arme daherkam. Beide wollten mit einander sprechen, verstanden sich aber nicht. Caroline ließ sich von der Fremden, welche ihr die Hand bot, führen. Sie kamen an ein Wasser, das so breit wie der Main bei Offenbach war. Eine Brücke führte über den Fluß, in der Nähe standen viele Häuser. Nie hatte Caroline eine Brücke und ein so großes Wasser gesehen, und sie fürchtete sich daher so sehr, daß ihre Begleiterin sie über die Brücke führen mußte. Weiterhin folgten mehre Häuser, also wohl ein Dorf. Die Fremde holte aus einem der Gebäude Nahrungsmittel (bettelte), und Caroline wartete inzwischen auf der Straße. Das Holen von Lebensmitteln wiederholte sich an diesem Tage mehrmals. Caroline war jetzt wieder in menschlicher Gesellschaft und dies ermuthigte sie so, daß sie zum ersten Male von ihrem Brode und Fleische aß. Auf dem Felde arbeiteten Leute, auch begegneten ihnen Wanderer, aber sie sprachen mit Niemand. Als es Nacht geworden war, traten beide in ein kleines Haus, neben dem noch andere Gebäude standen. Hier war blos eine Frau, die ihnen Suppe gab, worauf sie schlafen gingen. Caroline, die mit der jungen Fremden in einem Bette schlief, legte beim Entkleiden ihre Ohrringe ab und steckte sie mit ihrem Medaillon zusammen in die Tasche ihres Kleides. Die Fremde nahm aus ihrer Reisetasche ein grobes Hemd und gab es Carolinen, welche ihr eigenes feineres Hemd auszog und es zu ihren Kleidern legte. Indem sie so handelte, folgte sie ihrer Gewohnheit, ein Nachthemd anzulegen. Sie hatte in den letzten sechzehn Nächten in keinem Bett geschlafen, viel Sorgen und Kummer gehabt, und ihr Schlaf muß daher ein sehr fester gewesen sein. Als sie erwachte, war ihre Bettgenossin verschwunden und hatte Carolinens ganze Habe bis auf einen engen Kamm und jenes Tuch mit Brod und Fleisch mitgenommen, ihr zum Ersatz blos ihr eigenes grobes Hemd zurücklassend. Die Wirthin des Hauses, die mit der Diebin ohne Zweifel im Einverständniß war, gab ihr etwas Suppe mit Brod und alte Kleider, dieselben, mit denen sie in Offenbach erschien. In dieser fremden Kleidung ging Caroline, deren ganze Verzweiflung mit ihrem abermaligen Verlassensein wiederkehrte, fort, in welcher Richtung, war ihr gleichgültig. Wenn sie vor Müdigkeit nicht weiter konnte, setzte sie sich auf den Boden und weinte. Sie ist auf diese Weise noch zwei Tage und eine Nacht umhergeirrt. Am Abend des zweiten Tages trat sie in ein Haus, dessen Besitzerin ihr Brod und einiges Geld reichte, was sie beides zurückwies. Eine zweite Frau kam hinzu und diese wird mit der Wirthin bei einer kurzen Berathung zu dem Resultate gelangt sein, daß man keine Bettlerin, sondern eine ungewöhnliche Person vor sich habe. Caroline wurde also zu dem Bürgermeister des Ortes (Weiskirchen) und von diesem am folgenden Tage nach Offenbach geführt. Ihre weiteren Schicksale kennen wir.

Wir haben die Erzählung von Carolinens Schicksalen ohne Kritik gegeben, wie wir diese Erzählung in dem einzigen bis jetzt über sie erschienenen Werke[3] fanden. Ob außer der Bekanntmachung, die wir an der Spitze dieser Zeilen mittheilten, und außer polizeilichen Anfragen an auswärtige, namentlich österreichische Behörden zur Feststellung der Wahrheit oder Unwahrheit jener Erzählung etwas geschehen sei, wissen wir nicht. Man hätte nach unserer Ansicht vor allen Dingen den Versuch machen sollen, Carolinen den Weg, auf dem sie nach Offenbach gekommen ist, unter Begleitung auffinden zu lassen. Obgleich ihr geistiger Zustand und ihre Verzweiflung nach Bertha’s Verschwinden sie an genauen Beobachtungen verhindern mußten, sollte man doch meinen, daß sie, in der Umgegend herumgeführt, jenes große Wasser mit der Brücke, vor dem sie sich so sehr fürchtete, und weiter den [40] Weg, den sie mit der Fremden bis zum Hause, wo sie bestohlen wurde, einschlug, hätte auffinden müssen. Wäre man auf diese Art nur in den Besitz ihrer Ohrringe und ihres Medaillons gelangt, so würde die Mühe vollauf belohnt gewesen sein. Diesen Versuch, durch ein Umherführen Carolinens weitere Aufschlüsse zu erlangen, hat man nicht gemacht, wenigstens schweigt die Eck’sche Schrift davon gänzlich.

Wir wollen nun Carolinens Glaubwürdigkeit in objektiver wie in subjectiver Beziehung prüfen. Verdient ihre Erzählung an sich, von ihrer Persönlichkeit abgesehen, Vertrauen? Ihre Schicksale sind räthselhaft und in einigen Punkten unwahrscheinlich. Daß sie aus Ungarn, diesen geographischen Begriff in dessen weitestem Umfange genommen, stamme, ist keinem Zweifel unterworfen. Die Sprache, deren sie bei ihrem ersten Erscheinen in Offenbach allein mächtig gewesen ist, liefert einen vollgültigen Beweis. Ihr Alter bei ihrer Abführung aus der Waldwohnung zu 21 Jahren angenommen, ist sie im Jahre 1832 geboren worden und im Jahre 1837 verschwunden. Die ungarischen Zustände in jener Zeit reden der Möglichkeit eines solchen Verschwindens das Wort. Wir wissen zur Genüge, daß weder die ungarische Polizei, so weit von einer solchen die Rede sein kannte, noch die ungarischen Gerichte zur Verhütung und Entdeckung von Verbrechen besonders geeignet waren. Allerdings hat Caroline nach der Revolution noch vier Jahre in ihrer Waldwohnung gelebt, und in diesen vier Jahren gab es eine österreichische Polizei. Aber trotz energischer Bemühungen ist die neue Ordnung noch nicht so durchgedrungen, um dem Verstecken eines jungen Mädchens, das seit sechzehn Jahren verschollen war, etwas Unmögliches oder auch nur Unwahrscheinliches zu geben. Haben doch unsere Gerichtszeitungen Fälle von Kindern mitgetheilt, die unter den Augen der deutschen Polizei und in volkreichen Städten Jahre lang auf Böden oder in Kellern eingeschlossen gewesen sind. Die bessere Organisation der österreichischen Polizei kann der Grund gewesen sein, daß man Carolinen, da man des Geheimnisses nicht sicher war, entfernte.

