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Die Gartenlaube (1858)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[609]

No. 43. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Ein Kirchhofsgeheimniß.
Mitgetheilt vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Wir waren auf unserem Rückwege bis an das Portal gelangt, durch welches wir in die Kirche eingetreten waren. Ich blieb stehen.

„Kehren wir noch einmal um, Schließer.“

„Zu Befehl.“

Es war das ewige ruhige „Zu Befehl.“

Ich kehrte zurück nach der Seitencapelle. Er folgte mir. Ich faßte an das Pförtchen, an die Breter, und drückte stark daran, daß er es sah. Sie gaben nach. Ich wandte mich rasch nach ihm um. Er stand ruhig und unbeweglich. Nun drückte ich stärker, die Breter gaben noch mehr nach; es entstand eine Oeffnung, durch die ich meinen Arm stecken konnte. Ich that es, und fühlte ein Schloß, eine Klinke. Ich drückte darauf. Die Thür öffnete sich. Ich blickte auf den Kirchhof. Die Thür hatte sich leicht geöffnet, ohne das geringste Geräusch.

„Was ist das, Schließer?“

„Die Thür ist zu öffnen, Herr Assessor.“

Kein Zug in seinem Gesichte hatte sich geändert. Seine Stimme war fest und ruhig, wie vorher.

„Ihr hattet mir gesagt, die Thür werde nicht gebraucht?“

„Ich weiß es nicht anders.“

„Ihr habt sie nie gebraucht?“

„Nein.“

„Schließer, erinnert Ihr Euch, wie Ihr mich vor sechs Jahren in einer Nacht auf dem Kirchhofe antraft?“

„Zu Befehl.“

„An welcher Stelle war es?“

„Ich weiß es nicht mehr.“

„Woher waret Ihr gekommen?“

„Um die Kirche herum.“

„In welcher Absicht waret Ihr um die Kirche herumgegangen?“

„Ich mache jede Nacht einen Umgang um das ganze Amt.“

„Zu welchem Zweck?“

„Die Bewachung des Amtes gehört zu meinem Dienste.“

„Warum jagtet Ihr mich von dem Kirchhofe?“

„Es war meine Pflicht, ich kannte den Herrn Assessor nicht.“

Und bei dem Allen blieb er der kälteste, der ruhigste, der unbefangenste Mensch. Auch mein letzter Versuch war also mißglückt.

Ich hatte nichts, als eine Thür, die geöffnet werden konnte. Was hatte ich mit ihr gewonnen? Ich verließ mißmuthig die Kirche und verabschiedete den Schließer Martin Kraus.

Es war neun Uhr Abends. Ich wollte auch das Amt verlassen und zu meinem Gasthofe zurückkehren. Da fiel mir eine Pflicht der Höflichkeit ein. Ich hatte den ganzen Tag während der Einführung in mein neues Amt nicht daran gedacht, mich nach dem Befinden des kranken Amtmanns zu erkundigen. Die Sitte hätte es erfordert, zumal da er noch immer der Vorgesetzte war, den ich nur einstweilen vertrat. In dem kleinen Leben des kleinen Städtchens konnte man den Verstoß mir doppelt übel nehmen. Ich mußte ihn wieder gut machen. Ich entschloß mich kurz und rasch, mich in seine Wohnung zu begeben, einen Dienstboten zu fragen, wie es dem Kranken gehe, und mein Compliment machen zu lassen.

Die Dienstwohnung des Amtmanns befand sich in dem obern Flügel des Amthauses, des alten Klosters. Sie war mir noch aus früherer Zeit bekannt. Er bewohnte jenen Theil des Gebäudes mit seiner Familie allein. Ich ging dahin.

Die Hausthür stand offen. Ich trat durch sie in einen dunklen Flur. Nach fünf bis sechs Schritten erreichte ich eine steinerne Treppe, die in den obern Stock des Hauses führte. In dem obern Stock lagen die Wohnzimmer der Familie. Ich stieg die Treppe hinauf, sie war gleichfalls dunkel. Als ich ihr oberes Ende erreicht hatte, befand ich mich erst recht in vollkommener Finsterniß.

Ich glaubte mich noch zu erinnern, daß ich in einem langen Gange sein müsse, an dessen beiden Seiten die Wohnzimmer lägen. Aber ich wußte nicht, ob ich mich rechts oder links wenden müsse.

Ich stand unschlüssig. Ich war langsam die Treppe hinaufgestiegen. In dem Hause des Kranken mußte ich eine tiefe Stille erwarten, die ich auch überall fand. Ich wollte sie nicht durch ein Geräusch stören, das nur zu leicht in die Stube des Kranken selbst hätte dringen und, zumal in so später Abendzeit, Unruhe verursachen können.

Auf einmal, als ich oben am Ende der Treppe stand, hörte ich in dem Gange, nicht weit von mir, Jemanden leise sprechen. Ich erkannte die Stimme sofort. Es war die heisere, kurzathmige Stimme des kränklichen Schreibers Karl Brunner. Ich dachte im ersten Augenblick, irgend ein gleichgültiges Geschäft habe ihn hergeführt; vielleicht auch, meinte ich, wohne er im Hause, und er mache eine Bestellung an einen Dienstboten. Ich wollte ihn ausreden lassen, um dann an ihn mich zu wenden, und durch ihn mein Anliegen auszurichten. Daß er leise sprach, konnte mir in der Nähe des Kranken nicht auffallen.

Allein ich verstand bald, was er sprach, und als ich es verstand, und als ich hörte, was ihm geantwortet wurde, und wer ihm antwortete, welche andere Richtung erhielten alle meine Gedanken! Die Tochter des Amtmanns war es, die ihm antwortete, jenes [610] schöne, heftige und liebevolle Mädchen. Ich erkannte ihre Stimme bei dem ersten Laut, wie leise sie auch sprach. Sie war runder, voller geworden; sie war aber frisch und glockenrein geblieben, und sie flüsterte mit derselben Innigkeit zu dem jungen Manne, mit welcher sie früher zu ihm gesagt hatte:

„Komm, Karl, weine nicht.“

Damals waren sie Beide Kinder gewesen, auch er noch, wie kränklich hoch er auch emporgeschossen war. Als Kinder hatten sie in dem Versteck hinter der dichten Taxushecke gesessen. Sie waren heute keine Kinder mehr. Er mußte drei- bis vierundzwanzig, sie neunzehn bis zwanzig Jahre zählen. Und sie waren in einem finsteren Versteck beisammen. Sie waren aber auch wieder nicht glücklich. Sehen konnte ich diesmal ihren Schmerz nicht; aber hören sollte ich ihn desto deutlicher.

„Und er war lange hier, sagst Du?“ hörte ich zuerst die Stimme des jungen Menschen sprechen.

„Ueber eine halbe Stunde,“ antwortete die Stimme des jungen Mädchens.

„Und ganz allein mit ihm?“

„Ganz allein. Ich mußte hinausgehen. Hinter mir verschloß er die Thür. Mir wurde so angst; er sah so schrecklich, so entsetzlich aus. Ich fürchtete ein Unglück, und wollte nicht gehen, aber ich mußte.“

Von wem sprach sie? Von dem Schließer, antwortete es in meinem Innern. Es war lächerlich, aber es war auch so natürlich. Ich hatte ja fast den ganzen Tag nur an ihn denken müssen. Ich mußte horchen, weiter horchen, wie unangenehm es mir war. Ich stand wie gebannt; ich konnte nicht rückwärts, nicht vorwärts.

Der junge Mensch fuhr fort zu fragen:

„Und Du hast kein Wort von dem verstanden, was sie mit einander sprachen?“

„Kein Wort. Ich war draußen an der Thür stehen geblieben und lauschte, aber ich verstand nichts. Nur einmal kam es mir vor, als wenn mein Vater ihm etwas beföhle. Er weigerte sich aber, es zu thun.“

„Und Dein Vater darauf?“

„Er schien ihm noch einmal zu befehlen, strenger. Aber aus dem Tone, mit dem er meinem Vater antwortete, schloß ich, daß er bei seiner Weigerung blieb.“

„Das Alles war schon heute Morgen?“

„Heute Morgen gegen zehn Uhr.“

„Um die Zeit war er mit dem neuen Assessor aus den Gefängnissen gekommen.“

Ich hatte also Recht gehabt, sie sprachen wirklich von dem Schließer. Martin Kraus war sofort, auf der Stelle, nachdem er von mir sich hatte trennen können, zu dem Amtmann geeilt. Der auf den Tod Kranke hatte über eine halbe Stunde lang mit ihm gesprochen. Beide hatten eine geheime Unterredung mit einander gehabt. Ich mußte weiter horchen. Das Mädchen fuhr fort:

„In den Gefängnissen mußte etwas vorgefallen sein, weil er so verstört ankam. Ich entsetzte mich vor seinem Anblicke.“

„Es war damals nichts vorgefallen,“ erwiderte der Schreiber. „Aber vorher, nachher.“

„Und was, Karl?“

„Nichts, nichts!“

„Du willst es mir verschweigen, Karl!“

„Nichts. Ich weiß nichts.“

„Karl, ich höre an dem Tone Deiner Stimme, daß Du etwas weißt, was Du mir verhehlen willst.“

„Das hast Du schon seit Jahren zu mir gesagt. Ich konnte Dir nur immer sagen, daß ich nichts wußte.“

„Und schon seit Jahren, Karl, konnte ich Dir das nicht glauben. Seit Jahren? Seit meiner Kindheit schon, so lange ich denken kann, habe ich Dir immer angesehen, daß Du etwas auf dem Herzen hattest, etwas recht Schweres, ein schreckliches Geheimniß. Wie viele hundert Male, wenn ich Dich träumend oder weinend sitzen sah, mußte ich Dich fragen, was Dir fehle, was Dir das Herz drücke. Wie oft bin ich Dir, wenn ich des Abends, noch ganz spät, Dich plötzlich fortschleichen sah, nachgefolgt – Du warest in den Garten gegangen, durch die Taxushecke auf den Kirchhof gekrochen, gingst auf dem Kirchhof zwischen den Dornen und den Gräbern herum, und horchtest und suchtest, und ich mußte durch die Hecke hinter Dir herkriechen, und an Dich heran treten, und Deine Hand nehmen und Dich fragen, wonach Du dort horchtest, was Du in der Nacht zwischen den Gräbern suchtest. Aber immer sagtest Du: es ist nichts. Ich habe nur so traurige Gedanken, die mich quälen. Ich muß allein sein, dann wird mir wieder besser. – Einmal, als wir auch wieder am späten Abend auf dem Kirchhofe waren, und plötzlich unten in der Erde das sonderbare, schreckliche Stöhnen hörten, und ich mich vor Angst an Dich drückte, und Du mich von Dir stießest, und auf die Erde niedersankest und laut schluchztest, das eine Mal wolltest Du mir sagen, was Dir das Herz abdrückte. „Komm!“ riefst Du auf einmal. „Komm und höre diese Töne, und dann höre eine Geschichte, die ich Dir erzählen will.“ – In dem Augenblicke stand der finstere Mensch hinter uns, und schrie uns an, was wir da machten, er wollte es dem Vater anzeigen, daß wir uns in der Nacht so umher trieben. Wir waren noch Kinder und fürchteten uns vor ihm, und liefen auf verschiedenen Wegen in das Haus zurück. Und nachher, als ich Dich nach der Geschichte fragte, die Du mir hattest erzählen wollen, hattest Du nur wieder die alte Antwort, Du wissest nichts, Du seiest durch einfältige Träume aufgeregt gewesen, was wir auf dem Kirchhofe gehört hätten, sei wohl ein Thier gewesen. Ich glaubte Dir schon damals nicht. Aber Du bliebst bei solchen Antworten trotz alles meines Unglaubens, aller meiner Bitten, aller meiner Thränen. So hast Du Jahre lang, wohl über zehn Jahre lang, mich fortwährend getäuscht. Getäuscht, Karl. Denn Du weißt wohl etwas! Dich drückt ein schweres Geheimniß. Theile es mir mit, jetzt, jetzt, in den letzten Stunden vor dem Tode meines Vaters. Denn, Karl, eine entsetzliche Ahnung hat mir manchmal gesagt, daß Dein Geheimniß meinen Vater betreffe, und daß Du es mir darum nicht verrathen wolltest. Und jetzt muß mein Vater sterben. Ich weiß es, und auch er weiß es. Sage es mir, Karl, was Du auf dem Herzen hast. Vielleicht kann ich die letzten Stunden des armen Vaters beruhigen, wenn ich es weiß. Er schien ohnehin so sonderbar, so schwer unruhig zu sein. Besonders seitdem heute Morgen der Schließer von ihm gegangen war. Sage es mir, sprich endlich, Karl.“

Sie schwieg. Ihre schöne Stimme hatte so innig, so traurig, so bittend, so flehend gesprochen. Sie hatte mir, dem Fremden, mit ihren flehenden Schmerzenstönen tief das Herz ergriffen. Wie mußte sie es dem jungen Manne zerreißen, der in einer so nahen, engen Verbindung mit ihr stand! Konnte er ihr widerstehen?

Ich halte schon lange gehört, wie während ihrer Worte sein Athem schwerer und kürzer wurde. Ich glaubte zu sehen, wie ungestüm seine kranke Brust wogte. Aber sein Sinn war fest geblieben. Es war ein edler Sinn.

