Die Gartenlaube (1860)/Heft 19

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 19. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Für Holstein und Kurhessen!!

So lang noch eine deutsche Stimme
Sich laut und frei erheben darf,
So lange noch an deutschem Grimme
Sich schleifen deutsche Schwerter scharf,
So lange deutsche Noth und Schmach
Aus deutschen Augen Thränen pressen:
So lang laßt nie zu rufen nach
Die Namen Holstein und Kurhessen!

Das ist ein Ruf der Todte wecken
Und Lebende erstarren kann,
Voll Scham und Schande ist’s ein Flecken,
Der unsrer Ehre haftet an,
Das ist ein Schmerz, der glühend tropft,
Zahnknirschend, mit verhalt’nem Grollen
An jede Thüre mahnend klopft –
Doch bald wird er wie Donner rollen!

Ein Glied, das in fluchwürd’ger Stunde
Von unserm Leib gerissen los,
Und eine breite Todeswunde,
Die blutend klafft in unserm Schooß:
So ballt sich krampfend jede Hand,
Und schreit zum Himmel ungemessen
Das eig’ne Blut im eig’nen Land,
Im Lande Holstein und Kurhessen!

In unsern Thälern, unsern Bergen
Hallt zürnend wieder dieser Schrei,
Ob fremde oder eig’ne Schergen,
Der Freiheit gilt es einerlei;
Fragt ihr, von welchem Strauch der Stock,
Zeigt euer Rücken blut’ge Strähne –
Deutschland liegt wimmernd auf dem Block,
Und Büttel ist nicht blos der Däne!

Verloren längst ging aller Glauben
An Siegelwachs und Pergament.
Nichts soll dem deutschen Wort ihn rauben,
Das einzig noch sich heilig nennt;
Von deutschem Blut hat’s oft getrieft,
Nie sei es ohne Kampf vergessen:
Mit deutschem Wort auch ist verbrieft
Das Recht von Holstein und Kurhessen!

So zieht denn hin, es einzulösen,
Verbunden ist, wer Deutscher heißt,
Bedecket erst die eig’nen Blößen,
Eh’ fremde Fetzen ihr zerreißt;
Den heil’gen Kampf für eig’nen Heerd
Am eig’nen Heerd zuerst geschlagen,
Dann mag das schlachterprobte Schwert
Die fernern Feinde vor euch jagen!

Daß Deutschlands Eiche frisch erstarke,
Erwägt ihr, gegen äußern Sturm;
Wie soll sie grünen, wenn im Marke
Gefräßig nagt manch’ gift’ger Wurm?
Nach innen sei der Blick gewandt –
Was wir besitzen und besessen,
Umschlinge neu der Einheit Band,
Und frei sei Holstein und Kurhessen!!

Albert Traeger.


In den Casematten Magdeburgs.[1]
Von Levin Schücking.
1.

In den letzten Jahren des siebenjährigen Krieges hatte Magdeburg, die große Elbfestung, das Hauptkriegsbollwerk des preußischen Staates, nach und nach eine Menge österreichischer Kriegsgefangener aufnehmen müssen. In jenen Tagen war das Loos eines Soldaten kein beneidenswerthes; im Gegentheil, es hatte mit dem Schicksale eines geplagten Hundes weit mehr Aehnlichkeit, als mit dem eines in der heiligen Taufe mit seinem richtigen Christentitel versehenen anständigen Menschen. War der Soldat namentlich einer von denen, welche man „unsicher“ nannte, so war die von allen Philosophen jedem menschlichen Individuum eingeräumte bestimmte Sphäre von Rechten für ihn die reine Illusion; die ganze Theorie von den Rechten und Pflichten des Menschen, von denen Cicero so schön geschrieben und Kant so tiefsinnig gedacht und Mirabeau so hinreißend gesprochen hat, – diese ganze Theorie stand in unglaublicher Abkürzung, aber mit sehr deutlicher grober Schrift vom Haselstock auf seinem Rücken geschrieben. Dem „Halbvertrauten“ ging es nicht viel besser, und nur dem „Ganzvertrauten“, dem mit Weib und Familie versehenen eingeborenen Landeskind, sah man wohl etwas durch die Finger, wenn ihn einmal das ungerechtfertigte [290] Verlangen anwandelte, sich als Menschen zu fühlen, und wenn dies natürlich nicht zu oft vorkam. Man hatte ihn nöthig, um den Kerkermeister der Uebrigen zu machen!

Das ganze System schien darauf berechnet zu sein, für die mörderischen Schlachten jener Zeit möglichst viel ganz desperater Kerle zu bekommen, welchen ihr Leben völlig leid geworden und die es mit Gewalt in die Schanze schlagen und los sein wollten.

Wie es unter solchen Umständen den Kriegsgefangenen erging, bedarf der Schilderung nicht. In dunkle Casematten eingepfercht, wie eine Heerde behandelt, nur mit dem Unterschiede, daß man die letztere aus ökonomischen Gründen gut zu ernähren suchte, die Gefangenen aber, ebenfalls aus ökonomischen Gründen, hungern ließ, – unter der milden Obhut von Festungsbehörden stehend, deren väterlichste Zurechtweisungen bei Unordnungen und Balgereien um den Suppentopf darin bestanden, daß sie die Schildwachen ihre Musketen in den dicksten Haufen hinein abfeuern ließen – waren diese Unglücklichen in der That oft übler daran, als heutzutage die Galeerensclaven des Dey’s von Tunis. Die einzige Erleichterung für sie bestand darin, wenn sie aus ihren Casematten herausgeführt und mit Schanzarbeiten an den Wällen oder auch wohl mit Lohnarbeiten für Privatleute beschäftigt wurden, wo sie wenigstens frische Luft und Sonnenschein genießen, wenig arbeiten, kleine Complotte mit den Schildwachen anspinnen und die Begegnenden anbetteln oder verhöhnen konnten.

Es war an einem Sommertage des Jahres 1762, in den Morgenstunden, als solch eine Schaar von mehreren Hunderten österreichischer Gefangener, nach Ausweis ihrer zerlumpten Uniformstücke allen möglichen Truppentheilen angehörig, aus der niedrigen Doppelthüre einer Casematte hervorströmte, welche sich in der Sternschanze der Festung Magdeburg befand. Als die Colonne zwischen ihren Wächtern den Marsch zum Arbeitsplatz antrat, blieb der Lieutenant, welcher die kleine und auffallend schwache Escorte befehligte, auf der Schwelle stehen und sagte, in das Innere der Casematte gewendet: „Wollen Sie nicht mit heraus, Herr von Frohn?“

„Heut nicht!“ antwortete eine tiefe Männerstimme aus dem Innern.

„Es wäre uns lieb, wenn Sie bei dem Volke blieben und mir beiständen, die Canaillen in Ordnung zu halten!“

„Sehen Sie, wie Sie fertig werden – ich habe keine Lust,“ antwortete die Stimme.

„Nun, wie Sie wollen!“ rief der Lieutenant aus. „Corporal, schließ Er!“

Ein Corporal trat hinter dem Lieutenant aus dem Innern hervor, und während der Officier dem Trupp nachschritt, schloß jener das Thor der Casematte. Der im Innern des niedrigen, langen, durch einige Luftlöcher schlecht beleuchteten Raumes Zurückgebliebene stand jetzt von der Matratze auf, die am Ende der Casematte für ihn hingelegt war, und auf der er ausgestreckt gelegen hatte. Es mußte das eine Art Ehrenauszeichnung für ihn sein – die andern Gefangenen hatten nur das Stroh zum Lager, welches den Boden bedeckte. In der That zeigte seine Uniform, obwohl auch sie sich in sehr trümmerhaftem Zustande befand, daß er Officier in der kaiserlichen Armee sein mußte. Als er sich erhoben hatte und seine Glieder streckte, zeigte sich der mächtige herkulische Wuchs des Mannes. Er war vielleicht sechs Schuh hoch; die ganze Gestalt verrieth eine außergewöhnliche Körperkraft, und das Gesicht, dem die Haft freilich viel von der ursprünglichen Farbenfrische genommen haben mochte, zeigte doch edle, stolze Züge von großer Regelmäßigkeit und wahrhaft männlicher Schönheit.

Er nahte sich jetzt der eben verschlossenen Thüre und schien zu horchen, bis die Schritte der Abziehenden verhallt waren; dann ging er eine Weile auf und ab, und endlich wandte er sich zu seiner Matratze zurück. Nachdem er an einer Ecke derselben eine Naht leicht mit dem Finger gelöst hatte, zog er aus dem Stroh, welches sie füllte, einen zinnernen Becher hervor, den er lange aufmerksam betrachtete. Der Gegenstand verdiente in der That diese Betrachtung. Seine Oberfläche war durch Linien in sechs größere und acht kleinere Felder getheilt, und in jedes dieser Felder waren merkwürdige Darstellungen gravirt, die in dem Künstler eine eigenthümlich phantastische und allegorienliebende Denkweise erkennen ließen und in Erstaunen setzten über die Fruchtbarkeit seines Gehirns an solchen Erfindungen. Unter den einzelnen Bildwerken befanden sich gereimte Verse zur Erläuterung derselben; diese Unter- und Inschriften bedeckten die Ränder, den Fuß, die untere Seite, ebenso war der Deckel mit Gravirungen von innen und außen bedeckt. Zumeist waren diese Verse so mikroskopisch klein geschrieben, daß unser gefangener Officier darauf verzichten mußte, sie zu lesen. Andere enträthselte er jedoch, und er fand, daß diese Ergüsse nicht ohne poetischen Werth seien. Eines der Bilder stellte im fernsten Hintergrunde auf einem Hügel einen strahlenumflossenen Tempel dar, über dem ein beflügeltes Roß zum Himmel schwebt. Auf dem Wege zu dem Tempel schleppt sich ein mit Ketten beladener Mann unter einem schweren Kreuze hin, gedrängt von einem Schergen, der einen Stock schwingt, über welchem das Wort: „Ordre“ zu lesen ist. Hinter dem Dulder aber taucht der Gott der Zeit auf, mit einem Kranze, dessen Bedeutung die Worte: „le prix des travaux“ andeuten.

Unter dieser Darstellung erblickt man einen Kerker, in welchem ein mit vielfachen Ketten und Fesseln angeschlossener Gefangener sitzt, mit der Unterschrift: „ecce homo“ Er hält ein Herz in seiner Hand, worüber die Worte: „sans reproche“ zu lesen sind. Hinter ihm steht eine böse Furie mit Schlangenhaar und Fackel und einem Hunde, daneben die Legende: „mordons-le!“ Vor ihn aber ist eine weibliche Gestalt getreten, mit einem Lichte in der Hand, ohne Zweifel die Göttin der Weisheit mit dem Lichte der Vernunft. Unter dem Fenster des Kerkers schwebt ein Genius mit der Erdkugel, dem Bilde der Welt, und spricht, wie zu Fluchtversuchen zu verlocken: „viens jouir!“ Die Verse unter dieser Darstellung lauteten:

Mag das Wetter immer stürmen,
Tiefer Raum kann mich beschirmen,
Hier erwart’ ich bessre Zeit!
Wenn die Schicksalswetter schrecken,
So soll mich mein Herz bedecken,
Scheint dir Hülfe noch so weit. –

Wenn die Sonne wieder scheint,
O wie süß riecht dann die Erde!
Wenn das Auge nicht mehr weint,
Was ist Kummer, was Beschwerde?
Nur ein Traum, der uns vergnügt,
Wenn der Kämpfer rühmlich siegt! –

Waren diese Bilder und Inschriften in der That geeignet, durch die Feinheit und Regelmäßigkeit der Ausführung, so wie durch die Erfindungsgabe, welche sich darin zeigte, Bewunderung zu erregen, so war die Bewunderung eine doppelte bei unserem österreichischen Lieutenant, dem die Person, welche ihm den Becher geschenkt hatte, die Versicherung gegeben, daß der Verfertiger desselben in einem schlecht erhellten Kerker sitze, daß er die Arbeiten mit einem Nagel, den er sich spitz geschliffen, ausführe und daß eine zwischen seinen Handschellen befestigte Stange ihn am freien Gebrauch seiner Hände hindere.[2]

Den Namen des Gefangenen hatte er noch nicht erfahren können. Die Existenz dieses Menschen schien geflissentlich mit Geheimnissen umgeben zu werden.

