Die Gartenlaube (1860)/Heft 18

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[273]

No. 18. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.

Wir streben nach Volksbildung! – Wer hat vor hundert Jahren, wo die Bildung noch ein Fremdling im deutschen Volke war, mit tieferm Blick und schärferm Urtheil den Werth der Wissenschaft höher geschätzt und den verdumpfenden Einfluß orthodoxer Weltanschauung entschiedener von sich abgewiesen, als der große König Friedrich II.? Seine unsterblichen Worte hierüber lauten wie folgt:

„Es finden sich falsche Staatsmänner, die in ihren beschränkten Begriffen, ohne in die Sache tiefer einzugehen, geglaubt haben, es sei leichter, ein unwissendes und dummes Volk, als eine gebildete Nation zu regieren. Das heißt aber wirklich stark schließen, da die Erfahrung lehrt, daß, je dümmer das Volk ist, es desto eigensinniger und hartnäckiger sei und die Schwierigkeit, dessen Eigensinn zu besiegen, weit größer als die, ein um Vernunft anzunehmen hinlänglich gebildetes Volk von einer gerechten Sache zu überzeugen!“

Wir kämpfen noch immer gegen das Vorurtheil, das den Fürsten eine übermenschliche und übernatürliche Macht andichten will, vor der die Rechte des Volkes zurückstehen müssen! – Friedrich der Große aber sprach es schon vor hundert Jahren aus: „Ein Fürst ist der erste Diener und der oberste Beamte des Staates!“

Wir suchen immer noch nach künstlichen Lösungen, um Verfassung und Landesvertretung ihre richtige Stellung im Staatsleben zu verschaffen. – Der große König aber hat vor hundert Jahren hierüber bereits das Tiefste und Wahrste in folgenden Worten niedergelegt: „Mir scheint, daß, wenn eine Verfassung heut zu Tage als Muster der Weisheit gelten sollte, es die englische wäre. – Da ist das Parlament Schiedsrichter zwischen Volk und König; und dieser (der König) hat alle Macht Gutes, aber gar keine Böses zu thun!“

Wir streben nach Gleichheit der Rechte, nach Abschaffung der Geburts-Privilegien und nach alleiniger Geltung der geistigen Begabung! – Friedrich der Große ging uns auch mit diesem Streben voran. Er sagt hierüber: „Die Justiz, das Finanzwesen, die Politik, der Kriegerstand sind Zierden einer hohen Geburt; aber im Staate wäre Alles verloren, wenn die Geburt mehr gälte als Verdienste. Eine Regierung, die einen so irrigen, abgeschmackten Grundsatz befolgte, würde die traurigsten Folgen davon empfinden!“

Wir haben noch immer viel zu schreiben und zu lehren, um die Achtung des einen Glaubens in den Augen von Andersgläubigen zu heben und die staatlichen Bevorzugungen und Hintansetzungen in diesem Punkte zu bekämpfen. – Der große König hat das Weiseste und Wahrhafteste hierüber bereits vor Hundert Jahren erkannt und anerkannt. Er sagt hierüber: „Es gibt keine Religion, welche in Betreff der Sittenlehre von der andern sehr abwiche. Daher können sie der Regierung alle gleich sein, welche also Jedem die Freiheit läßt, auf welchem Wege es ihm beliebt in den Himmel einzugehen. Nur soll Jeder ein guter Bürger sein. Mehr verlange man von ihm nicht!“ – Ueber dasselbe Thema schreibt er an die Fürsten: „Ihr seid das Haupt der bürgerlichen Religion Eures Landes! Diese besteht in Rechtlichkeit und allen sittlichen Tugenden. Es ist Eure Pflicht sie ausüben zu lassen. Besonders Menschenliebe, welches die Haupttugend jedes denkenden Wesens ist. Die geistliche Religion überlasset dem höchsten Wesen!“ – „Die Politik eines Fürsten verlangt meiner Meinung nach, daß er den Glauben seines Volkes nicht berühre und vielmehr, so gut er kann, die Geistlichkeit seiner Staaten und seiner Unterthanen zur Sanftmuth und Duldung anleite!“

Noch immer haben wir wegen Ungleichheit der Steuern zu klagen. – Friedrich der Große aber sprach bereits hierüber: „Um solche Fehler zu vermeiden, muß der Fürst stets den Zustand des ärmeren Volkes im Auge haben und sich öfter an die Stelle der Bauern und Handwerker versetzen und zu sich selber sagen: wenn ich in der Classe der Bürger geboren wäre, deren Arme ihr Capital sind, was würde ich vom Fürsten fordern? – Was ihm da der gesunde Verstand eingibt, das ist seine Pflicht zu thun.“ – „Es gibt in den meisten Staaten Europa’s Länder, wo die Bauern an der Scholle haften, Leibeigene ihrer Edelleute sind. Das ist unter allen Verhältnissen das unglücklichste, welches die Menschen am meisten empört. – Sicherlich ist kein Mensch geboren, um der Sclave seines Nebenmenschen zu sein!
V. Z.


Die Wolfsgrube am Superior-See.
Von F. Fenneberg.
(Schluß.)

Winters, der den Charakter des rothen Mannes genau kannte und in Folge andauernden Verkehrs manche seiner Gewohnheiten angenommen, folgte dem Beispiele des Indianers, und sie blieben ungefähr eine Stunde in so schweigsamer und lautloser Haltung, daß selbst ein Feind, der sie gesucht, hart an ihnen hätte vorübergehen können, ohne sie zu entdecken. Dann erhob sich der Indianer langsam, lauschte aufmerksam, blickte prüfend auf den Himmel und flüsterte, gleich als fürchte er, die Bäume und Felsen könnten ihn hören:

„Kein Auge kann Fußstapfen auf dem graslosen Felsen sehen. Der Manitou des Tages schwebt hoch auf seinen feurigen Flügeln. Der Pfad meines weißen Bruders führt zu dem Rauche des Wigwams seiner Väter. Laß uns gehen!“ Er kehrte sich um und ging in den pfadlosen Wald, und der Trapper dicht hinter ihm.

Sie bedurften keines Compasses außer dem der Natur, um sie auf ihrem Wege nach den Fällen am Fuße dieses ungeheuren Sees zu den Wohnstätten des weißen Mannes zu leiten – zu dem nun berühmten Sault St. Marie – und ehe die letzten Strahlen der untergehenden Sonne verschwanden, hatten sie bereits viele Meilen ihres Weges zurückgelegt. Da sie den ganzen Tag hindurch, ohne anzuhalten, marschirt waren, so mußten sie sich nach einem Ruheplatz umsehen, und Winters war der Erste, der hiervon sprach, obgleich sein Gefährte in Folge seiner Wunden von ihrem schnellen und anhaltenden Marsche am meisten gelitten hatte.

[274] „Weiße Fichte,“ sagte er, „die Sonne wird gleich untergehen, die Nacht kömmt heran und es ist Zeit, daß wir daran denken, wo wir unser Lager aufschlagen.“

„Die Nacht kommt für den Müden so willkommen, als der Tod dem von der Feuerqual Gefolterten,“ sagte die Weiße Fichte.

„Ich schäme mich nicht zu sagen, daß ich müde bin. Es war ein verwünscht langer Marsch, und ich bin weder ein Wolf noch ein Cariboo,“ erwiderte Winters.

„Mein Bruder ist stark, sein Fuß ist schnell und er ermüdet nicht auf dem Pfade.“

„Ich weiß, daß ich groß und stark bin, aber am Ende bin ich doch nur von Fleisch und Blut.“

„Der gewaltige Flügel des Adlers muß ruhen, der schnellfüßige Hirsch sich niederlegen im grasigen Tiefland, der sehnige Stör seine Floßfedern rasten in der Untiefe, Alle müssen ruhen, nur nicht der gute Manitou.“

„Und die großen Feuercanoes (Dampfschiffe), von denen ich Dir oft erzählte.“

„Der rothe Mann kennt nicht die feuerbeschwingten Häuser der Blaßgesichter auf den großen Gewässern.“

„Es ist so wahr, als die Religion der Indianer oder irgend eine andere, aber dies hat nichts mit dem zu thun, was ich will. Meine Gebeine schmerzen mich, als wäre ich wie Maiskorn zerquetscht worden, und ich bin so hungrig wie ein Bär im Frühjahr.“

„Der Manitou gab uns die Erde als einen Ruheplatz. Der dichte Wald schützt ihn vor dem kalten Hauch der Nacht, und der Stern flammt von seinem Wigwam, um seinen Kindern als Leuchte zu dienen!“

„Das ist Alles wahr, Weiße Fichte, aber wenn ich mich nicht irre, so muß eine Höhle, in der Du und ich mehr als einmal Schutz vor dem Sturm und der Kälte gefunden, ganz in der Nähe hier sein.“

„Das Ohr des Todsenders (Winters war wegen seiner Geschicklichkeit mit der Büchse, die, von seiner Hand abgefeuert, sichern Tod brachte, von den Ojib-was-Indianern so genannt worden) vergißt nicht die Worte, die in sein Ohr geflüstert worden, noch sein Auge den Berg, Felsen oder Strom, auf denen er einmal gerastet.“

„Aber die Höhle, Weiße Fichte!“

„Mein blasser Bruder sehe sich um.“

„Ja, da ist sie, ich kenne jetzt den Platz gar wohl,“ und von dem Wege gehend, klimmte er auf eine felsige Klippe und das hohe Gras und dichte Buschwerk, das den Eingang zur Höhle verdeckte, bei Seite schiebend, zeigte er dem Indianer die niedrige und enge Mündung der Höhle.

Ein Augenblick der sorgfältigsten Prüfung, ob die Höhle nicht ein Zufluchtsort wilder Thiere geworden, genügte sie zu überzeugen, daß dem nicht so war, worauf sie sich in die Höhle begaben und von dem Wilde, das sie am Morgen in Schlingen gefangen, ein kräftiges Mahl bereiteten. Nachdem sie die Oeffnung der Höhle sorgfältig mit noch mehr belaubten Zweigen verdeckt hatten, legten sie sich auf den steinigen Boden und suchten die Ruhe, deren sie so sehr bedurften.

War ihre Ruhe auch sicher? Beinahe zur selben Stunde, als sie aufbrachen, waren dunkle Gestalten, unermüdlich und blutdürstig wie der Wolf und geräuschlos wie der fallende Schnee, ihrer Fährte gefolgt und warteten jetzt auf einen günstigen Augenblick, um sie zu Gefangenen zu machen. Schlaft zu, so lange Ihr könnt, wackere Brüder, denn bald wird ein Erwachen kommen, verbunden mit Gefahr, Blutvergießen und selbst Tod. Schlaft zu, denn Ihr wißt nicht, schlafend in eingebildeter Sicherheit, wie bald die Glocke schlagen wird, deren Laut Euer unglückliches Schicksal ankündigt!

Mitternacht ging vorüber, und ein dunkler Gegenstand, gleich einer großen Schlange, kroch langsam und geräuschlos nach der Mündung der Höhle, und das den Eingang verbergende Gebüsch ward vorsichtig bei Seite geschoben. Das Sternlicht, das in die Höhle einen schwachen Schein warf, war indeß hell genug, um die in tiefen Schlaf versunkenen zwei Gestalten sichtbar zu machen. Nach einem Augenblick ertönte ein schwacher Ruf, gleich dem eines halb träumenden Nachtvogels, und Alles war still.

Eine andere Gestalt und wieder viele andere erschienen am Eingang der Höhle, der schrille Kriegsruf (war-whoop) ertönte in der stillen Nacht, Krieger um Krieger füllten die Höhle, sich auf den Trapper und seinen Gefährten werfend und Beide mit Lederriemen fest bindend, während sie im Schlafe auf den blumenbedeckten Pfaden des Traumlandes wandelten. Welch’ ein Erwachen aus diesem Schlafe! Wie schrecklich war es, daß sie sich als die Gefangenen der wilden, rachsüchtigen und grausamen Ojib-was fanden! Fest gebunden brachten sie die Nacht, scharf von einem Theil des Indianerhaufens bewacht, zu, wobei die rothen Teufel, die selbst bei dem wehrlosen Zustand ihrer Gefangenen ihrer Neigung, ihre Feinde zu foltern, nicht widerstehen konnten, fortwährend ihre Arme und Füße, die so fest zusammengeschnürt waren, daß sie stark aufschwollen, mit der scharfen Spitze ihrer Scalpmesser stachen oder mit den Feuersteinspitzen ihrer Pfeile, die sie in dem wohlunterhaltenen Lagerfeuer glühend machten, brannten. Sie wußten, daß sie für den grausamsten Tod, den indianische Wildheit erfinden konnte, bestimmt waren und daß sie keine Aussicht oder Gelegenheit zu entfliehen haben würden.

Als der Morgen anbrach, wurden Winters und die Weiße Fichte theilweise von ihren Banden befreit und mit Lebensmitteln versehen. Nachdem ihr Frühstück vorüber war, brachen die Indianer auf, und die Gefangenen in ihrer Mitte, schlugen sie den Pfad ein, der nordwärts nach der Heimath der Ojib-was an den Ufern des Kam-au-is-tique führte. Spät in der Nacht ruhten sie aus, wurden wieder gebunden und mißhandelt, und dann ward bei der ersten Morgendämmerung die Reise wieder fortgesetzt.

Es war Mittag, als die wilden Krieger mit ihren Gefangenen die Wigwams der Ojib-was erreichten. Ohne ein Wort zu sprechen und ohne einen grüßenden Blick gingen sie durch das Dorf und führten ihre Gefangenen in den Gefängniß-Wigwam, der in der Mitte des Dorfes gelegen war. Da wurden sie gelassen, Beide gebunden an Händen und Füßen, und jeder Krieger eilte nach seinem Wigwam.

Obgleich aller Hoffnung zu entkommen beraubt, und obgleich sie wußten, welch qualvoller Tod ihrer wartete, so konnte doch dadurch die lebhafte und sorglose Gemüthsart Winters’ nicht zerstört werden; denn kaum hatte der letzte Indianer den Wigwam verlassen, als er sich zu seinem Gefährten hinrollte und halblachend sagte: „Ich glaube, unser Spiel ist ausgespielt. Alles aus mit uns, wie die Ratte in der Falle.“

„Die Weiße Fichte kann brechen, aber nie sich beugen.“

„Ja wohl, aber Du wirst verwünscht zersplittert werden.“

„Die Weiße Fichte wird mit dem Kriegsgesang auf den Lippen nach den glücklichen Jagdgründen wandern.“

„Ich werde es auch, wenn ich muß, aber wenn ich eine gute Gelegenheit ersehe, so will ich ihnen meinerseits Gelegenheit zu einer langen Jagd geben, ehe sie meinen Scalp erwischen.“

„Ching-wau-konce wird sterben!“

„Wir sind aus einer schlimmeren Klemme als diese entwischt, und warum nicht auch aus dieser?“

„Laß den Todsender meinen Worten lauschen! Letzte Nacht, als die schwere Hand des Schlafes auf jedem Augenlide ruhte, außer meinem, als der Mond und die Sterne durch die schwarze Sturmwolke verhüllt waren und der Nordwind murmelte, als er durch den Wald strich, als der See ein klagevolles Lied gleich einem Grabgesange sang, als die Blätter der Bäume längs des Pfades rasselten, gleich dem Rasseln vieler schuppiger und zorniger Schlangen, da kam eine Stimme zu dem Ohre der Weißen Fichte und er trank ihre Worte. Die Tod weissagende Eule ruhte auf einem entlaubten Zweige über ihm, und er wußte, daß die dunklen Geister des Verhängnisses auf den Flügeln des Sturmes ruhten. Die Worte, die geflüstert worden, mögen nicht wieder erklingen, aber es wird kein anderer Mond über die athmende Gestalt der Weißen Fichte aufgehen! Die Blätter sagten es ihm, der heisere See murmelte es, die schwarzen Geister sangen es, und die Eule, als sie mit ihren Flügeln sein Gesicht schlug, krächzte es in seine Ohren. Das Canoe wartet an dieser Seite des Todesflusses, um ihn über die schwarzen Fluthen zu tragen, und eine Geisterbraut hat in dem neuen Wigwam an dem jenseitigen Ufer ein Feuer angezündet und wartet auf ihn. Ching-wau-konce wird sterben!“

Da Winters wußte, daß es nutzlos sei, die abergläubischen Gefühle des Indianers zu bekämpfen, so machte er auch keinen Versuch hierzu, da er selbst von trüben Ahnungen ergriffen war. Er bemühte sich jedoch, seinen rothen Bruder aufzuheitern und Mittel zur Flucht zu ersinnen, und so ging die Zeit vorüber, bis die Indianer, die Beide gefangen genommen, mit geschwärzten Gesichtern [275] eintraten, sie fortführten und an einen verkohlten Pfahl vor der Thür des Berathungshauses der Ojib-was banden.