„Rosa, meine liebe Rosa,“ sagte er, „ich beschwöre Dich, dringe nicht weiter in mich, nur heute nicht. Glaube mir, was mich quält und ängstigt, sind meist Träume und Einbildungen, zu denen mir aller gewisse Grund fehlt. Es kann etwas Wirkliches für sie da sein. Aber ich weiß es noch nicht. Ich habe es in all den Jahren nicht ermitteln können. Ich weiß es heute noch nicht. Wie könnte ich mit meinen leeren Ahnungen auch Dir das Herz beschweren, unglücklich machen? Ist aber etwas Wirkliches da, Rosa, dann fürchte ich noch heute Nacht etwas Schreckliches, und dann kann es auch Dir nicht länger verborgen bleiben.“

„Und Du willst es mir nicht sagen, Karl?“

„Ich kann nicht.“

„Du bist grausam.“

„Grausam?“ rief schmerzlich der junge Mann. „O, Rosa, wenn Du wüßtest –! Aber erzähle mir weiter. Sahest Du den Schließer von Deinem Vater fortgehen?“

„Ich sah ihn.“

„Und wie war sein Aussehen?“

„Finster und in sich gekehrt, wie immer.“

„Wie fandest Du Deinen Vater?“

„Ich sagte es Dir schon, ich fand ihn unruhiger. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben. Er schien es aussprechen zu müssen. Er richtete sich auf, dann sah er mich an, so sonderbar. Auf einmal legte er sich wieder zurück. Das that er oftmals so.“

„Er sagte Dir nichts?“

„Kein Wort.“

„Rosa, ich muß jetzt gehen. Versprichst Du mir Eins?“

„Was könnte ich Dir abschlagen, Karl?“

„Bleibe mir immer gut, bleibe immer meine Freundin.“

„Wie könnte ich anders werden? Aber wie kommst Du zu der Bitte?“

[611] „Ich kann es Dir nicht sagen. Aber sage Ja zu meiner Bitte. Ich habe nur noch kurze Zeit zu leben. Dann folge ich Deinem Vater. Dann – Sage Ja, Rosa, daß Du mich immer lieb behalten willst. Gib mir die Hand darauf.“

„Immer, immer, Karl. Hier hast Du meine Hand. Ich werde Dich nie verlassen.“

Sie schwiegen und drückten sich wohl stumm die Hände.

In stummer Liebe?

Nicht weit von ihnen wurde leise eine Thür geöffnet.

„Mamsell Rosa,“ flüsterte eine männliche Stimme in den Gang hinein.

„Hier bin ich,“ antwortete das junge Mädchen.

Die Thür wurde leise in das Schloß gelegt. Dann sagte die Stimme: „Der Herr Amtmann haben mir befohlen, schleunig den neuen Herrn Assessor herzubitten. Ich soll auf der Stelle gehen.“

Das junge Mädchen schien sich einen Augenblick zu besinnen. Darauf sagte sie:

„Gut, Friedrich, gehe. Ich werde zum Vater zurückkehren. Führe aber den Herrn Assessor nicht gleich in das Krankenzimmer, sondern in den blauen Saal. Ich möchte ihn vorher sprechen.“

Das hörte ich noch. Es blieb mir, in der allerdings traurigen Rolle, die ich einmal übernommen hatte, nichts übrig, als mich so eilig und leise wie möglich zurückzuziehen. Ich that das, und verrieth mich nicht. Ich verließ unbemerkt das Haus und den Hof. Draußen vor dem Hofthore kehrte ich um, als wenn ich aus der Stadt komme. Ich ging wieder auf das Amthaus zu.

Mitten im Hofe begegnete mir ein Bedienter mit einer Laterne. Er erkannte mich und blieb vor mir stehen.

„Ich war gerade auf dem Wege, um den Herrn Assessor zu dem Herrn Amtmann zu bitten.“

Es war die Stimme des Friedrich, der mit der Tochter des Amtmanns gesprochen hatte.

„Mich?“ antwortete ich. „Und ich bin auf dem Wege, um mich nach dem Befinden des Herrn Amtmanns zu erkundigen“

„Es geht dem guten Herrn sehr schlecht. Ich fürchte, daß er die Nacht nicht überlebt, obgleich sie Alle im Hause das Ende noch nicht so nahe erwarten.“

Ich ging mit ihm in das Haus. Er führte mich in einen blauen Salon und bat mich, einige Augenblicke zu verziehen, er wollte mich ankündigen.

Was wollte der Amtmann von mir? Was seine Tochter?

Nach einer Minute erschien das junge Mädchen. Das Kind, das ich vor sechs Jahren gesehen hatte, war zu einer vollblühenden Jungfrau geworden, und in den schönen Zügen sprachen sich Geist und Herz aus. Angst und Sorge um den kranken Vater hatten zwar für den Augenblick die Wangen etwas gebleicht. Sie war nur um so schöner. Sie wurde nicht verlegen, als sie mich wiedersah. Sie hatte etwas Schweres auf dem Herzen, das sie über eine kleinliche Verlegenheit erhob.

„Mein Herr,“ sagte sie, „mein kranker Vater wünscht Sie dringend zu sprechen. Er hat mir nicht gesagt, was er Ihnen mitzutheilen hat. Es muß ein schweres Geheimniß sein. Aber was es auch sei, darf ich zu Ihnen vertrauen, daß Sie meinem armen Vater seine letzten Stunden nicht schwer machen, und daß Sie –“

Sie konnte vor plötzlichem Schluchzen nicht weiter sprechen. Erst nachdem sie sich gesammelt hatte, fuhr sie fort:

„Und daß Sie stets meines Vaters Ehre schonen werden? Darf ich Sie darum bitten, mein Herr?“

„Mein Fräulein,“ erwiderte ich ihr, „mein Thun wird Ihnen beweisen, daß es Ihrer Bitten bei mir nicht bedurfte. Sie sind mir dennoch heilig, als die Bitten eines edlen, treuen Tochterherzens.“

„Sie beruhigen mich, mein Herr. Wie danke ich Ihnen!“

Sie führte mich zu dem Zimmer des Kranken. An der Thür blieb sie zurück. Ich war mit dem kranken Amtmann allein.

In dem Zimmer brannte nur eine Nachtlampe hinter einem Schirme. Es war kaum ein Dämmerungslicht, das die Stube erhellte. Der Kranke lag in einem mit Vorhängen versehenen Bette. Die Vorhänge waren zurückgeschlagen. Ich konnte gleichwohl in dem Halbdunkel seine Züge nicht erkennen. Nur seine Stimme erkannte ich wieder, wie matt, wie gebrochen, wie den Tod ankündigend sie auch schon war.

„Sie sind der Herr Assessor –?“ fragte er mich.

„Ich bin der Assessor –, vom Ministerium mit Ihrer einstweiligen Vertretung betraut.“

„Einstweilig?“ sagte er schmerzlich.

Aber er verweilte bei dem Gedanken nicht.

„Setzen Sie sich zu mir, Herr Assessor; hier nahe an mein Bett. Ich habe Sie zu einer dringenden Unterredung bitten lassen.“

Ich setzte mich an das Bett.

Er hatte gefaßt gesprochen. Seine Fassung schien mir aber eine etwas mühsam gemachte zu sein.

„Vorher eine Frage,“ fuhr er fort. „Sie waren schon einmal hier, vor ungefähr sechs Jahren?“

„Sie hatten damals die Güte, mich mit den geschäftlichen Einrichtungen des Amtes bekannt zu machen.“

„Dann noch eine Frage: Sie haben heute die sämmtlichen Geschäfte des Amtmanns übernommen?“

„Die sämmtlichen.“

„Sie haben dabei –?“

Er stockte. Gleich darauf fuhr er fort:

„Sie hatten vor sechs Jahren gegen den Schließer Kraus einen gewissen Verdacht gezeigt?“

„Ich glaubte, dazu Veranlassung zu haben.“

„Haben Sie heute denselben Verdacht gegen ihn geäußert?“

„Ich weiß es nicht –“

„Sie haben, ich weiß es. Aber etwas Anderes wünschte ich zu wissen. Haben Sie heute irgend eine Entdeckung gemacht, die Ihren Verdacht hätte bestätigen können?“

„Eine thatsächliche – nein.“

„Und der Schließer Kraus hat sich davon überzeugt?“

„Er kann wenigstens nicht das Gegentheil wahrgenommen haben.“

Der Kranke hatte die letzten Fragen mit einer gewissen ängstlichen Spannung ausgesprochen, die er wohl vergebens zu verbergen gesucht hatte. Meine Antwort schien ihn zu beruhigen.

„Wohl,“ sagte er, „so drängt die Zeit nicht.“

Ich begriff nicht, was er damit sagen wollte; ich hatte aber auch keine Veranlassung, ihn zu fragen.

Hätte ich ihn gefragt!

Er fuhr fort. Seine Stimme zeigte wieder jene gewaltsam erzwungene Fassung.

„Herr Assessor, ich habe Ihnen ein schweres Geheimniß zu entdecken. Ich muß es, um ruhiger sterben zu können, denn der Tod steht hinter mir; aber auch, um ein neues Unglück, ein neues Verbrechen zu verhüten. Ich bitte Sie, mich ruhig anzuhören.

„Ich wurde als junger Mann von fünfundzwanzig Jahren Vorstand des hiesigen Amtes. Ich hatte Verbindungen in der Residenz. Ich war rasch befördert. Ich war leichtsinnig, liebte ein angenehmes Leben und scheute die Arbeit. Am Amte ließ ich die andern Beamten arbeiten, auch für mich. So wurden bald alle Geschäfte vernachlässigt, am meisten die meinigen. Dabei war ich strenge gegen die Unterthanen. Sie fürchteten mich. Es wurden daher nach oben keine Klagen gegen mich laut. Es gab daher auch von oben her keinen Richter gegen mich. Ein pünklicher Cassenvorstand war hier. Er sorgte für die Einnahmen des Amtes, für ihr Eingehen, für ihr Absenden nach oben. Das hielt das Amt. Um Weiteres bekümmerte man sich in der Residenz nicht; nicht, ob die Gerichtseingesessenen ihr Recht erhielten, nicht, ob die Gefangenen Jahre lang unverhört in den Gefängnissen schmachten mußten. Bald nach oder kurz vor meiner Ankunft hier war ein fremder Mechanikus nach Z. übergesiedelt. Er war verheirathet. Seine Frau hieß Antoinette Thalmann, jene Freundin Ihrer Mutter, nach der Sie mich vor sechs Jahren fragten. Der Mann hieß Brunner.“

Welches Licht schienen mir auf einmal die paar Namen zu geben! In welches Dunkel sah ich doch nur noch immer!

Der Kranke fuhr fort:

„Der Mechanikus Brunner war ein fleißiger, stets arbeitsamer Mann; er war, wie man sagt, ein Genie, und zwar ein unglückliches Genie. Er machte hundert neue Erfindungen, unternahm hundert neue Sachen, aber keine schlug ein, keine glückte ihm, und er kam in seinem Hauswesen immer mehr und mehr zurück. Nach einiger Zeit waren auf einmal falsche brabanter Kronthaler in der Gegend verbreitet. Sie waren von unbekannten Menschen ausgegeben. Aber man hatte die unbekannten Menschen bei dem Mechanikus Brunner sich ein- und ausschleichen sehen; als man näher nach ihnen forschte, waren sie verschwunden. Brunner hatte unterdeß angefangen, besser zu leben.

„Schon damals entstand der Verdacht gegen ihn, daß er mit [612] den Falschmünzern in Verbindung stehe; daß er vielleicht der eigentliche Falschmünzer sei und die Anderen nur seine Helfershelfer, die das falsche Geld verbreiteten. Der Verdacht war indeß zu schwach, um ein Einschreiten gegen ihn veranlassen zu können. Allein bald nachher las man in den Zeitungen, daß auch anderswo im Lande und in den benachbarten Ländern durch unbekannte Menschen falsche Kronthaler verbeitet seien, der Beschreibung nach aus derselben Fabrik, aus welcher die in hiesiger Gegend ausgegebenen herrührten. Zugleich hatte man wieder zur Nachtzeit einen jener verdächtigen Menschen das Haus Brunner’s heimlich verlassen sehen. Man hatte vergebens auf den Menschen gefahndet. Aber zu einem Verfahren gegen den Mechanikus Brunner schien jetzt hinreichender Verdacht vorzuliegen. Es mußte gegen ihn eingeschritten werden. Die wichtige Untersuchung mußte ich selbst übernehmen. Zudem reizte mich das Geheimniß, das über der Sache lag, und die Lust, sein Dunkel zu erhellen, die Fäden, die wild verworren da lagen, einen nach dem anderen aufzulösen.

„Ich nahm eine unvermuthete Haussuchung bei dem Mechanikus Brunner vor. Ich fand in der That allerlei Apparate zur Anfertigung von falschen Münzen bei ihm. Er behauptete, die Gegenstände für fremde, unbekannte Personen angefertigt zu haben, die sie so bestellt hätten, nach ihrer Angabe zur Fabrikation von Zimmerzierrathen, an Fenstern, Schränken und so weiter, und die sie abholen würden. Er gestand ein, denselben Personen schon seit einiger Zeit ähnliche Instrumente verfertigt zu haben. Ich konnte in diesen Angaben nur leere Ausreden finden und mußte ihn deshalb verhaften und die Untersuchung gegen ihn eröffnen.

„Ich führte dieselbe anfangs mit all’ dem Eifer, den der Reiz des Neuen und des Geheimnisses geben kann; aber ich konnte das Geheimniß nicht erhellen, und das Neue wurde alt. Ich betrieb bald die Untersuchung nachlässiger; sie lieferte desto weniger ein Resultat. Ich vernachlässigte sie darauf ganz und mochte gar nicht mehr an sie denken, denn sie wurde mir unangenehm. Ich vergaß sie, vergaß sie völlig, vergaß sogar auch den verhafteten Angeschuldigten.

„So waren acht Jahre verflossen; da trat eines Morgens der Schließer Martin Kraus zu mir. Er war schon damals, er war immer ein finsterer, verschlossener Mann; aber er war auch immer ein pünktlicher, zuverlässiger Beamter und mir unbedingt treu, blind ergeben. Er sah finsterer aus, wie je; aber nicht gedrückt. Sein Wesen schien mir vielmehr leichter zu sein, als vorher. Er hatte in der letzten Zeit manchmal etwas Gedrücktes gehabt.