„Wenn ich nur Mittel und Wege wüßte, mit einem Menschen in Verbindung zu kommen, der solche Becher macht,“ sagte der österreichische Officier halblaut für sich. „Es muß ein äußerst anschlägiger und geriebener Patron sein, der mir trefflich dienen könnte. Aber der Teufel weiß, wo sie ihn hingethan haben!“

Nach einer Weile verbarg er den Becher wieder in dem Stroh und zog nun eine Hand voll zerrissener, mit Linien bedeckter Papierstücke aus demselben Versteck hervor. Er legte sie nach einer gewissen Ordnung vor sich nieder – sie bildeten nun etwas wie eine zusammenhängende Zeichnung, welche offenbar den Plan einer Festung darstellte – nur hie und da fehlte noch ein Stück, bald in der Mitte, bald an den Ecken. Der gefangene Officier vertiefte sich in das Studium desselben, wie vorhin in das des Bechers; er stand dann von der Matratze auf, und nachdem er die Schnalle seiner Weste gelöst hatte, begann er mit dem Dorn derselben den ganzen Plan möglichst genau auf die mit schwarzem Leder überzogene innere Fläche seiner Dragoner-Mütze zu kritzeln.

Von Zeit zu Zeit hielt er mit dieser Arbeit inne, um aufzublicken und mit angehaltenem Athem zu lauschen. „Der Maulwurf wühlt!“ sagte er endlich.

Nach einer Pause legte er sich der Länge nach nieder, das Ohr dicht an den Boden gedrückt. Als er sich erhob, flüsterte er: „Es kann nicht lange währen, bis der Patron sich bis hierher durchgearbeitet hat. Es wird eine komische Scene werden, wenn [291] er den Kopf in die Casematte steckt und ich ihm hier „Guten Morgen, Camerad!“ sage. Ich werde ihn zum Chef des Minircorps ernennen, sobald ich Gouverneur von Magdeburg bin. Aber wo bleibt heute mein dienstthuender Adjutant?“

Er versteckte jetzt sorgfältig die Papierfragmente, schob die Matratze an ihren Platz und trat an eines der kleinen vergitterten Fenster oder Luftlöcher, die durch die dicken Mauern gebrochen waren. Nach einer Weile sah er die Gestalt einer auf- und abwandelnden Schildwache daran vorüberschreiten und rief sie an.

„Heda, Wache, welche Stunde ist’s?“

„Die Uhr wird sogleich zehn schlagen.“

„Und das Wetter wird den Traiteur auf den Kopf schlagen, daß er mein Frühstück nicht sendet. Meint der Schuft, ich habe hier so viel Zeitvertreib, daß ich darüber das Essen vergesse?“

„Dort kommt die Esther,“ sagte die Schildwache und schritt weiter.

In der That klirrte nach einer Weile das Schloß der Casemattenthüre; sie wurde geöffnet, und ein Unterofficier wurde auf der Schwelle sichtbar. Hinter ihm trat ein junges, schlankes, schwarzlockiges und die jüdische Abstammung verrathendes Mädchen in die Casematte, und während der Unterofficier wieder verschwand, weil ihm die frische Luft und der Sonnenschein draußen angenehmer sein mochte, als die durchaus nicht reine Atmosphäre, welche in der Casematte herrschte, brachte das Mädchen einen kleinen Korb herbei, den sie vor dem gefangenen Officier niedersetzte.

Dieser umschlang mit seinem rechten Arm ihre Taille und hob mit der Linken ihr Kinn in die Höhe, um sie auf die schöne schmale Stirn zu küssen. Denn Esther Heymann, das Judenmädchen, welches für die leiblichen Bedürfnisse des Gefangenen Sorge trug, hatte in der That eine Stirn, welche ein eben nicht mit wichtigeren Dingen beschäftigter Officier wohl in Versuchung kommen konnte, zu küssen, und das um so mehr, als sie es sich, dem Anschein nach mit großer Hingebung, gefallen ließ. Er küßte dann ihren vollen rosigen Mund und blickte ihr in die schönen, dunklen, feuchtglänzenden Augen.

„Hat je ein Festungsgouverneur einen schöneren Adjutanten gehabt?“ flüsterte der Officier.

Sie entwand sich ihm jetzt, öffnete den Korb und ging einem kleinen Wandvorsprung zu, der ein Mittelding zwischen Tisch und Sitz war und zu beidem dienen konnte. Darüber breitete sie eine Serviette und stellte den Inhalt ihres Korbes darauf, Brod, Butter, kaltes Fleisch und eine Flasche, die eine kleine Ration gebrannten Wassers enthielt. Das Brod und die Butter waren durchschnitten, zum Beweise, daß sie durch die controlirenden Hände irgend einer Festungsbehörde gegangen. Und es wäre deshalb sehr thöricht gewesen, etwas in ihnen verbergen zu wollen; die schöne Esther hatte auch ganz sicherlich nicht daran gedacht, und es war gewiß eine ihrem Verständniß sich völlig entziehende und ihr nicht weiter auffallende Bewegung, als der Officier hastig nach dem Stück Papier griff, in welches die Butter geschlagen war und das jetzt zwischen dieser und dem kleinen Teller als ein höchst nutzloses Ding lag, das der Gefangene auch wohl nur deshalb entfernen wollte.

Nichtsdestoweniger betrachtete er, nachdem er es sauber abgewischt, die nach unten gekehrte Seite, und die Linien, Ecken und Winkel, die hier darauf gezeichnet waren, mußten ihm so interessant vorkommen, daß ein Ausdruck offenbarer Befriedigung über seine Züge flog. „Ich danke Dir, Herzens-Esther,“ sagte er. „Jetzt hab’ ich Alles zusammen, was ich bedarf. Die noch übrigen Stücke kannst Du verbrennen – ich habe genug!“ Dabei steckte er das kleine Blatt in seine Brusttasche. „Nun zu den Meldungen,“ fuhr er fort.

„Die in der Casematte 1 in der Citadelle haben gewählt,“ flüsterte Esther.

„Und wen?“

„Einen Major Zichy.“

„Kenn’ ihn nicht – aber das schadet nichts.“

„Er läßt Ihnen sagen, daß er Ihre Befehle annehmen will. Nur kann er nicht früher, als bis er sicher ist, daß Sie ihm von außen zu Hülfe marschiren, denn die Citadelle …“

„Nun, wenn er mich für so dumm hält, nicht selber zu wissen, daß die Citadelle am stärksten besetzt ist, so thut er sehr unklug, sich meinen Befehlen zu unterwerfen, der Herr Oberstwachtmeister Zichy! Und weiter?“

„Die unter dem Fürstenwall sind in voller Thätigkeit, um die Mauer, welche die beiden ersten Casematten darin trennt, zu durchbrechen, daß sie zusammenkommen können. Sie denken diese Nacht fertig zu werden.“

„Bravo. Sie werden ein hübschen Bataillon bilden, wenigstens zwölfhundert Mann. Ja der vorderen Casematte commandirt ein Oberst Stengel, und in der zweiten Rittmeister Stülpnagel. Wenn es zum Ausrücken kommt, soll der Rittmeister das Commando über den ganzen Haufen übernehmen, ich scheer’ mich den Henker um Rang und Anciennetät – verstehst Du, Esther?“

Esther nickte mit dem Kopfe. Der Gefangene hatte sich unterdeß auf die äußerste Ecke den gemauerten Tischen gesetzt und begann sein Frühstück zu verzehren. „Wenn Du doch,“ sagte er jetzt lächelnd, „eben so gut mit Deinen schönen Feueraugen ein Paar alte Häuser in Flammen setzen könntest, wie Du das Herz eines armen Gefangenen in Flammen gesetzt hast – es wäre mir außerordentlich angenehm, wenn solch eine kleine Feuerbrunst in den nächsten Tagen da unten in der Stadt ausbräche.“

„Das kann ich freilich nicht für Sie thun, Herr von Frohn,“ antwortete sie ernst den Kopf schüttelnd.

„Glaubst Du denn, Närrchen, ich hätte Dir’s im Ernst zugemuthet?“ erwiderte er, mit einem Blick, in welchem etwas wie Rührung lag, zu ihr aufschauend. „Wahrhaftig, Du hast schon genug für uns gethan – ohne Dich wäre ich hülflos wie ein Kind – und wie ich Dir’s danken soll …“

„Dank verlange ich ja nicht, Herr von Frohn! Wenn nur mein armer Vater dabei frei wird … ich thue ja Alles um seinetwillen!“

„Um seinetwillen … und nicht auch ein klein wenig mir zu Liebe, Esther?“

Esther vermied, dem Blicke zu begegnen, den er bei diesen Worten auf sie heftete, und fuhr fort: „Ich weiß, daß ich mein Leben dabei auf’n Spiel setze, aber meines Vaters Leben ist nicht blos auf’s Spiel gesetzt, es wäre sicher verloren, wenn er nicht die Hoffnung hätte, bald befreit zu werden. Sie haben ihm neue Ketten angelegt, weil sie aus seinen zerrissenen Laken schlossen, er wolle einen Fluchtversuch machen; und doch hatte er nur aus Desperation den Entschluß gefaßt, sich zu erhängen.“ Esther brach bei diesen Worten in bittere Thränen aus.

„Tröste Dich, Esther,“ sagte Frohn, indem er die Hand auf ihre Schulter legte – „ich gebe Dir mein Wort, als das eines ehrlichen Mannes, daß er in wenigen Tagen frei wird.“

„Sagen Sie mir doch,“ fuhr Esther fort, „warum ist der König so grausam … gegen einen Unschuldigen?“

„Der König? Nun, er wird wohl über die Unschuld Deines Vaters andere Ansichten in sich aufgenommen haben, als die Deinigen sind, Esther. Tyrann ist er freilich. Aber Du mußt denken, daß es unmöglich ist, wenn man über viele Millionen Menschen herrscht, lange mit dem Einzelnen viel Federlesens zu machen. Er glaubt, daß Dein Vater ihn bei Lieferungen für die Armee betrogen hat. Nun ist so viel gewiß, daß es Juden wie Christen gegeben hat, die bei solchen Geschäften ihren König und ihr Vaterland betrogen … oder meinst Du, Esther, so etwas sei ganz unerhört und komme niemals vor?“

„Es mag leider oft genug vorkommen,“ erwiderte Esther – „wer weiß nicht, daß es viel schlechte Menschen gibt? Aber mein Vater …“

„Dein Vater ist ein ehrlicher Mann, ich glaube Dir’s, Esther, aber das Unglück hat nun einmal gewollt, daß er beim König in Verdacht gekommen ist, und der König hat ihn auf zehn Jahre nach Magdeburg in die Eisen geschickt, ohne so vernünftig zu sein, vorher die liebe Esther zu fragen, ob sie dies für gerecht und billig halte. Das war nun allerdings unverantwortlich von dem König gehandelt. Aber denke Dir, daß durch die Nachricht, wie der König mit dem ehrlichen Heymann blos auf einen Verdacht hin verfahren sei, eine Menge anderer Lieferanten vielleicht einen tödtlichen Schrecken bekommen haben; daß sie, die vielleicht im Begriff standen, große Unterschleife zu machen, nun nicht mehr gewagt haben, ihre bösen Absichten auszuführen; daß dadurch vielleicht 100,000 Thaler dem Könige gerettet sind. Ist das Alles nicht sehr möglich? Und wenn sich Dein Vater nun sagt, daß er dem Staate 100,000 Thaler auf diese Weise durch seine Haft einbringt, also weit mehr, als er auf freien Füßen jemals für sich oder die übrige Menschheit nutzen und einbringen konnte – liegt darin nicht ein großer Trost für ihn?“

„Sie spotten noch!“ sagte Esther, nahe daran, Schluchzen auszubrechen.

„Esther,“ sagte er weich, „wie sollte ich seiner spotten! Nimmst Du mir mein bischen Gefangenen-Humor übel? Armes Kind, Du weißt ja, wie theuer Du mir bist …“

[292] In diesem Augenblicke trat der Unterofficier am obern Ende der Casematte in die offen gebliebene Thüre und rief hinab: „Mache Sie voran, Esther, das Frühstücken dauert ja heut’ gewaltig lang. Ich darf Sie nicht so lange mit dem Gefangenen zusammen lassen!“

„Kann Er nicht warten?“ rief ihm Frohn barsch entgegen. „Ich frühstücke so lange wie mir’s gefällt.“

„Es ist wider das Reglement,“ sagte der Unterofficier etwas kleinlaut.

„Ei was Reglement! Wenn man mich chicanirt zum Danke dafür, daß ich mich hier mit den gemeinen Gefangenen habe in eine Casematte sperren lassen, so kümmere ich mich nicht mehr um das, was sie treiben. Ihr mögt dann sehen, wie ihr hier mit der Horde fertig werdet!“

Der Unterofficier schwieg, aber er kam jetzt langsam näher heran; Frohn hatte nur noch Zeit, Esther hastig flüsternd zu fragen: „Hast Du über den Gefangenen dort drüben nichts Näheres herausgebracht?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es ist, als ob die Leute nicht gern davon redeten,“ versetzte sie eben so leise.