Die Entführung von Kindern durch Zigeuner und andere Vagabunden war in dem früheren Ungarn kein ganz ungewöhnliches Vorkommniß. Daß man dem verschwinden Carolinens wirklich die Form einer solchen Entführung gegeben habe, wofür allerdings der Anschein spricht, möchten wir nicht behaupten. Um darüber mit größerer Sicherheit sprechen zu können, müßten wir die Motive des an ihr begangenen Verbrechens wissen, und gerade diese verhüllen sich uns. Jene angebliche Form der Entführung setzt die Annahme voraus, daß Caroline ihrer Mutter geraubt worden sei. Der intellectuelle Urheber des Raubes wäre nicht weiter zu suchen; der „Ongkar“ wäre es, der Carolinen in den Garten schickte, wo der Mann mit dem großen schwarzen Barte (Eleasar) sie auf den Arm hob und forttrug. Denkt man sich das Verschwinden Carolinens als Kinderraub, so wird die Sache unwahrscheinlich, obgleich nicht unmöglich. Die bekümmerte Mutter würde in diesem Falle Alles aufgeboten haben, ihr Kind wieder zu erlangen, und der Oheim hätte einen schweren Stand bekommen. Wie nun aber, wenn die Mutter um die Entführung gewußt hätte? Caroline braucht nicht nothwendig eine reiche Erbtochter zu sein, deren Rechte geldgierigen Seitenverwandten im Wege standen, sie kann eben so gut ein uneheliches, oder im Ehebruch erzeugtes Kind einer vornehmen Dame sein, das man verschwinden läßt, wenn die Dehors es erfordern. Unnatürliche Mütter hat es stets und in allen Ländern gegeben, warum nicht auch in Ungarn und im Jahre 1837? Nehmen wir an, daß die Mutter, froh, einer für ihren Ruf gefährlichen Bürde ledig zu werden, fortreiste, weil sie um ihrer Nerven willen vor der Entführung einige Meilen zwischen sich und dem Ort des Verbrechens sehen wollte, nehmen wir ferner an, daß der Ongkar, der ein noch näherer Blutsverwandter Carolinens sein kann, den zurückbleibenden Dienstmädchen sagte, die Kleine sei an einen andern Ort entfernt worden, so erhalten wir eine Sachlage, welche Nachforschungen ausschloß. War die Mutter ruhig, so hatten die Dienstmädchen wahrlich keine Veranlassung, Polizei und Gerichte in Bewegung und sich selbst in Unkosten zu setzen.

In dem, was Caroline von der Waldwohnung erzählt, stoßen wir auf Unwahrscheinlichkeiten. Daß Bertha, eine alte Dienerin des Hauses, auf sechszehn Jahre verschwinden konnte, hat nichts auf sich. Erhielt sie unter irgend einem Vorwande ihre Entlassung, und reiste sie vor Aller Augen ab, so fragte gewiß Niemand weiter nach ihr. Auch Adolf, dieses zweite Opfer, hat für uns nichts Anstößiges. Hatte ein zweiter, von Folgen begleiteter Fehltritt der Mutter Carolinens stattgefunden, so lag nichts näher, als die Frucht des ehebrecherischen Umganges an denselben Ort zu schaffen, der die erste mit glücklichem Erfolg verbarg. Wir wollen diese Erklärung übrigens Niemand aufdringen, wir stellen sie nur auf, um zu beweisen, daß Carolinens Erzählung, denkt man sich die Mutter als Mitschuldige des Verbrechens, den vollen Anschein der Glaubwürdigkeit gewinnt. Lag die Waldwohnung in einem Theile des Waldes, den höchstens der Förster betrat, und war Eleasar dieser Förster, so war man vor einer Entdeckung ziemlich sicher, und Eleasar konnte Brennstoff, Speisen und Wolle zutragen, ohne daß seine Gänge auffielen. Unwahrscheinlich klingt, was Caroline von der äußern Einrichtung dieser Wohnung sagt, daß der Eingang mit einer Fallthür, die Fenster mit Deckeln versehen gewesen seien, und daß diese zum Schließen bestimmten Gegenstände einen solchen Graswachs getragen hätten, daß sie von dem anderen Boden nicht zu unterscheiden gewesen wären. Wie konnte Gras auf den Deckeln und der Fallthür wachsen, wenn nicht eine Erdunterlage vorhanden war, in der das Gras Wurzeln zu schlagen vermochte? Gab es aber eine solche Erdschicht, wie konnte dann Bertha die schwere Fallthür, der Caroline die Größe einer Stubenthür gibt, von unten aufheben? Es würde ihr unmöglich gewesen sein, und wenn wir Caroline in diesem Punkte nicht der Lüge zeihen wollen, womit ihre ganze Glaubwürdigkeit ihr Ende erreicht hätte, müssen wir nach Mitteln fragen, wie Bertha verfuhr. Da ist nur zweierlei möglich. Entweder gab es einen Mechanismus, den Caroline nicht kannte und dessen Bertha beim Oeffnen der Fallthür sich bediente, oder es war ein geheimer Ausgang vorhanden, den die Wärterin, wenn sie mit Carolinen in den Wald ging, unbemerkt benutzte, die Fallthür von außen öffnete, und dann ihre Genossin in’s Freie führte. Mehrere Umstände unterstützen die letztere Erklärung. Es war Carolinen verboten, den Gang, an dem ihre Stube lag, weiter zu verfolgen, und auch in den Keller durfte sie nur bis zur Hälfte der Treppe gehen. Wozu diese Verbote, wenn der Gang und der Keller nichts verbargen, was Carolinen zu einer etwaigen Flucht dienlich sein konnte? Wenn Bertha das unreine Geschirr säuberte, schloß sie sich in die Küche ein, wo der Eingang zum Keller lag. Dieses Einschließen hatte keinen Sinn, wenn in der Küche weiter nichts als das Waschen des Geschirres vorging. Es wird noch etwas Weiteres vorgegangen sein: Bertha hat, nachdem sie sich eingeschlossen, mit Benutzung des geheimen Ausgangs das Wasser geholt, dessen sie beim Reinigen der Geschirre in größerer Menge bedurfte. Daß die Fallthür von außen geöffnet wurde, ist nicht nur aus innern Gründen wahrscheinlich, Caroline spricht von einem kleinen Stricke, der außen, „ganz in der Nähe von der Mitte ihrer längeren Seite zur Mitte“ angebracht gewesen sei. Dieser Strick unterstützte das Aufheben, das von außen nicht solcher Kraftanstrengung bedurfte, als wenn es von innen geschah. Bleiben wir dabei, daß die Thür mit Gras bewachsen, mithin auch mit Erde bekleidet gewesen sei, so haben wir uns die Kraftanstrengung, deren Bertha jedesmal bedurfte, noch immer als bedeutend zu denken. Setzen wir statt Gras Moos, so fällt die Erddecke weg, und die Fallthüre verliert mindestens drei Viertheile ihrer Schwere. Moos ist grün und Gras ist grün, ein Mädchen von Carolinens Art kann zwischen beiden kaum einen Unterschied gemacht haben.