„Herr Amtmann, die Frau des Mechanikus Brunner ist heute Nacht gestorben.“

„Ich hatte seit Jahren den Namen nicht gehört und eben so lange an den Gefangenen nicht gedacht; bei dem Namen erst fiel mir der Gefangene wieder ein.

„Und der Mann,“ fragte ich.

„Die Frau ist im Elende gestorben.“

„Und was macht der Gefangene?“

„Er ist wahnsinnig.“

„Mensch, seid Ihr wahnsinnig?“

„Er hatte schon vor drei Jahren den Verstand verloren.“

„Und Ihr habt mir nie ein Wort davon gesagt?“

„Es wäre ja zu spät gewesen; mit dem Wahnsinnigen konnten der Herr Amtmann nichts machen, und entlassen konnten Sie ihn auch nicht.“

„Warum nicht? Gewiß, gewiß hatte ich es gekonnt. Ich hätte es gethan.“

„Damit die Welt erfahren sollte, der Mensch habe ohne Verhör, vergessen, verloren und vergessen, und doch unschuldig, fünf volle Jahre in den Kerkern des Amtes schmachten müssen und zuletzt wahnsinnig werden müssen? Das durfte kein Mensch in der Welt wissen. Dazu war mir die Ehre des Herrn Amtmanns zu lieb.“

„Mensch, was habt Ihr mit dem Unglücklichen gemacht?“

„Er ist schon seit drei Jahren gut aufgehoben.“

„Todt? Ihr habt ihn –?“

„Er lebt, Herr Amtmann.“

„Wo?“

„Das Amthaus hat viele und weite Keller.“

„Dahin habt Ihr ihn gebracht?“

„Ja.“

„Hier unter dieses Haus?“

„Die Keller gehen weiter; sie gehen bis unter den Kirchhof.“

„Dahin?“

„Dahin. Nur ich allein in der Welt weiß, daß die Keller des Amthauses so weit laufen. Dort nur allein war er sicher, ist er sicher. Man könnte oben auf dem Kirchhofe seine Stimme hören, aber nur undeutlich aus der Tiefe, nur schwach. Wer sie hört, wird an einen Kirchhofsspuk glauben.“

„Aber er hat dort keine Sonne, kein Licht.“

„Nein.“

„Mensch, Ihr seid grausam, ein Ungeheuer.“

„Herr Amtmann, den Verstand hatte er einmal verloren; es war nicht meine Schuld. Ob ein Mensch, der seiner Sinne nicht mehr mächtig ist, Licht und Sonne sieht und mit Menschen sprechen kann oder ob er dasselbe nicht mehr kann, darauf kommt es nicht an; aber Ihre Ehre, Herr Amtmann, mußte rein bleiben; kein Mensch durfte sagen können, daß Sie ihn in den Zustand gebracht hätten, daß Sie einen Justizmord begangen hätten, was man so gern von der Justiz sagt – darum brachte ich ihn in den Keller und den Leuten sagte ich, er sei todt. Sie haben seitdem nichts mehr von ihm gehört, auch andere Leute nicht. Heute ist seine Frau gestorben, die Einzige, die seit den acht Jahren seiner Haft nach ihm gefragt hat. Jetzt wird keine Menschenseele mehr nach ihm fragen und er kann ruhig da unten bleiben, bis er stirbt. Lange wird er es doch nicht mehr machen; er ist sehr mager und hinfällig. In die Acten und Listen schreiben Sie schon jetzt, daß er gestorben sei, vor fünf Jahren, vor sechs, vor sieben Jahren, wie Sie wollen.

„Aber noch eins, Herr Amtmann; die Frau hat einen Knaben zurückgelassen von bald acht Jahren, welcher kurze Zeit nach der Verhaftung seines Vaters geboren wurde. Das Kind ist hülflos. Wollen der Herr Amtmann sich seiner annehmen? Sie thun ein Werk der Barmherzigkeit.“

„Welche entsetzlichen Entdeckungen hatte der Mann mir gemacht! Welche furchtbaren Wahrheiten hatte er mir gesagt! Meine Ehre sollte vor der Welt rein bleiben. War sie nicht vor meinem eigenen Bewußtsein vollständig, für immer gebrochen? Von einem Justizmorde sollte die Welt nicht sprechen dürfen. Hatte ich nicht den empörendsten Justizmord begangen, den jemals Leichtsinn, Selbstsucht, Rohheit, die vollste Herzlosigkeit verüben konnten? Und was sollte ich ferner thun? Zu den alten Verbrechen ein neues begehen? Um meine Ehre vor der Welt zu retten, immer weiter ehrlos handeln, gemein, herzlos, niederträchtig? Ich war schwach genug, so zu handeln. Innerlich an meiner Ehre gebrochen und verloren war ich einmal, blieb ich. Sollte ich auch äußerlich gebrandmarkt werden? Sollte ich – denn das war für den Fall der Entdeckung mein Loos – von meinem Amte mich entsetzen, als gemeiner Criminalverbrecher mich in das Zuchthaus sperren lassen, mein Weib und mein Kind der allgemeinen Verachtung, der Schmach, der Armuth, dem Elende preisgeben? Ich hatte nicht die Kraft, mich dem Allen zu unterwerfen.

„Ich ließ den Unglücklichen in seinem unterirdischen Gefängnisse. In den Acten verzeichnete ich seinen Tod, als schon vor längern Jahren erfolgt. Mein Gewissen suchte, wußte ich zu beschwichtigen. Wie viele Mittel findet der Mensch dafür! Ich wurde der strengste, pünktlichste Mann in meinem Dienste, der gerechteste, der humanste Richter.

„Den Knaben des Unglücklichen nahm ich zu mir. Ich hielt ihn wie mein Kind. Er war kränklich, ich konnte ihn nichts lernen lassen. Ich ließ ihn in den Kanzleien des Amtes sich beschäftigen.

„Es entwickelte sich früh eine Neigung für meine Tochter in ihm. Ich trat ihr nicht entgegen. Ich hätte ihm mein einziges Kind zur Frau gegeben, wenn sie seine Neigung erwidert hätte. Aber sie hatte nur Freundschaft, nur Mitleiden für ihn, und ich wünschte oft, sie möchte ihn lieben.

„Um den Unglücklichen kümmerte sich Niemand weiter. Niemals tauchte nur irgendwo eine Ahnung auf, daß er noch am Leben sein könne; niemals wurde nur die leiseste Vermuthung laut, daß unter den Gräbern des Kirchhofes, in Räumen die außer mir und dem Schließer Niemand kannte, ein menschliches Wesen verborgen sein, gefangen gehalten werden könne. Nur Sie hatten vor Jahren einmal einem solchen Verdachte Raum gegeben, hatten ihn aber nicht weiter verfolgen können. So hatte ich gemeint.“

(Schluß folgt.)




[613]
Der Löwe von Aspern.

Wenn das Herz an Gott und dem Unsichtbaren verzagen will – flüchtet es um Trost und Erhebung an eine eigens erbaute Stätte, die Kirche. Wenn aber das Hert an dem Sichtbaren, an den Menschen, ja selbst an seinem Volke verzagen will – wohin wendet es sich dann?

Ich habe mir in solchem Falle Stätten ersehen, heilige, große und erhabene! Und wenn ich so klug oder so närrisch bin, ein unnennbares, ein unaussprechliches Etwas über Zeitenlauf in meinem Innern zu fühlen, das einem Schmerzensaufschrei und einem Hohngelächter gleichzeitig ähnlich zu werden sucht, so reiße ich mich los von meiner alltäglichen Umgebung, und pilgere einer solchen Stätte zu, wie ich sie meine und mir erkoren habe.

Lachen Sie oder weinen Sie über mein Denken; ich befand mich kürzlich in einer ähnlichen Stimmung – ich hatte von Cherbourg, Negersclaverei, Deutsch-Dänisch, Napoleonsstatuen etc. etc. gelesen, ich mußte mir wieder einmal eine Stätte meiner alten heiligen Art aufsuchen!

Draußen vor der Taborlinie Wiens, der ungarischen Grenze und der Donau entgegen, streckt sich eine Gegend, die so reizend und romantisch ist, als hätte sie eine deutsche Gelehrten-Akademie verfaßt. Sie können wohl denken, daß sie der Hasenhaide Berlins sehr gleicht, nur mit dem Unterschiede, daß sie von Alleen durchzogen ist. Alles frische Grün darauf würden die Herren Verfasser, wenn sie noch zu revidiren hätten, sicherlich für Druckfehler erklären.

Der Löwe von Aspern.


In diese romantische Gegend will ich einen Ausflug machen. Sage mir Keiner, ich ersticke vor der Hitze und Staub, ich vergähne vor endlosen Pappelalleen; mein Weg geht dahin, ich will gerade jetzt nach Aspern, nach der heiligen Stätte von Aspern!

Gesagt, gethan! Bald stand ich vor Wien. Bald überschritt ich die vierundzwanzig Joch breite Donaubrücke und noch mehrere andere, zog durch Florisdorf und darüber hinaus, dann rechts in’s Marchfeld, dessen Ebenen unabsehbar, der heiligen Wahlstatt entgegen, wo der unbezwingbare Corse zum ersten Male bezwungen wurde.

Zwischen Florisdorf und Kagran, mitten in den Feldern, steht eine Erdschanze; ehrfurchtsvolle Scheu und erhebende Achtung hat die Ackereigenthümer verhindert, dieses funfzigjährige Gedenkzeichen mit Hacke und Pflug zu vernichten. Sie steht mit ihren Gräben, Brustwehren, Kanonenfuhrten und Schußlöchern noch wie damals – Blut hat sie gekittet. Ich konnte mich nicht enthalten, sie zu betreten, und hinaussehend in die Ebene, überzeugte ich mich, daß ich mich ferner ruhig meinem Nachdenken hingeben könne, ohne auf dem Wege die geringste Unterbrechung durch irgend welche Abwechslung mehr zu erleiden zu haben.

Rüstig schritt ich darauf los: Florisdorf, Kagran, Hirschstätten, Aspern! Glauben Sie, mein Herz bebte, ich war zum ersten Male auf diesen geweihten Wegen, auf diesem Boden der Heldenschlacht, auf dem jeder Grashalm von einem zerfetzten Herzen lispelt und keimt. So viel Kornblümlein hier stehen, so viel Augen brachen vielleicht auf demselben Flecke, und alle rothen Steinnelkchen und wilde Mohnblüthen langen nicht aus, um die Wunden und rothen Blutstropfen zu bezeichnen.

[614] Sehen Sie jetzt das Thürmlein und Kirchlein ragen? Legen Sie im Geiste die Todten zusammen, die dort, nur dort und gerade an jenen Mauern fielen, so überstarren die bleichen Gesichter weit die Giebel! Ja, so ist’s buchstäblich! –

Nur noch wenige Schritte und die Straße bringt mich zwischen Dorf und Kirche. Letztere steht quer außer derselben zwischen Pfarr- und Kirchhof, und im Gesammt lugen sie wie Neugierige in die lange Dorfzeile hinab. Ich bin nun vier gute Stunden gegangen, links öffnet sich mir das Dorf, rechts steht die Kirche und davor zu meinem ersten Anblicke der Löwe, den ein Verein wackerer Männer im heurigen Frühlinge daselbst aufgerichtet. Ich lese seine Inschrift, sie lautet:

 Dem Andenken der am 21. u. 22. Mai 1809
 Ruhmvoll gefallenen österreichischen Krieger.

Ich lasse mich an der Stufe nieder. Der Tag ist heiß, die Wolken ziehen am Firmamente in dichten, schattigen Gruppen, die nur zuweile lichte Risse zeigen und in der Ferne fast auf der Ebene lagern.

Ach, sehen Sie dert die Sonne mit ihrem gedämpften, durchkämpfenden Schimmer! Machen wir sie zur halbentfalteten Morgensonne; die Wolken beleben sich, die Bäume rauschen geheimnißvoll – es ist Pfingsten, der grünste, üppigste, duftigste Pfingstsonntag! Erzherzog Karl, der Feldmarschall, ist vor wenigen Wochen in’s Reich eingerückt, die Deutschen zur Befreiung auffordernd – sie schwiegen –; blutige Siege und Verluste haben für beide Theile den Erfolg zweifelhaft gemacht; am 12. April fliegt der „Herr der Heerschaaren“, der „Führer der Führer“ von Paris herbei, bis am 20. will er gesiegt und mit Oesterreich ganz Deutschland zu den Füßen haben. – Landshut und Eckmühl! – Am 10. Mai langt er vor Wien an, das ohne Schwertstreich am 12. fällt, am 13. zieht er ein, am 17. erklärt er von da aus die Weltherrschaft des heiligen Stuhles aufgehoben, er stößt ihn um, und wie kein heiliges römisch-deutsches Reich, gibt es kein heiliges, nur ein napoleonisch-kaiserliches Rom! – Aber Wien ist nicht Oesterreich und nicht Deutschland; Erzherzog Karl’s Roß stampft noch den heimischen Boden, und er überschreitet, von Böhmen kommend, die Donau. Napoleon hat dies Ziel unterhalb Wien noch nicht erreicht, er wählt die inselunterbrochene Donau bei Ebersdorf, deren jenseitiges Ufer von einem Walde, die Lobau, bekränzt ist, dafür. Auf dem Marchfelde sollen Beide gegenüberstehen; nein, die rauschende Donau am Marchfelde soll das Grab der Feinde und die Scheidelinie für jetzt wenigstens sein, denn hier geht der Weg nach Ungarn, und die Sirene Napoleonischer Proclamationen lockt den ganzen Osten in’s glänzende, berauschende Verderben!