Der Unterofficier war jetzt bei ihnen. Er überzeugte sich, wie Esther das Messer und die Gabel zu den leeren Geschirren wieder in ihren Korb packte. Das junge Mädchen nahm dann mit einem stummen Kopfnicken Abschied von dem Gefangenen.

Frohn rief ihr ein freundliches: „Auf Wiedersehn – bis morgen!“ nach, und nach wenig Augenblicken war er einsam und eingeschlossen wie vorher.

Esther begab sich aus den Festungswerken in die Stadt zu dem Traiteur zurück, bei welchem sie Dienste genommen hatte, um ihren, auf einen Befehl des Königs nach Magdeburg gesandten und alles Vermögens durch Sequestration beraubten Vater nahe sein zu können. Diejenigen gefangenen Officiere, welche die Mittel dazu besaßen, hatten die Erlaubniß, sich aus den Küchen von Speisewirthen ihre Mahlzeiten bringen zu lassen; und obwohl dazu in der Regel Laufburschen der Wirthe gebraucht wurden, so ließ doch Esther es sich nicht nehmen, an den Tagen, wo sie ihren Freund allein wußte, selber mit dem Henkelkorb am Arm zu ihm zu gehen – nachdem sie einmal auf die Bitte ihres Dienstherrn statt seines erkrankten Burschen diesen Weg gemacht hatte. Diese erste Begegnung zwischen Esther und dem österreichischen Officier hatte hingereicht, um zwischen Beiden das ernsthafte Schutz- und Trutzbündniß entstehen zu lassen, in das wir eben eingeweiht wurden.

Der Officier nahm, als das Mädchen sich entfernt hatte, das zerrissene Stück Papier, welches sie ihm gebracht, aus der Brusttasche, und nachdem er sich wieder auf seine Matratze niedergelassen, holte er die andern Papierstücke, welche wir in seinem Besitz sahen, hervor, ordnete sie und füllte eine der Lücken mit dem eben erhaltenen Fragment, das vortrefflich hinein paßte. Dann nahm er die frühere Arbeit wieder auf und vervollständigte die im Lederfutter seiner Mütze angebrachte Zeichnung.


2.

Um Mittag kamen die Gefangenen von der Arbeit zurück. Es waren ihrer vielleicht vier- oder fünfhundert. Die große Casematte wurde von dieser Menge von Menschen von einem Ende bis zum andern angefüllt. Eine Weile später wurden große Kübel gebracht, aus denen die Mittagssuppe für die Gefangenen geschöpft wurde. So stürmische Scenen sich früher mitunter bei diesem größten Tages-Ereignisse im Leben der Gefangenen entwickelt hatten, so ruhig und ungestört verlief es jetzt unter der Aufsicht des Lieutenants von Frohn, der, wie Saul unter dem Volke Gottes, um eine Kopfeslänge die Uebrigen überragend, mitten zwischen den Herandrängenden stand, und sie mit seiner gebieterischen Stimme in einem Respect hielt, den die aufmarschirte Wachmannschaft und die austheilenden Feldwebel oder Unterofficiere weit entfernt waren, zu finden.

Halb oder nur zum Viertheil gesättigt, streckten sich dann die Meisten auf ihre Streu hin, oder drängten sich in Gruppen zusammen, in denen entweder irgend ein Spaßmacher, oder auch ein schmutziges Spiel Karten, oder ein von den italienischen, in Süd-Tyrol rekrutirten Leuten eingeführtes Morraspiel den Mittelpunkt der Unterhaltung bildete.

Frohn war eine Weile auf- und abgeschritten, hatte hier und dort dem Gespräche der Leute gelauscht, dann sich auf seine Matratze gesetzt und hier eine Zeit lang den Kopf sinnend auf die Hand gestützt. Plötzlich stand er auf und einem vierschrötigen Obderennser Landeskind, das sich eben in einigen derben Flüchen über die schwüle, drückende Luft in der menschenerfüllten Casematte ergoß, winkend, sagte er: „Wenn Ihm so heiß ist, Artlebacher, so steig’ Er dort in’s Luftloch hinein, da hat Er die Frische aus der ersten Hand!“

„Möcht’ schon,“ versetzte der Mann, „’s is a Sekatur in dem Qualm hier … aber die Andern leiden’s halt nit, daß i ’s ihna versperr’.“

„Ich befehl’s Ihm!“

„Und weßhalb?“

„Darnach hat Er nicht zu fragen. Mach’ Er sich hinein.“

Der Mann gehorchte; er legte sich mit seinem ganzen breiten Leibe in das Luftloch und sog sehr befriedigt die frischere, dort einströmende Atmosphäre ein.

Bevor noch die Opposition der nächst Stehenden oder Liegenden gegen diese ordnungwidrige Verkümmmerung des Allen gemeinsamen Licht- und Luftquantums laut wurde, gab Frohn mit flüsternder Stimme weitere Befehle:

„Zehn Mann hierhin, in meine Ecke!“ sagte er. „Die vier stärksten heben mir da, neben der Mauer, die Steine aus dem Boden aus. Die sechs andern nehmen die Steine und den Schutt in Empfang und verbergen Alles unter dem Stroh. Kommt eine Runde oder eine Inspektion in die Casematte herein, so treten die übrigen Leute so in der Mitte derselben zusammen, daß Niemand sieht, was hier am Ende vorgeht. Habt Ihr verstanden?“

Die Leute verlangten nichts Besseres, als in einer solchen Arbeit einen kleinen Zeitvertreib zu finden.

„Ihr dürft nicht das leiseste Geräusch machen, damit die Schildwache draußen nichts hört! Dafür, daß sie nicht hereinschauen kann, sorgt der Artlebacher mit seinem breiten Rücken.“

„Aber mit den Fingernägeln können wir die Steinplatten nicht aufreißen,“ sagte einer der Leute, die zur Arbeit herangetreten waren.

„Wie gescheidt der Kerl ist!“ versetzte Frohn. „Nein, Sepp, mit den Nägeln geht’s freilich nicht! Aber damit, mein’ ich, geht’s!“ Bei diesen Worten zog er aus seiner Matratze die zwei Hälften eines in der Mitte durchgebrochenen eisernen Ladestocks, die beide scharf abgeschliffen waren, dann den einen Schenkel einer schweren Schneiderschere und endlich einen großen rostigen Schiffsnagel, wenigstens so lang wie eine Männerfaust, hervor.

„Da ist ja ein ganzes Zeughaus,“ flüsterte Sepp, während Frohn die Werkzeuge austheilte.

„Das Wiener mit der alten Türkette ist halt nichts dagegen,“ lachte ein Anderer.

„Für uns allerdings ist dies wichtiger,“ fiel der Officier ein – „nun macht Euch an die Arbeit!“

Sie gehorchten und zwar so eifrig, daß trotz der unvollkommenen Werkzeuge die kleinen Steinplatten, welche den Boden bildeten, auf einer etwa vier Quadratschuh großen Fläche bald beseitigt waren. Unter ihnen fand sich Bauschutt, der, in Mörtel gelegt, einen festen und schwerer zu beseitigenden Boden bildete, um so mehr, als man nur leise und alles Geräusch vermeidend daran brechen und wühlen durfte. Die acht eifrig und mit gespannten Sehnen daran arbeitenden Arme wurden aber im Verlaufe etwa einer Stunde auch damit fertig und fanden in einer Tiefe von zwei Fuß den reinen Sand.

„Besonders gründlich fundamentirt ist das preußische Festungswesen nicht,“ sagte Frohn bei diesem Anblick; „aber desto besser. Ihr könnt Euch jetzt ablösen; zehn andere treten jetzt für Euch ein; vier wühlen ein Loch in den Sand, sechs tragen den Sand in ihren Mützen bei Seite, unter ihr Stroh … er wird Euch die Nacht als Kopfkissen dienen.“

Die Arbeit wurde gefördert, bis gegen sieben Uhr Frohn aufzuhören befahl und seine Matratze über das ausgegrabene Loch warf. Er wollte die um sieben Uhr eintretende Inspectionsrunde und die Störung, welche das Hereinbringen von Wasser und Commißbrodrationen hervorbringen mußte, abwarten. – Eine Stunde später, gegen acht Uhr, war die Arbeit wieder in vollem Gange.

(Fortsetzung folgt.)
[293]
Ein österreichischer Dichter.

  „Nur frei und einsam reift der Dichter aus!“

Regelmäßig fast ergeht sich an freundlichen Sommer-Nachmittagen auf dem Wiener Glacis ein silberhaariger Greis; die Arme über dem Rücken gekreuzt, zur Erde das Haupt geneigt, so wandelt er dahin, stets allein und in tiefem Sinnen. Ernst sind die Züge des Gesichtes, grollend fast, und längst des heiteren Lächelns entwöhnt scheint der fest und bitter geschlossene Mund. Nur bei zufälliger Begrüßung schlägt er das schöne blaue Auge auf, und wie ein zuckender Blitz erleuchtet es dann den Begegnenden über die hohe Bedeutung dieses äußerlich so schlichten und einfachen Mannes. Aber selten nur ereignet sich das, theilnahmlos eilt die Menge vorüber an dem Träger eines Namens, der auch auf sie einen Schimmer seines Glanzes wirft. Der silberhaarige Greis heißt Franz Grillparzer.

Franz Grillparzer.

Unter den vier Ehren-Doctoren, welche die Universität Leipzig zu Schiller’s hundertjähriger Geburtstagsfeier promovirte, nimmt Franz Grillparzer als Vertreter der Dichtkunst, schon der Bedeutung des Tages wegen, die erste und wichtigste Stelle ein. Das Diplom wurde ihm mit dem Wunsche übersandt, „daß ihm die Nachwelt gerechter werden möge, als die Zeitgenossen.“ Von allen Anerkennungen, welche bei jener und ähnlichen Veranlassungen, nicht immer mit Einsicht und richtigem Verständniß, gespendet worden, ist keine gerechtfertigter und zweckentsprechender, als gerade diese, denn seit Schiller ist Grillparzer, wenigstens in der Anlage, der bei weitem hervorragendste dramatische Dichter unseres Volkes. Zugleich hat kein Begleitschreiben derartiger Auszeichnungen jemals eine wahrheitsgetreuere und einfachere Huldigung ausgesprochen, als jene Hoffnung auf die ungetrübte Einsicht kommender Geschlechter. Ein Vorwurf für seine Zeit, eine Kränkung für den Dichter und sicher eine große Beeinträchtigung beider ist es, daß Grillparzer seit geraumer Frist zu den fast Verschollenen zählt; sein Name gehört mehr der Literaturgeschichte an, als den Theaterzetteln, und statt mit schuldiger Ehrfurcht nennt mancher starkgeistige Jämmerling dieser aufgeklärten Gegenwart ihn mit zweideutigem Lächeln. Unerkannt schreitet der Einsame durch unsere Tage, ja unbekannt selbst durch die Straßen der „Kaiserstadt“, deren allzugetreuer Sohn er von der fernen Wiege bis an das nahe Grab geblieben ist.