Es war im höchsten Grade unvorsichtig, Carolinen jeden Tag an die frische Luft zu führen. Wäre diese Anordnung nach Carolinens Erzählung von ihren Entführern getroffen worden, so dürften wir nicht zögern, ihre ganze Geschichte für ein Märchen zu erklären. Aus ihren Worten geht aber hervor, daß die gutmüthige Bertha diese Erleichterung der Haft heimlicher Weise eintreten ließ. So oft Eleasar, der seine gewisse Stunde gehabt haben mag, erwartet wurde, kürzte der Spaziergang sich ab. Wir wollen hier nachholen, daß der Befehl Eleasar’s, Carolinen stets in ihrer Stube eingeschlossen zu halten, ebenfalls für das Vorhandensein eines geheimen Ausganges spricht. War blos die Fallthür da, deren Hebung der Gefangenen in ihren ersten Jahren unter allen Umständen nicht gelingen konnte, so hatte die Grausamkeit der engen Haft im Zimmer gar keinen Zweck. Durfte Bertha es bei jenen Spaziergängen auf die doppelte Gefahr einer Flucht und eines Entdecktwerdens ankommen lassen? Die Flucht [41] konnte sie selbst verhindern, vor dem Gesehenwerden glaubte sie sich ohne Zweifel durch die Einsamkeit der Gegend geschützt. Gewagt bleibt ihre Handlungsweise immer, und gewagt ist die Wahl der Waldwohnung überhaupt, denn so sorgfältig ließ sich die Spur von Fenstern und Thür nicht verdecken, daß eine genaue Untersuchung nicht Ritzen und Fugen von einer verdächtigen Regelmäßigkeit der Gestalt hatte entdecken müssen. Gewagt wird eben bei jedem Verbrechen, und hier war das Wagniß nicht einmal besonders groß. In Gegenden, wo es weder Holzleser noch Spaziergänger gibt, ist in einem großen Walde manche Stelle, die noch nie der Fuß eines Menschen betreten hat. Sind doch sogar im Harze einmal Jahre vergangen, ehe man die Leiche eines Vermißten, dessen Ermordung mit Recht angenommen wurde, in einem Walddickicht aufgefunden hat.

Bertha öffnete an jedem Morgen die Fensterdeckel, und legte sie an jedem Abend nieder. Wie sie dabei verfuhr, scheint Caroline nicht zu wissen. Schwierigkeiten konnten beide Proceduren nicht machen, eine Stange mit einem Haken genügte, um die Deckel aufzustoßen und niederzuholen. Eine mit Moos bewachsene Holztafel von 1½ Zoll Durchmesser ist leicht. Wie fand der Rauch seinen Abzug? Durch die Fenster gewiß nicht, denn dann würde Caroline Augenschmerzen und andere Unannehmlichkeiten gehabt haben, wovon sie schweigt. Aber sie hat kein Ofenrohr gesehen, könnte man, um ihre Glaubwürdigkeit zu verdächtigen, einwenden. Da sie keine technologischen Kenntnisse besaß und Bertha, wie aus Allem hervorgeht, nicht blos ihre geistige Entwickelung, sondern auch ihre Theilnahme an praktischen Dingen niederzuhalten bemüht war, so kann ein Ofenrohr dagewesen sein, ohne daß Caroline es bemerkt hat. Leitete dieses Ofenrohr aus ihrer Stube in die daneben liegende Küche, so brauchte man für den Rauch der ganzen Waldwohnung nicht mehr als einen einzigen Ausgang, dessen, obere schmale Mündung sowohl Carolinens Beachtung entgangen, als zum Schutz gegen eine zufällige Entdeckung durch Fremde gut versteckt gewesen sein kann. Sonderbar ist die Anwesenheit des Hundes Uedusch in der Waldwohnung. Hunde verrathen sich durch Bellen, und das ist der Grund, weshalb die Diebe und andere Verbrecher keine führen. Wurde Uedusch unter der Erde so eingesperrt, daß man sein Bellen oben nicht hören konnte, und hielt Bertha ihn etwa deshalb, damit er, falls bei ihren Spaziergängen mit Carolinen Menschen herankämen, diese schon von fern anzeige und einen rechtzeitigen Rückzug ermögliche?

(Schluß folgt.)
Die Feuerzeuge.
Von Berthold Sigismund.

Durch Nichts hat der Mensch seinen Adel, der ihn zum Herrn der Erde bestimmt, deutlicher bewiesen als dadurch, daß er das Feuer beherrschen lernte. Wer betritt die Räume einer Eisenschmelzerei oder den Heizraum einer Dampfmaschine, ohne daß in ihm anklingt der stolze Spruch des Sophokles: „Vieles Gewaltige lebt, doch das Gewaltigste ist der Mensch!“ Aber nicht nur in der Kunst, mit der er das mächtige Element zu seinem Diener erzog, erprobte der Mensch seine Herrscherkraft; ebenso sehr, vielleicht noch mehr bewährte er dieselbe durch die Fähigkeit, jenen dienenden Geist augenblicklich, wie durch einen Zauberspruch, aus dem Nichts hervorzurufen. Der Knabe begehrt eine Flamme, er ergreift ein einziges Stäbchen Holz, streicht es an der Wand und fast so rasch wie der Gedanke ist die Flamme da.

So folgsam ist indeß das dienende Element erst seit einem Menschenalter geworden; erst in unserer Zeit hat der Mensch den wahren Zauberspruch erfunden, der den Salamander zu augenblicklichem Gehorsam zwingt.

Wie anders war das in alter Zeit! Da mußte der Mensch mit größter Anstrengung seiner Körperkraft förmlich mit dem dämonischen Diener ringen, ehe dieser seine Dienste leistete. Auf welche Weise der Mensch gelernt, das Feuer herbeizubeschwören, ist ebenso unergründet, als die Entstehung der Sprache; die griechische Sage erklärt es durch den Diebstahl, den Prometheus an einem göttlichen Vorrechte ausübte. Aber ein solches Herunterholen der Flamme konnte, wie der Blitz oder die Flamme der Vulcane und Naphthaquellen, nur lehren, Feuer mitzutheilen, nicht aber Feuer entstehen zu lassen. Das Feuerzünden ist und bleibt eine Heldenthat des menschlichen Geistes, und sein Werth wird dadurch nicht verringert, daß alle, selbst die rohsten Völkerstämme diese Kunst verstehen.

Daß zwei an einander geriebene Holzstücke sich erwärmen, war eine zufällige Beobachtung, die sich den Urmenschen aufdrängte; aber wie eisern muß der Wille desjenigen gewesen sein, der zuerst, um zu sehen, wie weit sich diese Wärme steigern lasse, zwei Holzstücke so lange zusammenrieb, bis sie rauchten und brannten! Kein Europäer ist im Stande, mit dem Reibfeuerzeuge der Wilden Feuer zu machen, selbst der Drechsler bringt das in der Drehbank leicht und schnell gedrehte und mit einem hölzernen Meißel geriebene Holz nur zum Verkohlen und Rauchen, nie zur hellen Flamme. Auch dem kräftigen Wilden ist das Feuermachen keine leichte Aufgabe, er muß als Knabe und Jüngling wohl ebensoviel Fleiß und Zeit auf die Erlernung des Feueranreibens verwenden, als der civilisirte Knabe auf die Erlernung des Schreibens, und um sich die höchst anstrengende Arbeit zu sparen, sucht man das Heerdfeuer ununterbrochen zu erhalten oder borgt beim Nachbar einen Feuerbrand. Die Sitte, in den Tempeln „ewige Feuer“ zu unterhalten, entstand wahrscheinlich aus dem Bewußtsein der Schwierigkeit, Feuer zu zünden. Und nicht blos rohe Wilde (wie noch heutiges Tages die Bewohner der Carolinen und Aleuten) sind auf das mühselige Reibholz beschränkt, auch die Völker, denen wir einen großen Theil unserer Bildung danken, hatten in der ältesten Zeit kein besseres Feuerzeug. Homer, der die Kochgeschichte seiner Heroen so anschaulich und appetitlich schildert, erwähnt zwar nicht, wie sie zur Flamme kamen; aber Theokrit beschreibt, wie die Mannschaft von Kastor und Polydeukes dadurch Feuer zündet, daß sie „die Feuerhölzer mit den Händen reibt.“