Nachdem die verschiedenen Formen und Ceremonien, die bei solchen Gelegenheiten üblich, erfüllt waren, nachdem die Pfeife geraucht worden und der Medicin-Mann feierlich die Runde gemacht und seinen Sitz eingenommen, erhob sich der „Brüllende Wind“, der Häuptling der Ojib-was, und sprach:

„Die Hände der Weißen Fichte und des Blaßgesichtes sind mit dem Blute unseres Bruders befleckt. In den tiefen Wildnissen des Waldes, fern von dem beschützenden Arm seines Stammes, trafen sie ihn. Sein Scalp hängt in ihrem Wigwam, und sein Blut schreit laut um Rache. Der Uebel verkündende Rabe und die Raubthiere haben seinen Leichnam in Stücke zerrissen, seine unverletzten Gebeine bleichen im Sonnenschein und Sturm, und sein Geist wandert fern von den glücklichen Reichen der Ruhe!“

Die Weiße Fichte richtete seine Gestalt zu ihrer ganzen Größe auf, warf stolz einen Blick der Herausforderung auf seine Feinde, seine dünnen Lippen kräuselten sich verachtungsvoll, aber er sprach kein Wort. Nicht so Winters, der die Anklage als falsch erklärte, sagend:

„Es ist eine elende, gemeine Lüge!“

„Das Blaßgesicht spricht nicht gut,“ erwiderte der Häuptling.

„Gut oder bös, ich spreche die Wahrheit.“

„Die Winde haben es für die Ohren der Ojib-was gesungen, und das strömende Blut hat unsere Nüstern erreicht.“

„Die Winde sind falsch und das schwarze Blut faul!“

„Der Manitou des Windes spricht stets die Worte der Wahrheit und Weisheit. Seine Zunge ist nicht gespalten und seine Wege nicht krumm. Das Blaßgesicht soll sprechen, die Krieger werden ihn hören!“

„Die Weiße Fichte und ich bewachten unsere Biberfallen, die wir an dem Ufer des Guargontwa aufgestellt. Wir waren müde von der Jagd und träumten nicht von Gefahr, doch des Jägers Augen sind stets offen. Als wir daselbst lagen, da fiel ein Laut in unser Ohr, gleich dem sanften Tritt des Panthers, wenn er in den dunklen Stunden der Nacht auf Raub ausgeht. Wir stellten uns schlafend, wachten jedoch, wie die Schlange den Vogel bewacht, der um sein kleines Nest kreiset. Die „Kriechende Rebe“ der Ojib-was stahl sich vorsichtig durch die dicken Zweige, sein Bogen ward gespannt und der Pfeil auf die Armbrust gelegt. Er zögerte einen Augenblick und sah um sich. Er glaubte, die Weiße Fichte und der Todsender schliefen, aber sie schliefen nicht. Dann schnellte der giftgetränkte Pfeil von der schwirrenden Sehne, als ein Todesbote, wie er hoffte, für seinen rothen Bruder. Euer Manitou jedoch lenkte den Pfeil seitwärts, und als die Kriechende Rebe vorwärts sprang mit seinem Tomahawk, um ihr Blut zu trinken, begegneten sie ihm in tödtlichem Kampfe, und er fiel, wie ein teuflischer Mörder fallen sollte! Die Kriechende Rebe war ein Dieb! Er würde seinen rothen Bruder und mich ermordet und dann unsere Fallen gestohlen haben. Nun macht vorwärts mit Eurer Berathung und thut Euer Schlimmstes.“

„Das Blaßgesicht spricht wie der müßige Wind zu der Herbstblume, und flüstert ihr von den Freuden des Sommers zu, während der Frostkönig seine Flügel mit Federn besetzt, um den Flug der Zerstörung zu beginnen.“

„Bindet mich los, wenn Ihr es wagt, und ich will Euch diese Lüge verschlucken machen!“

Der Häuptling kehrte sich, ohne die Worte des Todsenders weiter zu beachten, und sprach zu der Gruppe der Krieger, die ihn umringte, und es währte nicht lange, so war ihre Berathung geschlossen. „Die Weiße Fichte von den Ojib-was und der Todsender von den weißen Männern müssen den Foltertod erleiden. Laßt den weißhaarigen Medicin-Mann – ihn, auf dessen Haupt die Weisheit von hundert Wintern gefallen – zu dem der große Manitou in der Stunde des Schweigens, wie während des Heulens des Sturmes und des Brüllens des Donners kommt, sprechen.“

„Nicht durch die Hand seiner Brüder, noch auf diese muß der Flecken von eines Mörders Blut fallen,“ sagte der Medicin-Mann. „Laßt sie uns den wilden Thieren des Waldes, deren Herzen sie sich angemaßt haben, vorwerfen. In die Wolfsgrube sollen sie geworfen werden! Ich habe gesprochen.“

Fürchterlich, wie dieser Urtheilsspruch war, verstanden die Weiße Fichte und der Todsender gar wohl, was es hieß, in die Höhle der wilden Wölfe, durch Hunger und Durst toll gemacht, geworfen zu werden; und doch kannten sie die ganze Schrecklichkeit des ihnen bevorstehenden Schicksals nicht. In Stücke zerrissen zu werden, zu fühlen, wie das Blut aus vielen klaffenden Wunden strömt, und zu leben, bis ihre noch immer schlagenden Herzen aus ihrer Brust gerissen wurden, war ein schreckliches Schicksal, aber noch immer nicht so schrecklich, als die teuflischen Folterqualen, die vorbereitet waren und vollzogen worden wären, wenn der Medicin-Mann nicht diesen Ausspruch gegeben hätte.

In einer stark gebauten Holzumzäunung befanden sich zwei große schwarze Waldwölfe, die wildesten, kräftigsten und unzähmbaren Thiere des Wolfsgeschlechtes, und beide rasten in Folge der Wasserscheu (Hydrophobia), die sie ergriffen hatte. Aller Nahrung beraubt und fortwährend durch den Anblick von Wasser, das man ihnen vorhielt, wüthend gemacht, das wilde Geheul, die mit blutigem Schaum bedeckten Lippen, die schnappenden Kinnbacken und feurigen Augen, all dies sagte, wie gut sie vorbereitet waren, den schrecklichen Urtheilsspruch der Ojib-was über die wackern und kühnen Gefangenen auszuführen.

Von ihren Banden befreit und von einem Haufen grimmiger Krieger umgeben, wurden sie nach der Wolfsgrube gebracht. Ching-wau-konce ging mit festem Schritt und ungebeugtem Haupte in ihrer Mitte, ohne in seinen Zügen irgend eine Bewegung zu verrathen, seine Augen sahen herausfordernd und stolz auf seine Feinde, und über seine Lippen kam der Schlachtgesang. Winters, der eben so tapfer wie sein Gefährte war und den Tod eben so wenig fürchtete, stieß furchtbare Verwünschungen und Flüche aus.

Als sie die Wolfsgrube erreicht hatten, und das Dach geöffnet war, riß die Weiße Fichte ein Messer aus dem Gürtel eines Kriegers und sprang auf das Dach. Einen Augenblick zögerte er und dann, ehe noch der Schall seines Schlachtgesanges in der Luft erstorben war, sprang er hinab zu den rasenden Thieren.

Der Todsender schritt, einen schauerlichen Fluch ausstoßend, vorwärts, um seinem Gefährten zu folgen. Schon hatte er die Hand auf das Dach gelegt, als plötzlich ein Gürtel von Wampum um seinen Hals geworfen und eine Adlerfeder in sein Haar geflochten wurde. In demselben Augenblick fühlte er auch den Druck einer warmen Hand und sah vor sich ein Indianer-Mädchen zu seinen Füßen knieen, die mit feuchtem Blicke zu ihm hinauf schaute.

Er kannte die Bedeutung dieses unerwarteten Zwischenfalles, er war gerettet, denn die „Feder des Raben“ von den Ojib-was hatte ihn im letzten Augenblicke zu ihrem Gatten erwählt, und von da ab war sein Leben gesichert.

Mit geöffnetem Rachen und ausgestreckten Klauen stürzten sich die tollen, wilden Bestien auf Ching-wau-konce, ehe er noch den Boden der Grube erreicht hatte. Er faßte den, der ihm am nächsten war, bei der Kehle mit der linken Hand, und zwar so fest, als hätte seine Hand Sehnen von Stahl, während er mit der Rechten das Messer mehrere Male tief in den Körper des Wolfes begrub. Er hielt die Bestie so lange und handhabte sein Messer so kräftig, daß endlich das tödtlich getroffene Thier im Todeskampfe zusammensank. Dann warf er es weit von sich und kehrte seine Aufmerksamkeit auf den andern, der ihn fortwährend gebissen hatte.

Er führte einen mächtigen Stoß mit dem Messer auf das Thier, aber das Messer senkte sich auf den dicken Schädel und zersplitterte bis zum Handgriffe. Er war nun waffenlos! Das Herz der Weißen Fichte verzagte indeß nicht und er faßte den Wolf mit beiden Händen bei der Kehle, nahm seine Riesenstärke zusammen, um ihm die Kehle zuzudrücken, und die hängenden Füße und schlaffen Kinnladen zeigten, daß das Leben der Bestie erloschen war.

Dieser Mann hatte mit seiner überlegenen Kraft und mit unbeugsamem Muthe einen der wildesten Bewohner des Waldes erwürgt, der durch Hunger und Wasserscheu rasend geworden war.

Befreit von seinen wilden Feinden, setzte sich Ching-wau-konce, ohne daran zu denken, seine Wunden zu verbinden, in den dunkelsten Winkel der Grube und sein Haupt auf seine Kniee beugend, erwartete er ruhig sein Schicksal. Er wußte nur zu wohl, was es sein würde: lange und furchtbare Tage schrecklicher Schmerzen und dann ein qualvoller Tod, den keine Feder zu beschreiben vermag.

Winters, so unerwartet von Folterqualen und Tod befreit durch eine der schönsten Töchter der Ojib-was, Rabenfeder, die Tochter des Anführers des ganzen Stammes, genannt der „Brüllende Wind“, stand wie bewegungslos, bis die weiche Hand des Mädchens die seinige sanft ergriff und ihn freundlich nach ihrem Wigwam führte.

[276] Daselbst angekommen, schloß sie den Eingang mit der Hirschhautdecke, und als sich der Trapper auf einen Haufen Pelze setzte, so kniete sie zu seinen Füßen und bedeckte ihr Antlitz mit ihren Händen, wartend, bis die dunkle Wolke von seiner Seele gewichen. Das im Walde aufgezogene Mädchen, furchtlos, unerzogen, aber weichherzig, wußte sehr wohl, daß sein Herz für seinen rothen Bruder trauerte, daß Worte unpassend und nutzlos in einer solchen Stunde seien, daß im Schweigen eine tiefe Beredsamkeit herrsche, und daß der Sonnenschein sicher dem Sturme folgen werde, daß die Zeit Blumen auf den Gräbern der Geliebten blühen lassen und Hoffnung und Glück das sorgenbeladene Herz wieder freudig machen würden.

Die Nacht hatte ihren ebenholzschwarzen Mantel über die Erde ausgebreitet, ehe irgend eines von ihnen sich rührte. Das Mädchen stand auf, bereitete ein Nachtmahl, stellte es vor ihren Gatten und bat ihn, er möchte essen.

„Das Herz des Todsenders weint um Ching-wau-konce. Sein Körper ist schwach vom Fasten, seine Füße sind ermüdet von dem langen und steinigen Pfad, und seine Glieder sind wund von den tief einschneidenden Riemen. Der Gesang der zum Himmel sich aufschwingenden Lerche wird die dunkle nachtschwärmende Eule verscheuchen, und Rabenfeder wird süße Lieder für ihren Gatten singen und ihn in seinem Wigwam froh und freudig machen.“

Winters folgte, von den Liebkosungen seines jungen Weibes gerührt, ihrer Aufforderung und hielt ein köstliches Mahl, während dessen Rabenfeder sich für eine kurze Zeit entfernte. Dann kam sie wieder und beobachtete ihn schweigend, sehr zufrieden, daß es ihr gelungen, ihrem auf eine so sonderbare Weise gewonnenen Herrn zu gefallen. Als sein Hunger endlich befriedigt war, füllte sie das Calumet (Pfeife), zündete es an und brachte es an seine Lippen. Dann an seiner Seite niederknieend und ihm liebend in’s Antlitz sehend, sprach sie:

„Die Rabenfeder weiß, daß von dem Flügel der Trauer dunkle Schatten auf das Herz des Todsenders fallen. Sie rettete ihn vor den giftigen Bissen der wilden Thiere. Möge er nicht trauern um die Weiße Fichte. Während mein Herr aß, habe ich die Weiße Fichte besucht. Seine Feinde sind todt! Er war ein gewaltiger Krieger und Jäger und hat die Wölfe getödtet; aber deren Gift fließt in seinen Adern, und er hat nur wenige Tage zu leben, und die sind qualenreich und schrecklich!“

„Ja, Feder, Du rettetest mich; verflucht sei Richard Winters, wenn er es je vergißt.“

Er erhob sie vom Boden und setzte sie zu sich. „Was können wir für die Weiße Fichte thun, Rabenfeder?“

„Der Todesengel schwingt seine Flügel über ihn.“

„Kann denn nichts für ihn geschehen, um ihn wenigstens von der Qual und Pein der Tollheit zu erlösen?“

„Die Rabenfeder,“ erwiderte sie, „weiß, wo die dunklen Todeswolken ihren Thau destilliren, wo die Mandragora wächst, die Nachtvögel ihr Nest bauen und der Medicin-Mann der Ojib-was seine Zauber webt. In den dunkelsten Schatten wächst die Wurzel, die den Schlaf des Todes bringt, schweigend, schnell und schmerzlos! Der Tag ist am Sterben und die Nacht bricht an. Die Rabenfeder wird die lebenzerstörende Wurzel ausgraben und sie der Weißen Fichte geben, und er wird in das Land der Geister gehen, so ruhig als ein Kind einschläft, das sich auf den schwingenden Zweigen der Birke wiegt.“

„Ich danke Dir, Feder – ich danke Dir. Bring ihm die Wurzel, sie wird ihn wenigstens retten vor Qualen und –“

Rabenfeder hatte nur auf seine Beistimmung gewartet, und während er noch sprach, war sie bereits auf dem Wege, seinen Wunsch zu erfüllen. Rückkehrend, eilte sie zu der Wolfsgrube, in der sich Ching-wau-konce befand, und ehe noch der Vollmond eintrat, sang die „Weiße Fichte“ bereits ihren Jubelgesang in den glücklichen Jagdgründen jenseits des Grabes!




Reisende.
Von Fr. Gerstäcker.
Mit Illustrationen von L. Loeffler.
(Schluß.)

Wie schon gesagt, bilden die Badereisenden den Uebergang von Zweck- zu Vergnügungs-Reisenden. Viele von ihnen wurden nämlich durch einen wirklich kranken Körper, oder einen gesunden Arzt – der sich auch einmal eine Sommererholung gönnen wollte – in ein Bad geschickt – Andere wollen theils Menschen sehen, theils ihr Geld am grünen Tisch verlieren, theils auch – und das ist besonders die schöne Hälfte der Badegäste – einen Platz und Gelegenheit suchen, um gesehen zu werden; die schlechte Badekost verzehren sie dann nebenbei.

Mit einem derartigen Schwanken zwischen Zweck und Vergnügen, mit diesem ewigen ängstlichen Streben, das Angenehme mit dem Nothwendigen zu verbinden, ist aber nun ein für alle Mal Nichts anzufangen. Das Dasein solcher Badegäste theilt sich deshalb auch – solange ihre sogenannte Cur dauert – in die unausgesetzten Bemühungen, ihren Körper zu mißhandeln und wieder zu versöhnen, ihn Morgens selbst vor der kleinsten Aufregung zu bewahren, und ihn Abends der schlimmsten und gefährlichsten hinzugeben, die überhaupt auf der Welt existirt: dem Spiel.

Nach Baden-Baden.

Wasserbad und erbärmliches Essen mit harten Betten und saueren Weinen zehren dabei den Körper ab, und durch den ganzen Monat August fahren sämmtliche Bahnzüge, zur directen Verzweiflung aller gesunden Reisenden, mit heraufgezogenen und festverschlossenen Fenstern, weil in jedem Coupé wenigstens ein solches unglückseliges Menschenkind sitzt, das keinen Zug, nicht einmal mehr frische Luft vertragen kann. Natürlich kommt es direct aus einem Bade.

Doch fort mit der langweiligen Gesellschaft; da finden wir noch mehr Interesse an den wirklichen Vergnügungs-Reisenden, die, blos diesen einen Zweck verfolgend, zwei oder drei Monate im Jahre mit allen Wirthen Europa’s wegen bougies und service in Fehde liegen und sich, sobald sie nach beschwerlicher Fahrt irgend einen nächsten, erstrebten Ort erreichen, augenblicklich erkundigen, wann der nächste Zug weiter geht. Ihre Zeit wird denn auch während der Reise durch ein fortdauerndes Aus- und Einpacken in Anspruch genommen, das sie nur dann und wann einmal unterbrechen, auf irgend einen steilen Berg hinauf zu klettern. Oben angelangt finden sie nachher, daß „gerade heute“ ein dichter Nebel die ganze Gegend hermetisch verschließt; beim Heruntersteigen lassen sie sich von einem furchtbaren Gewitter erwischen, und bezahlen Abends noch, todtmüde, einen Lohnbedienten, um die Namen verschiedener Gebäude und Plätze, auf die sie sich später nie wieder besinnen können, mit ihrem Reise-Handbuch zu vergleichen.

Am gefährlichsten sind unter diesen eine gewisse Classe von Engländern, die nämlich der Mr. Smith’s und Jones etc., deren [277] sicheres Ziel jedes Jahr der Continent ist. Hier treten nun diese Herren, die daheim einen kleinen Specereiladen oder eine Schneiderwerkstätte besitzen, mit mühsam ersparten hundert Pfund Sterling als Lords auf und werden von Wirthen, Lohndienern und anderen unschuldigen Continentsbewohnern angestaunt und verehrt.