An der einen Seite des Marchfeldes, die Lobau bekränzend und in einem Bogen: Aspern, Eßlingen, Enzersdorf; gerade gegenüber im Felde: Bisamberg, Gerasdorf, Wagram. Hier Karl, dort Napoleon.

Die Sonne des 21. Maimorgens, des ersten heiligen Pfingsttages, bricht an – sehen Sie dort die dunklen Wolken sich theilen? Das sind fünf Colonen, die sich aus dem österreichischen Heere formiren; gleichzeitig nach einem Glockenschlage bewegen sich die Colonnen, dehnen sie sich wie Lindwürmer, wie riesige Schlangenleiber stumm und gewaltig heran! Die schwarze Wolkenmasse über meinem Haupte, wo ich jetzt bin, an dem Löwen und der Kirche, wird vielleicht so gut sein, ein wenig auszuharren, denn gerade da, auf demselben Punkte, steht Massena, Lannes; die Furchtbaren haben den Auftrag, zu sterben, aber nicht zu weichen! – Die Oesterreicher sind an Zahl kleiner, wie die Feinde, aber sie bringen auch 300 Feuerschlünde.

Furchtbar ist es, wie die Colonnen anrücken. An der Spitze der zweiten ist Erzherzog Karl, die Kanonen donnern, die weit zahlreichern des Feindes (120,000 gegen 75,000) entgegnen. Furchtbar mäht der Tod in dem braven Fußvolke Oesterreichs; es wankt vor Massena’s Gegenstoße – die Kugelsaat des Feindes überdeckt es, bevor die Geschütze Zeit zum Laden haben – die Flanke ist entblößt, das Centrum kann durchbrochen und die Armee in zwei Theile getrennt werden – schon wendet die Fronte, die Kanonen protzen auf und eilen zurück – aus der Au brechen zudem Napoleon’s verborgene „eiserne Männer“ hervor, die schwarzen und glänzenden unheimlichen Gestalten zu Rosse, die mit Helmen, langen Schwertern und schauerlichem Gerassel einer Sage der mittelalterlichen Vorzeit gleichen. – Da sprengt ein Mann zur gefährdetsten Stelle, zu den fliehenden Oesterreichern, er heißt Karl.

Halt!

Alles steht wie elektrisch getroffen und festgewurzelt! Der rasselnde Tod Napoleon’s sprengt wild heraus zum letzten vertilgenden Einhauen auf die Massen, welche im Fliehen waren – er raset vor, die Oesterreicher stehen und sehen ihm entgegen; er mäßigt den rasenden Lauf – die Oesterreicher stehen, er ist schon heran auf vierzig Schritte – die Oesterreicher stehen, und die Todesfeinde messen sich Mann für Mann – da ergreift die kühnen, schwarzen, eisenbedeckten Reiter Entsetzen, unwillkürlich zucken ihre Finger am Zügel, die Rosse halten an. – Es ist eine Pause des Entsetzens und der Ehrfurcht, der Wuth und der Demuth, der Todesangst und Lebenslust an solchen Männern! – Die Oesterreicher stehen.

„Ergebt Euch!“ rufen endlich französische Officiere, „streckt die Waffen!“

„Holt sie Euch!“ ist die Antwort.

Kein Schuß fällt auf dieser Seite, wenn nicht ein Finger unversehens das Schloß rührt. – Auf französischer Seite dröhnt es: „en avant!“ die Pferde bäumen vor dem starren regungslosen Gegenüber, die schwarzen Reiter kommen tosend heran bis auf funfzehn Schritte, Aug’ sieht in Auge – „Feuer!“ commandirt Karl nun und wie mit einem Schlage blitzt’s durch alle Reihen! Die Franzosenpferde bäumen sich und überschlagen mit den schwarzen Reitern, ganze Reihen reißt es in den Sand, die schwarzen Panzermänner gerathen in Unordnung, sie werden ein wirrer, fliehender, bäumender und sinkender Knäuel. Die österreichische Infanterie in sie hinein, der blutende Rest flieht bald in die Aue zurück – Napoleon’s schwere Cavallerie ist gewesen!

Sehen Sie das Kirchlein da mit seinen niederen Kirchhofsmauern? In dieser Kirche dröhnten hundert Gewehrläufe als seltsame Orgelpfeifen und stimmten die Kanonen „dies irae“ im gewaltigsten Basse an. Dieser Kirchhof hat mehr Leichen auf einmal beherbergt, als je vielleicht einer der Erde. Diese schwachen Bollwerke waren weltbedeutende Festung, hier weinten ergraute Krieger Frankreichs vor Wuth und Leid, hier knirschten der wilde Massena, der kühne Lannes – elf Mal an einem Tage ward der Fleck gestürmt, erobert und verloren, lag Mann an Mann, die Brust zerfleischend, eine wilde, wirre Masse, jeder Stuhl, jeder Pflug, jedes Grabkreuz ward zum Bollwerke, unter flammenden und stürzenden Trümmern brach man sich durch das Dorf in die Kirche, von der Kirche in das Dorf Bahn zur Flucht und zum Siege!

„Aspern muß genommen werden!“ ruft von Neuem stets Karl, der schon eine Wunde trägt.

„Wir nehmen es!“ entgegnen seine Tapferen.

Er greift einem Fahnenträger das Panier aus der Hand, er ist der Erste beim Sturme und Siege! Die Nacht sieht zwei blutende, erschöpfte Heere; so kostbar ist der Boden, daß man selbst das Dorf theilen muß und sich beiderseits Besitze finden. Die Vorposten stehen hart an einander – die Nacht bedeckt sie Beide und Sternenthränen flimmern ihr im dunkeln Auge.

Auf der Donau rennen die Brander und Stürmer, die verderbenbeladenen Gefähre, die brennenden und losgehauenen Bäume an Napoleon’s Brücken an, leuchtende Vernichtung auf’s Wasser zeichnend. Jedem kleinen Inselchen hat er schon einen Namen gegeben, „Napoleon“, „Lannes“, „St. Hilaire“ etc. heißen sie; sie sind nur feuchte Hügel zum Ausathmen für Sterbende!

Wie eine Löwenklaue hält ihn Karl’s Heer im Bogen umklammert, er kann sich nicht vom Ufer rühren und nur im Walde, am Wasser sich bergen. – Wüthend bricht er beim Tagesbeginne von Neuem hervor, wie ein angeschossenes Wild, das eine Lichtung gewinnen will – vergebens! Sechs Mal wird Aspern, Eßlingen, auch am Pfingstmontage erstürmt und verloren, Lannes ist zerschossen und stirbt auf der Lobau, die Brücken beginnen zu brechen – die französischen Trommeln wirbeln – en arrièreZurück! – – Napoleon lernt es nach funfzehn Jahren zum ersten Male, was es heißt, besiegt werden, und die Welt hat es vernommen: auch dieser kann fallen!

Ganz Deutschland durchschauert ein Wonnegefühl, die Geknebelten können nur in Grimm und Freude die Nägel in ihre Fesseln drücken, aber sie dürfen nicht jachzen und rufen.

Das bleiche, starre Corsenhaupt sinkt zur wogenden Brust – der Engel von St. Helena rauscht darüber hin – der Imperator, [615] der auf stolzen Rossen und Carrossen, umjubelt von Hunderttausenden hierhergekommen, er schifft einsam, von zwei armen Bauern geführt, auf kleinem, schwankendem Nachen an’s jenseitige Ufer, woher er gekommen.

Die schwimmenden Todten in den Wellen grinsen an den Kahn hinauf.

Das ist die große, gewaltige Lehre – das bedeutet der steinerne, ruhende Löwe vor Aspern!

3000 Franzosenkürasse und 17,000 Gewehre wurden aufgelesen – 7000 Feinde wurden begraben, 5000 blieben verwundet zurück auf dem Felde, in Wien hatten sie noch 20,000 – vier Generale waren todt (darunter Lannes), acht verwundet, zwei gefangen. – Auch 4000 Oesterreicher waren todt, 16,000 verwundet.

Das bedeutet der steinerne, ruhende Löwe bei Aspern vor der Kirche.

Sie haben ihn heuer mit geringer, aber empfundener Feier hier aufgerichtet (er ist aus Sandstein vom Bildhauer Fernkorn), aber nächsten Mai wird es fünfzig Jahre – ein grünes, grünes Pfingsten!

Ist es nun der Mühe werth, daß ich – in dieser Zeit – den langen, langweiligen Weg herausgepilgert, gewallfahrtet bin nach der heiligen Stätte?

Ich bin nicht hier, um die strategischen und diplomatischen Folgen zu untersuchen – am 13. Juli war Karl nicht mehr beim Heere – die ihm das Leben und die Siege vergällt, stehen nun vor dem deutschen Gotte oben mit ihm und werden gerichtet.

Und nun lassen wir die Wolken in blitzdummer Unordnung ziehen und die Sonne neblig scheiden, wir brauchen sie nicht mehr zu unserem Feldzugsplane; ich erhebe mich und besehe nun genauer den Löwen.

Warum haben sie ihn nicht aufgerichtet mit gewaltigen, zerfleischenden Pranken und einer Mähne, die man zitternd vom gewaltigen Brüllen glauben möchte? – Gebt unserer Phantasie eine Stütze, daß wir glauben, sein Geheul dringe bis über den Rhein und die, welche ihn hören, zittern mitten in ihrem Mahle!

Doch sachte, als Deutsche sind wir bescheidene Leute und als Oesterreicher „gemüthliche“ – wir fühlen die Wunden und hören das Blut aus den offenen Herzen tropfen. Der Löwe liegt gerade vor der Kirche auf dem Grunde, den die Tausende Leichen deckten und der sie jetzt überschattet, ohne Hader friedlich, den Knochenarm in den Knochenarm geschlungen, die Geschiedenen miteinander ruhen laßt. Unser Löwe hat die Augen eingedrückt und den Mund, erschöpft – schlafend oder sterbend? – halb offen. Er stützt sein Haupt auf einen Helm, der das N trägt, seine breite Brust ruht auf einer französischen Standarte und mehrere gebrochene Adler Galliens liegen ihm unter den gewaltigen Pranken. Aus seiner Vorder-Weiche dringt eine Speeresspitze, die ihn in der Schlacht verwundet.

Kommt, ihr Städter – ihr Wiener; – was „Mödling“ und „Brühl“ und „hohe Warte“ und „Baden“ und „Heiligenstadt“ mit ihren „romantischen“ Gegenden – kommt hierher in brennender Sonnenhitze und glühendem Staube und gesundet! Dieser Athemzug ist erquickender, als Euere Luft- und Pump-Brunnen – da fließt die Heilquelle für allerlei Beklemmung, Aussatz, Schwäche, Herzleiden und Mattigkeit allerlei Art. Das ist ein Heilort und kein Franzose darf da eine Spielhölle haben!

Aug. Slbstn.




Schutz den Vögeln!
Eine Bitte an alle vernünftigen Menschen. Von Dr. A. E. Brehm.

Die Dummheit und Bosheit der Menschen zeigt sich recht deutlich in der sinnlosen Verfolgung und Vernichtung vieler Thiere, welche unbestritten in hohem Grade nützlich sind. Um auch jene so überaus praktischen Menschen unserer Zeit gleich von vornherein aufmerksam zu machen, bemerke ich, daß es sich hier um einen Nutzen handelt, welcher mit Worten und Zahlen ausgedrückt werden kann und mit Hunderten und Tausenden von Thalern nicht aufgewogen werden dürfte. Namentlich die Vögel sind solche nützliche Thiere, und namentlich sie werden noch immer, selbst von gebildeten und gutmüthigen Menschen, rücksichtslos verfolgt. Noch heut’ zu Tage nageln Dummheit und Bosheit die ohne Zweck, ohne Noth erlegten Bussarde und Eulen, deren Nützlichkeit sie durchaus nicht anerkennen wollen, prahlend an’s Hofthor, als wollten sie sich allen Vernünftigen offen zeigen; noch heute ziehen Dummheit und Bosheit im Spätherbst in den Wald hinaus, um auf der Meisenhütte einer der allernützlichsten Familien unter den Vögeln nachzustellen, obgleich deren Glieder so klein sind, daß jedes einzelne Vögelchen kaum einen Bissen gibt; noch heute geben Dummheit und Bosheit kleinen, nichtsnutzigen Buben das Vogelflintchen in die Hand, um aus dem Kinde frühzeitig – nicht Jäger, sondern mordlustige Todtschläger lieblicher Wesen zu bilden; noch heute sehen Dummheit und Bosheit ruhig zu, wenn Dümmlein und Böslein in den Wald gehen und Vogelnester ausnehmen oder, wie man in meiner Heimath treffend sagt, „ausschinden!“

Mir ist es unbegreiflich, wie man es über’s Herz bringen kann, unsere nützlichen Vögel in der angedeuteten Weise rücksichtslos zu verfolgen. Ich weiß nicht, wie es möglich ist, daß ein fühlender Mensch, anstatt die Vögel an sich zu fesseln, sie von sich treiben kann, sie, denen er so viele schöne, schöne Stunden verdankt, die ihm in jeder Weise angenehm sein müssen. Hat denn derjenige, welcher gleichgültig tausend Leben zerstört, welcher ein fröhliches Herz schon im Keime vernichtet, niemals daran gedacht, was der Vogel ist?! Ist es ihm denn niemals klar und verständlich geworden, daß der Vogel ein poetisches Bild, ein herrliches Gedicht der großen Dichterin Natur ist?!

Heute noch kommen viele zu uns gezogen, siedeln in dem Garten, auf dem First des Hauses, in der Hausflur an, und bitten den Menschen mit Nicken und Neigen des Hauptes, Klappern und Pfeifen und Singen, ihnen doch ein gütiger Gastfreund sein zu wollen. Welch ein freundlich Bild, und wie wenig wird es beachtet!