Unsere deutschen Urväter sind vielleicht von frühester Zeit an im Besitze eines vollkommeneren Feuerzeugs gewesen; denn der Gedanke, Steine als Feuersteine zu verwenden, mußte sich den Völkern, deren Land nicht (wie es auf den Koralleninseln des großen Oceans der Fall ist) der Kiesel entbehrte, ungesucht darbieten, wenn sie sich Steine zu Hämmern und Aexten klopften und schliffen und dieselben Funken sprühen sahen. Als Zunder bot sich Pflanzenmark, mulmiges Holz und Linnenfaser wie von selbst an. Die Erfindung des Feuerstahls dagegen bleibt ein halbes Wunder, und wie über alle größten Erfindungen läßt uns die Geschichte auch über diese im Stiche. Virgil läßt den Begleiter des Aeneas „Funken aus dem Kiesel schlagen und dann den Zunder mit dürrem Laube schwenken.“ Wenn diese Angabe auch ein Anachronismus ist (an denen es bei Virgil so wenig fehlt, wie bei den altdeutschen Malern, welche die Apostel mit Brillen darstellen), so erhellt doch daraus so viel, daß die Erfindung des Feuersteins schon geraume Zeit vor dem Anfange der christlichen Zeitrechnung gemacht sein müsse.

Dieses Stein- und Stahlfeuerzeug blieb nun gegen zweitausend Jahre das einzige, allgemein verbreitete Mittel zum Feuerzünden, und hat wohl bei den Meisten als Non plus ultra-Feuerzeug gegolten. Denn der uralte Brennspiegel und das Brennglas, ferner das im achtzehnten Jahrhundert von Dumotiez erfundene Luftfeuerzeug, in dem die zusammengepreßte Luft Wärme entwickelt, und das elektrische Feuerzeug Brander’s, welches durch einen elektrischen Funken Wasserstoffgas entzündet, sowie das im neunzehnten Jahrhundert erfundene Döbereiner’sche Feuerzeug waren, so herrliche Proben menschlicher Erfindungsgabe sie auch liefern, nicht geeignet für den allgemeinen Gebrauch. Ihre Anwendung beschränkte sich entweder auf die physikalischen Hörsäle oder auf die Zimmer der Reichen, welche zu experimentiren liebten, und jetzt findet man sie fast nur noch in physikalischen Cabineten.

Die ungeheuere Mehrzahl der civilisirten Menschen handhabte ausschließlich das Reibfeuerzeug aus Stein und Stahl, welches in seiner Wirksamkeit den Reibhölzern der Wilden vollkommen [42] entspricht. Denn auch hier wird die Wärme durch Reibung entwickelt. Der an der scharfen Kante des Steines geriebene Stahl gibt so viel Wärme, daß die von ihm abgerissenen Stahltheilchen in’s Glühen gerathen und den Zunder entzünden, während bei dem Feuerzeuge der Wilden das harte Holzstück die durch seine Reibung von der weicheren Unterlage getrennten Holzstäubchen entzündet.

Das bärtige Geschlecht faßte den Stein mit der Linken, den Stahl mit der Rechten und führte als Vorrecht den Feuerschwamm, welcher wahrscheinlich eine urdeutsche Erfindung ist. (German tinder, deutscher Zunder heißt er in England.) Von andern Zündern, selbst dem bequemen Schwefel, machten die Männer selten Gebrauch und verschafften sich, wie Voß in der Louise so niederländisch genau darstellt, eine helle Flamme lieber durch Schwenken des Schwammes mit Laub.

Das schöne Geschlecht dagegen hielt den plumpen Stahl mit der Linken und bearbeitete ihn mit einem plumpen Steine, den die rechte Hand führte; als Zunder diente ausschließlich verkohlte Leinwand, als Flammenerzeuger der Schwefelfaden. Das Feueranzünden mit diesem Werkzeuge war eine der mühseligsten Arbeiten für die Hausfrau. Erst war der Zunder zu brennen und Schwefelfaden herzustellen, denn haushälterische Frauen übten auch diesen Zweig der Küchenchemie eigenhändig; dann galt es, im Dunkeln den Stahl mit dem Steine zu bearbeiten, daß er seinen Funkenregen in die Zunderbüchse ergieße. Das gab ein minutenlanges Ticken und Hämmern, und nicht selten trugen die Knöchel Spuren davon, daß sie statt des Stahles Streiche bekommen hatten. Das war eine Noth, wenn des Nachts ein schreiendes Kind Licht nöthig machte; Funken gab es genug, aber keiner fiel in den Zunder; der Mann brummte, das Kind zeterte und die arme „bedüpperte“ Hausfrau „pitschte“ noch immer vergebens und sah sich in der Angst ihrer Herzens nicht selten genöthigt, durch Nacht und Wind zur Nachbarin zu eilen, und Feuer zu borgen.

Aeltere Leser sind vielleicht ungehalten, daß ihnen solche Alltäglichkeiten erzählt werden; aber es gilt, dem jüngeren Geschlechte, für welches die Zunderbüchse schon ein sagenhaftes Alterthum geworden ist, zu zeigen, wie sauer es ihren Müttern geworden ist und welchen gewaltigen Fortschritt in der Cultur sie erlebt haben, einen Fortschritt, der für die Haushaltungen fast so bedeutsam ist, wie die Erfindung des Buchdrucks für die Welt des Geistes.

Die erste bedrohliche Erschütterung erlitt die Alleinherrschaft des Stahl- und Steinfeuerzeugs durch eine vor etwa dreißig Jahren gemachte Erfindung, welche nicht die durch Reibung, sondern die durch den chemischen Proceß entwickelte Wärme zum Zünden verwandte. Man wußte seit längerer Zeit, daß chlorsaures Kali in Berührung mit Schwefelsäure rasch zersetzt werde und dabei so viel Wärme frei mache, daß diese leicht entzündliche Körper in Brand steckt; ein praktischer Kopf benutzte diese Eigenschaft jener Stoffe zu dem Vitriolfeuerzeuge, bei dem man nur das rothe Köpfchen des Schwefelholzes in das Säurefläschchen zu tauchen hatte, um es brennend herauszuziehen. Alles war begeistert von dem neuen bequemen Feuerzeuge, und jeder Bauer, der seine Frau lieb hatte, brachte ihr vom Markte ein „Titsch-Feuerzeug“ mit. Noch hafteten daran zwei Mißstände. Die Zündmasse durfte nur die Oberfläche der Säure berühren, sonst wurde die Flamme durch die Flüssigkeit wieder erstickt; und doch war es im Dunkeln kaum möglich zu ermessen, wie tief das Zündholz einzutauchen sei. Dann war die Schwefelsäure, die beim Umstoßen des Flaschchens ausfloß, für Kleider und Haus gefährlich. Ein Deutscher, Romer, beseitigte sogleich diese Mißstände. Er füllte das Fläschen mit Amiant (Asbest), einer von der Säure kaum angreifbaren faserigen Steinart und tränkte diese Fasern nur so stark mit Säure, daß sie eben benetzt waren. Jetzt schien das neue Feuerzeug vollkommen zu sein, es war einfach, klein, wohlfeil, leicht zu handhaben; man jubelte und hielt den Gipfel der Erfindungen, für erklommen.