Den Engländern selber muß man darin allerdings Manches nachsehen. Die angeborene Unverschämtheit der ungebildeten Classe gegen Alles, was deutsch ist, gibt ihnen gerade das nöthige, anscheinend vornehme Wesen, und wie ein Berliner Levy oder Meier, der mit einer Kiste Kattun nach Leipzig zur Messe kommt, die Stadt für die Zeit seines dortigen Aufenthalts als ihm gehörig betrachtet, so sieht der jener Classe von Engländern Angehörende, wenn er den Continent betritt, schon seine Existenz als eine dem festen Land erwiesene Wohlthat an. Opfert er ihm doch so und soviel Pfund Sterling, die er auf viel langweiligere und schnellere Art hatte in Old England selber loswerden können!

Diese Gattung von Albionskindern wird nur mit einem rotheingebundenen Murray (ihrem Koran), dann mit Plaid, Regenmantel und Mütze von leichtem carrirten Stoff getroffen. Eine solche Mütze ist nämlich zu einer Reise nach dem Continent unentbehrlich, und so wenig Mr. Jones daran denken würde, sich mit einer solchen Bedeckung in the hearing of St. Paul’s sehen zu lassen, ebenso wenig möchte er ohne eine solche den Rhein befahren oder sich in einen deutschen Waggon setzen.

Mr. Jones.

Von London ab fahren alle diese Mr. Smith’s und Jones dritter Classe, selbst noch von Ostende oder Calais bis Cöln – von da an aber beginnt für sie der Continent, und solange ihr Geld reicht, sind es lauter Lords. Je unverschämter sie sich dabei betragen, desto höflicher und achtungsvoller werden sie von den Deutschen behandelt, und würdevoll genießen sie, als eine der Continental-Früchte, solche ungewohnte Huldigungen. Lieber Gott, sie dauern ja überdies nicht lange und daheim sinken sie doch wieder nur zu bald in ihr altes Nichts zurück!

Der wirklich vornehme Engländer ist indeß bald von diesem Auswuchs zu unterscheiden. Wie jeder wirklich vornehme und gebildete Mann, zeigt er sich überall freundlich und anspruchslos, läßt sich – als auf Reisen, gern eine kleine Unbequemlichkeit gefallen, und schmiert seinen Namen nicht auf jede Statue, an jedes merkwürdige Gebäude an, das er erreicht.

Das Wort „Vergnügungs-Reisender“ ist übrigens ein sehr unbestimmter und oft nur imaginärer Begriff denn wie selten finden solche Reisenden wirkliches Vergnügen unterwegs! Gewöhnlich sind sie freilich selber daran schuld, denn mit wenigen Ausnahmen verbittern sie sich das Reisen so viel als irgend möglich dadurch, daß sie an der Straße alle die Bequemlichkeiten zu finden erwarten, ja verlangen, die sie daheim verlassen haben. Eine Unmasse Gepäck erschwert dabei jede ihrer Bewegungen und vertheuert ganz unnützer Weise ihr Fortkommen. Ebenso wenig mögen sie sich an die Speisen und Getränke des fremden Landes gewöhnen und sind außer sich, wenn sie das dem Boden Ungewohnte schlechter als zu Hause bekommen und theurer bezahlen müssen.

Ein Franzose z. B. der nach London kommt, fordert ohne Weiteres Suppe und Bordeaux so gut wie daheim; der Engländer in Paris dagegen Beefsteak und Ale. Beide müssen dafür doppelte Preise bezahlen und können das Bestellte kaum genießen, und diesen Fehler begehen die meisten „Vergnügungs-Reisenden“, von welchem Lande sie auch immer kommen.

So, mit harten Betten und theueren Preisen, zerbrochenen Rädern, versäumten Zügen, mit schlechtem Wetter und vergessenen Reisesäcken, verlorenen Schlüsseln, heillosen Paßscherereien und zahllosen anderen Reisetrübsalen, kämpfen sie sich durch die Zeit, die sie zu ihrer „Vergnügungs-Reise“ bestimmt hatten, und sind seelenglücklich, wenn sie dieselbe endlich überstanden, die Heimath wieder erreicht haben.

Aber eine Art von Vergnügungs-Reisenden gibt es trotzdem, die wirklich nur Vergnügen auf ihrer Reise haben, und denen jedes kleine Ungemach, jedes Hinderniß, jede gestörte oder vereitelte Bequemlichkeit nur den Reiz ihrer Fahrt erhöht, und sie noch lange nachher mit Jubel selbst an der Erinnerung zehren läßt.

16 Jahre alt.

O sel’ge Schulzeit! sel’ge Zeit der Ferien, wo das junge Volk, den Tornister auf dem Rücken, den Stock in der Hand, hinausstreift über Berg und Thal, und mit zwei Thaler zwanzig Groschen Europa zu durchwandern meint. In deren Herzen liegt wirklich Glück und Freude, und wie Jean Paul von seinem in die Ferien ziehenden kleinen Wuz sagt, „haben sie Mitleiden mit allen Menschen, die daheim bleiben müssen.“ Das sind denn auch die wahren und leider auch die einzigen Vergnügungs-Reisenden, die sich die kurze Lust nicht unnöthig verbittern, sondern sie ganz und voll genießen.

Reisen und Reisenein Name begreift all’ die verschiedenen Arten in sich, eine Bedeutung hat das Wort in dem gleichmäßigen Entgegenstreben eines Ziels, und welcher Unterschied trennt die verschiedenen Classen, welche Kluft des Einen Seligkeit von des Anderen Jammer!

Reisen und Reisen – hier haben wir den lebensfrischen, frohen sechszehnjährigen Bursch, der mit ein paar Thalern – mehr als er je in seinem Leben zusammen besessen – jubelnd in das Leben hinauszieht, seine längst ersehnte Ferien-Reise anzutreten; und mit ihm auf derselben Bank, eine kurze Strecke denselben Weg verfolgend, fährt der Auswanderer seine müde, dornenvolle Bahn.

Die Maschine rasselt, aber mit jedem klappernden Schlag, den sie gibt, zuckt sie dem Einen in Freude und Jubel durch die Adern, denn näher und näher trägt sie ihn dem duftigen, schattigen Wald – stößt sie dem Anderen einen Dorn in’s Herz, denn weiter und weiter führt sie ihn fort von den Lippen der Lieben, von den Gräbern der Seinen.

Reisen und Reisen! und malen wir uns das Bild weiter aus, das uns ein einziges solches Coupé dritter Classe in einem Bahnzug bietet. – Nur zehn Personen enthält der kleine, für sich abgeschlossene Raum, und wie gemischt die einzelnen Charaktere: der junge Bursch, der in die Ferien zieht, schaut nur voraus, den fernen blauen Bergen, seinem Ziel, entgegen; der Auswanderer nur zurück, nach jeder Bergkuppe, jedem Kirchthurm, jedem Baum. An Jedes knüpft sich irgend eine Erinnerung: es sind ihm lauter liebe Freunde, die er läßt. Jugend und Alter! hat doch das eine nur eine Zukunft, das andere nur eine Vergangenheit.

Jugend und Alter! – Dicht neben dem jungen, lebensfrohen [278] Burschen, der Alles sieht, was um ihn webt und lebt, an Allem Theil nimmt, sich an Allem freut, sitzen Seite an Seite zwei ganz verschiedene Wesen – andere Repräsentanten von Jugend und Alter: ein junges Mädchen das Eine, ärmlich, aber sauber und anständig gekleidet, bleich und schüchtern dabei, denn die vielen fremden Menschen ist sie nicht gewohnt. Und doch will sie gerad’ allein in’s Leben ziehen, allein und unbeschützt, die eben noch des Schutzes so sehr bedürfte. Als Gouvernante sucht sie eine Stelle, und wenn auch mit all den dazu nöthigen Kenntnissen ausgestattet, fehlt ihr doch der Muth, dem künftigen Schicksale fest in’s Auge zu schauen, fehlt ihr die Zuversicht noch auf sich selbst. Ist sie ja doch noch so jung, und leise nur und verstohlen hebt mancher schwere Seufzer ihr die sorgenvolle Brust.

Und wie verschieden von ihr sitzt ihr Nachbar mit ihr auf derselben Bank! Der „Vieh-Veitel“ – wie ihn die Bauern nennen, weil er ausschließlich mit Vieh handelt, ist eine kurze, schwammige, gedrungene Gestalt, in sich zusammengedrückt, und die kleinen Augen halb zugekniffen. Das verhindert ihn aber nicht, Alles, was um ihn her vorgeht, scharf und aufmerksam zu beobachten, und die dicken, schmutzigen, mit einem breiten Siegelring verzierten Finger auf einem schweren, um den Leib geschnallten Geldgurt gefaltet, die Wäsche unsauber, und doch auf dem mehrtägigen Vorhemdchen eine unechte Tuchnadel, die alte fettige Mütze neben sich gedrückt, die grauen Haare wirr und ungekämmt um die hohe gewölbte Stirn hängend, so sitzt er da, lauernd, wie eine fette, gesättigte und doch wieder beutegierige Spinne, den letzten Handel berechnend, den nächsten überlegend. Was kümmert ihn die Reise selber! sie dient nur dazu, ihn rasch von Ort zu Ort zu schaffen; je schneller das geschieht, desto besser; und seine Mitpassagiere? – was scheeren ihn die; ist doch mit ihnen kein Handel abzuschließen!

Ihm gegenüber sitzt sein vollständiges Gegentheil. Wohl wissen wir, daß es nicht zwei Menschen auf der Welt gibt, die sich einander vollkommen ähnlich sehen, aber man sollte trotzdem doch nicht glauben, daß zwei – im Aeußeren wenigstens – so verschieden sein könnten.

Das Gegenüber des Vieh-Veitels ist ein junger geschniegelter Mann – natürlich commis voyageur, die eingeölten und gekräuselten Haare mitten auf dem Kopfe bis hinten in die Cravatte hinein gescheitelt, daß es ordentlich aussieht, als ob der Kopf einmal mitten voneinander gebrochen und nur nothdürftig wieder verkittet wäre. Er ist äußerst modern und eng gekleidet, nur mit sehr weiten, kirschroth gefütterten Aermeln, mit sechs, sieben Ringen an den Fingern der rechten Hand, die linke in einem Glacéhandschuh, mit echt goldener – oder vergoldeter Uhrkette, Tuchnadel, Hemdknöpfchen, Rockhalter und eine Kneiplorgnette im rechten Auge, das junge, gar nicht auf ihn achtende Mädchen damit zu fixiren. Ein geöffnetes Taschenbuch, das getrocknete Blumen, Locken und Wirthshausrechnungen enthält, liegt auf seinem übergeschlagenen Knie, und nachdenkend hebt er den Bleistift zwischen die mit einem kleinen Schnurrbart gezierten Lippen – er muß seine Kostenberechnung vom letzten Nachtquartier zusammenstellen. Jetzt ist er damit fertig, steckt das Buch ein und nimmt eine gestickte Cigarrentasche vor, knipst seine Fünfpfennig-Cigarre mit einem an der Uhrkette hängenden goldenen Hufeisen ab, zündet sie mit einem Patentfeuerzeug an und erkundigt sich dann, um ein Gespräch anzuknüpfen, bei dem jungen Mädchen, ob ihr das Rauchen vielleicht unangenehm wäre.

„Nein,“ sagte sie leise, ohne ihn anzusehen.

„Sehr schönes Wetter heute, mein Fräulein!“

Keine Antwort.

„Reisen Sie weit mit uns?“

„Nein.“ Lange Pause.

„Ihr Arbeitskorb wird Sie belästigen.“

Keine Antwort, der Jüngling dampft stärker; das Gespräch ist total abgebrochen, der Vieh-Veitel lacht still und vergnügt vor sich hin, denn er haßt Jeden, der reine Wäsche trägt, und der commis voyageur findet das „Landgänschen abominabel abgeschmackt.“

Neben ihm sitzt eine ältliche Dame, die fortwährend den Rauch gerade in’s Gesicht bekommt und schon ein paar Mal heftig husten mußte, aber ihr Nachbar bemerkt es nicht. Der commis voyageur lebt nur ganz sich selbst, und wie der Auswanderer keine Zukunft, der auf Ferien gehende Knabe keine Vergangenheit kennt, so existirt für ihn weder die eine noch die andere, denn Alles, was für ihn Berechtigung hat zu sein, ist nur die Gegenwart. Er reist für Breihuber und Comp., eines der geachtetsten Häuser in Xstadt – er führt reizende Proben mit mäßigen Preisen, hat vortreffliche Diäten und Procente, und ist einer der glücklichsten Sterblichen, weil er eben nicht einsieht, daß er einer der unbedeutendsten ist. Ihn drängt auch keine Zeit, und doch sitzen neben ihm und ihm gegenüber zwei andere Personen, die selbst die Minuten zählen und vor Ungeduld vergehen wollen, wenn der Zug auf den Stationen zögernd hält.

Die alte Dame neben dem glücklichen commis voyageur eilt an das Sterbebett ihres Kindes – ihrer einzigen Tochter – die weit von da erkrankt ist und sich nach der Mutter sehnt. Die Stunden wachsen ihr dabei zu Wochen, zu Monaten an, und wieder und wieder nimmt sie einen zerlesenen, zerweinten Brief aus ihrem Arbeitsbeutel, die traurigen Zeilen, die er enthält, noch einmal verstohlen zu durchlesen. Wohl kennt sie den Inhalt schon lange auswendig, wohl weiß sie jedes Wort, das darinnen steht, denn das Herz ist ihr ja fast darüber gebrochen – aber möglich bleibt es ja doch, daß sie trotz alledem noch irgend einen bis dahin übersehenen Trost herausfände, denn an die letzte Hoffnung klammern wir uns an.

Der Andere ist ein kräftiger Mann mit lockigem Haar und vollem Bart, sonngebräunt, mit wetterharten Zügen, und im Schnitt seiner bequemen einfachen Kleidung den Seemann kündend. Und nach langer, langer Fahrt kehrt er zurück in’s Vaterhaus; nach langen Jahren grüßen zum ersten Mal wieder der Mutterlaute süße Töne sein Ohr, und still und in sich gekehrt, aber einen ganzen Himmel von Glück im Herzen, sieht er die Lerche draußen im Feld emporsteigen, hört er, wie der Zug hält, der Dorfglocken melodisch Getön.

In die eine Ecke fest hineingepreßt, den Hut in die Augen gezogen, den Rock bis oben hin zugeknöpft, sitzt ein bleicher, hagerer Mann. Auch er ist ein Reisender, aber weder die aufsteigende Lerche sieht er, noch hört er das Läuten der Glocken; nur wenn der Wagenschlag sich öffnet, fliegt sein scheuer Blick zum Conducteur hinüber, und wer die Hand dann an sein Herz legen könnte, würde fühlen, wie es da drinnen stärker klopft und hämmert.

Neben ihm sitzt ein Kind, das zum ersten Mal mit dem Bahnzug fahren durfte und jubelnd den vorüberfliegenden Bäumen und Häusern nachjauchzt. Die Mutter aber hält es an der Hand, ängstlich, daß es aus der festverschlossenen Thüre fallen könnte, und doch dabei mit lächelndem Blick die Freude des Lieblings schauend. Und immer drängt das kleine, muntere, muthwillige Wesen aus der Mutter Griff, stützt sich, das lichte Antlitz zu der Glasscheibe hebend, auf des bleichen Mannes Knie und schaut nur manchmal verwundert zu ihm auf, daß er allein so still und bleich und krank aussieht und seine kindische Lust nicht theilen will.

Auf dem Telegraphendrahte hin fliegt indeß die Nachricht von einem verübten großartigen Cassendiebstahl, und dem bleichen Mann ist es, als ob eben diese Drähte – wie sie schlangengleich neben dem Fenster hinschossen – ein Netz, ein dichtes, festen Netz um ihn zögen, das ihn, je weiter er flöhe, immer enger und enger umstricke. Er sieht nicht das lächelnde Kind zwischen seinen Knieen, er hört sein fröhliches Plaudern nicht, und wie es ihn fortdrängt, weiter und immer weiter, ist das Bewußtsein seiner Schuld das einzige Gefühl, das ihn erfüllt.

Und solch eine Mischung von Charakteren birgt oft ein einziges Coupé – aus solchen Elementen besteht wie häufig ein kleiner Trupp von Reisenden, die für eine oder mehre Stationen, oft auch tagelang zusammenhalten, bis sie auseinanderstieben, ohne Gruß, ohne Handdruck, wie sie gekommen – Jeder seine eigene Bahn verfolgend.

Das ist Reisen, und das Ganze eigentlich nur ein Miniaturbild unseres Lebens überhaupt. Der endlose Bahnzug kreist seinen wirbelnden Flug, gefüllt mit Passagieren, und hier und da, an einzelnen Stationen, nimmt er neue auf, setzt er alte ab, rastlos, ununterbrochen, ohne sich um den Inhalt seiner Fracht zu kümmern. Manche der Passagiere fahren dabei erster, Viele zweiter, die Meisten dritter Classe; verlassen sie aber den Zug, sind sie sich Alle gleich, und die Weiterbrausenden drehen nur höchstens den Kopf nach ihnen um und nicken ihnen zu.

Wunderliches Leben das, in der Welt! wunderliche Reisende, die wir sind!

[279]
Aus der Schlacht von Bronzell.
Erinnerungen eines preußischen Officiers.