Der Winter hat sein weißes Schlummertuch über die Erde gebreitet; auf Bergen und in Thälern, auf First und Dach liegt die schneeige Decke. Draußen im Walde ist’s still geworden; blos an den sonnigen Gehängen streifen unter Führung des Buntspechts die lustigen Schaaren der Meisen und Goldhähnchen umher. Tiefer im Walde führt das Zigeunervolk der Kreuzschnäbel sein bewegliches Leben; einzelne von ihnen haben sich wohl schon gepaart und beginnen, im Sturm und Winterfroste am warmen Neste zu bauen. Sonst ist der Wald merkwürdig still: er ist arm geworden und vor dieser Armuth sind seine Bewohner geflohen. Sie kommen nun in großen Haufen zu dem Menschen heran und begehren das Gastrecht; sprich, Menschenkind, vermagst Du es, ihnen dasselbe zu verweigern? Gewiß nicht! Wer könnte dem armen Goldammer, dem Feldsperling, der Meise, dem Finken, Gimpel, Stieglitz, der Amsel, dem lieben „König im Schnee“, dem bunten Zimmermann Specht, den vom fernen Norden hergewanderten Schaaren der Zeisige und Leinfinken, selbst den Nebel-, Raben- und Saatkrähen ihre jetzt gar mühselig zu erwerbende Nahrung kürzen wollen? Wer könnte ihnen, den Schutzsuchenden, geringen Gewinnes halber tückisch Fallen stellen, in welche sie eben die Noth treibt?! Nur ein Mensch, welcher nicht weiß, was die Vögel ihm sind, nicht weiß, was sie ihm sagen, wenn sie, von seinem Ueberflusse gesättigt, singend zu ihm sprechen, zu seiner Freude und Lust; nur ein Mensch, welcher kein Wort von ihrem Gesange versteht. Und man sollte sich doch bemühen, dies zu können. Man frage nur unsern lieben Dichter Mosen, was der Ammer, nachdem er sich vor dem Thore der Scheuer gesättigt, von der höchsten Spitze des Hofbaumes herab seinem Gastfreunde zusingt:

„Horch, ein Vöglein singet:
Wie, wie, hab’ ich Dich lieb!
Singet wieder, das klinget:
Wie, wie hab’ ich Dich lieb!“

Und alle die Andern, welche unser Gehöft umfliegen, sagen Dasselbe, wenn auch vielleicht nicht ganz so verständlich, als er; sie alle werben um unsere Freundschaft. Kaum sind alle Wintergäste vollständig bei uns eingezogen, da erscheinen bereits die Boten des Frühlings wieder im Hofe, im Garten, und wenn sie uns nichts Anderes zu bieten hätten: Grüße vom Frühling und Mai bringen sie alle, Worte des Lebens, Hoffnung zur Freude wissen sie allesammt [616] zu geben. Da, gleich zu Anfange Februars, wenn noch der Winter, der alte mürrische Gesell, seine Herrschaft fest- und die Blumenpoesie unter der starren Decke niederhält, erscheint der immerfrohe, liederreiche Stahr im Garten, fliegt, wie sich’s gebührt, auf des Thurmes höchste Spitze, dort ein Danklied zu singen, und kommt dann zum bewährten Gastfreunde, und bittet und schmeichelt mit lustigen Liedern, welche der Schelm der Golddrossel und der Zippe abgelauscht hat, und komischem Pfeifen, wie er es vom Hirten hörte, oder Krächzen, wie der Heher es ihn lehrte, ihm doch wieder Quartier zu geben für den Sommer. Er scheint seinen Freund förmlich auffordern zu wollen, dem Hause, welches dessen Güte ihm bescheerte, eine Besichtigung angedeihen zu lassen: die es zusammenhaltenden Nägel könnten verrostet sein! – Wenn die Sonne ein wenig wärmer strahlt, kommen Bachstelze und Rothschwänzchen in das Gehöft und den Garten; draußen auf dem Felde und auf den Haideplätzen im Walde die Haidelerchen, „des Aethers Nachtigallen.“ Wenn wir nun auch die Lerchen nicht gerade unsere Gäste nennen können, die ersteren müssen wir zu ihnen zählen. Beide haben so ihre Weise, sich bei uns beliebt zu machen. Bachstelzchen tanzt ihren anmuthigen Reigen auf dem Hausdache vor; Rothschwänzchen grüßt seinen Gastfreund, so oft es ihn erblickt, mit artigen Verbeugungen ohn’ Ende: – ’s sieht allerliebst komisch aus, wenn es sein Körperchen so tief vor ihm neigt; ich glaube, jede Verbeugung ist eine Bitte an ihn, ihm seine Freundschaft zu schenken.

Immer neue Gäste kommen gezogen. Die noch blätterlosen Bäume leuchten im Blüthenschmuck, und schütteln dann ein ganzes Blüthenheer auf den schneefreien Boden herab. Das ist die Einladung für die im fernen Süden Verweilenden, doch ja recht bald in die Heimath zurückzukehren. Laubsänger und Fliegenfänger, Fink und Grünling beziehen den Garten; sie haben auch Viel in ihm zu thun! Denn mit der Meise, dem Baumläufer und allen andern müssen sie jetzt die Blüthen schützen und schirmen vor den sie sonst sicher vernichtenden Insecten. Deshalb sind sie so geschäftig auf Bäumen und Sträuchern und gucken in alle Blüthen scharf hinein. – Von nun an bringt jeder neue Tag neue Gäste. Zum Rothkehlchen, welches schon seit ein paar Wochen in der Hecke wohnte, gesellen sich die singfertigen Grasmücken, die behende Braunelle, der Gartensänger, der komische Wendehals und wie sie sonst alle heißen mögen – und unter ihrem Jubeln und Singen wirken sie alle zu unserem Nutzen, nicht blos zu unserer Freude.

Denn alle Vögel, welche das Haus, das Gehöft, den Garten des Menschen bewohnen, sind nützlich, außerordentlich nützlich, nicht einer von ihnen ist schädlich. Von den 530–560 Arten der europäischen Vögel, ist noch nicht der sechste Theil schädlich! Viele von denen, welche schädlich genannt werden, wiegen den wirklich verursachten Schaden reichlich durch ihren Nutzen auf, welcher aber gewöhnlich nicht erkannt wird. Ich will deshalb zunächst alle wirklich schädlichen und alle nützlichen Vögel unseres Vaterlandes aufführen und den Schaden, der uns von ihnen verursacht wird, mit dem Nutzen vergleichen, den sie uns bringen.

Die wirklich schädlichen Vögel unseres Vaterlandes, deren Verfolgung und bezüglich Vernichtung nothwendig ist, sind folgende:

1. Der Geieradler (Lämmergeier, Bartgeier). Er bewohnt höchst einzeln die Hochalpen und ist dort von Jedermann hinlänglich gekannt. Ich führe ihn nur der Vollständigkeit halber hier auf.

2. Der Seeadler, weil er vom Meeresstrande, seiner eigentlichen Heimath, aus Raubzüge und Wanderungen durch’s feste Land unternimmt und dabei den Fischereien in Flüssen, Teichen und Seen arg zusetzt, auch Hasen und junge Rehe, Lämmer und Zicklein gelegentlich mitnimmt.

3. Alle Edeladler ohne Ausnahme; namentlich der Steinadler, der Königsadler, der Goldadler, die verschiedenen Schreiadler und die Zwergadler. Sie sind kühne Feinde der jagdbaren Thiere und zahmen Heerden, denn sie fangen junges Edelwild, Hasen, Kaninchen, Auer- und Birkwild, Rebhühner, Stein- und Schneehühner, Hausthiere: namentlich junge Ziegen, Schafe, Hunde, Katzen, Trut- und Haushühner, Pfauen, Fasanen, Gänse, Enten, selbst die flüchtigen Tauben (nach eigenen Erfahrungen thut es der Zwergadler). Die großen Arten von ihnen, also Stein-, Gold- und Schreiadler, sind es, welche, wie erwiesen ist, schon mehr als einmal kleine Kinder geraubt haben. Alle Adler bringen dem Menschen gar keinen Nutzen.

4. Der Fischadler. Er ist der größte und furchtbarste Feind aller Fischereien und wird sehr schädlich.

5. Der Milane (Milvus regalis, ater und parasiticus). Erstere rauben Jagd- und Hausgeflügel und junges Niederwild, fischen auch fleißig; letzterer zwingt die Edelfalken, mehr zu fangen, als sie zu ihrer Nahrung brauchen würden, weil er ihnen den schon erhobenen Raub wieder abjagt.

6. Alle Weihen, namentlich der Rohr-, Korn, Wiesen- und Steppenweih. Sie nehmen zwar viele Mäuse von der Erde weg, vernichten aber dabei weit mehr kleine, nützliche Vögel.

7. Alle Edelfalken; namentlich die Jagdedelfalken – welche freilich mehr dem Norden und Nordosten, als unserem Vaterlande angehören – der Wanderfalk und seine Verwandten im Süden Europa’s, der Baumfalk und seine südlichen Verwandten und der Zwergfalk. Sie rauben blos lebende Thiere und namentlich Vögel; denn blos zufällig nehmen sie ein Säugethier weg.

8. Habicht und Sperber. Beide sind heimtückische, abscheuliche Räuber der nützlichen Vögel und weiden außerordentlich schädlich. Die Habichte tragen oft genug selbst Haushühner weg. Beide fangen ebensowohl im Fluge, als im Sitzen, sind gefräßig und ziehen eine zahlreiche Brut heran. Eine unnachsichtliche Verfolgung Beider belohnt sich reichlich.

9. Der Uhu. Er raubt selbst Hasen und verfolgt alle Hühner eifrig. Krähen und Kaninchen sind vielleicht seine Hauptnahrung. Zwar fängt er auch Mäuse; allein der Schaden, den er bringt, überwiegt diesen geringen Nutzen bedeutend.

Außer dem Uhu ist keine andere deutsche Eule schädlich.

10. Der Kolkrabe. Er ist vielleicht durch Vertilgung vieler Mäuse eben so nützlich, als er durch Rauben von jagdbarem Wild und jungem Hausgeflügel schädlich wird.

Zuweilen wird auch die Rabenkrähe schädlich. Einzelne Individuen plündern nämlich gern die Nester kleiner Singvögel aus, nehmen wohl auch ein junges Rebhühnchen, Fasanchen, Haushühnchen auf, fressen die Eier von Auer- und Birkwild, wenn die Mutter auf Augenblicke das Nest verläßt, und richten anderen Unfug an. Da jedoch im Uebrigen die ganze Gesellschaft entschieden nützlich ist, wäre es Unrecht, den Unschuldigen das entgelten zu lassen, was Einzelne verbrechen.

Aehnlich verhält es sich auch mit der Elster und dem Heher; jedoch möchte es schwer sein, so Vieles und Gewichtiges zu ihren Gunsten, wenigstens zu denen der Elster, zu sagen, als bei der Rabenkrähe. Ich zähle die Elster ganz entschieden zu den schlimmsten Feinden des Kleingeflügels und dulde sie nicht in meinem Gehege.

11. Der Raubwürger. Von ihm hat mein Vater beobachtet, daß er sogar eine Amsel abgewürgt hat; sein Name ist also bezeichnend genug. Unter dem Kleingeflügel und seiner Brut richtet er oft bedeutenden Schaden an. Auch der ganz unschuldig aussehende Dorndreher oder Neuntödter ist von dem Verdachte, Vogelnester auszunehmen, nicht ganz freizusprechen.

12. Der große Trappe. Der Nutzen, welchen dieser Vogel durch sein ziemlich wohlschmeckendes Fleisch gewährt, wird aufgewogen und gewiß überwogen durch den Schaden, den er, zumal im Winter, den Saaten zufügt; namentlich auf Rapsfeldern richtet eine Trappengesellschaft im Winter große Verwüstungen an.

13. Die Kraniche. Sie fressen zur Saatzeit und auch zur Zeit der Reife des Getreides nur dieses und brauchen ziemlich viel zu ihrer Nahrung.

14. Alle Fischreiher; namentlich der graue und Purpurreiher, die Rohrdommel und der Nachtreiher. Sie nähren sich von Fischen und nehmen blos gelegentlich einen Frosch oder eine Maus zu sich (Rohrdommel), Auch die Silberreiher sind eben so schädlich, als die bunten Reiher; ich brauche sie jedoch nicht namentlich aufzuführen, weil sie dem Südosten angehören und dort an großen und so fischreichen Morästen und Brüchen leben, daß ihre Nahrung die Wirthschaft des Menschen nicht beeinträchtigt.

15. Alle Säger und Seetaucher, namentlich der Gänse-, langschnäbelige und gehäubte Säger, der Eis-, Polar- und rothkehlige Taucher, sowie auch der Haubensteißfuß. Sie sind sämmtlich Fischfresser und sehr geschickte Jäger, welche den Menschen dadurch beeinträchtigen, daß sie auf süße Gewässer [617] kommen. Dasselbe gilt von den Scharben, und zwar von dem Kormoran und der gehäubten Scharbe.

Mit ihnen ist die Liste der schädlichen Vögel geschlossen; denn die wenigen, welche noch Schaden bringen, sind entweder so klein (wie der Eisvogel), daß der Schaden ein kaum zu beachtender ist, oder sie wiegen den Schaden durch ihren Nutzen auf, wie die Saatgans. Zu letzteren haben wir überhaupt noch manche andere zu zählen, welche leider noch immer als schädliche Vögel aufgezählt werden, weil ihre Verdienste im Stillen bleiben.