Franz Grillparzer ist am 15. Januar 1791 in Wien geboren. Der Sohn eines tüchtigen und allgemein geachteten Advocaten, erhielt er eine sorgfältige und vielseitige Erziehung und widmete sich alsdann auf der heimischen Hochschule der Wissenschaft seines Vaters. Nachdem er 1811 die akademischen Studien beendigt, wurde er zwei Jahre später als „Conceptpraktikant bei der kaiserlichen Hofkammer“ im Staatsdienste angestellt. Fast gleichzeitig erhielt er noch eine ganz andere Stellung, denn nicht lange währte es mehr, als plötzlich der Name des jungen österreichischen Beamten in ganz Deutschland und darüber hinaus [294] mit jubelnder Begeisterung genannt ward, und dieser mit einem Male, überrascht und überraschend, in die Reihen der gefeiertsten Dichter trat. Von früher Jugend an hatte Grillparzer’s Vorliebe sich der schönsten aller schönen Wissenschaften gewidmet, und dem durch die Romantiker geleiteten und beherrschten Zeitgeschmacke huldigend, versuchte er sich damals an einer Nachdichtung des Calderon’schen Schauspieles „das Leben ein Traum“. Schreyvogel, bekannter unter seinem Schriftstellernamen C. A. West, der seit 1814 als Dramaturg des Hofburgtheaters einen fördernden und belebenden Einfluß übte, ging zufällig mit ganz demselben Vorhaben um, und es erregte daher seine Neugier und Theilnahme in nicht geringem Grade, als er durch einen Amtsgenossen und Verwandten Grillparzer’s von dessen zusammentreffender Beschäftigung gesprächsweise unterrichtet wurde. Sein sachverständiges Urtheil über die Arbeit des Nebenbuhlers ergibt sich aus der an denselben gerichteten Frage, ob er sich denn noch nicht selbstschöpferisch auf diesem Gebiete versucht habe. Nach langem Zaudern gestand der schüchterne Jüngling dem eindringlich Forschenden endlich, daß er allerdings ein Stück in seinem Pulte begraben habe, nachdem der Seinigen Ausspruch: „Franz, laß das gut sein, Du bist kein Dichter!“ das Todesurtheil darüber gesprochen. Schreyvogel’s Unablässigkeit nöthigte dem hartnäckigsten Widerstreben von der anderen Seite schließlich auch noch die Handschrift ab, und nach gewissenhafter Durchsicht gab er sie nebst Andeutungen betreffs der ihm nöthig erscheinenden Aenderungen mit den Worten zurück: „Junger Freund, wäre ich Ihr Verwandter, so würde ich zu Ihnen sagen: Franz, fahre so fort, denn, bei Gott, Du bist ein Dichter!“

Der Erfolg hat über Beide entschieden. Während West’s Bearbeitung dem Calderon’schen Drama das Bürgerrecht auf unseren Bühnen bis auf den heutigen Tag gesichert, ging Grillparzer’s „Ahnfrau“ im Jahre 1816 sofort nach ihrem ersten Erscheinen auf dem Wiener Burgtheater mit rasender Schnelle über alle deutschen Breter, von denen der glänzendsten Hofbühne bis auf die der erbärmlichsten Scheune, erregte überall denselben Sturm des Beifalls, und versenkte allerorten in gleichen Rausch schauerseligen Entzückens. Vielfach ist sie in fremde Sprachen übersetzt, und zu jeder Zeit noch wird ihr überwältigender Eindruck unbefangene Zuhörer hinreißen.

Obschon der Dichter gleich in der Vorrede zu seinem Trauerspiele, dessen Erscheinen im Druck mit der ersten Aufführung fast zusammenfällt, sich gegen jede Mitgliedschaft der Schule ausdrücklich und ganz entschieden verwahrte, gehört die „Ahnfrau“ doch einer bestimmten Richtung an, die, mit Werner’s „vierundzwanzigstem Februar“ und Müllner’s „Schuld“ angebahnt, schnell die allgemeinste Gunst eroberte. Wie Schiller’s „Räuber“ und Goethe’s „Götz von Berlichingen“ den Anschluß der geraume Zeit lang in nicht minderer Aufnahme befindlichen Spitzbuben- und Ritterstücke vermittelten, bezeichnet Grillparzer’s „Ahnfrau“ den Abschluß der „Schicksalstragödie“. In ihr gipfelt sich die Idee der ganzen Gattung bis zu einer solchen Ungeheuerlichkeit empor, daß sie hart an die Travestie streift, wird aber auch in jeder anderen Hinsicht das Höchste geleistet, was dieses Feld hervorgebracht hat.

Der fast tolle Vorwurf ist mit besonnenstem Bühnenverstande behandelt und ausgeführt, alle Hebel der Breterwirksamkeit sind mit einem Geschick in Bewegung gesetzt, welches wagehalsige Kühnheit oder nüchternste Berechnung vermuthen läßt, jede Empfindung wird aufgewühlt, jeder Gemüthsnerv erschüttert, und so eine Gesammtwirkung erzielt, wie sie ein in seinem Fache ergrauter Veteran wohl hin und wieder als Frucht langjähriger Erfahrung und unermüdlichen Studiums erreichen mag, die ein so junger Anfänger aber nur mit dem göttlichen Instincte des Genie’s ermöglicht. Zu jenen vielleicht zu erarbeitenden äußeren Mitteln des Erfolges gesellen sich eine zügellose Leidenschaftlichkeit, deren Flamme verzehrend den ganzen Bau durchloht, eine Sprache voll Mark und Wohllaut, die bis zu flüsternder Zartheit sich herabstimmt und bis zum Grolle des Donners anschwillt, und ein poetischer Hauch, der über Allem weht, unerreichbare Vorzüge für den nicht geborenen Dichter. Die Richtung selbst ist längst gerichtet. In ihrer verschrobenen Unnatur, in ihrem grellen Widerspruche mit dem Organismus der äußeren und inneren Welt, dessen wahrheitstreuer Spiegel die weltbedeutenden Breter sein sollen, mußte sie selbst die Besinnungslosen wieder zur Besinnung bringen und zu Grabe getragen werden, gleich Allem, was nicht gesund und lebensfähig ist.

Die „Ahnfrau“ hat ihre Veranlassung und ihre Zeit überlebt, niemals aber wird sie sich selbst überleben, denn es ist ein Funke des Ewigen in ihr, den wir weder in Machwerken wie Brachvogels „Narciß“, noch in der ganzen poetischen Schöpfung dieser Tage entdecken, sie hat Poesie und Leidenschaft, Begriffe, die gleichfalls unter uns keine Gestaltung mehr gewinnen können.

Es spricht für den Charakter Grillparzers, daß er sich durch den außergewöhnlich glänzenden Erfolg seines Erstlings nicht verblenden noch verwirren ließ. Dem Höchsten zustrebend, verschmähte er die Gunst des Augenblickes und schuf, gehorsam der inneren Stimme, die ihn auf andere Bahnen wies, still und emsig weiter. Im Jahre 1818 ging „Sappho“ über das Burgtheater, und der Enthusiasmus, mit welchem sie aufgenommen wurde, beweist, daß der wirkliche Dichter nicht vom Tag und von der Menge, sondern daß diese von ihm gedrängt wird. Sophie Schröder, Deutschlands größte Schauspielerin, die gleichfalls bei Schiller’s Jubelfeier aus langer und undankbarer Vergessenheit wieder an das Licht getreten, feierte in der Titelrolle ihre größten Triumphe und hat sie zu Hause wie auf allen Gastspielen unzählige Male dargestellt. Grillparzer’s zweite Dichtung machte denselben schnellen und ruhmreichen Weg, wie die erste. Sie ist selbst ein ungemeiner und staunenswerther Fortschritt des Dichters. Ein einfacher, rein menschlicher Conflict, lose an die Sage von der weltberühmten griechischen Sängerin geknüpft, wird darin einfach und menschlich zur Anschauung und Lösung gebracht. Sappho, die Göttern gleich Verehrte, muß es erfahren, daß der Liebe freie Wahl durch Ruhm sich nicht erkaufen läßt, und von Phaon gegen eine arme Sclavin zurückgesetzt, stürzt sie sich in das Meer.

Im folgenden Jahre bereiste Grillparzer Italien. Nach seiner Zurückkunft veröffentlichte er einige Gedichte, die aus dortigen Anregungen entstanden waren. Eins davon, „das Kreuz auf dem Colosseum“, enthielt folgende Verse:

      „Thut es weg, dies heil’ge Zeichen,
Alle Welt gehört ja dir;
Ueb’rall, nur bei diesen Leichen,
Ueb’rall stehe, nur nicht hier!
Wenn der Stamm sich losgerissen
Und den Vater mir erschlug,
Soll ich wohl das Werkzeug küssen,
Wenn’s auch Gottes Zeichen trug?“

Sie wurden dem Dichter verhängnißvoll durch das Aergerniß, welches sie bei Hofe erregten, zu dem Grillparzer, der kurz zuvor Privatsecretair der Kaiserin geworden war, in näherer Beziehung stand. Auch zu dem damals in vollster Blüthe stehenden Metternich’schen System paßte es schlecht, daß ein ihm unterworfener Beamter auch nur den leisesten Anflug von Freisinnigkeit oder Freigläubigkeit äußerte, und noch dazu öffentlich; Grillparzer ward anrüchig und mußte elf Jahre im Staatsdienste ausharren, ehe er „systematisirter Hofconcipist“ wurde.

Die Folgen dieser Strophe, so geringfügig sie dem flüchtigen Blick erscheinen mögen, sind bedeutungsschwer für die Entwickelung des Dichters, und somit für dessen ganzes Volk; in ihnen ruht die Lösung für Vieles, was an dem hochbegabten Manne uns ein beklagenswerthes Räthsel dünkt. Im Jahre 1822 erschien die dramatische Trilogie „Das goldene Vließ.“ Von den drei Stücken vermochte nur „Medea“ sich durch Sophie Schröder’s meisterhaftes Spiel eine Zeit lang auf der Bühne zu halten; großen Anklang und ungetheilten Beifall haben sie niemals gefunden. Der ganz und streng dem Alterthum angehörige Stoff konnte auch mit der größten Geschicklichkeit unserer jetzigen Anschauung nicht durchgängig und versöhnend vermittelt werden, und so läßt trotz hoher einzelner Schönheiten das Ganze dennoch kalt. Unserer Zeit ist nun einmal die Antike in dieser Weise nicht mehr zugänglich zu machen, eine alte Erfahrung, an der trotzdem junge und beachtenswerthe Kräfte stets von Neuem wieder scheitern. Grillparzer zog Nutzen daraus und betrat mit seiner nächsten Schöpfung den Boden, in welchem jeder Dichter seine eigensten und tiefsten Wurzeln schlagen sollte, den vaterländischen. Obschon eine Verherrlichung des kaiserlichen Ahn- und Stammherrn, konnte das historische Trauerspiel „König Ottokar’s Glück und Ende“ doch erst nach manchen ängstlichen Bedenken und vielfachen Weiterungen 1824 in Wien zur Aufführung gelangen. Es ist jedenfalls Grillparzer’s tüchtigste und ausgezeichnetste Schöpfung und nicht, wie Manche meinen, ein specifisch österreichisches, sondern ein gut deutsches Stück, denn die Zeit, in der es stattfand, war eine andere, als die, welche es [295] aufführt; Oesterreich, damals Deutschlands Stern, ist inzwischen fast Deutschlands Feind geworden, – eine traurige Veränderung!

Außer dieser patriotischen Bedeutung für uns Alle nimmt der „Ottokar“ auch noch ein hohes literarisches Interesse in Anspruch, er ist seit Schiller die bei weitem hervorragendste Leistung auf dem bei uns so beklagenswerth vernachlässigten Gebiete der geschichtlichen Tragödie.

In dem klaren, streng gegliederten Bau, der treuen Färbung der Zeiten und Sitten, und der Großartigkeit der Zeichnung, namentlich im Charakter des Titelhelden, reicht Grillparzer fast bis an den nie übertroffenen Meister hinan. Der rebellische Böhmenkönig ist eine so gewaltige Gestalt, in seinem jähen Sturze so zerschmetternd, daß sein siegreicher Gegner Rudolph von Habsburg, der mit peinlicher Aengstlichkeit die engen Grenzen des Rechtsbodens innehält, von den riesigen Verhältnissen des Besiegten fast erdrückt wird; diese absichtswidrige Nebenwirkung ist aber auch das Einzige, was die Vollwirkung des Ganzen für den Aufmerksamen leise stört.

Erst nach vier Jahren trat der Dichter mit einem neuen Trauerspiele wieder vor die Oeffentlichkeit, diesmal nicht mit besonderem Glück. Selbst den gutmüthigen Oesterreichern, die doch vermöge einer vortrefflichen Erziehung das Möglichste in blinder Ergebung und duldendem Gehorsam leisteten, war es unmöglich, sich mit dem „treuen Diener seines Herrn“ zu befreunden. Es zeugt von dem außerordentlichen Talente des Schöpfers und bürgt für den poetischen Werth der Schöpfung, daß man sich eines gewissen gerührten Mitleids mit diesem „Bancbanus“ nicht erwehren kann, dessen tugendhafte Gemahlin vor seinen Augen von dem Schwager des Königs, einem rohen Wüstling, bis zur Verzweiflung des Selbstmordes getrieben wird, und der trotzdem seinen eigenen Rache heischenden Schwager im Namen den Königs als Aufrührer verhaftet und den Mörder rettet, aber Anerkennung für eine solche an Stumpfheit des Blödsinns grenzende Treue – wenn dies stolze Wort derartigen Mißbrauch erleiden darf – würde auch die stärkste Dichterkraft zu erwirken nicht im Stande sein. Metternich hätte das Stück mit einem Preise krönen können, das Publicum nahm es kühl auf.