„Herr Lieutenant, es ist Zeit zur Ablösung!“

Diese wohlbekannten Worte weckten mich aus einem Mittagsschlummer, den ich mir in gewohnter Weise, als Entschädigung für die wiederum in Aussicht stehende schlaflose Nacht, gegönnt hatte. Wir standen in Hessen auf Vorposten. Wiederum hatten es die pfiffigen Herren Diplomaten so weit gebracht, daß deutsche Brüder, die lieber Arm in Arm zusammen dem gemeinschaftlichen Feinde entgegen marschirt wären, sich zürnend und mit Kampfesgedanken gegenüber standen. Hüben und drüben grollte man über dieses unnatürliche Zusammenhetzen, aber wir waren Soldaten und hatten nur zu gehorchen. Mir war das Glück beschieden, fast einen Tag um den anderen auf Feldwache ziehen zu müssen. Das trübe Licht des Novemberspätnachmittags zeigte mir die lange Streu in dem Officier-Zimmer der großen Bach-Mühle, dem Standorte unseres Bataillons seit mehreren Tagen, vollständig leer. Die Koffer und Mantelsäcke am Fußende der Lagerstätte deuteten die Plätze ihrer Besitzer an. Mäntel, Helme, Stiefeln lagen und standen umher, wo eben Platz war. Der einzige Tisch und die Fensterbreter waren mit Toilettengegenständen, Zigarrenkisten, Feldflaschen, Speiseresten, Gläsern bedeckt, zwischen denen hier und da der braune Schaft einer Pistole, eine halbaufgerollte Karte oder der zerfetzte Umschlag einer Broschüre hervorsah. Ein eiserner Ofen verbreitete angenehme Wärme. Durch die stark beschlagenen Scheiben erschienen draußen die in lange Mäntel gehüllten Figuren der Soldaten nur als undeutliche, graue Silhouetten, und ich gürtete daher mit leisem Seufzer, einen so heimlichen Ort verlassen zu müssen, die Schärpe um den Palletot. Vor der Thür standen die Offieiere des Bataillons rauchend und plaudernd beisammen, und ich erfuhr bald, die Mobilisirung der Armee sei ein Factum, der commandirende General habe die Doppelposten und Feldwachen besichtigt, sich dabei besonders gnädig und gesprächig erwiesen; es sei also unzweifelhaft, daß jetzt die Unthätigkeit ein Ende habe. Die Baiern, hieß es, würden sicherlich heute noch, oder mindestens morgen, angreifen.

Unser Capitain war ganz glücklich und prophezeite eine baldige Schlacht. Sein wohlwollendes Gesicht strahlte von Inspiration. Jede seiner Behauptungen wurde durch nachdrückliche Gesticulation der rechten Hand unterstützt, während die linke den Degengriff fest umfaßt hielt. Manchmal glitt ein schneller, prüfender Blick des lebhaften blauen Auges über die Gesichter seiner Zuhörer; da dieselben aber nur gespannteste Aufmerksamkeit und unbedingtesten Glauben zeigten, so wurden nach jeder solchen Vergewisserung die Prophezeiungen immer kühner. Mein Dazwischentreten gab, wie es schien, willkommene Gelegenheit, die Voraussagungen gerade zur rechten Zeit abzubrechen.

„Ich gratulire, Herr Lieutenant,“ rief er mir zu, „Sie sind ein Bevorzugter des Himmels. Just heute, in einem so kritischen Momente, auf Vorposten, gleichsam als Vorkämpfer berufen zu sein – Avancement und Orden können da gar nicht ausbleiben!“ Wenn schon weit entfernt, solchen Jünglings-Hoffnungen noch irgendwie nachzuhängen, empfand ich als Officier doch Freude, endlich einmal ins Feuer zu kommen. Ich sagte den Cameraden ein flüchtiges Lebewohl und marschirte mit meinen Leuten nach unserem Posten ab. Der Weg dahin war nicht weit. Er führte wenige hundert Schritte in der Landstraße auf den Kamm einer Hügelreihe. Mein rechter Flügelposten stand an dem Absturze dieser Höhe in die Ebene. Nach links hatte ich Verbindung mit der Postenkette eines westphälischen Regimentes. Vor mir barg eine Waldecke, welche die Landstraße berührte, ein Ulanen-Detachement, in dessen Officier ich einen Cadetten-Cameraden wiedergefunden, und mit ihm gemeinsame Maßregeln verabredet hatte.

Die Leute auf den Posten zeigten, trotz eines abscheulichen scharfen Windes, der zeitweilig Regen, Schnee und Hagelschauer in die Gesichter trieb, den allerbesten, frohen Muth. So schrieb ich denn zufriedenen Sinnes, nach geschehener Besichtigung meiner Stellung, den üblichen Rapport an den Vorposten-Commandeur. Nicht lange darauf rief mich eine Meldung auf die Landstraße. Vor den schußfertigen Gewehren des Doppelposten stand ein elender, aber verschmitzt aussehender Bauer. Er führte einen großen, mit vier Ochsen bespannten Leiterwagen, auf welchem viele sehr ansehnliche leere Fässer lagerten.

„Wo kommt Ihr her?“ frug ich das Bäuerlein.

„Aus L.,“ war die Antwort.

„Und wohin fahrt Ihr und was soll’s mit den Fässern?“

„Bier holen, Herr Officier, Bier für die in L. liegenden Chevaux-Legers – drüben in F.“

Das war mir denn doch zu arg. Die durstigen Feinde schickten also ihre Abgesandten mitten durch unsere Vorposten nach unserem Hauptquartier, um Stoff für ihre trockenen Kehlen zu holen. Und der Durststiller der Strafbaiern war ein Hesse! Diese Gefälligkeit veranlaßte mich, dem biederen Hessen mit der flachen Klinge mehrere wohlgemeinte Hiebe auf den breitesten Theil seiner schlotternden Lederhosen, als Anerkennung für seinen Patriotismus, zu appliciren. Nun merkte der Schelm, er habe sich verrathen, deutete sehr beflissen mit der Peitsche auf unsere Ulanen und versicherte, für diese Chevauxlegers solle er das Bier holen. Ich bedauerte jetzt lebhaft das vorgefallene Mißverständniß lobte sowohl den Durst unserer Cavalleristen, als die Bereitwilligkeit des kleinen Mannes und bedeutete diesen, jetzt stehe seiner Fahrt nach F. natürlich Nichts mehr im Wege.

„Müller,“ commandirte ich einem Gefreiten, der mein Augenwinken sofort verstand, „begleiten Sie den Mann und sorgen Sie dafür, daß unsere Ulanen das Bier recht bald erhalten.“ Der erbärmliche Schlingel sah mich wohl einen Augenblick betroffen an; doch als ich dem Gefreiten, der, meiner Ordre nachkommend, schon auf dem Wagen Posto gefaßt hatte, einen flüchtig mit Bleistift geschriebenen Zettel mit den Worten reichte: „An den Vorposten-Commandeur, damit der Fuhrmann ungehindert passiren kann,“ setzte dieser sein Gefährt mit großem Gerumpel in Bewegung. In noch nicht einer Viertelstunde war die Meldung dieses Vorfalls in der ganzen Postenkette bekannt und der Bierkutscher besorgt und aufgehoben; denn in unsere Aufstellung hinein war er wohl gekommen, heraus führte für ihn vorläufig kein Weg mehr. Ich freute mich überaus, daß die durstigen Bavaren bald inne werden sollten, wie wir den Vorpostendienst nicht mit so großer Gemüthlichkeit ansahen, als sie, die da zu glauben schienen, über den Durst müsse auch der Feind jede andere Rücksicht vergessen. Warum heute gerade den feindlichen Kehlen das reichliche Ausspülen mit dem edlen Gerstensafte so nöthig war, das sollte ich bald genug erfahren.

Nach nicht allzulanger Zeit naheten sich unseren Doppelposten vielfache Trupps von Bauern, Bauerweibern und Kindern. Sie trieben weinend kleine Heerden von allerhand Hausthieren, Schweinen, Schafen, Gänsen und dergleichen vor sich her. Ein altes, graues Bäuerlein erzählte mir, daß die Baiern ihnen bisher täglich, ohne zu fragen und ohne zu bezahlen, auf bloße Quittungen hin, eine Menge Vieh geschlachtet haben, mehr als sie zur Sättigung bedurften. Was nicht gebraten und gegessen worden, das sei blutig auf dem Felde liegen geblieben. Heute besonders sei die Schlächterei großartig gewesen; daher sei ihnen endlich nur der Ausweg geblieben, sich nach F., hinter unsere Truppen zu flüchten. Zurück dürften die Seinigen nicht, ohne sich den gröbsten Mißhandlungen auszusetzen, so bitte er nur für sich und seine Begleiter um freien Durchzug. Ohne Zögern ließ ich die armen Leute mit dem nöthigen Ausweis passiren.

Eben hatten sich die Letzten mit dankendem Händedruck von mir gewandt, das Blöken der Schafe, das Schnattern der Gänse hallte noch durch den Hohlweg zurück, da nahte sich mein Sergeant mit verlegenem Lächeln. „Herr Lieutenant,“ bat er, „würden Sie uns wohl heute ein kleines Extramahl erlauben?“

„Hier auf der Feldwacht? Wo wollt Ihr Proviant hernehmen? Haben die Musketiere im Dorfe einigen Hühnern die Köpfe abgedreht?“

„Nein, Herr Lieutenant, unsere Leute sind keine Marodeurs. Wir haben von dem alten Bauer, der dort seine Schafe forttreibt, einen Schöps unter der Bedingung erhandelt, daß Sie Ihre Genehmigung ertheilen würden; wenn also der Herr Lieutenant nichts dawider – –“

Gern gab ich meine Einwilligung und auch die Bezahlung zu dem Kauf. Mit bewundernswürdiger Geschwindigkeit brachten zwei Musketiere den errungenen Schöps herbeigeschleppt. Unter meinen Soldaten befand sich ein Schlächter. Er wurde sofort zum Calefactor ernannt. Schnell war der kriegerische Schmuck mit dem Costüm [280] eines Metzgers vertauscht, und unter der Assistenz mehrerer dienstbeflissener Musketiere hatte das Lamm bald sein Leben verhaucht. Während dessen schürten andere Soldaten von dem der Feldwacht gelieferten Holze im Schutze einer baufälligen Scheune ein flackerndes Feuer, dessen schwarzer Qualm in dicken, funkensprühenden Wolken dicht über die nasse, bereifte Erde dahinjagte. Ich überließ die eifrigen Köche ihrem Geschäfte, und als ich von einer Besichtigung meiner Posten zurückkam, präsentirte mir der Sergeant in irdener Schüssel eine tüchtige Portion gebratener Lammsleber. So wenig mir das weichliche Gericht auch zusagte, ich mußte davon genießen. Glücklicherweise halfen mir hierbei die Bauersleute, in deren Häuschen ich mein Hauptquartier hatte.

Noch in später Stunde schickte mir mein Hauptmann eine Flasche herrlichen Madeira, welche ich mit einigen Bevorzugten meiner Untergebenen theilte. Den von Posten gekommenen Musketieren erlaubte ich auf der bloßen Diele des engen Bauernstübchens zu schlafen, während ich, den Kopf auf den seitwärts gelegten, etwas zusammendrückten Helm gelehnt, aufmerksam jedem Geräusche lauschte. Die Stille der Nacht wurde aber nur durch das Heulen des Sturmwindes, das eintönige Picken der kleinen Schwarzwälder Uhr und zu bestimmten Zeiten durch die halblauten Meldungen der zurückkehrenden Posten und Patrouillen gestört. Um Mitternacht trat mich ein alter Schulcamerad, den ich als zweiten Unterofficier auf Wache bei mir hatte, mit der Bitte an, mit dem dritten Unterofficier eine Schleichpatrouille machen zu dürfen. Ich kannte seine wagehalsige, frische und manchmal wohl etwas unbedachte Jägernatur und wollte darum seine Bitte schon abschlagen. Doch er versprach so fest, den Stand und die Stärke der feindlichen Feldwacht zu erforschen, daß ich endlich nachgab. Freilich wagte ich dabei Etwas, denn unsere Instructionen waren eigenthümlicher und höchst subtiler Art. Damals hatte Herr v. Manteuffel das schöne Wort: „Der Starke weicht ruhig zurück,“ noch nicht ausgesprochen, aber wir armen Soldaten sollten es bereits in der Praxis ausführen. Wir hatten strenge Ordre, bei einem feindlichen Angriffe das Feuer zuerst nicht zu erwidern, sondern den Officieren der feindlichen Tirailleurketten zu sagen, wir ständen hier als Feldwache. Würden die Herren Cameraden diese Mittheilung nicht beachten, so sollten wir, wennschon mit Worten remonstrirend, doch bis zu einem bestimmten Terrain-Abschnitte zurückgehen, diesen dann aber mit äußerster Hartnäckigkeit und Todesverachtung vertheidigen. Solche Diplomaten-Instruction mochte unseren Generalen selbst wohl höchst peinlich sein; denn sie zeigten sich nur selten und flüchtig bei den Vorposten. Ich zog daraus den Schluß, es werde mit dem strengen Einhalten des anempfohlenen Rückwärtsrichtens wohl nicht so genau genommen werden. Demzufolge sagte ich meinen Leuten jedes Mal bei dem Aufziehen der Wache, nach der alten, Jedem wohlbekannten Feld-Instruction, wir seien eine Feldwache, das heißt eine Abtheilung der Vorposten, die einen bestimmten Terrain-Abschnitt beobachten und decken soll; dies sei das Terrain und wir werden unseren Zweck in Bezug auf dasselbe erfüllen. Das „Wie?“ sei Allen bekannt, das „Wie lange?“ sei durch die Ablösung auch ganz klar. Die übrigen Spitzfindigkeiten hielt ich für den praktischen Verstand meiner wackeren Polen und Schlesier überflüssig, und auch die derben Musketiere des westphälischen Regimentes meinten, auf mein Befragen, ob sie Befehle haben zurückzugehen: „da wissen wir der nix von!“

So mochten denn wohl alle Feldwachtbefehlshaber übereinstimmend in militairischem Geiste gehandelt haben; denn jedem war wohl, nach redlicher Erwägung, die Ueberzeugung geworden: hier handele es sich nicht um eine Subordination, dem Wortlaute telegraphischer Depeschen entsprechend, die jeden Augenblick wechseln konnten, sondern vielmehr um ein Handeln an Ort und Stelle, den Umständen gemäß, für das Beste des Dienstes und Vaterlandes, nach Pflicht und Gewissen, auf eigene Verantwortlichkeit. – Es ist erklärlich, daß ich unter so bewandten Umständen meinen Freund doch mit einiger Besorgniß abmarschiren sah, regte sich gleich ganz heimlich der Wunsch, die kleine Expedition möge nicht so ruhig verlaufen, sondern womöglich uns Allen zu thun geben. Nach Verfluß von zwei Stunden kehrte die Patrouille zurück. Der ersten kurzen, militairischen Meldung folgte, lachenden Mundes, der Bericht heiterer Einzelnheiten des Streifzuges.

„Nach einer Stunde beschwerlichen Marsches auf sehr schlechtem Wege,“ erzählte er, „der aber in der Aufregung leicht überwunden wurde, waren wir auf den Rücken eines Höhenzuges gelangt. Das ganze feindliche Lager zeigte sich von hier in einer Menge von Wachtfeuern, welche auf uns einen mächtig anziehenden Reiz ausübten. Ein unüberwindliches Verlangen regte sich in uns, die Postenkette zu durchbrechen. Nach einigen hundert Schritten erschallte ein lautes „Halt!“ „Hol’ Dich der Teufel,“ dachte ich still, antwortete aber nicht. Da verbot ein zweites, noch lauteres: „Halt, werda?“ unterstützt durch das deutlich hörbare Knacken des Gewehrhahnes, ein weiteres Vordringen. Der feindliche Posten rief zum dritten Male an, worauf endlich von unserer Seite unterdrücktes Gelächter antwortete. Rasch liefen wir zurück und versteckten uns in einen Graben. Wenige Minuten hatten wir da vor dem alarmirten Posten gelegen, als Unterofficier F. mich zu nochmaligem Vorgehen aufforderte. Gesagt, gethan. Auf das wiederholte „Halt, werda?“ erfolgte der Bescheid: „Gut Freund!“ Der feindliche Soldat befahl weiter: „Zum Feldgeschrei vorwärts!“ und nun antwortete ich ihm mit einer Aufforderung, die sich allerdings französisch weniger grob ausgenommen haben würde. Das reizte denn doch den Zorn des Gefoppten dermaßen, daß er auf uns direct und muthig losging. Die Alarmirung der feindlichen Postenkette lag aber durchaus nicht in unserer Absicht, wir krochen zusammen, schlüpften eiligst in den Graben und liefen in demselben gebückt fort. Eine Cavallerie-Patrouille wurde uns nachgeschickt, die uns nahe auf den Hacken war. Jetzt galt es um jeden Preis, die Reiter zu täuschen. Platt in den Graben gestreckt, das Gesicht dem Himmel zugekehrt, lagen wir still und ruhig wie die Leichen. Die Patrouille ritt einige Male hin und her, und als sie kein Geräusch mehr bemerkte, kehrte sie ruhig um. Das wollten wir nur; als Alles wieder sicher war, erhoben wir uns von unserem kalten Lager und machten uns auf den Heimweg.