Aber das Bessere ist der Feind des Guten. Congreve’s Lucifer matches bewiesen, daß das Reibfeuerzeug, das älteste Mittel zum Feuerzünden, das einfachste und müheloseste sei, wenn man nur als Reibstoff eine leichtentzündliche Masse wähle. Diese war in einer Mischung von chlorsaurem Kali und Schwefelantimon gefunden; man bedurfte dabei keine Säure mehr, das Schwefelholz entzündete sich mit einem Knalle durch einen Strich an der Wand.

Derselbe Romer, der eben als Verbesserer des Vitriolfeuerzeugs erwähnt wurde, bewies auch hier sehr bald sein Verbesserungstalent; er zog einen Stoff zur Anwendung, der wahrscheinlich für immer als der beste, praktisch zu verwendende Zündstoff dastehen wird, nämlich den Phosphor. Ein Hamburger Goldmacher, Brandt, hatte ihn im Jahre 1669 zufällig entdeckt, als er den Rückstand von eingetrocknetem Urin glühte, in dem er wahrscheinlich Gold zu finden hoffte; er hielt sein Verfahren geheim, aber der Berliner Kunkel erfand bald den wunderbaren neuen Stoff durch eigenes Probiren. Wohl keiner der Entdecker und kein Chemiker der vorigen Jahrhunderte hat sich träumen lassen, daß diese „curiose Rarität“ dereinst so in allgemeinen Gebrauch kommen werde, wie Eisen und Thonerde, und der Phosphor mag den Schüler trösten, der sich darüber beklagt, viele praktisch unnütze Thatsachen der Lehrbücher lernen zu müssen; denn gar Vieles, was jetzt theoretischer Ballast dünkt, wird mit der Zeit zur praktischen Goldbarre. Jetzt könnte die Menschheit leichter das Gold missen, als den Phosphor. Uebrigens ging es mit der Verwerthung des neuen Stoffes langsam genug. Selbst nachdem, hundert Jahre nach der ersten Entdeckung, Scheele und Gahn eine reiche Fundgrube des Phosphors in den Knochen nachgewiesen hatten, dauerte es fast noch ein Jahrhundert, ehe man den nunmehr billiger herzustellenden Stoff nützlich anwenden lernte.

Wie jede große Reform fast nie ohne schädlichen Einfluß auf Einzelne in’s Leben tritt, so erging es auch dem Phosphor, dem Lichtbringer (dies ist die wörtliche Bedeutung des chemischen Ausdrucks). Nicht wenige Arbeiter in den Zündhölzchenfabriken erlitten durch den Phosphordampf der trocknenden Hölzer Krankheiten, die mit dauernder Entstellung verbunden waren. Viele Feuersbrünste entstanden durch den unvorsichtigen Gebrauch des neuen Zünders, manches vorwitzige Kind erlitt dadurch den schmerzlichsten Tod. Darum riefen Viele Weh und Zeter über die gefährliche Neuerung und nicht wenige Regierungen verboten den Verkauf der gefährlichen Waare.

Aber kein echter Lichtbringer, der Phosphor so wenig als Guttenberg’s Presse, läßt sich auf die Dauer deshalb unterdrücken, weil er durch Mißbrauch schaden kann. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die neuen Zündhölzer über alle civilisirten Länder und jetzt haben sie fast überall die Alleinherrschaft. Nur der Holzhauer und Förster, der bei Wind und Regen im Walde rauchen will, und der Maurer, der sich durch das „Aufpitschen“ Mußeminuten verschafft, führen noch Stein und Stahl, sonst brauchen fast alle Männer, selbst der Kutscher auf dem Bocke, dies neue Feuerzeug. Und vollends die Frauen sind ohne Ausnahme zur Partei des Phosphor übergetreten. Eine Zunderbüchse findet sich selbst im conservativsten Bauernhause nur noch im Alteisenkasten, und keine Frauenhand berührt andern Stein und Stahl, als Edelsteine und Scheere und Nadeln.

Und Niemand wird wohl diese Umwandlung bedauern, als vielleicht ein Bewohner der Champagne, der keine Feuersteine mehr in den Handel bringen kann, und ein Maler, der Nachtstücke darstellt. Für solche Nacheiferer Schalckau’s war freilich eine Zunderbrennerin, deren Gestalt wie ein Phönix aus der Flamme der Leinwand vortrat, oder eine Frau, welche in den glimmenden Zunder blies und von der matten Gluth roth angestrahlt wurde, eine wahre Augenweide. Wir Andern aber alle freuen uns, daß die Frauen von jenem sauren Geschäfte entbunden sind; ein Nachtlicht zu brennen, ist kaum noch nöthig; die neue Hausbequemlichkeit ist so vollkommen, daß auch der Reiche, der jede Anstrengung scheut, sich kein bequemeres Feuerzeug wünschen kann, und zugleich so wohlfeil, daß es auch dem Aermsten erschwinglich ist. Fast die Leinwand allein, die sonst zu Zunder verkohlt wurde, jetzt aber in die Papiermühle wandert, bringt die Ausgabe für die Zündhölzer wieder bei. Kauft man doch bei den Hausirern das Tausend Zündhölzer für einen Silbergroschen, wofür man nicht einmal die zu so vielmaligem Anzünden mit dem alten Feuerzeuge nöthigen Feuersteine anschaffen konnte.

Diese Wohlfeilheit ist eine heilsame Folge der Theilung der Arbeit. Wie hoch würde uns wohl ein einziges Schwefelholz zu stehen kommen, wenn wir es selbst spalten und mit dem Zündstoffe versehen müßten oder gar auch die Zündstoffe herstellen sollten!