Vielleicht wurde Grillparzer dadurch von der Geschichte wieder abgezogen; in seinem nächsten, 1831 erscheinenden Trauerspiele „des Meeres und der Liebe Wellen“ brachte er die durch Schiller’s Ballade „Hero und Leander“ überall bekannte altgriechische Sage auf die Bühne. Mit seinem tiefpoetischen Gehalt und der wunderbaren, fast duftigen Schönheit der Sprache und Empfindung ist es die Perle seiner Dichtungen, in der Hauptsache freilich vorwiegend lyrisch. Auch hier gehört nur die äußere Einkleidung dem Alterthume an; so lange es noch Liebende gibt, wird dies herrliche Gedicht verstanden und gewürdigt werden, und in keiner Beziehung hat es den Vergleich mit dem dramatischen „Hohenliede der Liebe“, mit Shakespeare’s „Romeo und Julia“ zu scheuen. Auch bei der Aufführung hat es stets große Wirkung erzielt, wird jedoch selten gegeben, da es an würdigen Darstellerinnen der „Hero“ fehlt. Grillparzer’s Jugend-Beschäftigung mit Calderon entsprang noch spät eine selbstständige Schöpfung, das Märchen „der Traum ein Leben“, das im Jahre 1834 über die Breter ging. Er selbst hatte es ein Wagniß genannt, „ein solch’ wunderliches Ding“, wie er sich darüber ausdrückte, dem Publicum vorzuführen. Wider sein eigenes Erwarten gelang es über die Maßen. Trotz der schattenhaften und stellenweise selbst unmöglichen Handlung fand dieses Drama seiner reichen Schönheiten, namentlich im lyrischen Elemente wegen, ungemeinen Beifall und hat sich dauernd auf dem Repertoir des Wiener Hofburgtheaters erhalten.

Grillparzer, der 1832 zum „Archivdirector bei der Kammer“ befördert worden war, hat nach jener nur noch eine Arbeit an das Licht der Lampen gebracht, das Lustspiel „Weh dem, der lügt!“ Trotz einer sehr sorgfältigen Besetzung fiel es vor einem dem Dichter äußerst wohlgeneigten Publicum durch. Diese Niederlage war vielleicht hart, aber sicher nicht ganz ungerecht. Eine große Schuld daran mag die Bezeichnung „Lustspiel“ tragen, die ganz andere Erwartungen weckt, als hier befriedigt werden. Von Humor, geschweige von Komik, findet sich nicht eine Spur darin, der tiefernste, stets den höchsten Zielen zustrebende Grillparzer hat keine derartige Ader in sich und hielt seine Kunst zu heilig, um den lachlustigen Wienern einen vergnügten Abend damit zu bereiten. Sie mögen daher enttäuscht und geärgert gewesen sein, als ihnen fünf Acte hindurch eine wenn auch noch so erhabene Moral in sehr schönen Versen gepredigt wurde. Die Annahme, daß der Dichter sich schwer darob gekränkt, ist sicher nicht ungerechtfertigt, da er, obschon damals in der Vollkraft seines Alters und Schaffens stehend, nie wieder das Theater mit einer neuen Schöpfung beschenkt hat. Er hat im Laufe der Zeit nur noch Fragmente aus einem Drama „Hannibal“ durch den Druck mitgetheilt, die von seiner ungeschwächten Kraft zeugen. Vielfachen, oft und verschieden verbreiteten Gerüchten zufolge soll eben dieser „Hannibal“ fertig in seinem Pulte gefangen liegen, nebst noch mehreren anderen Tragödien, als deren Titel „Libussa“, „Rudolph II.“ und „Esther“ genannt werden. Die Wahrheit ist schwer zu verbürgen. Daß ein gefeierter Künstler mitten in seinem Schaffen plötzlich abbricht, hat, namentlich in unserer allzu ausbeutungssüchtigen Zeit, etwas so Erstaunliches und Ueberraschendes, daß sich an jede derartig befremdende Erscheinung solch’ sagenhafte Gerüchte knüpfen; wie viele Opern soll nicht Rossini noch verborgen halten!

In dem Taschenbuche des Grafen Mailáth, der „Iris“ für 1840, veröffentlichte Grillparzer die einzige von ihm bekannt gewordene Novelle „der arme Spielmann“. Trotz des etwas krankhaften Stoffes ist sie ein Meisterwerk an Abrundung und durch und durch naturwahrer Schilderung, auch zeichnet sie sich durch gediegenen Styl aus, ein seltener Vorzug bei einem österreichischen Schriftsteller. Zu Grillparzer’s fünfzigstem Geburtstage (1841) wurde in Wien eine Medaille geprägt, die einzige Huldigung, welche das Vaterland dem größten seiner lebenden Dichter dargebracht; auch sang ihn Halm, der nächste Erbe seines Ruhmes, bei dieser Gelegenheit mit einem recht gut und herzlich gemeinten Gedichte an.

Im Jahre 1843 unternahm Grillparzer eine Reise nach dem Orient. Seine Anwesenheit in Griechenland fiel zwar schon weit über ein Jahrzehnt nach den Stürmen des Befreiungskampfes, doch sah er noch viele traurige Spuren davon, und es läßt sich wohl annehmen, daß der edle, so warm und tief empfindende Dichter den lebhaftesten Antheil an der Erhebung des unglücklichen Volkes genommen. Sicher war er Philhellene, aber nur im Herzen, seine Sympathie hat kein Vers bethätigt. Schon einmal hatte er Reise-Erfahrungen gemacht, und der unter Metternich’s Botmäßigkeit niedergehaltene Beamte, durfte mit keinem Volke fühlen, das seine Ketten zerbrach, selbst wenn sie von Türken und Heiden geschmiedet waren. Grillparzer hat auch lyrische Gedichte, jedoch nur zerstreut, veröffentlicht, und es ist ein schmerzlicher Verlust, daß sie noch immer nicht gesammelt erschienen sind. Sie ragen aus der lyrischen Überschwemmung unserer Tage durch den ihm eigenthümlichen Fluß und Wohllaut der Sprache, durch Fülle der Gedanken und Empfindungen und eine namhafte Kernigkeit der Gesinnung leuchtthurmartig empor. Neuerdings am weitesten gedrungen sind das Gedicht „an Wien“, die Dichtung „Vision“, mit welcher er die Genesung des Kaiser Franz feierte, und das Lied „an Radetzky“, diesen alleinigen und nicht ganz zweifellosen Quell, aus welchem Oesterreichs Dichter in der letzten Zeit ihre patriotische Begeisterung geschöpft. Grillparzer erhielt für dieses Lied das Ritterkreuz des Leopoldsordens. Seit 1856 ist er mit dem Hofrathstitel pensionirt, außerdem ist er Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften.

Nach Dingelstedt’s so schönem als wahrem Worte gehören zum Dichter Freiheit und Einsamkeit. Nun, einsam ist Grillparzer sein Leben lang gewesen, er ist nach und nach zum Einsiedler geworden. Selbst unverheiratet blieb er, vielleicht einer jedenfalls unglücklichen Jugendliebe wegen, deren Bild er in einer seiner poetischen Figuren verewigt hat. Um ihn herum lärmte und wogte das lustige Wien in all seiner heißblütigen Zerstreuungssucht, seiner gedankenlosen Leichtlebigkeit, gedankenschwer nur schritt er still und kalt hindurch, ohne das verlockende Treiben eines Blickes zu würdigen. Weder in Scherz noch Ernst hat er sich jemals an allgemeiner Bewegung betheiligt, nicht einmal an literarischer. Er stand stets für sich. Das ist nicht die Einsamkeit, wie sie dem Dichter zu Zeiten Wohlthat und Bedürfniß, wenn er sich auf sich selbst beschränken will, zu ungestörtem Schaffen, zur Verarbeitung der Eindrücke und Anregungen, die er draußen gesammelt im lauten Leben; das ist ungesunde, naturwidrige Vereinsamung, die in ihrer äußeren Erscheinung etwas Gewaltsames und Herbes hat.

Wirklich ist Grillparzer auch im Inneren verbittert, er hat [296] sich nicht nur abgeschlossen, er hat sich auch verschlossen; das Warum beantworten seine lyrischen Gedichte. In diesen unmittelbarsten seiner poetischen Ergüsse hat er sich selbst wahr und offen gegeben, dumpf zwar, aber hörbar genug grollt in ihnen der Zorn ob der versagten Freiheit. Ihm fehlte die Freiheit, und darum verwelkte die Blüthe seines Genius, ehe die Frucht in ihrem Schooße gezeitigt war. Der dramatische Dichter, der thatverherrlichende Sänger, bedarf, wie kein Anderer, der Freiheit so nöthig, wie der Lebenslust, er bedarf auch eines Vaterlandes, das nicht nur eine große Geschichte in der Vergangenheit hat, nein, auch eine thätig eingreifende, fördernde Stellung zu den Fragen und Bewegungen der Gegenwart einnimmt. Sein Gesichtskreis nach vorwärts muß mindestens ebensoweit geöffnet sein, als nach rückwärts; versumpft der Teich, dann sterben die Fische. Es ist in dieser Beziehung Alles ausgedrückt, wenn man sagt, daß Grillparzer ein Oesterreicher war, denn Jedermann kennt zur Genüge das Verhalten dieses Staates von den Freiheitskriegen bis auf die jüngste Gegenwart zu dem öffentlichen Leben, wie es sich fast überall inzwischen verfassungsmäßig entwickelt hat.

Zum Ueberfluß war er noch Beamter unter Metternich, welcher den schon an sich hinlänglich engen Horizont des grünen Tisches noch bis zum fast Unmöglichen zu beschränken verstand. Druck bringt Gegendruck hervor, oder Zerquetschung. Oesterreichs Einschnürungs- und Verdumpfungs-System hat eine ganze Schaar glühender Freiheitssänger wachgerufen, die sich freilich Alle von ihrem Vaterlande lossagen mußten, nicht Wenige sogar selbst räumlich. Grillparzer hat es nicht gethan, wer aber möchte ihm einen Vorwurf daraus machen? Daß ihn äußerliche Beweggründe abgehalten, Bedenken materieller Art vielleicht, läßt sich bei einem Manne seiner Entschiedenheit und Ehrenfestigkeit nicht füglich vermuthen, leichter erklärt es sich aus seinem weichen und tiefen Gemüth. Er war und blieb ein guter Oesterreicher, treu seinem Vaterlande, warm dem Kaiserhause anhängend, ob zuletzt in stumpfer Ergebung, ob immer noch mit stillen Hoffnungen, wer kann das entscheiden? Seiner mehr nach innen gekehrten Natur nach machte sich sein Schmerz nicht in gewaltsamen Aeußerungen Luft, sondern nagte still an seinem Herzen.

So blieb Grillparzer freilich das Nächstliegende und ersprießlichste Feld für seine dichterische Thätigkeit unnahbar: die eigentliche deutsche Geschichte. Deutsche Stoffe waren der österreichischen Censur mit revolutionairen gleichbedeutend, und wie hätte er es wagen dürfen, die große Vergangenheit dem Bedürfniß der Gegenwart und der Hoffnung der Zukunft entsprechend uns nahe zu bringen? In dieser Hinsicht ist der Dichter an Oesterreich zu Grunde gegangen, und welchen Lohn hat er dafür empfangen? – nicht einmal die äußere Anerkennung, die an tausend tief unter ihm Stehende verschwendet worden. „Ein treuer Diener seines Herrn!“ Möge er wenigstens nach einem in seinen schönsten Anlagen theilweise gebrochenen und verfehlten Leben sich mit der Hoffnung in das Grab legen, daß in dem bald allumfassenden deutschen Vaterlande sein Name als der eines deutschen Dichters unvergänglich sein wird.

Albert Traeger.




Die englisch-amerikanische Preis-Boxerei.

Es war eine geheimnißvolle Nacht in London, die vom 16. zum 17. April dieses Jahres, des eintausend achthundert und sechszigsten nach Christi Geburt. Selbst alte, eingeweihte Policemen konnten sich das wüthende Fahren und Schreien nicht erklären, das gerade in der stillsten Zeit der Nacht am tollsten anwuchs, und zwar aus den verschiedensten, verrufensten Nacht-Kneipen in die eine Richtung hinüber nach dem großen Eisenbahnhofe über der London-Brücke. Die überladenen Droschken, Gigs und „Flies“ rollten in wüthender Hast durch die stillen Straßen, auf welchen seltsame, liederlich-lustige Kerle, größtentheils mit weißen Hüten, mit den Droschken um die Wette den Eisenbahnhof zu erreichen suchten. Nach 3 Uhr füllten sich die Räume des sonst um diese Zeit ruhenden Bahnhofes mit dem seltsamsten Gemisch brutaler, gemeiner Bulldogsgesichter und feiner, schnurr- und kinnbärtiger Lebemänner, die von den grobschrötigen Bulldogs hier und da als Eindringlinge nicht eben fein behandelt und zum Theil ihrer Billets, à 3 Guineen = 21 Thaler, enthoben wurden, sodaß einige der feinen Herren das ihnen gestohlene Billet just von dem Diebe für einen bedeutend höheren Preis zurückkaufen mußten.