In einem Dorfe mußte ein altes Weib, nach langem Klopfen, ihr Haus öffnen und erzählte unter Weinen und Wehklagen, daß der Feind am anderen Tage ganz bestimmt gegen uns vorgehen werde, sie wisse dies von ihrer Einquartierung. Durch Hecken und Gärten entgingen wir der Dorfwache und bringen nun, als einziges ersprießliches Resultat unserer Schleichpatrouille, die Nachricht von dem zu erwartenden Angriffe.“

Dieselbe Nacht lieferte noch einen anderen, schlagenderen Beweis von der harmlosen Kriegsanschauung unserer Gegner. Wir hatten im Regimente, von unserer letzten Garnison her, eine Menge von Studenten als Freiwillige. Ihr frisches, ritterliches Wesen gefiel sich in dem Feldlager viel wohler, als auf dem alten, düsteren Exercirplatze, und machte sich überall vortheilhaft geltend. Einer dieser jungen Soldaten war so glücklich, gleich bei seiner ersten Patrouille einen ganz eigenthümlichen Fang zu thun. Bei dem Durchspähen des Terrains gegen den Feind zu gewahrte er nämlich drei Gestalten, die in aller Seelenruhe sich unserer Aufstellung näherten. Ohne Schwierigkeit waren die guten Leute umzingelt. Sie erwiesen sich als ein bairischer Oberlieutenant, der, in Begleitung eines Corporals und Gefreiten, unternommen hatte, die lange und schmerzlich vermißte Bierfuhre den harrenden Seinigen sicher und schnell zuzuführen.

Der joviale Student bedauerte ungemein, der Ausführung dieses allerdings auch von ihm als höchst wichtig anerkannten Auftrages hinderlich sein zu müssen; der Dienst gehe aber doch noch über den besten Bierdurst, und so mögen die Herren es sich schon gefallen lassen, zur Feldwache zu folgen. Von hier wurden die Gefangenen zu unserem Divisionscommandeur geführt. Der sonst so strenge Herr konnte es doch nicht über sich gewinnen, den armen Entdeckungsreisenden gegenüber die Strenge der Kriegsgesetze geltend zu machen. Die Ermüdeten wurden vielmehr an seiner Tafel mit Speise und Trank reichlich gelabt, schliefen im Stabs-Quartier und wurden am folgenden Morgen durch einen Parlamentair dem feindlichen Commandeur zugesandt, mit einer kurzen Darstellung des Thatbestandes und der Bemerkung: für Bier, Lebensmittel und dergleichen führe durch unsere Postenkette keine neutrale Straße.

In der heitersten Stimmung besichtigte ich am Morgen meinen Doppelposten. Vormittag und Mittag verflossen ruhig. Gegen zwei Uhr etwa sprengte ein Ulane die Landstraße zurück. „Der Feind im Anmarsch,“ rief er im Vorüberjagen mir als Meldung zu. Das war ein Wort! Schnell durcheilte ich meine Postenkette. Die Soldaten waren von frohem Muthe beseelt und fest entschlossen, keinen Schritt zurückzuweichen. Die Aufmerksamkeit auf das Vorterrain nahm Alle in hohem Maße in Anspruch; doch vom Feinde zeigte sich nichts. Die Ebene, aus [281] welcher der von mir besetzte Höhenzug aufstieg, wurde erst ziemlich weit von meiner rechten Flanke wieder von einzelnen Bergen begrenzt. Einer derselben sprang, mit scharfer jäher Felsspitze, dicht bewaldet, bis etwa in die Höhe meiner Aufstellung vor und hinderte so nach rechts die weitere Aussicht auf Felder und Wiesen.

Dieselben belebten sich in unserem Rücken durch lange Züge freundlicher Infanterie-, Cavallerie- und Artillerie-Massen, welche Gefechtsaufstellung nahmen. Eine Husaren-Vedette beobachtete auf der erwähnten Felsenhöhe, am Rande des auf derselben befindlichen Tannenwaldes, das vorliegende Hügelgewirr. Doch sowohl diese Husaren, als auch meine Musketiere strengten ihre Augen lange vergeblich an. Endlich bewegten sich die Colonnen in der Ebene. Die Infanterie rückte zuerst vor und verschwand hinter dem Berge, auch Cavallerie und Geschütze avancirten, blieben aber noch zum Theil sichtbar. Auf etwa Gewehrschußweite vor dem Felsenhange hielt eine Schwadron Husaren. Noch harrte Alles in stummer Erwartung – da hörte man jenseits des Tannenwaldes schießen; das berühmte Gefecht von Bronzell war engagirt.

Ich glaubte, in wenigen Minuten sicher auch im Feuer zu sein, zog den Degen und erwartete mit Ungeduld das Erscheinen der ersten feindlichen Tirailleurs. Doch vor mir blieb es öde und wie ausgestorben. Da – endlich! scheint das Gefecht sich auch zu uns wenden zu wollen. Im Rücken der erwähnten Husaren-Vedette, welche, den Carabiner auf dem Schenkel, noch ruhig und aufmerksam das Vorterrain beobachtet, belebt sich der tiefdunkele Saum des Tannenwaldes durch viele weiße Rauchwolken, denen das im Echo scharf wiederholte Knallen von Gewehrschüssen folgt. Die Husaren sind also umgangen, doch zeigen sie darüber nicht die geringste Bestürzung; in größter Ruhe wenden sie vielmehr ihre Pferde nach dem Feinde, recognosciren den Waldrand, erwidern das Feuer und reiten dann vorsichtig den steilen Hang hinab, um bei der Schwadron zu melden. Sobald die Hufe das weiche Gras der Ebene betraten, stürzten aus dem Walde die Gegner, österreichische Jäger, hervor. Sie waren, in ihren vollständig grauen Uniformen, sehr schwer vom Erdreich und dem Felsen zu unterscheiden, dessen oberste Kante sie vortheilhaft besetzten. Bei der Schwadron machten einige herausfordernde Schüsse wenig Eindruck. Die Pferde hielten ruhig, nur scharrten einzelne ungeduldig mit dem Hufe im schwarzen Wiesengrunde. Auf der anderen Seite der von den Oesterreichern besetzten Waldhöhe dauerte unterdeß das Schießen fort.

Da schien unseren Husaren denn doch die Zeit lang zu werden. Die Schwadron ritt plötzlich im kurzen Trabe, mit eingesteckten Säbeln, bis an den Fuß der Anhöhe, wo sie halten blieb. Die vor der Fronte befindlichen Officiere schauten mit untergeschlagenen Armen zu den feuernden Kaiserjägern hinauf, die sich aber dadurch nicht verleiten ließen, ihre sichere Stellung aufzugeben. Die Schüsse waren zahlreich, aber unwirksam.

Nachdem die Husaren sich denselben eine Zeit lang in ruhiger Verachtung der Gefahr ausgesetzt hatten, machte die Escadron auf Commando Kehrt und ritt im Schritt, ohne umzuschauen, auf den alten Standpunkt zurück. In dieser Bewegung traf, glaub’ ich, ein Schuß das Pferd eines Trompeters, den bekannten Schimmel von Bronzell.

Mich, wie meine Leute, hatte das ruhige Benehmen der Vedette und die kühne Herausforderung der Schwadron in wahre Begeisterung versetzt. Wir brannten vor Begier, es bald mit den vorsichtigen Schützen aufzunehmen; doch daraus sollte nichts werden. Kaum standen die Husaren wieder, so hörte das Feuern jenseits des Waldes auf. Wir horchten mit gespannter Aufmerksamkeit. Plötzlich trabte ein junger Kürassier-Officier in rasselnder Waffenrüstung heran. Zwanzig Schritte von mir parirte er mit einem Ruck seinen prächtigen Rappen und „Hahn in Ruh!“ schnarrte er mir den Befehl des Generals zu, das Feuern einzustellen. Ich sah den Herrn Cameraden zwar sehr verwundert an, hielt aber jede Entgegnung für überflüssig, steckte mein unblutiges Schwert ein, und – dahin waren all die schönen Träume von kriegerischem Ruhme!

Bald nach Entfernung des Hiobs-Boten führte ein alter Cavallerist den im Hinterschenkel verwundeten Schimmel bei meiner Feldwacht vorbei und erzählte mir im Grimme über die vereitelten Hoffnungen, ein alter Capitain unseres Regiments, dessen Compagnie das eigentliche Gefecht von Bronzell bestanden, habe nach den ersten Schüssen sich zu seinen Füsilieren gewandt und, seine Brille zurechtrückend, ihnen zugerufen: „Kinder, wir haben einen europäischen Krieg begonnen!“ – Dieser europäische Krieg war nun beendet. – Seine Opfer waren auf feindlicher Seite einige Verwundete und ich glaube auch ein Todter; auf unserer Seite der Schimmel und der Palletot eines Regiments-Adjutanten.

Gegen fünf Uhr stieg aus dem Tannenwalde dicker, weißer Qualm friedlich in die Höhe. Die Kaiserjäger kochten ihr Abendbrod, während unsere Truppen ruhig, wie nach einem beendeten Manöver, nach F. zurückzogen. Mir kam das Alles höchst wunderbar vor, doch tröstete ich mich endlich mit dem Gedanken, nur die hereinbrechende Nacht habe das Gefecht beendet, und es werde am andern Tage zu einem tüchtigen Kampfe kommen. In dieser Hoffnung sah ich es nicht ungern, als die Stunde der Ablösung schlug und ich auf meinem bescheidenen Plätzchen auf der Streu von den Mühen der letzten vierundzwanzig Stunden ausruhen konnte. Gegen neun Uhr weckten mich die Cameraden, welche, Einer nach dem Andern, die Lagerstatt suchten, einige Augenblicke aus dem Schlafe; doch die Unterhaltung der Eintretenden ward nur einsilbig, leise und kurze Zeit geführt, so daß ich bald Bronzell, Schimmel und Palletot glücklich wieder vergessen hatte.

Am anderen Morgen war ein unbestimmtes Hin- und Herfragen und Laufen im Lager des Bataillons. Die verschiedensten Nachrichten kreuzten sich. Bald hoffte man das nahe Gefecht, bald befürchtete man den Rückmarsch. Officiere und Soldaten langweilten sich dabei in gleicher Weise. Um die Zeit zu vertreiben, ergötzten sich die Musketiere an verschiedenen unter ihnen üblichen Scherzen und Spielen. Ein Hauptspaßmacher aus meinem Zuge, der auf Märschen, wenn es so recht trübselig herging, mit seiner guten Laune Alles wieder belebte, war auch hier die Seele der Vergnügungen. Den ziemlich großen, schwarzledernen Mantelsack unseres Compagnie-Chirurgus hatte er sich als Leierkasten umgehängt. Der eine, zerrissene Griff des „Pflasterkastens“ diente als Kurbel. Dabei sang der Leiermann in näselndem Tone alte und neue schöne Lieder und Mordgeschichten, meist nur den Soldaten bekannt, die im Chorus eifrig begleiteten. Sobald dieser einfiel, ahmte der Spielmann die Klänge der Drehorgel nach, wobei er nicht vergaß, die verstimmten und intermittirenden Töne gehörig anzudeuten. Abwechselung brachte das Vorführen einer Menagerie. Die einzelnen Exemplare waren in den häßlichsten und einfältigsten Kerlen herausgesucht und auf Holzhaufen postirt. Der improvisirte van Aken ergötzte das Publicum mit der genauen Naturgeschichte jedes einzelnen Thieres, wobei natürlich auch kleine cameradschaftliche Beziehungen in drolligster Weise, manchmal zur großen Verlegenheit der Charakteristirten, eingewebt wurden. Hier und da ertheilte der Gewehrputzstock des Vortragenden auch wohl eine kleine Tracht Prügel; dann vergaßen die Gezüchtigten oft ihre Rollen, zeigten menschliche Empfindsamkeit und verließen mißmuthig, kopfschüttelnd und achselzuckend ihre Plätze, was natürlich die Heiterkeit nur erhöhte. Kameel, Bär und Affe schlossen die Vorstellung, und der Bär machte eben auf Commando unter lautem Brummen seine Complimente, als sich der Compagnie-Chirurgus zornrothen Gesichtes durch die Zuschauer Bahn brach. Mit heftigen Vorwürfen schritt er auf van Aken zu, die sofortige Herausgabe seines Mantelsackes fordernd. Er erhielt, was er wünschte, und drohte in vielen zornigen Worten mit Anzeige bei dem Compagnie-Chef. Der Uebelthäter schien aber nicht eben sehr erschreckt und nur darauf bedacht, die gute Laune seines Auditoriums, welche unter der Last der Drohungen zu schwinden begann, zu erhalten. Lächelnd nahm er daher den Helm ab und bat den „Herrn Doctor“ um eine kleine Gabe für die Vorstellung. Die Soldaten lachten, der Chirurgus wandte sich zu schnellem Rückzüge, und der listige Schalk vollendete seine Sammlung, die ihm von den Officieren, welche vom Fenster aus zugesehen hatten, manches Silberstück einbrachte. Die Soldaten gaben scherzend Steine, Holzspähne, kleine Kupfermünzen, und der baare Ertrag wurde von den Acteurs bei dem Marketender in Bier, Wurst, Schnaps und Cigarren verjubelt.

Gegen Mittag endlich sprengte ein Adjutant von der Garde zu unserer Feldwache. Wir sahen dieselbe ihre Posten einziehen, und bei uns rief die Trommel zum Appell. Verstimmt traten die Leute unter’s Gewehr, die Officiere nahmen mit gerunzelter Stirn, in Ahnung des Kommenden, ihre Plätze ein. Unter lautlosem Schweigen kündigt der Major dem Bataillon an, daß auf Befehl die Stellung aufgegeben werden solle. Die Truppen dürften sich nicht als geschlagen ansehen, im Gegentheil; aber man sei aus politischen Rücksichten genöthigt, Cantonnements weiter im Inneren [282] des Landes zu beziehen. Die Positionen würden mit klingendem Spiele im Parademarsch verlassen werden, und zwar sogleich.

Das Commando erfolgt, die Tambours schlagen, und in stillem Gehorsam defiliren die Züge bei dem Bataillonscommandeur vorbei. Nachdem aber aus der Parade- in die gewöhnliche Marsch-Ordnung übergegangen war, machte sich der Unwille des schwer verletzten soldatischen Gefühls bemerklich und mußte mit Ernst zur Ruhe verwiesen werden. Es fielen da böse, bitterböse Worte, für die sich Herr von Manteuffel nicht bedankt haben würde.

Von allen Seiten, aus Thälern, Schluchten, von Bergen, über Wiesen und Felder, auf Wegen und Stegen, strömten immer neue Regimenter auf die Landstraße. Der Zufall führte da manche alte Bekannte, die sich seit Jahren nicht gesehen, bei einander vorbei. Kaum aber, daß in einem flüchtigen Nicken oder Händeschütteln ein Zeichen der Erkennung getauscht wurde. Alles war gedrückt und wuchtig. Flüche über das erbärmliche Gebahren der Diplomatie flogen zwischen den Zähnen heraus. Stumm zog Jeder die Straße weiter oder wartete mit seinem Truppentheile zur Seite der Chaussee, bis an ihn der Befehl zum Marschiren kam.




Orthopädische Mittheilungen.
Von Dr. Paul Niemeyer in Magdeburg.
(Dritter Artikel.)

In unserem letzten Artikel (Gartenl. d. J. Nr. 6) bezeichneten wir den Bestand orthopädischer Institute nur insofern als zweckmäßig, als darin die Aufgabe verfolgt werde, die Skoliotischen – wie wir die mit seitlicher Rückgratverkrümmung (hoher Schulter) Behafteten jetzt der Kürze wegen nennen dürfen – unter beständiger ärztlicher Ueberwachung zu halten; es ist eine solche Cur gleichbedeutend mit orthopädischer Erziehung und deren Plan nach unseren früheren Ausführungen leicht zu entwerfen (s. Gartenlaube 1858 Nr. 26).

Nicht alle orthopädischen Anstalten entsprechen diesem Programme; vielmehr würde eine Kritik von unserem Standpunkte aus zu höchst unerquicklichen Resultaten führen; schon längst hat eine wissenschaftliche Commission solche Institute als rein industrielle Unternehmungen gebrandmarkt, ein Prädicat, welches auch jetzt noch für den bei weitem größten Theil bezeichnend ist, und in der That sind die Mehrzahl der soi-disants-Orthopäden bloße Parvenu’s, denen die Medicin und vollends die Orthopädie von Haus aus völlig fremd ist. Die ersten Institute zu Paris entstanden folgendermaßen: ein gewisser Milli, ein vagirendes Subject, bezog wegen seines Buckels die damals berühmte Anstalt zu Würzburg, wußte sich dort heimlich in den Besitz eines Streckbett-Modells zu setzen, eilte damit nach Paris und gründete hier sofort eine orthopädische Anstalt; obgleich selbst noch total schief, verkündete er in kühnen Reklamen jedem Buckligen baldige Heilung und fand großen Zulauf; ein Streckbett aus Milli’s Anstalt ging durch Entwendung in ein Erziehungs-Institut für junge Mädchen über, und alsbald taufte die Vorsteherin ihre Anstalt in eine orthopädische um, indem sie mit dieser Schablone curirte, was schief und bucklig war; ihrem Beispiele folgten bald andere Pensionate, und auch bei uns gingen in ähnlicher Weise aus Erziehungsanstalten plötzlich orthopädische hervor; ferner waren es frühere Messerschmiede, Bandagisten, Handschuhmacher, Riemergesellen, Barbiere etc., welche unter der Firma „orthopädisches Institut“ und dem imponirenden Titel „Director“ Geschäfte zu machen unternahmen.