Wer hätte nicht schon unsern Hausperling verdammen hören! O, der ist ein Spitzbube, ein Erzdieb, Schelm, Schurke! – anderer übler Nachreden, namentlich hinsichtlich seiner in der That etwas stürmischen Liebeserklärungen, gar nicht zu gedenken! Armer Sperling! Wer hat wohl jemals deine Verdienste anerkannt?! Die Körner, welche Du aus den Aehren des Getreides stiehlst – und stehlen mußt Du, weil dir die Menschen sonst dein Brod vor der Nase wegnehmen, – hat man gezählt, geschätzt und überschätzt, die Kirschen, welche du dir schmecken ließest, die Weintrauben, von denen du dir deinen Zehnten nahmst, gewiß alle in dein Schuldbuch eingetragen; aber wer hat jemals dir zu Gunsten gesprochen? Höchstens dann und wann ein lustiger Kauz, ein Philosoph, dem dein weltgerechtes Wesen und Leben die verdiente Bewunderung entlockte, – weiter Niemand! Ich aber habe dich lieb gewonnen, alter, getreuer Hausfreund, trefflicher Menschenkenner, kluger Gesell! Drum will ich dein Anwalt sein. Mein geneigter Leser mag mir verzeihen, wenn ich bei dem Sperling noch einen Augenblick verweile.

Der Haussperling ist ganz gewiß eine Zeit lang im Jahre schädlich; aber wie lange währt diese Zeit? Kaum zwei Monate! So lange die Kirschen, Trauben und Getreidearten reifen – länger nicht! Wenn er im Winter auf die Kornspeicher fliegt, und sich von dort seinen Bedarf holt, ist es eben blos die Schuld des nachlässigen Besitzers, welcher den Speicher nicht verschloß; deshalb darf dieses ihm gar nicht zur Last gelegt werden. Wegen der wenigen Kirschen und Weinbeeren aber, welche er verzehrt, würde man vielleicht kein so großes Geschrei erheben, wenn man bedenken wollte, daß jeder Arbeiter seines Lohnes werth ist. Und der Sperling ist ein solcher Arbeiter. Auf jede Kirsche, welche er sich zum Lohne erbittet, kommen ganz gewiß hundert Insecten, die er von demselben Baume im Laufe des Jahres ablas; wenn man die Eier rechnen wollte, vielleicht tausend. So ist es auch bei den Trauben; und nur beim Getreide tritt ein anderes Verhältniß ein: er macht sich eben am Getreide für das bezahlt, was er den Gartenpflanzen und anderen Früchten genützt hat. Das, denke ich, ist doch recht und ehrlich gehandelt! Kurz, der Sperling ist eben so nützlich als schädlich; warum ihn also rücksichtslos verdammen und verfolgen?! Er hat außerdem Feinde genug.

So gibt es noch mehrere Vögel, deren Nutzen mit dem Schaden gleich ist; man thut gewiß wohl, auch diese zu schonen. –

(Zweiter Artikel in nächster Nummer.)




Die Hauptstadt des himmlischen Reiches.

Wir haben die Chinesen bis jetzt größtentheils durch Engländer kennen gelernt, durch Engländer, welche durch die auswärtige, chinesische Politik innere, parlamentarische Politik machten. Cobden stürzte den Premier Palmerston über dessen chinesische Politik. Palmerston „appellirte an das Land“ und bekam eine glänzende Majorität. Aber wie?

Vor und während der Wahlen trat der chinesische Bäcker Allum auf, der auf Befehl des Gouverneurs Yeh von Canton – des Erzfeindes der Engländer – diesen vergiftetes Brod gebacken, Alles gestanden hatte und zum Tode verurtheilt, item auch erschossen worden war. Vor und nach den Wahlen hatte Yeh 175,000 Menschen köpfen lassen u. s. w. Nichts erschien sonach nothwendiger, christlicher, verdienstlicher, als Canton zu bombardiren und große Löcher nach China hineinschießen zu lassen, just wie es auf Palmerston’s Geheiß geschehen war. Dieser bekam also die glänzendste Majorität. Hinterher freilich – aber hinterher – kam’s heraus, daß der Bäcker Allum nicht gestanden, nicht verurtheilt, nicht erschossen, nicht Brod vergiftet, kurz nichts von alledem gethan, was ihm zu Gunsten Palmerston’s aufgebürdet worden war. Selbst englische Geschworne hatten ihn freigesprochen, obgleich der von Palmerston nach China geschickte Staatsanwalt Anstey in seiner Anklage die Geschwornen himmelhoch gebeten, sie möchten den Bäcker Allum verurtheilen, obgleich er unschuldig sei, weil dessen Freisprechung wie Feigheit u. s. w. erscheinen könne. Auch das Scheusal Yeh verwandelte sich bei näherer Besichtigung und persönlicher Bekanntschaft (die Engländer nahmen ihn ja gefangen) in einen äußerst genialen und großen staatsmännischen Charakter. Diese politisch gefärbten, erlogenen, im besten Falle blos von Canton abgeleiteten Darstellungen der Chinesen wurden den englischen Zeitungen von deutschen, französischen u. s. w. nachgebetet und Palmerston demgemäß in allen Sprachen gepriesen.

Der ehrliche Gützlaff, der nach einem dreißigjährigen persönlichen Leben und Studium in China vor etwa einem Jahrzehente nach Deutschland kam und die Chinesen nach einem dreißigjährigen Leben mit ihnen beinahe in den Himmel erhob, war und ist vergessen. Eben so ging’s dem braven Le Huc, der China und die Chinesen aus dem Innersten heraus kennen gelernt hatte und darstellte. Er war allein und einzig durch das ganze Innere von China gewandert, bis nach Tibet hinauf. Aber, kann man einwenden, auch richtige Darstellungen der Engländer stimmen darin überein, daß die Cantonesen eine schauderhafte Bande seien u. s. w., die Chinesen also Barbaren und Hallunken.

Richtig. Die Cantonesen sind Summa Summarum der liederliche Auswurf China’s. Alle Genies, Taugenichtse, Hals- und Beutelschneider, See- und Landräuber und die professionelle weibliche Demoralisation scheint sich von ganz China her in Canton zusammenzufinden. Die Gondeln der Prostitution, die Messerverschlucker und Jongleurs, die dem Schwerte und Galgen entlaufenen gröbsten Verbrecher, die Roués und Bonvivants, der Bodensatz von Schmugglern, Matrosen und Seeräubern haben ihren Brennpunkt, ihre Hauptstadt, ihre Waarenlager in Canton, welches daher von allen übrigen Chinesen scharf gehaßt wird. Auch versteht man nun den Yeh besser, diesen massiven, chinesischen Jupiterkopf, der das Amt übernommen hatte, diese Residenz aller Taugenichtse, Verbrecher und liederlichen Genies zu regieren.

Wir sehen schon, daß Canton nicht China ist. Im Gegentheil, China nach Canton zu beurtheilen, wäre viel schlimmer, als ganz Deutschland nach den gemüthlichen Wienern, oder nach den spitzigen Berlinern, oder nach den hyperökonomischen Frankfurtern oder nach den groben Hanauern.

Auch dann lernen wir die Chinesen, die nicht zu Canton gehören, noch durchaus nicht kennen, wenn wir sie nach ihrem Benehmen gegen die Engländer der Palmerston’schen Politik beurtheilen. Als die Engländer opiumkriegerisch zum ersten Male in das Innere China’s eindrangen, machten sich anständige Familien thatsächlich tausendweise selbst todt, nur, um nicht in die Hände der „rothborstigen Barbaren“ zu fallen (Vergl. die furchtbaren Gemälde Gützlaff’s aus dessen eigener Anschauung). Jetzt suchen Chinesen, wenigstens Cantonesen, die Engländer tausendweise todt zu machen, so daß der glänzende Friedens-Vertrag, der ihnen ganz China eröffnet, vielleicht ganz China grimmiger verschließt, als je. Wenigstens darf es so bald kein Engländer wagen, sich als Freund unter den Chinesen zu zeigen. Gegen andere Fremde sind sie bekanntlich übertrieben höflich und liebenswürdig.

Doch enfin, sie sind doch nun in Peking, wo die Russen, beiläufig gesagt, längst diplomatisch stark vertreten waren, um sich und ihren blühenden russisch-chinesischen Handel zu schützen, ohne daß sie vorher bombardirt und Opiumkriege geführt hatten, so daß sie nun auch – wegen des Contrastes, den die Engländer bilden, stärker in Peking sind, als je.

Sehen wir uns die Hauptstadt des himmlischen Reiches etwas näher an, in welchem beinahe ein volles Drittheil der ganzen lebenden Menschheit wohnt, die Compaß, Buchdruckerkunst und sogar das Pulver erfunden hatten, als die Europäer noch die Kunst studirten, auf Bärenhäuten zu schlafen.

Peking breitet sich in der Mitte eines sehr fruchtbaren, überaus [618] cultivirten Districtes aus, voller schattiger Haine und Grotten, aus deren üppigen Laubdächern goldenschimmernde Tempel, malerische Bonzenklöster und garten- und springbrunnenumhegte Privatresidenzen hervorleuchten. Dazwischen kreuzen sich Labyrinthe von Wegen und Straßen mit endlosem Gewimmel von Last- und Lustwagen, seiden auswattirten Tragstühlen, Frucht- und Gemüsekarren, Fuhrleuten mit Mukden-Butter oder mongolischem Arac. Aus diesem malerischen, vielfarbigen Wirrwarr ragen die Hälse und Rücken schwerbeladener Dromedare, die russische Producte weither von Kiachta und vom Amur herbeiwiegen und chinesische Theekisten, Seidenstoffe, Schnitzwerke u. s. w. wieder davontragen. Näher nach der Stadt drängen sich schwarze Zöpfe, gelbe Gesichter und blaue Kittel um zahllose „Theater im Freien“, Luftspringer, Jongleurs, Tabuletkrämer oder Verbrecher, deren Köpfe aus schweren Bretern, die sie tragen müssen, hervorragen.

Endlich kommt man durch dieses Ameisengewimmel von Menschen in die Nähe eines der sechzehn Thore, die alle ganz egal aussehen in ihrer thurm- und festungsartigen Architektur und ihren blauen Dächern. Man windet sich durch einen großen Bogengang, der in einen großen, umhegten Raum führt, wo Wachtposten und Beamte verschiedene polizeiliche Functionen vorzunehmen scheinen. Der große Raum dient hauptsächlich als Exercirplatz für Truppen. Am Ende desselben muß man durch einen zweiten Bogengang, an dessen Seiten Cavalleriewege auf die schweren, dicken, breiten Mauern hinaufführen. Sie umgeben 45 Fuß hoch die tatarische und 30 Fuß hoch die chinesische Stadt und sind so breit, daß vier Wagen oder acht Reiter nebeneinander passiren können. Unten aus den Wänden und von oben drohen zahlreiche Kanonen. Die Mauern beider Stadttheile haben einen Umfang von 24 englischen Meilen. Mit den Vorstädten bedeckt Peking mehr Raum, als das größte Städteungeheuer London. Nach den Namen der Thore und Straßen zu schließen, haben die Chinesen mehr Geschmack und Poesie, als wir Europäer. In London heißt Alles Victoria- oder Albert-, Wellington-, Königs-, Königinnen-, Herzogs-, Russel-, Jones-, John-, Johnsen-, Johnston- (zu Deutsch: Schulz-, Schulze-, Schultz- und Schultzen-) Straße, Platz, Square oder Terrain, in Berlin Alles Friedrichs-, Wilhelms- oder gar Puttkammerstraße, in Amerika hören die Namen ganz auf und die Straßen sind blos numerirt. Die zwei nördlichen Thore Pekings heißen übersetzt (wodurch sie freilich langstielig und lächerlich werden): „Thor erhabener Tugend“ und „Thor ewigen Friedens“. Ersteres ist stets geschlossen und wird blos für den Einmarsch siegreicher Armeen (die ganz aus der Mode gekommen zu sein scheinen) geöffnet. Das „Thor weiser und gelehrter Männer“ führt in das Professoren- und gelehrte Mandarinen-Viertel.

Aus dem Gebäude-Meere der Stadt ragen 700 Tempel und Klöster hervor, nach unsern Begriffen seltsam und bizarr in Bau, und Construction, aber phantasiereich, pompös und farbenglänzend. Im größten Buddhisten-Tempel sitzen fortwährend 300 Priester bewegungslos auf Postamenten an den Tempelsäulen.

Nach außen bilden die Häuser der Straßen in der Regel nur einförmige, polizeilichen Classen- und Standesregeln angepaßte Formen. Die Chinesen wohnen aber nicht nach der Straße, sondern nach dem Hofe und Garten zu. Hinter den Eingängen (und das sind hauptsächlich die Straßenfronten) entfaltet sich oft feenhafte Gartenpracht mit Parks, Felsen, Cascaden, Wasserfällen, klaren Flüßchen mit goldenen und silbernen Fischchen, üppigen Blumenbeeten, Zierteichen, Springbrunnen, Brücken, Grotten, Gondeln, luftigen Gartenhäusern, seidenen Vorhängen, weichen Polstern, elfenbeinausgeschnitzten Ornamenten, goldenen, silbernen und porzellanenen Geräthen aller Art. Vor den Fenstern dieser Gartenhäuser Außen-Gallerien ringsum, an deren Geländern üppige Schlinggewächse sich wiegen, blühen und duften. In diesen Gärten künstliche Berge mit zarten, glockenklingenden Thürmchen, von denen man weit umher über die Stadt und Haine, Gärten, Parks und künstliche Wälder blickt, auch auf den Kinhaï-See, den goldenen, umgeben von reichtöniger Vegetation, von Kiosks, Tempeln und Villen.

Dies gilt im vollsten Maße allerdings nur von den kaiserlichen Gärten, aber die der Großen, Reichen und Wohlhabenden sind wenigstens alle in diesem Style gehalten, wenn auch nur im dichtesten, kleinsten, überladenen Miniatur.