Man schrie, trank, rauchte und stritt sich wild durcheinander. Niemand wußte, wo die Reise hingehen sollte. Nur der Mann auf der ungeduldig pfauchenden und zischenden Locomotive wußte es, wie sie sich untereinander erzählten. Man suchte ihn durch Schmeicheleien, Drohungen, Bestechungen zu überreden, das Geheimniß zu verrathen; aber der Mann blieb stumm und ehrlich, sodaß er 31/2 Uhr die 33 vollgepfropften Waggons in Bewegung setzte, ohne daß Jemand von den Passagieren erfahren hatte, welche Richtung er auf den etwa 60 Schienen neben einander und ihren Verschlingungen nehmen, wo er halten würde. Ein bald folgender zweiter Zug flog ebenfalls mit lauter nichtwissenden Neugierigen durch die Nacht hin. Selbst Mitglieder des Parlaments und der „obersten Zehntausend“, die im Uebrigen in jeder Situation des Lebens sich ihrer Privilegien erfreuen, wußten nichts und waren ebenso neugierig, wie die brüderlich neben ihnen sitzenden ungeschlachten Bullen- und Bulldogsgesichter, wo endlich der Zug halten und das „nationale Ereigniß“ sich entwickeln werde.

Beide Züge flogen und donnerten lange südlich dahin durch die Nacht – beinahe drei Stunden. Endlich hielten sie auf der Surrey- und Hampshire-Grenzstation Farnborough und wurden von hier etwa 1/2 Meile landeinwärts auf eine Wiese geführt.

Nur die Häupter und Führer der Sache hatten diese Stelle gewählt und bisher gewußt. Wegen der Polizei, gegen deren Wissen und Instruction der große Kampf geschlagen werden sollte, hatte sie für das große Publicum und selbst die etwa 1200 Eingeladenen und Eingeweihten ein absolutes Geheimniß bleiben müssen.

Die seltsame Gesellschaft gruppirte sich auf der Wiese um einen Kreis, der von Pfählen und Stricken in aller Eile abgesteckt und gezogen ward. Etwa ein Dutzend von den „Inneren“ constituirten sich als Constabler und Polizei für die Gelegenheit und nahmen den „Aeußeren“, die schon ihr Einundzwanzig-Thaler-Billet bezahlt hatten, noch goldenes Extra-Entrée ab, insofern sie innerhalb des Kreises stehen wollten. Es gab viele Narren mit Geld in der Tasche, die sich dieses Extra-Privilegium erkauften. Welch’ kostbares Mysterium und Privilegium! Worin bestand’s? Wir müssen hier den fernen Leser nach Kräften einzuweihen suchen.

Von Amerika war der berühmte „Benicia-Knabe“ (Benicia-Boy), der erste und unbesiegte Preis-Boxer, herübergekommen, John Heenan mit Namen, ehemals Zollbeamter in New-York, seitdem aber professioneller, in den Vereinigten Staaten umherreisender, nie besiegter Preis-Boxer; herübergekommen, um sich mit dem ersten Preis-Boxer Großbritanniens, Tom Sayers, ehemaligem Maurer, zu messen und unter gewaltigen Aufregungen und fabelhaft hohen und ausgedehnten Wetten zu entscheiden, wer von Beiden sich den „Gürtel des Sieges“ erboxen und die Tausende von Pfunden betragenden Wetten für die eine oder die andere Partei gewinnen würde.

Das Boxen ist, wie tausenderlei andere Dinge, die blühen und gedeihen, in England verboten, ganz besonders streng das Boxen um Geld, um Preise. Außerdem ist es jedem gebildeten Auge als unfläthige, ekelhafte Rohheit verhaßt und zuwider. Deshalb bemächtigte sich die englische Presse sofort mit viel Wärme und Eifer der drohenden großen Preis-Boxerei: ein Theil rief Polizei, Magistrate und Parlament gegen diesen Cannibalismus auf, Andere nahmen die Sache als Zeichen der Männlichkeit und Freiheit, als Ermuthigung athletischen Wesens und der edlen Kunst der Selbstvertheidigung lebhaft in Schutz. Polizei und Behörden, die in England dem Volksgeiste in jeder Form – und das Boxen ist eine alte, volksthümliche, in Fleisch und Blut des Volks gewachsene Art, persönliche Beleidigungen abzumachen – auch gegen das Gesetz „Rechnung tragen“ und so ganz wesentlich das Volk als frei respectiren, hielten sich in der Mitte, ließen den Boxern und ihren Anhängern sagen, daß sie nicht Preisboxen dürften, und warteten dann, bis die Sache im Wesentlichen vorbei war.

Die beiden Helden traten um 7 Uhr mit ihren Freunden, „Wärtern“, Secundanten und „Aerzten“ in den Kreis, wechselten einige freundliche Worte, schüttelten sich die Hände und zogen sich [297] beide bis auf die Unterhosen und Stiefeln ganz aus. Wie sie so neben einander standen, fiel die überlegene Größe und der furchtbare Muskelbau des Amerikaners so auf, daß der Cours der Wetten sofort für ihn stieg und für den Engländer fiel. Doch die Eingeweihten wankten nicht und blieben bei der Ueberzeugung, daß der Engländer siegen müsse. Sie stellten sich zum ersten Gange gegenüber und fingen mit ihren furchtbaren, geballten Fäusten, die wie knotige Keulen aussahen, und ihren klobigen Muskelgebirgen in eigenthümlichen vorbereitenden Windungen an zu spielen, um sich gegenseitig etwaige Geheimnisse und Methoden ihrer „Kunst und Wissenschaft“ abzulauschen. Endlich fingen die Keulenschläge der Faustknollen zu knacken und zu plumpsen an. Die Eingeweihten haben tausenderlei rothwelsche, unverständliche Ausdrücke, um die verschiedenen Schläge und deren Wirkungen zu bezeichnen. Wir können ihnen in diesen Geheimnissen und Reizen des Genusses nicht folgen und müssen uns mit einer oberflächlichen Skizzirung des internationalen englisch-amerikanischen Ehrenkampfes begnügen. Der dritte Gang endigte mit einem Treffer auf den Nasensattel des Engländers, einem „Nieser“ und „Schnarcher“, der dabei schwer zu Boden fiel, während der Nasensattel zu einem „Conk“ oder gefüllten Pfannenkuchen aufschwoll. Die Wärter nahmen den Gefallenen auf den Schooß und behandelten ihn mit nassen Schwämmen und andern kunstgerechten Mitteln.

Der vierte, fünfte, sechste und siebente Gang (sie nennen’s Runde), jeder endigte mit krachender Niederschmetterung des Engländers, der nach jedem Falle gestrichen, gedrückt, mit stärkenden, kühlenden Flüssigkeiten benetzt, mit den entsetzlichsten, verschiedensten Entstellungen und Schwellungen bedeckt, mit „Schnüfflern“, „Küssern“, „Rothwein“ u. s. w., wüthender, aber schwächer auf die Beine und zum nächsten Gange gestellt ward. Den achten Gang boxte der Engländer hauptsächlich mit der linken Keule, die rechte war geschwollen, entstellt und verrenkt durch einen Schlag des Amerikaners. Beide knallten jetzt mit der höchsten Wuth und Hitze gegen einander. Aus Mund, Nase und dem rechten Auge des Amerikaners spritzte Blut, in welches der Engländer so lange mit seinen bluttriefenden Faustknollen hineinstampfte, bis er wieder zu Boden geschmettert ward. Der vom Blute und dem in Schwulst vollkommen geschlossenen Auge erblindete Amerikaner ward von den Seinigen gewaschen und gereinigt, gekühlt und gepflegt, der Engländer von den Seinigen. Neunter, zehnter, elfter, zwölfter, dreizehnter Gang. Nach jedem wurden furchtbare Beulen gewaschen, Blut und klaffende Wunden gekühlt, zugeschwollene Mäuler mühsam mit Essigschwämmen erquickt. Der vierzehnte endete mit Niederfällung Beider. Die nächsten vier schließt jedesmal ein schwerer Fall des Engländers. Nummer neunzehn und zwanzig wieder je doppelte Niederlage. Die beiden nächsten Nummern werden durch neue Figuren auf dem schon unkenntlichen Gesichte des Engländers bezeichnet. Die nun folgenden vier Gänge sahen schon wie Tollhaustobwahnsinn aus. In den Zwischenpausen wurde leidenschaftlich an Beiden herumgewischt, geklebt, eingeflößt und „erquickt“.

Das Gesicht des Thomas Sayers ist mit Augen, Nase, Mund und Backen eine einzige, unkenntliche Masse mit einem großen, blutenden Klumpen auf der Stirn. Ueber der Braue des einen Auges ein großer, offener Klaff. Aus den verschwollenen Nasen- und Mundöffnungen quillt Blut. So liegt er da auf dem Schooße eines Wärters und wird mit Stärkungsmitteln tractirt. Heenan kollert wie ein Trunkener bewußtlos schäumend auf dem blutigen Grase mit einer weit aufgerissenen Backe, einem ganz unsichtbar gewordenen, in rother Schwulst geschlossenen Auge, die andere Seite des Gesichts ein ungeheurer, blau und roth glühender Klumpen, die linke Faust „aufgepufft“ und unfähig, sich zu öffnen, im Ganzen „gar nicht mehr erkenntlich als menschliches Wesen“.

Beide werden wieder zurechtgewaschen und wieder auf die Beine gebracht zum sechsundzwanzigsten Gange, der abermals mit dem Falle des Engländers und einem Schlage des Amerikaners, als dieser schon fiel, endet. Hier schrieen die Englischen in furchtbarer Wuth: „Foul!“ und verloren alle Kraft, sich zu halten, als ihr Mann noch fünfmal hintereinander von den wüthendsten Faustkeulenschlägen des blinden Amerikaners niedergestoßen ward.

Dreiunddreißigster und vierunddreißigster Gang. Beide sind fast blind und stoßen mit schwerem, schnarchendem, röchelndem Athem, blutspeiend, mit jedem Athemzuge Blut ausröchelnd ihre geschwollenen, schwach gewordenen Armkeulen gegen einander. Noch keine Entscheidung? Noch Keiner besiegt? Noch Keiner des Preises von 200 Pfund Sterling gewiß? Nein, noch hatte sich Keiner für besiegt erklärt, noch war keiner von Beiden todt. Noch zwei Gänge und endlich der letzte mit dem dramatischen Effecte.

Zwei Stunden und zwanzig Minuten lang hatten sich die beiden Helden gegenseitig ihre Gesichter und nackten Glieder zerstoßen und zerdroschen, ohne daß es der Polizei – die zum Theil mit den Eisenbahnzügen in der Nacht incognito mit zur Stelle gekommen war, bis dahin gelungen war, in das Innere des Kreises einzudringen. Jetzt gelang’s ihr plötzlich. Sie drang durch den äußeren Kreis bis zu dem inneren der Stricke, die in demselben Augenblicke mehrfach zerschnitten wurden, so daß Polizei und Publicum eindrang und die beiden Kämpfenden dicht umgab. Heenan, schon längst voller Verdacht, daß ihm die Engländer kein „ehrlich Spiel“ gönnen wollten, glaubte jetzt, daß die wüthend gewordenen englischen Hallunken ihm an’s Leben wollten, und wehrte sich dagegen mit der wahnsinnigsten Wuth eines Verzweifelten, so daß er den Gegner und dessen Secundanten mit Fäusten, Füßen und Zähnen zugleich bearbeitete. Publicum und Polizei rissen und zerrten an den sich wälzenden, kratzenden und beißenden, nackten, blutigen Muskelmassen in unbeschreiblicher Confusion, bis es ihnen gelang, die ekelhaften Kerle auseinander zu reißen.

Heenan, geistig und körperlich blind, bewußtlos, wahnsinnig, floh nackt und blutig, zerrissen und bis zur gänzlichen Unkenntlichkeit verschwollen, in’s Weite und konnte erst spät eingeholt, in seine Kleider und zum Bewußtsein gebracht werden.