Jetzt ist die Herstellung der Zündhölzer in folgende Geschäfte gegliedert. Zuerst erfolgt die Anfertigung etwa spannlanger, walzenförmiger [43] Holzstäbchen durch einen Hobel, der auf jeden Stoß deren zwei liefert. Diese Methode ist schon ein großer Fortschritt gegen das älteste Verfahren, wo man durch Spalten viel weniger, und obendrein plumpe eckige Hölzchen herstellte, während jetzt ein fleißiger Arbeiter, der täglich zehntausend Hobelstöße ausführt, an einem Tage hunderttausend Hölzchen anfertigt, da jedes Stäbchen in fünf Hölzchen zerlegt wird. Aus einer Klafter guten, leichtspaltbaren Holzes stellt man in Thüringen fünf Millionen Hölzchen her. Aber welcher Fortschritt ist nun vollends die durch Dampf oder Wasserkraft getriebene Hobelmaschine, welche täglich mehrere Millionen fertig bringt! Diese Maschine wird wohl binnen Kurzem vielen der Gebirgsbewohner, die jetzt vom Schwefelholzhobeln ihren Winterunterhalt erwerben, ihre Arbeit durch zu sehr herabgedrückte Löhne verleiden. Der Hobler liefert die von ihm gefertigten Stäbchen in garbenartige Bündelchen gebunden an die Fabrik ab.

Die nächste Arbeit ist das Zerschneiden der Stäbchen in Hölzchen. Mit einem der Tabakschneide ähnlichen Werkzeuge zerschneidet ein Arbeiter die Holzbündel so leicht wie eine Rolle Tabak. Hierauf werden die Hölzchen von Kindern in die „Maschine“ gepackt. Diese Maschine besteht aus zwei senkrechten, auf einem Brete befestigten Säulchen und zwanzig Bretchen mit einem Loche an jedem Ende, durch welches sie auf die Säulchen angereiht werden. In jedes Bretchen sind fünfzig Querfurchen eingeschnitten. Das Kind legt oder rollt vielmehr mit großer Behendigkeit fünfzig Hölzchen in die Furchen des Grundbrets und deckt darauf das zweite Bret u. s. w. Sind die zwanzig Bretchen der Maschine mit Hölzchen versehen, so schraubt man sie durch Preßschrauben an einander. Wie rasch die Füllung einer Maschine vor sich geht, erhellt aus dem Stücklohne, welches die Kinder erhalten; es beträgt einen Pfennig für die Füllung einer Maschine.

Die gefüllte Maschine ähnelt nunmehr einer Egge, deren tausend Zinken verschieden weit hervorragen. Ein Arbeiter, der die Klemmschraube etwas lockert, bringt durch einige Stoße auf eine Steinplatte alle Hölzchen zu gleich weitem Vorragen, so daß nun die Maschine einer groben Bürste gleicht.

Nachdem nun ein anderer Arbeiter die Enden der Hölzchen kurze Zeit in heißen Sand getaucht hat, damit die Zündmasse gut hafte, taucht er alle in der Maschine eingeklemmten Hölzer mit ihren Spitzen in geschmolzenen Schwefel. Wenn der Schwefelüberzug trocken ist, wird das geschwefelte Ende der Hölzer in den Phosphorteig getaucht, der auf eine Steinplatte aufgestrichen ist. Dieser Teig wird so bereitet, daß man eine bestimmte Menge Phosphor in mäßig erwärmter Gummi- oder Leimauflösung fein zertheilt. Wenn zu viel Phosphor zugesetzt würde, so würde die durch sein Verbrennen entstehende Phosphorsäure die übrigen Bestandtheile der Zündmasse mit einem glasigen Ueberzuge bedecken und das Anbrennen des Schwefels verhindern, Gummi oder Leim wird zugesetzt, um den Phosphor vor dem Verbrauche der Hölzer vor dem Sauerstoffe der Luft zu schützen, weil sonst der brennlustige Stoff sich still verzehren würde. Salpeter, Braunstein oder Mennige, oder mehrere dieser Sauerstoffspender zugleich werden zugefügt, um dem im Gummipanzer eingekapselten Phosphor, wenn er sich durch die Reibung entzündet, die zum Brennen unentbehrlichen Sauerstoffe zu liefern.

Wenn der an dem Hölzchen haftende Phosphorteig, der, so lange er feucht ist, schädliche Dämpfe aushaucht, getrocknet ist, werden die fertigen Zündhölzer von Frauen und Kindern verpackt. Sonst wurden sie hundertweise in kleinen Kistchen aus Bretern geschichtet, jetzt nur in Schachteln aus papierdünnen Holzspänen oder gar nur in Strohpapier. Ueberall gilt es ja zu sparen, um wohlfeile Waare zu liefern, und zwar eine Waare, die nicht zur Befriedigung der Eitelkeit dient, sondern eine wirkliche Erhöhung des häuslichen Comfort darstellt. Man darf sagen, daß durch die Erfindung der Phosphorzündhölzer unser Leben nicht nur bequemer gemacht, sondern geradezu verlängert worden ist. Welche Schaaren von Minuten ersparen wir jetzt, die wir sonst, mit einem unvollkommenen Werkzeuge ausgerüstet, auf das Feuerzünden verwenden mußten; welches Mittel ist uns dadurch in die Hand gegeben, jene Minuten zu edleren Zwecken zu verwenden! In Wahrheit, wir dürfen auf die Erfindung des Phosohorzündholzes mit freudigem Stolze blicken, und es dem großartigsten Mittel zur Zeitersparniß, der Eisenbahn, an die Seite setzen.

Nur ein trüber Gedanke könnte sich in die Freude über diesen Fortschritt mischen, das Mitgefühl mit den Arbeitern, welche durch die neue Erfindung arbeitslos geworden sind. Möge sich aber Niemand von unmotivirtem Mitleid weich stimmen lassen; jede neue Erfindung gleicht dem Speer des Achilles, der die von ihm hervorgebrachten Wunden wieder heilt. Man braucht nur Neustadt am Rennsteige zu besuchen, um die freudige Gewißheit zu gewinnen, daß die neue Erfindung selbst da, wo sie am meisten stören mußte, nur Segen gebracht hat. Zwar wird man in diesem armen Dörfchen, welches, auf der rauhsten Höhe des Thüringer Waldes gelegen, seit Jahrhunderten seinen Hauptverdienst in der Schwammfabrikation fand, nicht ohne Bedauern die beiden jungen Männer sehen, die zuerst die Fabrikation der Phosphor-Hölzchen in Thüringen betrieben, und durch die Dämpfe des Phosphors um ihre Kinnladen gekommen sind. Sie haben sich seit ihrer Genesung wieder ihrem alten Gewerbe, dem Schwammmachen zugewandt. Denn die Nachfrage nach dem alten duftigen Zunder für die Tabackspfeife hat sich nicht nur nicht vermindert, sondern vermehrt, so daß die Production der einheimischen Forsten, ja selbst die der skandinavischen und Karpathenwälder nicht mehr hinreicht, den nöthigen Rohstoff zu liefern. Das alte Gewerbe hat also nichts eingebüßt, und durch das neue haben Hunderte armer Gebirgsbewohner Beschäftigung erhalten. Wie viele Menschen mögen gegenwärtig in Deutschland von der Zündholzfabrikation leben, da in Oesterreich allein im Jahre 1855 in zweihundert Zündholzfabriken zwanzigtausend Arbeiter thätig waren!