Die kaiserliche Residenz mit den Gärten bildet eine ganze, große, roth und gelb ummauerte Stadt für sich selbst: Tsen-king-sing, d. h. die verbotene Stadt. Die sonst ummauerte innere Stadt heißt Neï-tsching. Hier fallen zunächst die beiden großen, geraden, vierundzwanzig Schritte breiten Hauptstraßen durch ihren Läden- und Verkehrsreichthum auf. Die wogenden Meere von Menschen darin verstehen sich von selbst. Man sieht sie vor ihnen selber, wie den Wald vor Bäumen, nicht, desto mehr riecht man sie. Im Allgemeinen kleiden sich die Chinesen weder aus zum Schlafengehen, noch um, nachdem sie aufgestanden. Außerdem gibt’s 20–30,000 ganz obdachlose Menschen in Peking, die des Nachts schlafen, wo und wie sie eben können. Dazu kommt, daß die Leute allen Koth und Mist, den sie und Andere machen, sorgfältig in großen Steingefäßen aufbewahren, bis sich Gelegenheit zum Verkaufe oder zur Verwendung auf eigenen Grundstücken findet. Aus diesen und anderen Gründen sind die Chinesen nichts weniger, als „ruchlos“.

Die Läden haben keine Schilder, sondern große, seidene Fahnen an langen Stangen vor den Eingängen mit Verzeichnissen der verkäuflichen Artikel. Dies gibt über dem Gewimmel unten ein malerisches, heiteres Flattern und Flappen von oben. Viele Verkäufer in den Läden fabriciren gleichzeitig und zwar vor den Thüren, wo auch die meisten Handwerker schmieden und schneidern, pochen und hämmern, schnitzeln und schneiden. Zwischen dieser Arbeit unter freiem Himmel treiben sich Bonzen-Bettler (für Klöster), Kunststückmacher aller Art, Köche mit Kuchen und Speisen, Tabaks-, Schnupftabaks- und Opiumhändler, Geldverleiher, Buchhändler und Papierlaternen-Höker umher.

Diese Nordseite der Stadt gehörte früher ausschließlich dem Militair, das aber mit der Zeit dem Handwerker- und Handelsvolke Platz machte. Jetzt sind die 80,000 tatarischen Truppen Pekings in verschiedene Districte oder „Banner“ von verschiedenen Farben vertheilt.

Auch gibt es eine „Bürgerwehr“ oder Nationalgarde, Siang-dschung, welche aber, ganz wie bei uns, eigentlich blos die Nachtwächter ersetzt und des Nachts durch die Straßen patrouilliren muß. Vom Militair sind die eigentlichen Chinesen ausgeschlossen. Das Militair ist ein Privilegium der Tataren, die vor mehr als zwei Jahrhunderten China eroberten. Die Südstadt gehört den Civil-Chinesen, in welche keine Soldaten oder Staatsbeamte ohne Erlaubniß gehen dürfen. Deshalb sieht’s in dieser eigentlichen militair- und beamtenlosen Südstadt auch lustiger und heiterer aus, als je im Norden. Hier, besonders in den Straßen Ta-tschalar und San-yeou-keou sieht’s aus, als könnten die Chinesen nichts weiter, als sich den ganzen Tag auf das Höchste amüsiren, und dazu allerhand Delicatessen (darunter delicat zubereitete Mäuse, Ratten und Hunde) genießen. Man findet hier die reizendsten und großartigsten Blumen- und Fruchthandlungen. Eine andere Hauptstraße, Vaï-lo-tsching, gehört fast ausschließlich den Künstlern, Schauspielern, Musikern, Taschenspielern, Schlangenbeschwörern und Rhapsoden, die, wie einst Homer in Griechenland, den Leuten auf den Straßen ihre eigenen und anderer Poeten Schöpfungen mit Instrumentalbegleitung vorsingen. Dahinter der Richtplatz, wo die schweren Verbrecher allemal im Herbste hübsch mit einander aus freier Hand geköpft werden. Nur politische Verbrecher können auch im Frühling wie im Sommer und Winter geköpft werden. Der Henker ist blutroth gekleidet, hat aber eine weiße Schürze vor und eine lange, gerade in die Höhe stehende Feder auf der rothen Mütze. Die zum Tode Verurtheilten werden eines schönen Octobermorgens auf den Richtplatz geführt, begleitet von Polizei, einem kaiserlichen Beamten und dem Henker. Der Beamte hat das Todesurtheil für Jeden, vom Kaiser eigenhändig untersiegelt, bei sich; er liest eines nach dem andern vor. So wie eins abgelesen ist, ergreift der Henker den „Verlesenen“, bringt ihn auf die Kniee, beugt ihm den Kopf herunter und schlägt ihn ab, ehe der Gebogene daran denkt, sich wieder aufzurichten. Die Andern sehen zu, bis die Reihe auch an sie kommt.

Aus Vaï-lo-tsching kommen wir in die Straße der Juweliere und Edelsteinschleifer, welche in die Straße der Theater führt. Wenigstens findet man hier sechs Tempel der dramatischen Kunst täglich von 12 Uhr Mittags bis 12 Uhr Nachts offen und activ, so daß die Leute 12 Stunden hinter einander immerwährend spielen sehen können, notabene, ohne etwas dafür zu bezahlen. Nur besondere Sitzplätze und Logen sind nicht unentgeltlich zugänglich. Aber das Parterre unten ist frei für Jedermann, der das Gedränge und den Geruch nicht scheut, und den Zopf vorher wie ein Halstuch umbindet, damit er wenigstens nicht im Gedränge leide.

Eine große Rolle spielen die Tempel, von denen aber bis jetzt [619] Niemand etwas Gescheidtes weiß. Nur der größte Buddha-Tempel, Thian-Thau, innerhalb eines Mauerumfangs von zwei englischen Meilen, ist dem Namen nach und wegen der grandiosen Procession bekannt, mit welcher ihn der Kaiser jedes Jahr einmal besucht. Die Truppen bilden Spalier, durch welche der „Sohn des Himmels“, begleitet von hundert Instrumental- und tausend Vocalmusikern, welche die Fundamental-Glaubenshymne (geschrieben vor mehr als 4000 Jahren) spielen und singen, und von einem glänzenden Beamtengefolge, einherzieht, mit dem Stifter der verbreitetsten Religion, dem Königssohne Buddha, seine Huldigung darzubringen.

Das sind einige erste Blicke auf die Hauptstadt eines Staates, der viel über 300,000,000 Einwohner zählen soll. So wenig Bestimmtes wir bis jetzt auch sehen, so viel ist handgreiflich, daß nur die frechste Unverschämtheit dieses Volk mit einer solchen Hauptstadt und Tausenden blühender Städte und vielen Millionen der meister- und musterhaft bestellten Felder und Gärten, mit Druckereien, Zeitungen und Bibliotheken in jedem Dörfchen als „Barbaren“ bezeichnen kann. Im Gegentheil ist Alles, was man Cultur und Luxus nennt, so ungeheuer und fein und übertrieben ausgebildet, daß man die Chinesen der „Ueberfeinerung“ und Verweichlichung beschuldigen muß. Mit dieser Feinheit werden sie auch nie Freunde der Engländer werden, zu denen nach dem neuesten Kriege auch die Franzosen gehören.

Friede und Vertrag sind in einer Vorstadt Pekings abgeschlossen und unterzeichnet worden. Aber in Canton steht folgende Proclamation der „Bravo’s“ an allen Straßenecken und wird nach Kräften ausgeführt:

„Die Nation der rothhaarigen ausländischen Hunde ist bekannt als eine Nation von Dieben, die oft unser blumiges Königreich der Mitte heimsuchen. Wir, die Bravo’s der Provinz Kwang-tung, bekriegten in dem Jahre 22 des Tao-kwang den Ellot (Capitain Elliot) und enthaupteten Pama (?) am südlichen Ufer. Es ist Schade, daß wir sie damals nicht alle umbrachten. Sie würden dann nicht im 11ten Monat vorigen Jahres mit Hülfe der französischen Teufel, vorgebend, daß sie keine Feindseligkeiten beabsichtigten, die Mauern unserer Stadt zerschmettert, 10,000 Häuser und Läden zerstört, das Volk seiner Habe beraubt, Frauen entehrt und friedliche Leute mit Knütteln niedergeschlagen haben. Sie erließen Proclamationen, nach denen sich unser Volk richten sollte. Wir, die Untergebenen des himmlischen Thrones, hochgepriesen vom Kaiser, wollen uns diesen Barbaren nicht unterwerfen. Es sind blos 2–3000 englische und französische Hunde in unserer Stadt. Wir aber zählen nach Tausenden von Tausenden. Wenn nur Jeder von uns eine Waffe trägt, und jeden dieser Fremden, der ihm begegnet, umbringt, werden wir sie bald alle getödtet haben. Jeder, der mit einem dieser ausländischen Hunde handelt oder ihm Lebensmittel gibt, soll ergriffen und nach den Gesehen bestraft werden. Jeder in Amt und Brod dieser Hunde muß binnen hier und einem Monat seine Stelle verlassen. Wenn nicht, werden seine Angehörigen ergriffen und behandelt, als wenn sie selbst Roth-Kopf-Rebellen wären. Jede Ortschaft, die unsren Bestimmungen entgegenhandelt, wird der Erde gleich gemacht, und deren Bevölkerung bestraft. Jeder, der Blut und Leben hat, ist verpflichtet, den Kummer unseres Kaisers zu theilen. Wer dagegen Bedenken hat, wird als Dieb behandelt, Jeder kann ihn tödten. Die Amerikaner, Spanier und andere fremde Nationen stehen in gutem Vernehmen mit unserm Volke. Die Zerstörung und die Stauung des Verkehrs ist allein durch die englischen und französischen Hunde verursacht worden.“

Die Belohnungen für Engländer- und Franzosenköpfe sind doppelter Art, private von den „Vornehmen“ und officielle, staatliche von dem neuen Gouverneur von Canton. Der jetzige Gouverneur hat folgende Proclamation und folgende Preisliste an die Straßenecken schlagen lassen (in der von Engländern und Franzosen siegreich eingenommenen Stadt!):

„An die Soldaten:

1) Jeder, der einen englischen oder französischen Häuptling fängt, erhält eine Belohnung von 5000 Dollars.

2) Jeder, der einen barbarischen Rebellenkopf abschneidet erhält 50 Dollars.

3) Jeder, der einen barbarischen Rebellen lebendig fängt, erhält 100 Dollars.

4) Jeder, der einen Verräther fängt, wird mit 20 Dollars belohnt.

5) Jeder, dem es gelingt, ein großes Dampfkriegsschiff zu verbrennen, erhält 10,000 Dollars.

6) Jeder, der ein kleineres Dampfschiff verbrennt, erhält 2000 Dollars und wird für künftige Belohnungen empfohlen.“

Dies gilt gegen die Engländer und Franzosen.

Der Friede ist in Peking unterzeichnet: ganz China steht den Engländern und Franzosen offen – mit den Proclamationen obiger Art an den Straßenecken. Das ist keine Oeffnung, sondern ein sehr kostbarer Verschluß, hinter welchem andere Völker handeln und profitiren mögen, aber nicht die „heiligen Alliirten“.

Nutz und Lehre hieraus: Man soll weder einzeln, noch in Gesellschaft in die Häuser und Länder der Leute einbrechen, sondern hübsch anklopfen, ob sie etwas kaufen oder verkaufen oder (dem Bettler) geben wollen.




Blätter und Blüthen.


Eine seltsame Cur. Der Zufall hatte mich während der ersten Wochen meines Aufenthaltes in Paris im Jahre 1854 meine Wohnung in einem freundlichen Hause am südlichen Ende des Boulevard Bourbon nehmen lassen. Die Aussicht ging auf den Arsenalcanal und einen Theil des Platzes Mazas, bekannt durch sein großes Zellengefängniß. Von dem Arsenalcanal gehen zwei kleine Canäle, an welchen die Wäscherinnen singend und plaudernd ihre Arbeit verrichten, bis zu der Gegend, wo die Rue de la Contrescarpe beginnt. Meine Wirthsleute waren ein sehr junges, vielleicht ein Jahr verheirathetes Ehepaar, dessen ganze Familie in einem kleinen, vier Monate alten, rosigen Knäbchen bestand, dem Abgott des Vaters, wie der jungen hübschen Mutter. Herr Bernard, so hieß der junge Ehemann, war ein kleiner Beamter (Commis) im Finanzministerium; die junge Frau, Tochter eines würdigen Gewürzkrämers aus dem Marais, hatte ihrem Gatten wohl auch einige Tausend Franken jährlicher Rente als Mitgift mitgebracht, und so lebten denn die beiden jungen Leute mit einem Einkommen von 3–4000 Franken ganz glücklich und behaglich. Denn so hübsch Madame auch war, so tugendhaft war sie auch, und ihre Ehe wurde nicht durch Auftritte gestört, wie sie bei einem großen Theil der Pariser Gesellschaft so lange an der Tagesordnung sind, bis man sich gegenseitig „arrangirt“, d. h. sich die Erlaubniß gegeben hat, zu thun und zu lassen, was Jedem gefällt. Indessen – man kennt die Unbeständigkeit alles irdischen Glücks und die Versuchungen Asmodi’s.

Herr Bernard gerieth eines Tages in eine Gesellschaft Jugendfreunde, die einen Club im Café Bercy hatten und Monsieur Bernard zu einer Clubsitzung einluden, bei der man sehr viel Haut-Sauterne trank und jenes entsetzlich langweilige Domino spielte, in welchem die Franzosen von heut zu Tage einen Ersatz für vielen andern verbotenen Zeitvertreib zu suchen scheinen.. – So ein Junggesellen-Club ist für einen Ehemann eine sehr gefährliche Klippe, die Erinnerungen und Gewohnheiten des Garçonlebens tauchen wieder auf, der verführerische Einfluß des Kneipenlebens macht seine Macht geltend, und nur zu bald war auch für Bernard das Café Bercy seine zweite Heimath geworden, in die er sich flüchtete, sobald der Dienst in seinem Bureau zu Ende. Amelie, so hieß seine junge Frau, war über diese Umwandlung ihres Mannes, der jetzt oft drei bis vier Mal in der Woche spät Abends mit einem kleinen Rausch nach Hause kam, außer sich. –

Meine Wohnung war nur durch eine ziemlich dünne Wand von dem Schlafgemach der beiden Gatten getrennt, und so war ich Ohrenzeuge von Gardinenpredigten, die an Beredsamkeit und Energie des Ausdrucks denen Bossuets gleichkamen.