Sein Gegner wurde unter der confusen Menge hervorgezogen, verbunden und eingepackt und als hoffnungslos in Kissen und Betten gewickelt. Aber schon am folgenden Morgen wohnte er einer berathenden Versammlung des Preis-Boxer-Comités im Zimmer des Redacteurs der „Sporting“-Zeitung: „Bell’s Leben in London“ bei, um seine Stimme abzugeben, wann der zweite, entscheidende Tag des Kampfes stattfinden solle. Die siebenunddreißig Gänge mit dem cannibalischen Ende führten nach dem Richterspruch der Sachverständigen zu keiner Entscheidung. Die Sache kam im Parlamente zur Sprache. Man lachte darüber und wies es ab, sich irgendwie in diese bereits streng verbotenen Belustigungen einzumischen. Alle Zeitungen brachten Leitartikel darüber, theils begeistert für, theils entrüstet gegen diese nationale Schande.

Aber sie ist populär. Dieser Cannibalismus wurzelt tief im Volke und hoch in den obersten Zehntausend, die sich in ihrem großen Wett-Bureau „Tattersalls“ mit bedeutenden Wettsummen daran betheiligten. Arm und Reich aus allen Gegenden Englands senden Tom Sayers Geldgeschenke, auf der Stockbörse sind ihm 100 Goldstücke von den Mitgliedern derselben überreicht worden, und wo auch der Boxer erscheint, wird er mit Jubel empfangen.

Wir wenden uns mit Ekel von diesen Preis-Boxereien ab, eben so wie gebildete Engländer. Aber diese streng verbotenen „Belustigungen“ floriren, eben so wie verbotene Hahnenkämpfe und Rattentheater. Darin liegt ein großes Geheimniß der englischen Freiheit, welche wesentlich darin besteht, daß gesetzlich verbotene volksthümliche Sitten und Unsitten von der hohen Obrigkeit nicht gestört werden. So ekelhaft wie die Boxereien sind, sie kommen immer frei aus dem Volke und sind einmal eine alte, wenn auch rohe Form persönlicher Freiheit.




Aus dem Leben des Haushundes.

Von Dr. Ludwig Brehm.

Es ist lange meine Absicht gewesen, einige Erfahrungen über das geistige Wesen des Haushundes zu veröffentlichen, welche ich selbst machte oder durch glaubwürdige Freunde erfuhr. Wenn ich die hier mitzutheilenden Thatsachen auch nicht gerade als durchaus neue oder wenigstens unbekannte Geschichten ansehen darf, kann ich doch ihre Wahrheit verbürgen, und somit glaube ich immerhin, nichts Unwillkommenes zu bieten. Möglich, daß ich durch sie auch andere Beobachter aufmuntere, ihre Erfahrungen an diesem Orte zu veröffentlichen, und hierdurch die so anziehende Thierseelenkunde wenigstens mittelbar bereichere. Und dann ist meine Arbeit mir überreich belohnt worden.

[298] Wenn wir über den Charakter des Hundes berichten: des Hundes, unseres treuesten, wahrsten, edelsten Freundes, des so oft verkannten, selbst unwissentlich oder unwillentlich geschmähten Thieres, so müssen wir nothwendig auch hervorheben, wie das Thier sich im innigen Umgange mit dem Menschen veredelt. Der Hund opfert sein ursprüngliches Wesen, seine Selbstständigkeit, kurz sich selbst dem Menschen auf und gibt im Umgange mit ihm Hunderte von Beweisen für seine Biederkeit, Klugheit und Gemüthlichkeit, während man bei den verwilderten Thieren derselben Art alle guten Eigenschaften des Hundes, etwa mit Ausnahme seiner Klugheit, kaum noch bemerkt. Im gezähmten Zustande ist der Hund das treue Abbild seines Herrn, im Guten wie im Bösen; und nur selten kommt es vor, daß ein Hund, welcher von edlen Menschen gut behandelt wird, einen schlechten Charakter besitzt. Ich kann aus eigener Erfahrung auch hierfür ein Beispiel erzählen. Mein seliger Vater besaß einst solch einen Hund; er war wachsam bei Tage und bei Nacht, zeigte sich aber im hohen Grade menschenfeindlich. Jeder Fremde wurde angemeldet und jeder Bettler mit solchem Zähnefletschen angebellt, daß man immer besorgt sein mußte, er werde den armen Menschen gefährliche Wunden beibringen. Wachsamkeit war die einzige Tugend dieses Hundes; im Uebrigen war er eins der häßlichsten Thiere, welche ich je gesehen habe. Sein grämliches Wesen hatte gar keine Grenzen. Wenn ihn ein Fremder ansah oder eines der Hausgenossen auf ihn zuging, knurrte er, und wenn ein Kind mit ihm spielen wollte, fuhr er nach ihm und biß es nicht selten so sehr, daß es laut aufschrie.

Das Merkwürdigste bei ihm war aber der Umstand, daß seine Folgsamkeit gegen seinen Herrn und seine Furcht vor ihm nur kurze Zeit nachhielt. Der Zorn überwältigte ihn zuweilen derart, daß er nach meinem Vater biß. Geschah dies, dann war es höchste Zeit, ihn abzustrafen. Er wurde mit einem Ringe seinen Halsbandes an einem an der Wand befindlichen Haken aufgehängt und tüchtig durchgeprügelt. Eine solche Züchtigung wirkte sehr wohlthätig auf ihn, die Furcht vor seinem Herrn kehrte wieder und machte ihn gehorsam: er schien wie umgewandelt. Allein dies dauerte nicht lange, nach vierzehn Tagen zeigte er schon wieder sein grämliches Wesen, und da dieses nicht zu bewältigen war, wurde er bald weggegeben.

Wie sehr steht das Betragen dieses Hundes der Gemüthlichkeit und Klugheit anderer entgegen? Ein naher Verwandter von mir hatte einen äußerst wachsamen Hund, welcher im ganzen Hause frei herum laufen konnte und bei Tage wie bei Nacht das geringste Geräusch durch Bellen anzeigte. Einstmals um Mitternacht kam dieser Hund laut bellend an das Schlafzimmer seines Herrn, kratzte an der Thüre, lief wieder fort und bellte unten. Bald darauf wiederholte er dasselbe Betragen; allein er wurde auch diesmal so wenig als das erste Mal verstanden. Er lief zum dritten Male fort, kam zum dritten Male wieder und kratzte lange Zeit laut bellend an die Thüre. Doch auch dieses Mal wurde nicht auf ihn gehört. Da lief er zum vierten Male fort und bellte unten wohl eine Viertelstunde lang.

Am andern Morgen zeigte es sich, wie klug der Hund gehandelt hatte. Am Fenster des Gewölbes war mit einem noch daneben stehenden Pfahl ein eiserner Stab umgebogen; und die Fußtritte unter dem Fenster zeigten deutlich, wie sehr sich die Diebe bemüht hatten, den Eingang zu eröffnen. Der Hund wollte dieses Verbrechen seinem Herrn anzeigen: deswegen bellte er vor der Thüre des Schlafzimmers, kratzte an derselben und lief fort, um zur Verfolgung der Diebe zu ermuntern, hatte jedoch durch sein Bellen Diese glücklich verscheucht. Sie waren eine Stunde weiter gegangen und hatten ein anderes Pfarrhaus, in welchem sich kein so wachsamer und kluger Hund befand, ausgestohlen.

Einen äußerst klugen Hund besaß mein verstorbener Freund, der Oberförster Heerwart in Wüstenwetzdorf bei Auma. Der Hund hieß Baskow, war ein ausgezeichneter Hühnerhund, stand sehr gut, suchte mit ebensoviel Geschick als Ausdauer und fing ein Reh, wenn es auch ganz leicht verwundet war oder wenn es, wie sich mein Freund ausdrückte, ein einziges Schrot hatte.

Einst bekam Heerwart ein lebendes junges Reh und zog es auf. Baskow erkannte sehr bald die Stellung, welche er gegen diesen kleinen Liebling seines Herrn einzunehmen hatte. Er verfolgte das Reh nicht nur nicht, sondern schonte es auf alle Weise, und ließ sich Alles von ihm gefallen. Das merkte sich der kleine Rehbock sehr gut. Sobald sein Gehörn zu wachsen anfing, band er mit dem gewaltigen Hunde an, ging auf ihn los und trieb ihn vor sich her. Seine grenzenlose Unverschämtheit veranlaßte ihn sogar, den Hund in seiner Hütte zu beunruhigen! Wenn unser Baskow ruhig darin lag, stellte sich der kleine Störenfried vor dieselbe und stieß mit seinen kleinen Spießen so lange auf ihn, bis jener seine Hütte verließ. Diese nahm dann der Rehbock ein und behauptete sie so lange, als er Lust hatte. Baskow fühlte sich dadurch sehr gekränkt, das zeigte sein ganzes Wesen; allein er bezwang seine Wuth, weil ihm seine Klugheit rieth, sich bei allen diesen Unbilden ruhig zu verhalten.

Dieser Baskow zeigte seinen Verstand auch auf andere Weise. Er bewachte z. B. das Eigenthum seines Herrn mit größter Sorgfalt. Wenn Heerwart in einen Gasthof der Umgegend kam, stellte er sein Doppelgewehr in einen Winkel und legte seine Jagdtasche daneben. Sogleich nahm der treue Hund auf dieser Platz und machte ein solches Gesicht, daß es Jedermann verging, sich ihm zu nähern. Einst zeigte er eine ganz besondere Klugheit. Sein Herr hatte seine Mütze weit von der Jagdtasche auf einen Tisch gelegt und das Zimmer verlassen. Der Hund sah fortwährend nach der Thüre, und als der Herr mit seiner Rückkehr verzog, lief er nach dem Tische, faßte die Mütze mit der Schnauze, trug sie in den Winkel und legte sie neben die Jagdtasche, offenbar in keiner anderes Absicht, als um sie in der Nähe zu haben und sie sicher bewachen zu können.

Der Schwiegersohn Heerwarts besitzt unter den drei von Letzterem geerbten Hunden einen Hühnerhund, welcher ebenfalls sehr klug ist. Er sucht, steht und apportirt nicht nur vortrefflich, sondern leistet auch im Innern des Hauses allerlei Dienste. Dafür sorgt er aber auch, daß er nicht Hunger leide, und thut dies auf sehr geschickte Weise. Wenn er nicht zur bestimmten Zeit sein Futter bekommt, nimmt er seinen Freßtrog, der in der Gesindestube steht, in den Rachen, trägt ihn, sobald die Thüre aufgeht, über die Hausflur, und sobald die Thüre vom Wohnzimmer des Herrn geöffnet wird, in dieses. Dort stellt er ihn vor seinen Herrn hin, und dieser läßt ihm dann auch sogleich seinen Futternapf füllen. Aber er sorgt nicht blos für sich allein, sondern zuweilen auch für seine Gefährten. Vor Kurzem, als sich sein Herr nicht im Erdgeschosse, sondern im ersten Stocke aufhielt, trug er alle drei Futternäpfe auf den obern Saal und stellte sie hin. Als sein Herr herauskam, sah er ihn mit einem bittenden Blicke an, um ihm zu sagen, daß noch keiner der andern Hunde sein Futter bekommen hätte.

Einen merkwürdigen Beweis von Gemüthlichkeit gab ein Hund, welchen der Pfarrer Oertel zu Trebnitz bei Roda besaß, vor einigen Jahren. Er lebte seit langer Zeit mit der Hauskatze in schönster Eintracht und widerlegte dadurch das Sprüchwort: „Sie leben wie Hund und Katze.“ In hohem Alter wurde die Katze ganz schwach und kränklich, und suchte die Wärme des Sonnenscheins zu genießen. Sobald sie den Glanz der Sonne bemerkte, verließ sie ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort, den Platz unter dem Ofen und ging, wenn sich die Thüre öffnete, hinaus auf den Hof, um sich im Sonnenschein zu wärmen. Allein ehe Jahr und Tag verging, wurde sie so elend, daß sie nicht mehr in den Hof kriechen konnte. Was that der Hund, ihr treuer Freund? Er lag nicht nur nach wie vor die längste Zeit ganz nahe neben der armen Katze, offenbar in der Absicht, sie mit seinem Körper zu wärmen, sondern er gab auch genau Achtung auf die Witterung. Sobald die Sonne schien, nahm der zärtliche Hund die Katze in die Schnauze, wartete, bis die Thüre aufging, und trug sie auf dieselben Stellen, welche sie früher aufgesucht hatte, um sie den Sonnenschein genießen zu lassen. Sobald jene Plätze in Schatten kamen, holte er sie wieder ab und trug sie an ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort, unter den Ofen. Sie ließ sich dieses liebevolle Betragen gern gefallen und bezeigte ihm ihre Dankbarkeit durch zärtliche, dankbare Blicke; und der Hund setzte diese Pflege der altersschwachen Katze bis zu ihrem Tode unermüdet und unausgesetzt fort.