Der Staat, der sonst zum Wohle seiner Unterthanen die Ausübung ärztlicher Künste an rigoröse Prüfungsbedingungen knüpft, duldet noch immer die Usurpation dieses Heilzweiges von Seiten gänzlich unberufener und rein auf Geldspeculation ausgehender Individuen; und doch ist gerade hier der Schaden beträchtlicher, als bei anderen Pfuschcuren; handelt es sich doch nicht blos um eine versuchsweise unternommene körperliche Cur, sondern auch um das innere Wohl eines Menschenkindes, welches einen ganzen Lebensabschnitt zu opfern bestimmt wird: fern vom Elternhause, bringt das arme Geschöpf freudenlos ein Paar seiner Blüthejahre dahin, wenn nicht die baldige Einsicht von der gänzlichen Erfolglosigkeit der Cur und die Scheu vor den immer steigenden Geldopfern schon vor der Zeit Erlösung bringt.

Betrachten wir die einzelnen Behandlungsweisen, wie sie in den Anstalten üblich sind, näher, so müssen wir die eine Art derselben geradezu als eine Mißhandlung bezeichnen. Die Folter, deren sich die Justiz humaner Weise entschlagen hat, sie hat mitten in den Centralstätten der Civilisation eine Zuflucht gefunden, in sogenannten Heilanstalten (maisons de santé)! Wir schaudern, wenn wir von den lebensgefährlichen Proceduren lesen, welche vom Orthopäden Rhauchin zu Montpellier an dem schiefen Fräulein von Montmorency vorgenommen wurden: das Mädchen wurde zwischen den Hölzern einer Waschpresse förmlich gepreßt, um die ausgetretenen Wirbel wieder einzurichten; als dies nichts fruchtete, ließ man eine mächtige Wagenwinde auf die Krümmungen einwirken; das Fräulein wurde von zwei starken Männern an den Schultern festgehalten und die Winde nun so lange gegen das Rückgrat hereingeschraubt, bis die Gequälte laut aufschrie. So roh verfuhr man vor bereits einigen Decennien, aber wir sind auch heutzutage noch nicht viel weiter! Waschpresse und Wagenwinde gelten zwar für barbarische Instrumente, aber sind im Grunde jene eleganten Streckbetten, jene zierlichen Maschinen, wie sie in den modernen Cursälen paradiren, etwas Besseres, Humaneres? – durchaus nicht! es sind nach wie vor wahre Prokrustes-Vorrichtungen, mit welchen der menschliche Körper, wie eine mechanische Drahtpuppe, von dem cidevant-Bandagisten maltraitirt wird. Wir berufen uns hier auf das Zeugniß aller jener Familien, welche das Unglück hatten, die Bekanntschaft dieser kostspieligen Apparate zu machen.

Ein ähnliches Unwesen wird in der Häuslichkeit mit den Schnürleibern getrieben. Gegen den Gebrauch derselben und über ihre schädlichen Folgen bei Gesunden haben sich längst gewichtige Autoritäten vernehmen lassen. Die bei schiefen Mädchen gangbaren Corsets verschlimmern geradezu den Zustand, den sie verbessern sollen. Auf den ersten Anblick haben sie etwas ungemein Bestechendes: sie pressen den Brustkorb in die Länge, heben die Schultern gleich hoch und lassen so die Körperhaltung gerader erscheinen; darüber beachtet man aber nicht, wie nach jedesmaliger Abnahme des Corsets der Oberleib immer mehr zusammenknickt, wie das Kind immer mehr die Fähigkeit verliert, sich selbständig gerade gerichtet zu halten; die Haut des Rückens erscheint wie geplättet, die normalen Muskelcontouren sind nicht wahrnehmbar, die Muskeln selbst durch den beständigen Druck abgezehrt und gelähmt; die Rückgratkrümmung hat trotz des Corsets bedeutende Fortschritte gemacht!

Um auf die Streckmaschinen zurückzukommen, so lastet auf ihnen, ganz abgesehen von ihrer mechanischen Einwirkung, der schwere Vorwurf, daß sie den Körper zu einer höchst nachtheiligen Unthätigkeit verdammen. In manchen Instituten bildet ein mehrmonatliches, streng durchgeführtes Verharren in der Horizontallage die bloße Vorbereitung zu der eigentlichen Cur, und namentlich in England, in den sogenannten nurseries, ist das planum inclinatum, d. h. ein hölzernes geneigtes Bret als ausschließliches Ruhelager eine sehr verbreitete orthopädische Maßregel. Da sie von dort her sogar in deutsche Familien Eingang gefunden hat, so machen wir hier auf die positive Schädlichkeit derselben besonders aufmerksam; sie gründet sich auf die Absicht, die vermeintlich zusammengezogenen Rückenmuskeln zu erschlaffen; es wird aber dadurch noch vielmehr der ganze Körper auf einen bedenklichen Grad von Schwäche und Abmagerung zurückgeführt, welches eine aufrechte Körperhaltung geradezu unmöglich macht. Eine unschuldige Modification dieser Methode bildet die vom Hausarzte zuweilen ertheilte Anweisung, das skoliotische Kind täglich eine Zeit lang auf dem harten Fußboden liegen zu lassen, womit natürlich nichts weiter erreicht wird, als etwa die Beruhigung, sagen zu können, daß mit dem schiefen Kinde etwas geschehe.

Im Gegensatz zu jenen Curen, wo der Körper zur Unthätigkeit verdammt und in seiner Entwickelung gehemmt wird, gewährt [283] die Kategorie der sogenannten gymnastischen Anstalten einen wohlthuenden Anblick; hier wird für beständige Leibesübung gesorgt; die Kinder, dort bleich und hager, sehen hier blühend und wohlgenährt aus; am auffallendsten ist dieser Contrast, wenn ein Curgast nach längerem Aufenthalte in einer Streckanstalt zu einer gymnastischen übergeht; er erholt sich zusehends und scheint endlich die Hoffnung auf Heilung zu gewähren; es gehen einige Monate hin, täglich werden mit größtem Ernste die „Hackungen, Walkungen, Knetungen“, die activen und passiven Bewegungen nach einem von der Hand des Meisters redigirten Recepte vorgenommen; trotzdem wankt und weicht die eigentliche Krümmung nicht, ja es gewinnt schließlich den Anschein, als ob sie sich sogar verschlimmere – und es ist dies wohl begreiflich: eine solche gymnastische Uebung ist recht gesund und förderlich für Gerade und solche, die es bleiben wollen, aber nicht für Schiefe, die gerade werden wollen; mit anderen Worten, wir schätzen sie sehr hoch als Verhütungsmittel gegen eine Mißgestaltung des Körpers, aber der bereits bestehenden Rückgratverkrümmung gegenüber müssen wir sie als eine bloße Spielerei bezeichnen; manchem Skoliotischen schadet sie nichts, vielen aber schadet sie effectiv durch Anstrengung und Erschlaffung der Muskeln. Aufrichtige Orthopäden haben die Nutzlosigkeit der Gymnastik auf dem vorliegenden Felde längst eingestanden. Der berühmte Dupuytren ließ seine schiefen Patienten in dem Institute des Orthopäden Duval mit Gymnastik behandeln und gab bald seine Freude über den sichtlichen Erfolg – nämlich über das bessere Aussehen und die Munterkeit der Kinder – zu erkennen; dem entgegen erklärte ihm aber Dr. Duval, daß seit Einführung der Gymnastik in der Rückgratverkrümmung selbst offenbare Rückschritte gemacht würden.

Diese unsere – noch sehr gelinde gehaltenen – Ausführungen wird mancher Parteigänger durch einen Blick in den Jahresbericht irgend welchen orthopädischen Instituts für sofort widerlegbar erklären; er wird uns z. B. daraus nachweisen, daß durch Maschinenbehandlung sämmtliche aufgenommenen Skoliotischen gänzlich hergestellt oder erheblich gebessert seien, während allerdings die gymnastische Cur als höchst müßig auch in diesem Berichte dargestellt werde; dagegen wird uns ein Anderer mit Heilberichten aufwarten, welche die Maschinenbehandlung in Grund und Boden verdammen, und nur die Heilgymnastik als unfehlbar darstellen – in diesen Berichten ist also angeblich auf ganz entgegengesetztem Wege ein und dasselbe Ziel erreicht worden!

Es ist in der That unglaublich, welch crasser Schwindel gerade auf orthopädischem Gebiete getrieben wird; nicht nur Laien, auch Aerzte und sogar medicinische Körperschaften haben sich täuschen lasten; so producirte z. B. ein Bandagist der Pariser Akademie eine neue Maschine, mit welcher er Angesichts einer Commission, Heilungen ausführen wolle; diese Heilungen wurden denn auch nach etlichen Monaten officiell constatirt. Bald darauf wies aber der Orthopäde Guerin nach, daß diese angeblich Geheilten nie schief gewesen seien, sondern nur eine Skoliose geheuchelt hätten; dieser selbe Guerin aber entblödete sich späterhin nicht, die medicinische Welt mit seiner Rückenmuskel-Durchschneidung auf das Großartigste zu dupiren, indem er sich kraft dieser Entdeckung als den Columbus der Orthopädie ausrufen ließ, und bald darauf wies der treffliche Malgaigne an den von Guerin selbst als geheilt ausgegebenen Fällen die gänzliche Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit dieser Methode nach.

Von solchen Thatsachen wimmeln die Annalen der Orthopädie; mögen die hier gegebenen Skizzen dazu beitragen, bei der Wahl eines orthopädischen Mittels, eines orthopädischen Arztes oder Institutes mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen! mögen sie aber vor Allem dazu beitragen, die Chancen einer orthopädischen Cur überhaupt fern zu halten durch eine auf Körper und Geist gleichmäßig vertheilte Erziehung!




Wilhelm von Kaulbach.

Als unser deutsches Vaterland unter dem Drucke der Napoleonischen Zwingherrschaft es empfinden lernte, daß aus der Tiefe des deutschen Wesens heraus der Geist geboren werden müsse, der die welschen Fesseln brechen könne, als ein tiefer sehnsüchtiger Zug unseres ganzen geistigen Lebens nach der ruhmvollen Glanzzeit der alten deutschen Macht und Herrlichkeit sich regte und dann in der kurzen Epoche der Freiheitskriege dieser Geist mächtig in Flammen schlug und in allen Herzen zündete: da hatten auch die begeisterten Jünger der deutschen Malerei mit kühnem Muthe den Zopfzwang des achtzehnten Jahrhunderts mit seiner sogenannten classischen und akademischen Hohlheit und Lüge abgeworfen und waren in ernstem Streben auf die schlichte Einfachheit und glaubensvolle Innigkeit der altdeutschen und altitalienischen Kunst zurückgegangen, um da den Aufschwung eines neuen Kunstlebens zu gründen. Mit welchem Erfolge jenen Männern das oft verkannte und geschmähete Werk gelungen, davon gibt uns die wunderbare Blüthe Zeugniß, deren die deutsche Kunst in unserm Jahrhundert sich freudig rühmen darf, und deren Ursprung immer wieder auf jene großen Maler, Cornelius, Overbeck und ihre Genossen zurückweist, die damals zu Rom in stiller Zurückgezogenheit die Neugestaltung der verlebten Kunstformen vollbrachten, bis ihnen König Ludwig, der hochherzige deutsche Künstlerfürst, die großen Werke übertrug, an deren Ausführung in München sich eine zahlreiche und blühende Schule heranbildete. Keiner der Nachfolger der ersten Begründer unserer neuen deutschen Kunst hat gleichen Ruhm errungen wie Wilhelm von Kaulbach, der in der Malerei ein ganz neues Feld eröffnet und als der Repräsentant einer künstlerischen Revolution betrachtet werden muß.

Denn keiner der modernen Künstler, Cornelius nicht ausgenommen, hat die Resultate eines bereits ein Jahrhundert währenden geistigen Ringens in Kunst, Geschichte, Philosophie, Politik, ja selbst in den allerneusten materiellen Bestrebungen, so in dem Brennpunkt seiner künstlerischen Thätigkeit zu vereinigen und darzustellen verstanden, wie Kaulbach, und in keinem modernen Künstler charakterisirt sich die moderne Kunst in ihren Licht- und Schattenseiten wie gerade in ihm. Welcher Contrast der Stylart, welcher Aufschwung von jener barock-genialen Composition eines Irrenhauses zu dem großen Styl der Hunnenschlacht, welcher Reichthum, welche Großartigkeit der Anschauungen, welche extensive Kraft von den Schiller- zu den Shakespeare-, von diesen zu den Goethe-Illustrationen – und zuletzt zu den Berliner Fresken, welcher Humor in Reineke Fuchs, welcher künstlerische Ernst in der Zerstörung Jerusalems, welcher Contrast zwischen beiden Schöpfungen, welche künstlerische Objektivität!

Die neueste Aesthetik will zwischen Kaulbach und Cornelius, wie zwischen Idealismus und Realismus unterscheiden. Vergleicht man Kaulbachs Wirksamkeit mit der seines großen Meisters Cornelius, so muß sich aus den verschiedenen Standpunkten bestimmter Kunstanschauungen eine unabsehbare Fülle von Vergleichen ergeben. Wie Raphael mit Michel Angelo, Goethe mit Schiller, Mozart mit Beethoven, so geben diese Meister, mit einander verglichen, zwei leuchtende Glanzpunkte, deren Bedeutung nicht an und für sich beurtheilt werden kann. – Beide vereinigen sich in dem entschiedenen Streben nach der künstlerischen Schönheit, welche die Kunstwahrheit über die Naturwahrheit erhebt, sie schaffen beide in einem idealen Styl. Beide sind keine Coloristen, aber nach dem Lessing’schen Worte, wornach nicht die Hand, sondern das Auge, das Sehen der Dinge den Maler macht, doch große Maler. Ihre Richtungen gehen nicht auseinander, ihre Natur, ihre Begabung ist nur eine verschiedene.

In Kaulbach ist die ganze Fülle moderner Bildung künstlerisch verkörpert. Gehen wir an seine großen historischen Schöpfungen, so treten uns daraus die Resultate der neuesten historischen und philosophischen Forschungen in Gestalten verkörpert entgegen; betrachten wir seine satirischen Zeichnungen, so begegnen wir der Ironie der Romantiker, vermengt mit Heine’schem Witz und Uebermuth, ja sogar mit etwas allerneuestem Kladderadatsch. Und doch ist Kaulbach in diesen scheinbar entgegengesetzten geistigen Richtungen und vielleicht eben wegen derselben ein durch und durch harmonischer Genius, eine künstlerische Natur, die aus dem Zusammenwirken der positiven und negativen Geistesanlage, von nie rastendem Forschens- und Geistestrieb bewegt, sich in sich selbst abrundet, erneut und kräftigt. Aus dieser so verschiedenen Begabung läßt sich auch die große Productivität des Künstlers erklären. Kaulbach [284] steht immer über sich selbst, und wenn bei ihm die Gefahr möglich wäre, zu tief in seine Subjectivität zu versinken, so wäre er es nur, der das Münchhausen’sche Kunststück wirklich vollbrächte, sich bei seinem eigenen Schopfe selbst aus dem Sumpfe zu ziehen. „Die Biographie eines Künstlers sind seine Werke,“ ist Kaulbachs eigener Ausspruch.

In dem kleinen Waldeck 1805 zu Arolsen geboren, ging er durch die Lehrzeit des Goldschmiedehandwerks, das schon die größten Maler aller Zeiten aus sich hervorgehen sah, zur Historienmalerei über, studirte in Düsseldorf und kam mit seinem Meister Cornelius nach München, um, anfangs bei dessen Arbeiten thätig, bald zu dem Gipfel seines eigenen Ruhmes emporzusteigen. Gegründet wurde derselbe in München, verkündet in Berlin, wo er im Treppenhaus des neuen Museums die bekannten geschichtlichen Fresken ausführte. Seinen häuslichen Heerd hat er in München gebaut, wo er seit Cornelius’ Abgang Director der Akademie der bildenden Künste ist.

Ich glaube nicht, daß der berühmte Künstler es als einen Mißbrauch seines Vertrauens auslegen wird, wenn wir unsere Leser in die Werkstätte seines Genius, sein Atelier, einführen. Dasselbe ist im Gebäude der königlichen Akademie, und hier, im ehemaligen Jesuitercollegium, malt Kaulbach, der Maler des Protestantismus, seine Bilder. So haben Häuser ihre Schicksale. Die Treppe hinauf, an den Ateliers der Professoren von Schwind, Anschütz und Folz vorüber, führt der Weg eine weitere kleine Treppe höher in das Atelier des Chefs der Kunstanstalt. Ein weiter, hoher Raum, würdig, die Gedanken eines so großen Schöpfergeistes in sich aufzunehmen, dieser Raum, mit den Tapeten Raphael’s ausgeziert, einem alten kostbaren Schatz des baierschen Königshauses, den, wenn wir nicht irren, König Ludwig der Akademie zum Geschenk gemacht hat.

Wilhelm von Kaulbach.