Aber – consuetudo est altera natura, sagt der Lateiner. Bei Monsieur Bernard war das abendliche Kneipenleben schon wieder zu sehr andere Natur geworden, als daß die Vorstellungen seiner jungen Frau, die jedenfalls weiter als er sah, und in diesem Anfang den Ruin ihres Glückes erblickte, ihn hätten von seiner Gewohnheit abbringen können.

Eines Abends – es war im Monat October – kam denn Herr Bernard gegen elf Uhr wieder aus dem Café Bercy mit einer sehr weinheitern Laune nach Hause zurück. Ich war noch wach und hörte, wie er mit einem lustigen Liedchen trällernd in das Zimmer seiner jungen Gattin trat.

„Guten Abend, meine Liebe,“ sagte er und bemühte sich vergebens, eine feste Haltung anzunehmen.

Die junge Frau antwortete nichts; offenbar kämpfte in ihrer Brust ein gewaltiger Entschluß. Endlich hatte sie sich so weit gefaßt, daß sie sprechen konnte, und indem sie ihren berauschten Mann bei der Hand ergriff und ihn zur Wiege des kleinen Gustav führte, sprach sie mit einer Entschlossenheit, welche den Zuhörer beben machte:

„Höre, Bernard, auf das, was ich Dir jetzt sage. Deine Lebensweise, die Du seit einiger Zeit führst, ruinirt uns; sie tödtet unser Glück und das unseres Kindes. Aber es ist ein langsamer, qualvoller Tod. Nun höre mich: ich will nicht diese Marter eines täglich sich wiederholenden Unglückes, ich fürchte mich vor diesem langsamen, qualvollen Tode und deshalb [620] schwöre ich Dir: das nächste Mal, daß Du wieder trunken nach Hause kommst, stürze ich mich mit meinem, mit unserem Kinde in den Canal.“

Bei dieser Drohung erbebte ich unwillkürlich, denn ich fühlte die Energie heraus, die in dem Tone der jungen Frau lag, und wußte auch, daß Bernard, so gutmüthig er auch war, doch auch seine Schwäche hatte. Indessen mußte die Drohung auch auf ihn Eindruck gemacht haben, denn er versprach seiner Frau, sich zu ändern, und in den nächsten zwei Tagen ging auch Alles gut. Bernard schien wieder in dem kleinen, freundlichen Hause am Boulevard Bourdon eingezogen zu sein.

Aber der Teufel läßt seine Beute nicht so leicht fahren! Am dritten Abende begegneten Bernard bei seiner Rückkehr vom Bureau einige Clubmitglieder und am Abend desselben Tages kam der leichtsinnige Gatte mit einem stürmischen Rausche nach Hause. Es war nach zehn Uhr, und ich lag noch im offenen Fenster und blickte hinaus in die sternenhelle Octobernacht und in die große Stadt, die vor mir ausgebreitet lag. Die junge Frau sprach kein Wort beim Eintritte ihres Mannes, stillschweigend setzte sie den Leuchter, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch, ging noch ehe der bestürzte Ehemann ein Wort stammeln konnte, nach der Wiege und eilte, schnell, wie ein Vogel, mit ihrem Kinde zur Treppe hinunter, aus dem Hause und auf den Canal zu. Der Unglückliche stieß einen wilden Schrei aus und stürzte seiner Gattin nach. Doch diese hatte einen zu großen Vorsprung und er kam eben am Canal an, als er den plätschernden Fall des Kleinen in’s Wasser hörte. während Amelie, wie von Entsetzen über ihre That ergriffen, nach dem Hause zurückfloh. Es war im October und die Nacht schon empfindlich kalt, doch Bernard stürzte, ohne sich nur einen Augenblick zu bedenken, dem Kinde nach, ergriff das arme Kleine, dessen weite Nachtkleidchen sein schnelles Untersinken verhindert, und schwamm mit ihm an’s Land, wo er, bebend vor Frost und zitternd vor Freude, einen heißen Kuß auf des geliebten Kindes Mund drücken wollte – und entsetzt zurückfuhr, als er statt den rosigen Kindeslippen der borstigen Schnauze seines Hauskaters begegnete, der, in des kleinen Gustavs Kleider gewickelt, dem bestürzten Vater seinen Dank für die Rettung aus dem kalten Bade entgegenmiaute.

Ueber die weitere Entwickelung dieser zur Komödie so plötzlich verwandelten Tragödie schweige ich, da sie sich der Leser selbst denken kann; doch will ich nur so viel noch hinzufügen. daß Herr Bernard fortan wieder der solideste Ehemann wurde und Amelie die glücklichste Gattin, die sich nie wieder über ihres Mannes abendliches Ausbleiben zu beklagen brauchte. Er war curirt.
W.




Diesterweg, der würdige unermüdliche Kämpfer für Volksbildung und Aufklärung, erhebt in seinem „Pädagogischen Jahrbuch“ für 1859 von Neuem seine Stimme gegen jene Partei, welche die Umkehr der Wissenschaft predigt und das Licht der Sonne gern verdunkeln möchte. Unter den vielen lesens- und beherzigenswerthen Aufsätzen heben wir besonders seine Worte zur Säcularfeier von Schiller’s Geburtstag hervor. Dieselben lauten im Auszuge ungefähr:

„Ob Schiller für Lehrer noch etwas Besonderes ist und werden könne, ist das noch eine Frage? Es wäre nicht nöthig, aber es ist so. Theile der Lehrer, der angehende, wie der gereifte, die Begeisterung der ganzen Nation für diesen herrlichen Mann, der, ohne arm zu werden, die Armuth von Millionen in Reichthum verwandeln kann; aber lerne er auch als Lehrer speciell von Ihm! Nicht blos, wie Alle, die Begeisterung für Alles, was groß und menschenwürditg heißt, sondern auch speciell: seine Tapferkeit im Kampfe mit den widrigsten Verhältnissen, die ihm in keiner Periode seines Lebens fehlten, unter welchen seine ökonomische Beschränktheit und seine kränkliche Leibesbeschaffenheit nicht die kleinsten waren (sein Leben war selbst eine Tragödie), seine Anstrengung zur Reife der Ausbildung und Vollendung („Perfectibilität“) bis zum letzten seiner Tage – seine Leidenschaft des Schaffenstriebes, denn keine Begeisterung ist ohne Leidenschaft – seine Grundsätze und Principien für wahre, menschliche Bildung und Cultur! Von ihm, in dem sich nicht blos die veredelte deutsche Natur, sondern die edle Menschheit selbst offenbart, muß man lernen können, wie man Menschen erziehen und bilden kann und soll. Frage man sich – schmerzlich und wider Willen berührt von den Mißklängen unserer Tage – ob Er darauf ausging, seine Zeitgenossen und Nachfahren in die Enge von kirchensatzungen einzumauern – ob von ihm der Rath herrührt, die Jugend durch Gedächtnißwerk zu belasten und niederzudrücken – ob er das Nachsprechen und Nachglauben empfahl – ob er das Uniformiren der Geister für pädagogische Aufgabe erachtete! Wie Er gelebt, so hat er gedacht und gewollt: zuoberst die Selbstständigkeit des Geistes, die Freiheit im Empfinden, Denken und Wollen, die Selbstbestimmung nach den Grundsätzen der gewonnenen und eroberten Erkenntniß und sittlichen Bestimmung – das Streben nach der Einheit mit dem ganzen menschlichen Geschlecht, nicht mit einer Partei nach der Mahnung der gepriesenen „Bekenntnißtreuen“, sondern nach der Forderung der „Wahrheitstreuen“ und der Treuen gegen redliche Ueberzeugung „aus Religion“ – den Grundsätzen huldigend, daß das Denken wichtiger sei, als das Gedachte, daß das Verarbeiten der Stoffe die Hauptsache sei bei allem Lernen und Bilden, daß es überall auf die Erweckung der Selbstthätigkeit ankomme, daß das passive Verhalten zu überwinden, die gottgegebene, individuelle Natur des Zöglings zu respectiren und auszubilden, der Einzelne in eigenthümlicher Weise dem Ganzen anzuschließen sei. Ueberlege man von Tausenden seiner Andeutungen und Aussprüche nur die folgenden, vergleiche man sie mit dem, was heut’ zu Tage als Resultat pädagogischer Weisheit den Lehrern aufzudringen versucht wird:

„Immer strebe zum Ganzen, lebe im Ganzen, schließ’ an das Ganze Dich an!

„Gib dem Zögling die Richtung zu freier Entwickelung, handle stets nach dem Bedürfniß seiner Jahre und Du darfst Dich der Vollendung seiner Individualität getrösten.

„Das edelste Vorrecht der menschlichen Natur ist, sich selbst zu bestimmen und das Gute um des Guten willen zu thun. Wehe dem Bestreben, die Unterjochung des Geistes als die Aufgabe der Erziehung zu betrachten und zu empfehlen!

„Religionsunterricht soll man nicht eher ertheilen, als bis sich das Bedürfniß dazu in dem Kinde kund gibt. Jede Verfrühung rächt sich durch naturwidrige Folgen.

„Nicht durch Satzungen, sondern durch die Erweckung der Gefühle legt man den Grund zu edler Menschlichkeit.

„Das Wesen der Religion liegt nicht im Lehrgebäude, nicht im System, nicht in überkommenen Worten, sondern in der lebendigen Unmittelbarkeit des Gefühls.

„Ein Kind ist ein heiliger Gegenstand, eben so heilig, wie das Sittengesetz.

„Religions- wie politische Gesetze sind gleichmäßig verwerflich, wenn sie eine Kraft des menschlichen Geistes fesseln, wenn sie ihm in irgend etwas Stillstand auferlegen.“

Also unser allverehrter Schiller.

„Vergleiche man damit,“ fährt Diesterweg fort, „was die deutsche Pädagogik bisher wollte, was aber die, welche von „überwundenen Standpunkten“ reden, nicht mehr wollen.“

Diese Proben dürften genügen, um auf die trefflichen Grundsätze des „Pädagogischen Jahrbuchs“ aufmerksam zu machen und dasselbe allen Freunden echter Volksbildung zu empfehlen.




Avis. Das furchtbare Schicksal der mit dem Hamburger Dampfschiffe Austria verbrannten und untergegangenen Passagiere (von 600 wurden nur 70 gerettet) hat eine so allgemeine und große Theilnahme erregt, daß wie uns den Dank unserer Leser zu verdienen glauben, wenn wir in der nächsten Nummer eine ausführliche und authentische Schilderung dieses entsetzlichen Unglücks geben. Wir freuen uns, einen Bericht aus kundiger Feder versprechen zu dürfen, der (nach Mittheilungen eines Geretteten) sowohl über das Schiff und seine Fahrt, wie über die Katastrophe selbst genaue Mittheilungen bringen wird.




Berichtigung. Herr Hofrath Winter aus Ohlau gibt eine nähere Erklärung zu dem in Nr. 38 der Gartenlaube mitgetheilten Factum („Leyer und Schwert“), daß beim Ausbruche des Befreiungskrieges eine Jungfrau Breslau’s, welche das schönste blonde Haar besaß, dieses sich abschneiden ließ und verkaufte, um diesen einzigen Schmuck, den ihr Gott gegeben, auf den Altar des Vaterlandes niederzulegen. – Es war dies, nach seiner Angabe, ein Fräulein Nanni von Schmettau in Bergel bei Ohlau in Schlesien, die Tochter des im Jahre 1817 in Bergel verstorbenen Oberst von Schmettau. Dem Einsender obiger Nachricht ist um so mehr Glauben zu schenken, da er zu jener Zeit Bürgermeister in Ohlau war.




Ein Buch für Alle!

In unserem Verlage erscheint in Bändchen von 12 bis 15 Bogen und ist in allen Buchhandlungen zu haben:

Deutsche Criminalgeschichten
von
Jod. Temme,
Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
Preis à Bdchn. nur 12 Ngr.

Aus der Feder eines Fach-Mannes (früherem Criminaldirector in Berlin), der wie kein anderer deutscher Schriftsteller es versteht, den schwierigen Stoff der Criminalistik zu beherrschen und in eben so klaren wie ansprechenden Bildern zur Anschauung des Laien zu bringen, verbindet dieses Werk in ausgezeichneter Weise mit dem Zwecke der Unterhaltung zugleich den der Belehrung.

Die Tendenz des Werkes gibt der Verfasser selbst in der Vorrede mit kurzen Worten an: „Die nachfolgenden Erzählungen beruhen auf wahren Thatsachen. Sie sind nur in eine novellistische Form gebracht. Dieses Letztere aus einem einfachen Grunde. Hätte ich sie nur actenmäßig erzählen wollen, ich hätte, namentlich in der ersten Erzählung des ersten Bändchens, fast nur Grausen und Abscheu erregen können. Dadurch unterhält man weder, noch belehrt man. Ich aber wollte Beides, vorzüglich belehren durch Unterhaltung.“

Die Sammlung wird höchstens 8 bis 10 Bändchen à 12 bis 15 Bogen zu dem sehr billigen Preise von – 12 Ngr. – umfassen. Einzelne Bande kosten den dreifachen Preis. – 3 Bändchen sind bereits erschienen.
Magazin für Literatur in Leipzig.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wieder in Leipzig.