Und die Veranlassung zur Erfindung eines solchen Segens für die Haushaltungen und zur Beschäftigung so vieler Menschen war die geistige Thätigkeit eines Mannes, der in seinem rußigen Laboratorium neugierige Fragen an die Wissenschaft stillte. Er suchte Gold und fand Phosphor, der mehr werth ist, als Gold. So kann ein still arbeitender Naturforscher, der, in seine Studien vertieft, sich um die Menschenwelt nicht kümmert, eingreifen in die Nationalökonomie ganzer Völker und die Haushaltung jeder Familie. Wenn irgendwo, so bestätigt sich hier die Wahrheit von Goethe’s schönem Worte:

Thu nur das Rechte in Deinen Sachen,
Das Andere wird sich von selber machen!




Blätter und Blüthen.

Volksjustiz auf Borkum. Es liegt in der Natur der Sache, daß die volksthümlichsten Gebräuche sich in jenen Gegenden erhalten haben, die vermöge ihrer Lage wenig oder gar nicht mit der übrigen Welt in Berührung kamen. Mehr noch als im Innern des Landes ist dies für die am Saume der Nordsee liegenden Inseln eine Wahrheit. – Versetzen wir uns im Geiste nach Borkum, der größten ostfriesischen Insel. Freilich hat dieselbe an Umfang bedeutend verloren, denn während sie in grauer Vorzeit einen Theil des Festlandes bildete, vor zweitausend Jahren noch wenigstens zwanzig Quadratmeilen groß war, hat sie jetzt nur noch drei Stunden Länge und eine Stunde Breite. Das immer mehr in Aufnahme kommende Seebad verspricht den Volkseigenthümlichkeiten kein langes Dasein und darum muß der Culturhistoriker sich beeilen, dergleichen Schätze der Vergessenheit zu entreißen. Die von Jahr zu Jahr sich mehrende Anzahl der Badegäste ist kein Gewinn für die Sittlichkeit und der Pesthauch festländischer Uebercultur beginnt auch schon bei diesem Naturvölkchen die Gemüther zu berühren.

Mag man in unserem „aufgeklärten Zeitalter“ es für eine Lächerlichkeit halten, wenn die Idee der Sittlichkeit so weit getrieben wurde, daß keine Wittwe sich zum zweiten Male verheirathete, da man an eine ewige Liebe und Treue glaubte: ein solcher Volksstamm erinnert an die alten Germanen und verdient volle Anerkennung und Achtung.

Seit alten Zeiten wir hier der Umgang zwischen beiden Geschlechtern genau geregelt; dies ist noch heutigen Tages der Fall und ein bedeutender Hebel der Moralität. Im Winter findet man jeden Sonntag nach melkavend in den verschiedenen Häusern Gesellschaften junger Mädchen, die nicht ungern auch junge Mannsleute einlassen. Daran stößt sich Niemand, denn das geht in aller Zucht und Ehrbarkeit von statten, nur darf der Besuch nicht länger als bis zum zwölften Glockenschlage dauern. Weiß man aber, daß ein Jüngling sich zu einem Mädchen geschlichen hat und bis nach zwölf Uhr bei ihr verweilt, so wird das Haus umstellt. Jede Thür und jedes Fenster wird bewacht, um das Entschlüpfen des Anbeters zu verhindern; ein Parlamentär wird abgeschickt, die Uebergabe [44] auf Gnade und Ungnade zu verlangen, worauf meistens keine Antwort erfolgt. Das auf diese Weise inhaftirte Paar hat nun Zeit, sich über seine gegenseitigen Gefühle klar zu werden, denn bevor das Tagesgestirn dem Meere entsteigt, ist Niemand befugt, in das Haus einzudringen, es sei denn, daß die Bewohner desselben freiwillig die Thür öffneten. Dies geschieht aber selten und die Sittenrichter harren bei Gesang und Trank bis zum kommenden Morgen. Kaum ist dieser angebrochen, so wird da draußen Ernst gemacht. Man verstopft die Schornsteine mit Schnee oder allerlei Unrath, so daß man im Hause vor Rauch umkommen muß, man versucht Fenster zu öffnen oder Thüren zu sprengen und will das Alles nicht gelingen, so nimmt man die Ziegel vom Dache und steigt auf diese Weise in’s Haus. Aber dann findet man meistens das Mädchen allein. Die nun stattfindende Haussuchung wird so genau und vollkommen vorgenommen, als wenn Alle ausgelernte Polizisten wären: das Unterste wird zu oben gekehrt und kein Plätzchen undurchsucht gelassen, bis man endlich den Verliebten aus seinem Versteck hervorzieht. Ein lautes Hurrahgeschrei kündet den Fund an. Man richtet an den jungen Mann die Frage, ob er mit dem Mädchen verlobt sei? Bejaht er solche, so wünscht man dem Paare Glück, bringt ihnen ein Hoch und verkündet, den Bräutigam in ihrer Mitte mit sich fortziehend, der ganzen Insel das frohe Ereigniß einer neuen Verlobung. Erfolgt indeß auf jene Frage ein „Nein“, so wird dem Liebhaber ein Tau um den Leib gebunden und er, alles Sträubens ungeachtet, durch das Lynchgesetz verurtheilt, zur Abkühlung seines Liebesfiebers drei Mal hin und zurück, durch ein dazu bestimmtes Gewässer geschleift zu werden. Gesteht er während dieser Procedur seine Verlobung ein, so wird dadurch sein Strafmaß selbstredend abgekürzt. Im Winter wird, wie es noch im vergangenen stattfand, eine Passage durch das Eis hergestellt und dann der Schuldige der Wassertaufe übergeben. Daß die ganze Bevölkerung diesem tragikomischen Schauspiele beiwohnt und daß der auf solche Weise zum Baptist Gewordene Jahre lang ein Spott seiner Cameraden bleibt, läßt sich denken. Es vergeht daher oft manches Jahr, wo sich Keiner ertappen läßt; so war in den letzten zehn Jahren kein Sünder diesem Sittengerichte verfallen, aber der vergangene Winter forderte endlich wieder eine Wassertaufe.

H. M.


Originelles Grabmonument. Auf dem Friedhofe zu Thierfeld bei Hartenstein im sächsischen Erzgebirge steht das nebenbei abgebildete ganz hübsche Monument, auf dessen Vorder- und Hinterseite folgende Grabschrift angebracht ist:

Vorderseite:

Der hochwohlgeb. Herr Herr Patricius von Flemming, ein Irländischer Baron und tapfer Krieges Officier, welcher nach 15 Feldzügen, 7 Belagerungen, und 13 hitzig Actione, als Köngl. Poln. und Churfrst. Sächs. Capitain den 7. Sept. 1735 in 63. Jahr seines Alters, allhier zu seiner Ruhe eingegangen, wurde mit diesen Denkstein beehrt von M. Chr. Aug. Schützen, Hochgräfl. Schönburg. Hartensteinischen Inspector und Hof Prediger.

Rückseite:

In Irland fing ich an zu leben, doch nicht von Irland, andere Länder sahen und brauchten mich.

England als Fähnrich 3 Jahr zu meinen Unglück, Frankreich als Garde du Corps 4 Jahr, Lothringen unter den Chevaux Legers 7 Jahr, Holland als Leutnant v. Dragonern 6 Jahr, Pohlen und Chur Sachsen als Capitain Leutnant, und Capitain von den Dragonern 20 Jahr.