Ein kolossaler Carton mit gewaltigen Gestalten und Gruppen nimmt fast die ganze eine Hälfte des Raumes ein. Auf den verschiedenen Staffeleien rings umher sind kleinere theils angefangene, theils vollendete Kreidezeichnungen, darunter die neueste Composition des Künstlers zu den Goethe-Illustrationen, Werther’s Lotte im Kreise ihrer jüngeren Geschwister, aufgestellt (links auf der Illustration). Rings an den Wänden umher begegnet das Auge den ersten skizzenhaften Entwürfen zu den weltbekannten Fresken an der Münchner neuen Pinakothek und im Berliner Museum, dazwischen im einfachen Rahmen einer älteren Zeichnung zu Schiller’s Verbrecher aus verlorner Ehre. Die lebensgroße Gestalt eines jungen Mannes mit dem edlen Kopfe und den träumerischen Augen ist eine theure Jugenderinnerung des Künstlers an seinen Aufenthalt in Italien und das Glück der Freundschaft, welches er dort in einem jungen ungarischen Baron P. fand.

Zwischen Staffeleien, Seidendraperien, alterthümlichen Möbeln, Büchern, Schädeln und Todtengebeinen uns durcharbeitend, bleiben wir gefesselt vor einem verstaubten, vielleicht absichtlich in den Winkel gestellten Bilde stehen, einer Frauengestalt in Lebensgröße und in der Tracht und Umgebung des siebzehnten Jahrhunderts, mit einem Kopfe von wunderbarer Schönheit, mit Augen so dämonischen Zaubers, daß sie nur einer Lucrezia Borgia oder einer Lola Montez gehören können; das Letzte ist das Richtige.

Unter den meisterhaften Portraits der Münchner Freunde des Künstlers treffen wir manche berühmte Persönlichkeit. Von der Masse der Studienköpfe zieht uns namentlich die Zeichnung eines interessanten männlichen Kopfes mit einem tief melancholischen Ausdruck an; diesen Kopf hat sich der Künstler zu seinem Hamlet ausersehen; in ihm erblicken wir einen lieben Bekannten, einen Bekannten von halb Europa. Ja, jene Gestalt im schwarzen Sammetmantel und mit den langen Händen, mit dem vergeistigten, wir wollen nicht sagen geisterhaften, Gesichtsausdrucke ist Liszt – der Vater aller langhaarigen Genialität. Und hier (das Bild in der Mitte unserer Illustration) – o, wie schön, wie edel, wie geistvoll! – Prinzessin Marie W., vermählte Fürstin H., im lichtblauen Seidengewand, mit fürstlichem Schmucke, umwallt von langen, luftigen Schleiern, ganz „Fee Abunda“, wie sie Geibel stets zu nennen beliebte.

„Ach, Sie kennen die Prinzessin?“ Mit diesen Worten ist ein Mann in einem langen Talare von dunklem Tuch, in einem grauen Filzhute, mit der Cigarre im Munde, der Reißfeder in der Hand, zu uns getreten – es ist Kaulbach. Ein Carton hatte uns bisher seine Person verdeckt. Ein Anknüpfungspunkt ist gefunden. Er spricht mit begeisterter Anerkennung von den außerordentlichen Eigenschaften der hohen Dame, er ladet uns ein, auf dem grünen Plüschmöbel mitten unter exotischen Pflanzen Platz zu nehmen, er bietet Cigarren an.

Wir nehmen einige Blätter zur Hand, die auf dem Tische liegen. Wir begrüßen in „Gretchen am Brunnen“ eine neue Originalzeichnung. – „Originalzeichnung?“ wiederholt lachend der Künstler – „nein, es ist nur eine Photographie der Originalzeichnung, aber so vollendet, daß am Ende nur der Autor selbst die Unterscheidung machen kann.“ Er spricht dann weiter von den glänzenden Resultaten, zu denen es die Photographie und neuerdings namentlich der Hof-Photograph Albert in München gebracht

[285]

Das Atelier Kaulbach’s in München.

[286] habe, aus dessen Atelier eben dieses Blatt hervorgegangen sei. Wohl schon längst hat uns der Künstler die stille Sehnsucht nach einer Deutung des bereits erwähnten großen Cartons angesehen, von dem der Holzschnitt die eine linke Seite bringt. „Es ist die Schlacht von Salamis,“ erklärt er in etwas gebeugter Stellung und mit sinnendem Blicke vor der gewaltigen Composition stehend, „eines von den für das Münchner Maximilianeum bestimmten, die bedeutendsten Ereignisse der Weltgeschichte darstellenden Bildern, die König Max an verschiedene Künstler in Auftrag gegeben hat. Rechts die Griechen, links die Perser; dort kämpfen Männer wie Themistokles, Aeschylus, der junge Sophokles, hier Weiber, dort Ruhe, edle Begeisterung, hier wilde Hast und verzweifelnde Verwirrung. Ueber dem Griechenheere schweben in lichter Glorie die Geister der homerischen Helden, die den Griechen nach Thukydides sollen beigestanden haben, auf jenem Plateau gegenüber erbebt in wilder Verzweiflung der Perserkönig, dem der Meergott höhnend die Fesseln entgegenhält, mit denen er einst das Meer züchtigen wollte. Denn die Schlacht naht sich dem Ende – der Sieg neigt sich den Griechen zu – und von diesem Kampfe eines kleinen, aber freiheitglühenden Volkes gegen den persischen Koloß, von diesem Siege datirt die griechische Freiheit, von dieser Freiheit die griechische Cultur – und wir sind die Producte dieser Cultur.“

Während er dies spricht, haben wir Gelegenheit, uns seinen Kopf näher zu betrachten. Ein Physiognomiker würde hier ein reiches Feld haben. Auf der wunderbar gewölbten Stirne, in den tiefen Augen der große historische Ernst, um die Lippen so viel Ironie, Sarkasmus, so viel Weltklugheit. Wie alle bedeutenden Menschen, ist er mit der Zunge nicht freigebig. Gedanken kann er besser verwerthen, als für bloße Conversation verschleudern, und leere Worte hält er seiner unwürdig. Er spricht nicht fließend, sobald er aber spricht, ist seine Rede bedeutend und voll Pointe. Wir sind nicht mehr mit ihm allein, die Gesellschaft hat sich um einige Herren vermehrt, um Namen, die in der Wissenschaft und Literatur von gutem Klange sind.

Kaulbach nimmt auf einem grünen Lederstuhle seinen Platz vor einer Staffelei ein, fährt an einer Kreidezeichnung zu arbeiten fort, die Conversation spinnt sich weiter, er nimmt hie und dort mit einem Scherz oder einer feinen Bemerkung daran Theil – endlich steht er auf und gönnt der Gesellschaft den Blick auf den ersten Entwurf zu dem Abschluß der Berliner Fresken, dem Zeitalter der Reformation.

Welche Fülle von Gestalten, welche Vereinigung von Elementen, die jener gewaltigen Epoche der Geschichte vorangingen, sich aus ihr erzeugten, oder in ihr zusammentrafen. Dort die Blutzeugen der Albigenser, hier Albrecht Dürer, da Copernikus sein System an die Wand zeichnend, im Vordergrunde Columbus seine Hand auf die Weltkugel legend, Vasco de Gama, Martin Behaim, Regiomontanus. Dort Petrarca, hier Shakespeare, weiter zurück die Helden des dreißigjährigen Krieges, und in der Mitte des Ganzen, während die geistlichen Gehülfen am großen Werke auf der einen Seite den deutschen fürstlichen Schirmern und Schützern des gereinigten Glaubens den Abendmahlskelch reichen, auf der andern Seite Königin Elisabeth mit ihren Bischöfen erscheint, in der Mitte des Ganzen, Alle überragend, Alle auf sich beziehend, die drei großen Reformatoren, das Zeugniß des neuen Glaubens, das Buch der Bücher hoch und freudig emporhaltend.

„Ja, bei Gott, Kaulbach,“ ruft einer der Freunde des Künstlers entzückt aus, „Sie sind ein großer Maler!“

„Nicht doch, ich bin Director der Akademie,“ erwidert mit schelmischem Lächeln der Künstler. „Die Herrschaften müssen mich jetzt entschuldigen, ich muß zur Conferenz.“
G. H.




Der Tugendbund.

Zu allen Zeiten lebt in dem Volke selbst, wenn es nicht gänzlich entartet ist, eine innere Heilkraft, welche sich in den Zeiten der Gefahr und großer Krisen stets bewährt. Wie im menschlichen Organismus, wenn er schwer erkrankt, die Natur mit Aufwendung aller Mittel das Uebel beseitigt und die Genesung einleitet, so wirkt auch in dem Staatsorganismus der Geist des Volkes unter ähnlichen Verhältnissen belebend, erhebend und kräftigend, indem er sein eigener Arzt wird und neue, frische Kräfte aus sich selber schöpft. – Als durch die Schlacht bei Jena die preußische Monarchie fast in den letzten Zügen lag, kam die Rettung zunächst aus dem Volke selbst. Zwar erkannte die Regierung die Fehler der Vergangenheit und suchte dieselben durch eine Reihe zweckmäßiger Reformen zu beseitigen, aber sie befand sich nur in der Lage des Arztes, welcher seine Mittel verschreibt, ohne zu wissen, wie weit die Naturkraft des Kranken ausreichen und ihn unterstützen wird. – Aus dem Volke selbst entwickelte sich aber jene innere, wohlthätige Reaction, welche einzig und allein die verlorene Gesundheit wiederbringen kann. Ein solches Streben nach dem Besseren that sich vor Allem in dem sogenannten „Tugendbunde“ kund.

Mitten in der allgemeinen Verwirrung und Auflösung erkannte ein wahrer Patriot, „daß Preußen seine Größe nur in sich selbst suchen, daß die Bürger des tief entwürdigten und geschwächten Staates durch Förderung und Aufrechthaltung vaterländischer Tugenden zum Bewußtsein ihrer moralischen, geistigen Kraft, zum Gefühl ihrer sittlichen Würde wieder emporgehoben werden müßten.“ In Stunden geschäftsloser Muße übermannte ihn oft der tiefe Schmerz über die Schmach des Vaterlandes; seine Seele war voll Trauer über die jämmerlichen Zustände. Tag und Nacht sann er auf Rettung, die er einzig und allein in der Wiedererweckung, Stärkung und Bewährung vaterländischer Tugenden, in der thatkräftigen Wirksamkeit echtpatriotischer Gesinnung zu finden glaubte.

Dieser treue Vaterlandsfreund war Beamter, der Oberfiscal Mosqua zu Königsberg. Er verkannte nicht die großen Schwierigkeiten, die sich seinem Vorhaben entgegenstellten, aber mit fester Beharrlichkeit steuerte er auf sein Ziel los. Am 18. März 1808 that er den ersten Schritt zur Verwirklichung seiner Pläne, indem er sich an den damals in Königsberg anwesenden Geheimen Cabinets-Rath Beyme vertrauensvoll mit folgendem Schreiben wandte: „Ich glaube, die Zeit ist vorhanden, wo man seine Kräfte für König und Vaterland hergeben kann und muß, ohne die Wirkung verfehlen zu dürfen. Was die äußere Macht nicht vermocht hat, wird gewiß die innere Kraft in’s Werk richten, welche wir erst kennen lernen müssen, um davon den zweckmäßigsten Gebrauch machen zu können. In dieser Meinung habe ich es für dienlich gehalten, Seine Königliche Majestät in der beiliegenden Eingabe um die Erlaubniß zur Errichtung einer vaterländischen Privat-Gesellschaft zu bitten, ohne daß solche dem Staate einige Aufopferung kosten darf.“

In der Eingabe selbst hieß es nach einigen einleitenden Worten: „Ich will es freimüthig heraussagen: die deutschen Tugenden sind schon sehr tief untergraben. Aber noch stehen ihre Grundfesten unerschüttert da; noch ist es Zeit, dem Ungeziefer entgegenzuarbeiten, welches dazu gebraucht wird, das deutsche Vaterland zu zerstören. Noch sind wir Deutsche! Von allen Tugenden, die in uns leben, will ich nur eine hervorheben: es ist die deutsche Treue. – Nur eine Gesellschaft deutscher Biedermänner von Kopf und Herz ist im Stande, mit vereinten Kräften dem Uebel entgegenzutreten, welches uns mit gänzlicher Vernichtung bedroht. Zu ihrer Vereinigung wünsche ich aus rein patriotischem Eifer die erste Hand anlegen zu dürfen, ohne mich an die Spitze stellen zu wollen. Um aber den Feinden der guten Sache den Anlaß zu nehmen, sie sogleich im Beginn zu verdächtigen, glaube ich, daß die Gesellschaft einstweilen unbekannt bleiben und im Stillen Gutes zu thun suchen müsse.“

Beyme’s Antwort lautete zwar vorsichtig, aber doch im Ganzen ermuthigend, so daß Mosqua ungesäumt an die Ausführung ging. Zu diesem Zwecke versammelte er einige ihm befreundete Gesinnungsgenossen, den Major von Both, die Kriegsräthe von Tepper und Velhagen, den genialen Professor Lehmann etc., um mit ihnen das Nähere zu besprechen. Auf Wunsch dieser Versammlung arbeitete zunächst der geistvolle Lehmann ein „Allgemeines Grundgesetz zum Tugendverein“ aus, worin er die zu Grunde liegenden Ideen ausführlich folgendermaßen entwickelte: „Ein musterhaftes Leben, Humanität und Anfesselung jedes Menschen an Jeden und an das Gesetz ist das Strebeziel des Vereins. [287] Festigkeit des Sinnes und irgend welche gute Auszeichnung sind die Bedingungen zur Wahl der Mitglieder. Diese arbeiten mündlich oder schriftlich durch alle Mittel der Macht darauf hin, daß Vaterlandsliebe, deutsche Selbstheit, Geradsinn, Liebe zu den natürlichen Verhältnissen der Familie, Anhänglichkeit an den Monarchen und die Verfassung, Achtung gegen Gesetz und Obere, Religiosität, festes Streben gegen Unsitte, Laster und Künstelei, Liebe zur Wissenschaft und Kunst, Humanität und Brüderlichkeit, daß der Haß gegen den Luxus, dieses Gift der Treue, der Natürlichkeit und offenen Schlichtheit und diesen Pfleger von Falschheit, Selbstsucht und gekünstelten Sitten, daß die Tugenden des Muthes, der Hoffnung, der Freimüthigkeit und der bürgerlichen Festigkeit, daß endlich der Haß gegen Schmeichelei, Kriecherei, Verweichlichung, Menschenscheu und dergleichen wachse.“

Mit diesen Grundzügen stimmten die später ausgearbeiteten Statuten der Gesellschaft überein, die sich den Namen „Tugendverein“ selbst beilegte. Vor Allem war es jedoch nöthig, die Beistimmung der höheren Behörden zu erlangen. Zunächst wurde General Scharnhorst, der geniale Schöpfer der preußischen Wehrkraft, in der Umgebung des Königs für die Zwecke des Vereins, mit denen er selbst innig sympathisirte, gewonnen. Er wurde der Hauptförderer und Beschützer der Gesellschaft, ohne ihr jedoch, wie fälschlich geglaubt wird, beizutreten. Endlich erfolgte auch die königliche Anerkennung und officielle Genehmigung des sogenannten „Tugendvereins“, insofern er sich hiermit in den Grenzen der Landesgesetze und ohne alle Einmischung in Politik und Staatsverwaltung beschäftigen wolle.

Alsbald entfaltete die neue Verbindung eine ungemeine Thätigkeit, in kurzer Zeit wuchs die Zahl der Mitglieder auf Hunderte, darunter die besten und edelsten Männer des Landes. Ueberall bildeten sich sogenannte „Kammern“, welche sich der „Hauptkammer“ in Königsberg unterordneten, die wieder von einem „Obercensor“ geleitet wurde. Emissaire wurden nach den Provinzen, nach Schlesien und Pommern ausgesendet, um die Zwecke des Vereins zu fördern. Einer der Eifrigsten von ihnen war der Justiz-Assessor Heinrich Bardeleben aus Braunsberg, der längere Zeit fälschlich für den Stifter des Tugendbundes gehalten wurde.

In seiner Wirksamkeit hatte sich der Verein große, weit umfassende Ziele gesteckt, indem er für die Erziehung der Jugend, für Volksbildung und Volkswohlstand, für innere und äußere Polizei Sorge tragen wollte. Im Fache der Erziehung stellte er sich die Aufgabe: durch Berathungen die vorzüglichsten Methoden zu ermitteln, durch welche die Jugend zum möglichst vollständigen Gebrauche aller ihrer geistigen und körperlichen Kräfte gelange, die Entwickelung allgemeiner Sittlichkeit, Religiosität und besonders des Bürgersinns eifrig zu befördern, endlich die Erziehung elternloser und verarmter Kinder zu übernehmen.

Für die Volksbildung sollte durch Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse, durch Hebung des Nationalbewußtseins und Pflichtgefühls gewirkt werden. Zu diesem Zwecke sollte auch die Veredlung der Volksfeste, volksthümliche Spiele, körperliche Uebungen, Turnen etc. dienen; dagegen wollte man dem Hange zu Privatkomödien, dem Lesen schlechter Romane und unsittlicher Gedichte entgegenarbeiten und diese durch bessere, gediegenere Schriften für das Volk zu ersetzen suchen. Für den Volkswohlstand gedachte der Verein durch Belohnung und Aufmunterung, Herbeiziehung von kenntnißreichen Fachmännern, durch Vorschußcassen etc. einen neuen Aufschwung herbeizuführen. Im Fache der äußeren Polizei ging sein Streben dahin, das Volk über den Zweck der verschiedenen Gesetze und Maßregeln aufzuklären und seinen Rechtssinn zu stärken, während die innere Polizei sich lediglich auf das sittliche Verhalten der Bundesmitglieder selbst beschränkte.