Ich half Festungen bestürmen, Londonderry, Limerick, Douay, Bethune, Aire, Bouchain, und Stralsund sind 7 Zeugen.

Ich war mitten in den schärfsten Treffen bei Bain, Agrim, Kempten etc. und brachte Leben, Ehre und Ruhm davon. Als aber Krankheit meinen Leib bestürmte, und es zum Treffen mit den Tode kam, ging alles verloren bis auf die Seele, welche der Himmel in seine Bedeckung nahm.

 Hierüber merke Wanderer:

 Daß Sterbliche nicht können wissen
 Wie, wann, und wo sie sterben müssen.
Den Irland, Engeland, den Frankreich, Niederland,
Den auch Sardinien als tapfern Held gekannt,
Der ist in dieser Gruft mit Schild und Helm begraben.

Durch Einsinken des Leichensteines sind die folgenden letzten Zeilen nicht zu lesen.




Der amerikanische Spottvogel ist sowohl durch die Mannichfaltigkeit seiner Töne, wie durch den außerordentlichen Umfang und die Zartheit seiner Stimme, vorzüglich aber durch seine hervorstechende Gabe, die Töne und das Geschrei anderer Vögel und vierfüßiger Thiere nachzuahmen, berühmt. Dieser Vogel soll zugleich seinen Gesang mit einem dazu passenden Gebehrdenspiel begleiten. Wenn er zu singen anfängt, erhebt er sich langsam mit ausgebreiteten Flügeln, und sinkt dann mit herabhängendem Kopfe auf dieselbe Stelle wieder zurück, wie dies die Lerche bisweilen auch thut. Ist er in seinem Gesange weiter fortgeschritten, so schwebt er in schraubenförmigen Windungen auf und nieder, und wenn seine Töne munter und lebhaft sind, beschreibt er in der Luft Kreise, die sich in allen Richtungen durchkreuzen. Werden die Töne laut und folgen sie sehr schnell auf einander, so schlägt er die Flügel mit verhältnißmäßiger Schnelligkeit zusammen. Wenn aber die Töne ungleich sind, so schwingt und flattert er, jener Ungleichheit entsprechend, hin und her. Da er aber in seinen Anstrengungen endlich ermüdet, so werden seine Töne nach und nach sanfter, verschmelzen in sanfte Accorde und enden mit einer Pause, die eine besonders schöne Wirkung hervorbringt, während zu gleicher Zeit seine Bewegungen langsamer werden. Langsam und sanft gleitet er über den Baum, worauf er seinen Sitz hat, bis die Schwingungen seiner Flügel unmerklich werden und zuletzt ganz aufhören, und der kleine Musikus regungslos in der Luft schwebt, gleich dem Thurmfalken, wenn er auf Beute lauert. Man erstaunt, in einem so kleinen Vogel den König aller derjenigen Singvögel zu sehen, die nur einer Stimme oder eines Tones mächtig sind. Er ist nicht stärker als ein Staar, unten weiß, oben braun, mit einigen untermischten schwarzen und weißen Federn, vorzüglich zunächst dem Schwanze und um den Kopf herum, welcher letztere mit einer Art silberner Krone umgeben ist. Als sehr große Seltenheit oder vielmehr als eins der reizenden Wunder der Natur wird er in Europa im Käfig gehalten, wo er durch seine herrliche Stimme Herz und Ohr ergötzt. Er übertrifft alle Vögel an Anmuth und Mannichfaltigkeit des Gesanges und in vollkommener Beherrschung der Stimme; er ahmt die Töne eines jeden andern Vogels nach, und sticht den, welchen er nachahmt, sogar aus; selbst unsere europäische Nachtigall läßt er weit hinter sich zurück.

Im Ganzen genommen scheint dieser Vogel ein Vergnügen daran zu finden, wenn er seine befiederten Freunde irre führen kann. Bisweilen lockt er die kleinen Vögel mit dem Lockruf ihrer Gatten zu sich und erschreckt sie, wenn sie sich ihm genähert haben, mit dem Geschrei des Adlers. Sein natürlicher Gesang ist und bleibt jedoch der beste. Gewöhnlich besucht er die Dächer der Pflanzerhäuser, von wo er die ganze Nacht hindurch, auf einem Schornsteine sitzend, die süßesten mannichfaltigsten Töne aller mir denkbaren Vögel erschallen läßt. Sein Gesang macht ihn nicht müde, vielmehr begleitet er denselben noch mit Tanzen, und da er ohne Unterschied bei Tag und Nacht zwischen eigenem Lied und der Nachahmung Anderer abwechselnd singt, so sollen ihn auch die Amerikaner für heilig und übernatürlich halten.

Es ist ein Lieblingsthema der amerikanischen Schriftsteller, den Gesang des Spottvogels mit dem der Nachtigall, den viele Amerikaner gar nicht kennen, zu vergleichen. Audubon vergleicht die Nachtigall mit einer Soubrette, die, wenn sie sich unter einem Mozart ausbilden könnte, vielleicht mit der Zeit sehr anziehend werden dürfte. Dem Spottvogel hingegen erkennt er vollendete Virtuosität zu.

Merkwürdig bleibt, daß der Spottvogel die menschliche Stimme nicht nachahmen lernt.



Mit dem 1. Januar begann ein neuer Jahrgang der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinenden Zeitschrift:

„Aus der Fremde,“
Wochenschrift für Natur- und Menschenkunde der außereuropäischen Welt,
redigirt von A. Diezmann.
Wöchentlich ein Bogen mit und ohne Illustrationen. Vierteljährlich 16 Ngr.

Unsere Zeitschrift beschäftigt sich mit Land und Leuten weit und breit, aus dem ganzen Erdenrunde. Sie gibt nicht Erdichtetes, sondern Wahrheit, aber, was sie erzählt, bestätigt gar oft den altbewährten Spruch: „Wirklichkeit ist seltsamer als Dichtung.“ Sie gibt nicht trockne Reiseberichte; sie beschreibt vielmehr Erlebnisse in der pikantesten und kleidet ihre Schilderungen in die eleganteste und anmuthigste Form; denn, was gelesen zu werden verdient, soll auch angenehm zu lesen sein. Ihr Feuilleton ist stets reich und neu. – Die große Verbreitung, welche die Fremde seit ihrem kurzen Bestehen gefunden hat, beweist am besten die Gediegenheit des Blattes.

Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. polnisch: junge Herrin.
  2. In den von Bruno Schön herausgegebenen „Humoristischen Pillen“ (Wien) ist z. B. eine Novelle: der Pique Neuner abgedruckt, die von einem Wahnsinnigen herrührt. Bruno Schön lebte einige Jahre unter Wahnsinnigen, und theilt u. A. auch Gespräche der Irrsinnigen unter einander, Selbstbiographien Wahnsinniger etc. mit.
    D. Red.
  3. Die langjährige unterirdische Haft zweier Kinder, nach den mündlichen Mittheilungen eines derselben, als Beitrag und Aufforderung zur Enthüllung dieses düstern Geheimnisses veröffentlicht von Friedrich Eck, Lehrer an der Volksschule zu Offenbach, Frankfurt a. M., 1856. Der Verfasser ist der Lehrer Carolinens.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: rdeten