Die Zeit des Bestehens, welche dem Tugendbunde zugemessen, war zu kurz, um all diese großartigen Pläne auszuführen, dennoch leistete er Wunderbares. In Königsberg errichtete er eine Speiseanstalt, wo täglich 640 Arme unentgeltlich gespeist wurden; in Braunsberg wurde eine Industrieschule geschaffen, die nach wenig Monaten schon 146 Mädchen und Frauen beschäftigte; an andern Orten machte er sich durch Einführung gymnastischer Uebungen, durch Anleitung zu einer besseren Cultur, durch Gründung von Niederlagen für Gewerbsarbeiten etc. hoch verdient.

Sein Hauptstreben war aber auf Weckung der Vaterlandsliebe und auf Befreiung von dem Joche des fremden Unterdrückers gerichtet, so sehr auch die Verhältnisse dem Verein die größte Vorsicht auferlegten. Es fehlte ihm natürlich nicht an Feinden und Gegnern, zu denen vorzugsweise die Franzosenfreunde am Hofe gehörten. Schon der Name „Tugendverein“ gab den entnervten Schranzen, den Ueberbleibseln einer frivolen und sittenlosen Vergangenheit, hinlängliche Gelegenheit zum Spötteln. Dazu kam die schwankende Lage des preußischen Staates, die Furcht des Königs, Napoleon durch Begünstigung einer Verbindung zu erzürnen, die entschieden gegen diesen gerichtet war. Während man im Geheimen die Zwecke der Gesellschaft billigte, sah man sich öffentlich dem französischen Gewalthaber gegenüber gezwungen, dieselben in Abrede zu stellen. Von Spionen und Aufpassern umringt, unter denen auch leider viele Deutsche sich befanden, war der Verein ein Gegenstand des Argwohns in den Augen der Franzosen und besonders Napoleons, der mit gewohntem Scharfblick die Gefahr einer solchen geistigen Volkserhebung sogleich erkannte und sie im Keime schon zu unterdrücken suchte.

Trotz all’ dieser Hindernisse verbreitete sich der Tugendbund mit überraschender Schnelligkeit über ganz Preußen, selbst in den kleinsten Städten fanden sich Theilnehmer und Förderer seiner Zwecke. Unter seinen Mitgliedern zählte er Männer, die durch Geist, Tüchtigkeit der Gesinnung und große Verdienste in der Staatsverwaltung hervorragten, so den nachmaligen Kriegsminister von Boyen, den Lieutenant von Witzleben, ebenfalls später Kriegsminister, den herrlichen Grolmann, den Prinzen von Hohenzollern-Hechingen und den Herzog von Holstein-Beck, den Kammerdirector von Ladenberg in Marienwerder, welcher bis zum Cultusminister emporstieg, Staatsrath von Ribbentrapp und den verdienstvollen Oberpräsidenten Merkel in Schlesien. Besonders zahlreich war der gelehrte Stand vertreten; durch Wort und Schrift wirkten für den Verein der Dompropst und nachmalige Bischof von Mathy in Kulm, die Professoren Krug in Königsberg, später nach Leipzig berufen, Eichhorn in Frankfurt an der Oder, der Geschichtschreiber Baczko, der gelehrte Rector Manso in Breslau, die Professoren Rhode und Elsler ebendaselbst und der bekannte Gubitz in Berlin. Männer wie Blücher, Gneisenau, Scharnhorst traten zwar dem Vereine, obgleich dies vielfach behauptet wird, nicht öffentlich bei, förderten aber und unterstützten ihn auf jede mögliche Weise im Stillen, da ihnen ihre Stellung eine größere Vorsicht auferlegte. Im gleichen Sinne wirkten Fichte, Schleiermacher und Arndt; wenn sie auch nicht zu den eigentlichen Mitgliedern gehörten, so standen sie doch zu den Leitern in innigstem Verhältnisse und waren vollkommen mit ihnen einverstanden. Stein dagegen nahm mit der Zeit, wenn auch nicht eine feindliche, so doch eine minder günstige Stellung zu dem Tugendbunde ein, wozu der amtliche Bericht des Assessors Koppe, der später durch seine Unvorsichtigkeit den Minister compromittirte und seine gezwungene Entlassung herbeiführte, das Meiste beigetragen zu haben scheint. Stein selbst hielt den Verein für unpraktisch und sein Streben, einen mittelbaren Einfluß auf die Erziehungs- und Militair-Anstalten auszuüben, für unstatthaft.

In ähnlicher Weise urtheilte ein großer Theil der preußischen Bureaukratie, welche zu allen Zeiten gegen jede Selbstbestimmung und Kraftäußerung des Volkes sich auflehnte und den beschränkten Unterthanenverstand unter ihre alleinige Vormundschaft stellen wollte. Von vielen Seiten wurde der König mit Klagen und Verleumdüngen gegen den Verein bestürmt, denen er jedoch anfänglich kein Gehör schenkte. Als der Herzog von Holstein, ein Mitglied des Tugendbundes, ihm für seinen Schutz dankte, äußerte sich Friedrich Wilhelm der Dritte folgendermaßen: „Es freut mich, daß Sie auch dazu gehören. Es ist wahr, daß dieser Verein Feinde hat, und daß ich der Einzige bin, der ihn hält, die andern Herren wollen alle nicht viel davon halten. So lange ich nun weiß, daß der Verein in den vorgeschriebenen Schranken bleibt, werde ich ihn gewiß schützen, weil manches Gute durch ihn bewirkt werden kann, und ich weiß es, daß viele vernünftige Männer in dieser Gesellschaft sind, von denen ich gewiß erwarten darf, daß sie suchen werden, Alles zu vermeiden und zu entfernen, was zu gegründeten Beschwerden gegen den Verein Anlaß geben kann.“

Gestützt auf diese königliche Zusage fuhr der Tugendbund in seinem segensreichen Werke fort, obgleich die mannichfachen Verleumdungen ihm einen gewissen Zwang auferlegten. Die Verbindung war zwar keine geheime, aber doch eine geschlossene, da die Mitglieder sich von allen Seiten beobachtet sahen. Unter dem [288] Vorwande einer Jagdpartie oder eines anderen Vergnügens versammelten sie sich bald bei einem wohlhabenden Gutsbesitzer auf dem Lande, bald in einer kleinen Stadt, wo sie sich weniger bemerkt glaubten. Hier wurden im Stillen die nöthigen Verabredungen getroffen, neue Bundesglieder aufgenommen, wichtige Nachrichten mitgetheilt und die Befreiung des Vaterlandes geräuschlos vorbereitet. Die Kunde dieser Vorgänge verbreitete sich durch ganz Deutschland, obgleich der Verein ursprünglich nur auf Preußen beschränkt blieb; sie flog über die Elbe zu den Völkern, die in westphälischer und französischer Gefangenschaft saßen; Vertraute bargen das heilige Feuer vor dem Auge der Bedrücker und warfen in die Nacht der namenlosen Leiden den Hoffnungsstrahl der Erlösung; die Niedersachsen, die Westphalen und Hessen klirrten mit ihren Ketten, und der Argwohn der Fremden glaubte sich von unsichtbaren Gefahren umgeben: sie fühlten das Wehen des Geistes, der ihre finsteren Werke zerreißen sollte.“

Der ausgestreute Samen blieb nicht ohne Frucht, aber leider war die Zeit der Reife noch nicht gekommen. Am 28. April 1809 verließ der Major Schill, der zum Tugendbund gehörte, heimlich mit seinem Regimente Berlin, um auf eigene Hand Napoleon den Krieg zu erklären. Zu gleicher Zeit erhob sich in Hessen der Oberst Dörnberg in ähnlicher Absicht; eine große Anzahl muthiger und tapferer Männer schloß sich ihnen an, beseelt von der edelsten Begeisterung. Beide Unternehmen scheiterten an der Unentschlossenheit der deutschen Regierungen und weil das Volk noch nicht genügend vorbereitet war. Der edle Schill büßte sein kühnes Wagen mit dem Leben; er starb den Heldentod in Stralsund, während Dörnberg sich durch Flucht dem gleichen Schicksal zu entziehen wußte.

Es genügte, daß Schill Mitglied des Tugendbundes war, um diesen zu seinem Mitschuldigen zu machen. Die Feinde des Vereins erhoben jetzt lauter als je ihre Stimme und beschuldigten ihn der gefährlichsten Tendenzen; mit ihnen zugleich forderte Napoleon, wenn auch nicht direct, die Auflösung des Tugendbundes. Diese erfolgte am 31. December 1809 auf Befehl des Königs, wonach die Auflösung ohne alles öffentliche Aufsehen, aber vollständig geschehen, alle Papiere abgeliefert und versiegelt, die Mitgliedschaft weder im Guten, noch im Bösen angerechnet werden, und die Censurbehörde keine Schriften und Aeußerungen über diese ganze Angelegenheit zum Druck gelangen lassen sollte.

Am 11. Januar 1810 wurde die königliche Cabinets-Ordre der letzten General-Versammlung in Königsberg durch den Prinzen von Hohenzollern mitgetheilt. In tiefster Trauer und unter Thränen trennten sich die Mitglieder, welche ein besseres Geschick verdient zu haben glaubten, aber ohne Murren sich dem Befehle des Königs fügten. Keiner war aber von dem schweren Schlage mehr niedergebeugt, als der Prinz von Hohenzollern; er verlangte, im Bewußtsein der edlen Zwecke des Vereins, eine strenge Untersuchung, die jedoch nicht erfolgte. Die Regierung wollte jedes Aufsehen vermeiden und begrub den Tugendbund in tiefster Stille.

Aber der Geist, aus dem er entsprungen, konnte nicht getödtet werden; er wirkte, wenn auch in anderer Form, lebendig in den Mitgliedern und in dem ganzen preußischen Volke fort. Das äußere Band war zwar zerfallen, um so leichter wurde der zerstreute Same durch das weite Land fortgetragen. Auch ohne Statut, Obere und gemeinschaftliche Versammlungen fanden und kannten sich die Freunde des Vaterlandes, die bald den großen „Tugendbund“ bildeten, der seine Mitglieder nicht nach Hunderten, sondern nach Hunderttausenden zählte und die ganze Nation, alle verwandten deutschen Stämme in sich aufnahm.
Max Ring.




Blätter und Blüthen.


Zwei Schillerreden. Nachdem der allgemeine Schiller-Jubel bereits seit Monaten verrauscht ist, und man mit nüchternen Blicken Alles anschaut, ist es Pflicht gerade solcher periodischer Blätter, wie die Gartenlaube, welche nicht flüchtig wie eine Alltagszeitung, sondern mit Bedacht in stiller Zurückgezogenheit gelesen wird, aus dem großen Wuste dieser neuesten Schillerliteratur die Perlen herauszulesen und darauf aufmerksam zu machen. Hierzu gehört aber ohne Zweifel eine Rede, welche am 10. November vor ausgewählten, wenn auch nur wenigen Zuhörern von Dr. Paul Möbius in dem Thomasgymnasium zu Leipzig gehalten worden und bei J. J. Weber in Leipzig in Druck erschienen ist. Es ist sicher für eine Rede ein lobendes Zeugniß, wenn selbst diejenigen, welche den mächtigen Einfluß des lebendigen Wortes erfahren haben, sie nachher mit Aufmerksamkeit und innerer Befriedigung durchlesen können. Und in der That ist dies dem Schreiber dieser Zeilen, der Zuhörer war, so ergangen. Um so mehr muß daher die genannte Rede diejenigen interessiren und anziehen, welchen sie ganz neu ist. Hierzu kommt noch, daß die oft berührte religiöse Frage in ihr in einer Weise behandelt wird, die sicher gerade auf die Leser der Gartenlaube einen angenehmen Eindruck hinterlassen dürfte.

Die kostbare Geistessaat, welche am großen Schillertage an den einzelnen Orten ausgestreut worden ist, fängt überhaupt an mehr und mehr Gemeingut zu werden, und ein patriotisches, nach hohen Zielen der Humanität und Geistesfreiheit ringendes Herz schlägt hoch entzückt von der Fülle von Schönheit und Kraft, die dieser Aussaat innewohnt und eine Ernte verspricht, wie Deutschland noch keine gesehen. Wenn nun ein Säemann noch jung an Jahren, ein Lehrer nach höherer Bildung strebender Jugend und ein Prediger des reinen Christenthums, ein echter Priester ist, so wünscht sich ein solches Herz Glück zu so ausgezeichneter Bekanntschaft. Einen solchen wackern Säemann lernen wir in Eduard Dressel, evangelischem Prediger und Gymnasiallehrer in Coburg, kennen, dessen am Schillerfeste ausgeworfener herrlicher Samen im Druck niedergelegt ist und die weiteste Verbreitung verdient. Seine „Rede zur Säcularfeier Schiller’s, im herzoglichen Gymnasium zu Coburg gehalten“, ist in der Riemann’schen Hofbuchhandlung erschienen, unter den Perlen der Redekunst, welche unser Nationalfest zu Tage gefördert, ohnstreitig eine der kostbarsten. Wahrlich, sie sollte in jedes humanen Deutschen Hand und Herzen sein! Voll Würde und Schönheit, voll Kraft und Gediegenheit, bringt sie mit den erhabensten Anschauungen des Menschenthums einen seltenen Gedankenreichthum, in die gefälligste Form gekleidet. Und dabei kein gemachtes Wort, keine Phrase, alles volle, echte Saatkörner voll treibender Lebenskraft. Wohl den Staaten, die Männer von solcher Geistesreife, wie Möbius und Dressel, aus den Reihen ihrer Jünglinge hervortreten sehen, und zehnfach Heil dem Vaterlande, das diese Männer zu den Lehrern seiner Jugend, zu den Vorkämpfern in den Geistesschlachten seiner Männer zählt!




Pariser Mittheilungen. Man schreibt uns aus Paris: „Die Unverschämtheit, mit der hier viele Franzosen von den natürlichen Grenzen sprechen, ist wahrhaft empörend für ein deutsches Ohr. Oesterreich werde zerfallen, Preußen dessen deutsche Provinzen sich nehmen (sic!), dafür jedoch den Rhein an Frankreich abtreten müssen, Landau in der Pfalz, das langjährige Eigenthum Frankreichs, an das Kaiserthum zurückgegeben werden. Preußen ist am bittersten gehaßt, weil man ihm allein die letzten Niederlagen Frankreichs zuschreibt. Mag es übrigens in Frankreich sein, wie es will, Deutschland kann trotzalledem noch viel von ihm lernen. Jeder Franzose, ohne Ansehen der Geburt, kann sich hier, sei es in der Armee, sei es in der politischen Carrière, eine hervorragende Stellung erwerben. Zählen Sie die bürgerlichen Marschälle Frankreichs gegen die Generale Deutschlands. Es ist ganz natürlich, daß ein solches Verhältniß den Muth der Soldaten stärkt. In Deutschland schlägt sich der Soldat für den Herrn von Gottes Gnaden und für die hohe Aristokratie. Daß ein Bürgerlicher zu höheren militairischen Würden gelangt, ist eine Seltenheit, in vielen Staaten eine Unmöglichkeit. Hat in Deutschland ein armer Teufel sich für sein Vaterland zum Krüppel schießen lassen, so hat er als Belohnung seine Entlassung und, wenn’s hoch kommt, die Erlaubniß zu erwarten, sein Brod – zu erbetteln. Frankreich und auch die Schweiz sorgen ganz anders für ihre Soldaten, die im Dienste des Vaterlandes ihre Gesundheit und Glieder verloren haben. Wie achtet man hier in Paris die Invaliden, wie werden sie gehätschelt von allen Seiten! Ich habe gesehen, daß Officiere der kaiserlichen Garde einem alten Invaliden, der an ihnen vorüberging, zuerst die militairischen Ehren erwiesen und, als der Invalide beim Gruße seinen Stock verlor, rasch hinzusprangen, den Stock aufhoben und mit einigen freundlichen Worten dem Krüppel überreichten. Wie würde in solchem Falle ein – Lieutenantchen gehandelt haben ?“




Für „Vater Arndt“

gingen ferner bei dem Unterzeichneten ein: 25 Thlr. und 21 fl. österr. Währung. Zweite Sammlung der Turnzeitung – 20 Ngr. Einige Frauen aus Freiberg – 1 Thlr. C. B. in Berlin – 15 Ngr. Vogelgesang in Ortelsdorf – 20 Ngr. Schnell in Broos (Siebenbürgen) – 1 Thlr. O. Kuhn, Forstaccessist – 2 fl. Zwei deutsche Mädchen aus Österreich (Wien) – 1 Thlr. G. F. D. in Weimar – 1 Thlr. von einer Dame in Danzig, Sophie Lenz, welche in demselben Hause geboren wurde, wo Arndts Wiege stand – 13 Thlr. Zweite Sammlung durch Herrn C. F. Schmidt in Frankenberg.


Und unsere Landsleute in Rußland? Haben sie den Deutschesten der Deutschen vergessen?

Ernst Keil.


Zur Beachtung!
Wir bitten unsere Leser, die der heutigen Nummer beiliegende Anzeige des vertrefflichen Werkes: „Hauslexicon“ von H. Hirzel nicht zu übersehen. Wir können das Buch als ein Universalwerk für das Haus Allen empfehlen.
Die Redaction.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.