Ein anderes Beispiel von der Freundschaft eines Hundes gegen eine Katze ist ebenso auffallend, vielleicht noch auffallender. Der verstorbene Rentamtmann Dreßler in Neustadt an der Orla besaß einen Hund und eine Katze, deren Eintracht oder vielmehr Zärtlichkeit allgemeine Bewunderung erregte. Einst befand sich der Medicinalrath Dr. Schellenberg aus Neustadt, welcher mir diese merkwürdige Geschichte erzählte, in dem Wohnzimmer des Rentamtmanns, wo Hund und Katze wie gewöhnlich unter dem Sopha lagen. Ein Fremder trat mit seinem Hunde in die Stube; der Hund [299] bemerkte die Katze und fuhr wüthend auf sie los. Augenblicklich erhob sich der Haushund zum Schutze seiner Freundin, griff den fremden Ruhestörer ingrimmig an und biß sich so heftig mit ihm herum, daß die beiden Hunde kaum auseinander zu bringen waren. Im Verlauf einer Viertelstunde fing der fremde Hund zwei Mal die Feindseligkeiten mit der Katze wieder an und wurde zwei Mal von dem Haushunde tüchtig mitgenommen und von seinem Herrn mit Mühe zur Ruhe gebracht. Da er aber fortwährend knurrte und mit grimmigem Blicke nach der Katze hinsah, lief der Haushund nach der Mütze des Fremden, faßte sie mit der Schnauze und brachte sie demselben, um ihn auf eine verständliche Weise zum Fortgehen zu bewegen. Die drei Anwesenden freuten sich sehr über die Klugheit des treuen Thieres; der Fremde ging, und der Haushund begleitete ihn mit deutlichen Zeichen der Freude bis an die Thüre.

Ich selbst besaß einen Hund und eine Katze, welche Beide weiblichen Geschlechts und so vertraut mit einander waren, daß sie ihre Wochenbetten neben einander aufschlugen. Bald krochen die Jungen beider sonst einander feindseligen Thiere unter einander herum und wurden abwechselnd von dem Hunde und der Katze erwärmt und gesäugt.

Auch unser jetziger Hund hat viel Verstand. Er ist sehr klein, aber so muthvoll, daß er selbst sehr große Thiere, wie Pferde und Ochsen, anbellt. Er ist sehr wachsam; sobald aber ein Fremder einmal im Zimmer Platz genommen hat, ist er zutraulich gegen ihn und beweist ihm volles Vertrauen, indem er auf seinen Schooß springt. Sehr gern geht er mit mir aus und merkt es sogleich, wenn ich zum Weggehen Anstalt mache. Sobald dies geschieht, sucht er zu entkommen, um mich außerhalb des Hauses zu erwarten, weil es ihm auf diese Art doch zuweilen gelingt, daß ich ihn noch mitnehme. Sage ich ihm aber, während er noch unter dem Ofen liegt: „Du kommst mit!“ dann ist er ganz außer sich vor Freude. In fremden Häusern bekommt er oft Langeweile und dann freut er sich sehr, wenn er sieht, daß ich mich zum Weggehen anschicke. Vorigen Herbst suchte er mich auf eine deutliche Weise dazu zu bewegen. Ich befand mich mit ihm in dem Hause eines benachbarten Freundes, von welchem ich gegen Abend wegzugehen pflege. Als diese Zeit kam, bemerkte ich bald, daß der Hund Langeweile hatte. Er sah mich an und dann nach der Thüre, um mich an das Weggehen zu erinnern. Als diese Mahnungen vergeblich waren, sprang er an den Tisch, auf welchem meine Mütze lag, warf sie herunter und da er an das Apportiren nicht gewöhnt ist, schob er sie mit den Vorderfüßen fast über die ganze Stube nach mir hin, hierdurch allgemeine Heiterkeit erregend. Ich hob die Mütze auf und als ich ihm zurief: „Du hast Recht, wir wollen nach Hause,“ war seine Freude, welche er auf alle Art äußerte, sehr groß.

Der verstorbene Steuereinnehmer L. in A. hatte einen Hund, welchen er sehr liebte. Der Hund erwiderte diese Liebe auf alle Weise. Sein Herr wurde krank; der Hund wich nicht von seinem Krankenlager; sein Herr starb, und der Hund würde dessen Leiche nicht verlassen haben, wenn er nicht mit Gewalt davon entfernt worden wäre. Als der Herr begraben wurde, folgte der Hund dem Leichenzuge und gab Achtung, wo der Sarg mit der Leiche seines lieben Herrn eingesenkt wurde. Nach Beendigung der Leichenfeier legte er sich auf das Grab und besuchte dieses lange Zeit täglich.

Aber auch gegen andere Hunde zeigen diese treuen Thiere oft eine große Liebe. Wir hatten früher zwei Haushunde, welche, weil sie beide männlichen Geschlechts waren, nicht immer in großer Freundschaft mit einander lebten, sondern sich oft mit einander herumbissen. Allein die Gewohnheit hatte doch ein gewisses Band um sie geschlungen. Denn als der Eine von ihnen gestorben und in meinem Hofe begraben worden war, scharrte der noch lebende täglich auf dem Grabe des Andern, um ihn wieder an das Licht zu bringen; er hatte ihn also trotz der öftern Kämpfe doch lieb gehabt.

Ein anderes Beispiel von brüderlicher Liebe gaben zwei Hunde im Altenburgischen. In einem Dorfe, nicht weit von Altenburg, wenn ich mich recht erinnere, in Treben, wurden von einer Familie junger Hunde zwei männliche behalten. Der eine blieb in Treben, der andere kam in ein anderes, nicht weit von Treben entferntes Dorf und wurde verschnitten. Diesen besucht der andere Hund täglich, bleibt einige Zeit bei ihm und kehrt dann zurück. Um ihn zum Besten zu haben, versperrte man ihm den Weg und trieb ihn mit Gewalt zurück. Allein er ließ sich dadurch nicht abhalten, er machte einen großen Umweg und kam von einer andern Seite glücklich zu seinem Bruder, welchen er auch später täglich besuchte.

Die Gemüthlichkeit des Hundes zeigt sich auch besonders bei der Erziehung seiner Jungen. Er pflegt, beleckt und säugt sie mit einem wahrhaften Wohlbehagen. Wenn eins derselben fehlt, sucht er überall darnach und freut sich ungemein, wenn er es gefunden hat. Wir besaßen einst eine Hündin, welche davon ein merkwürdiges Beispiel gab. Von den Jungen, welche sie hatte, wurde eins einem Bauer in Kleinebersdors, einem achtzehn Minuten von hier entfernten Dorfe, übergeben. Der alte Hund war außer sich, lief schnuppernd im ganzen Hause herum, um sein Kind zu suchen, und als er es da nicht fand, verließ er das Haus und brachte kurze Zeit darauf das Junge, welches er mit vieler Mühe hierher geschleppt hatte, indem er es mit der Schnauze an dem einen Beine faßte und theils forttrug, theils fortzog. Der junge Hund wurde wieder zum Bauer gebracht und von dem alten wieder geholt. Dies ging so lange fort, bis der junge Hund der mütterlichen Pflege entwachsen war.

Als Hauslehrer besaß ich einen Hühnerhund, Namens Waldmann, welcher so klug und gemüthlich war, daß ich ihm in diesen viel gelesenen Blättern ein Denkmal setzen muß. Mit dem frühesten Morgen stand er vor der Thüre meines Zimmers, um das Oeffnen derselben zu erwarten, weil er wußte, daß ich früh an meinem Schreibtische saß. Sobald mir der Kaffee gebracht wurde, kam er herein und blieb vor mir stehen, um seinen Morgengruß zu empfangen. Es kam nicht selten vor, daß ich, mit einer alle meine Gedanken in Anspruch nehmenden Arbeit beschäftigt, ihn nicht sogleich bemerkte. Das störte ihn aber gar nicht, er wartete ruhig viertelstundenlang, bis ich ihm zurief: „Nun, Waldmann, bist Du da? Du bist ein guter, lieber Hund.“ Jetzt streichelte ich ihm mit der Hand den Kopf und Nacken und bezeigte durch Blick und Gebehrde meine Liebe. Während er diese Liebkosung empfing, sah er mich mit einem ganz eignen Blicke, in welchem sich Freude und Dankbarkeit aussprach, eine Zeit lang an und ging dann unter den Ofen, seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort, um sich dort niederzulegen. Er verstand meine Sprache vollständig. Wenn ich im Begriff war wegzugehen und zu ihm sagte: „Waldmann, Du kannst nicht mit,“ ging er betrübt unter den Ofen. Sprach ich aber: „Waldmann, Du kannst mit,“ dann war er ganz außer sich vor Freude, sprang hoch empor und eilte nach der Thüre.

Seine Anhänglichkeit an meine Person war sehr groß. Einst mußte ich eine Reise unternehmen, welche ich zu Fuße machte. Ich ging früh weg und bat, den Waldmann nicht aus dem Hause zu lasten. Als ich vier Stunden weit gegangen war, kam mein Waldmann hinterdrein, ganz ermattet, mit weit vorgestreckter Zunge lechzend, denn er war ohne Frühstück entwischt und sehr schnell gelaufen. So ärgerlich mir seine Ankunft war, so freundlich begrüßte ich ihn und um ihn zu erquicken, theilte ich meinen Reiseproviant redlich mit ihm. In meinem Nachtquartiere sollte er vor meiner Kammerthüre schlafen, allein er sah mich mit einem so traurigen und flehentlichen Blicke an, daß ich ihn mit in die Schlafkammer nahm. Darüber war er sehr erfreut und legte sich nahe an meinem Bette nieder.

Seine Anhänglichkeit an mich war um so anerkennungswerther, da ich ihn nicht fütterte, und er gegen einen andern Bewohner des Hauses, welcher ihn auch mit auf die Jagd nahm, sich sehr widerspenstig zeigte. Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich aber daraus leicht erklären, daß er viel Ehrgefühl und Empfindlichkeit besaß. Ich behandelte ihn stets mit großer Liebe und gab ihm nie einen Schlag, auch dann nicht, wenn er, von seiner Hitze verleitet, mir auf der Jagd einen Verdruß gemacht hatte. Der Andere aber fuhr ihn an und züchtigte ihn, wenn er nicht folgen wollte. Dies empörte ihn so sehr, daß er sich niederlegte und ruhig prügeln ließ, ohne aufzustehen, was er sollte. Ich glaube gewiß, er hätte sich todtschlagen lassen, ehe er Gehorsam geleistet hätte.

Auch auf der Jagd zeigte es sich, daß er mich vollkommen verstand und mir willig folgte. Einst schoß ich auf einem mit Kalmus und Riedgras bewachsenen Teiche ein gepaartes Paar Kräckenten. Das Männchen war auf der Stelle todt; das flügellahme Weibchen hatte sich in dem tiefen Grase meinen Blicken entzogen. Waldmann brachte mir jenes und sah mich gewissermaßen forschend und fragend an, was er weiter thun sollte. „Such’! such’!“ war meine Antwort. Sogleich lief er wieder in den Teich nach der Stelle hin, welche ich ihm mit dem Finger zeigte, und durchstöberte Alles weit und breit, ohne die Ente zu finden. Schon [300] glaubte ich, sie einzubüßen, aber mein Waldmann kannte die Gewohnheit der verwundeten Wasservögel besser, als ich sie zu jener Zeit kannte. Er wußte, daß die Verwundeten häufig das Wasser verlassen und sich auf das Trockene begeben. Deshalb sprang er aus dem Teiche heraus und lief längs dem Ufer um denselben herum. Er hatte ihn fast umkreist, ohne etwas zu finden. Jetzt aber fuhr er zu, ergriff die Ente und brachte sie mit großen Sprüngen und sichtbarer Freude, welche noch größer wurde, als ich sie ihm unter Liebkosungen abnahm.

Von seiner Geschicklichkeit im Auffinden eines geschossenen Vogels noch zwei Beispiele. Einst hatte ich, ohne daß er gegenwärtig war, in einem mit hohem Riedgrase bewachsenen Teiche zwei weißäugige Enten geschossen, welche wegen des tiefen Grases, in dem sie lagen, vom Ufer aus nicht gesehen werden konnten. Ich holte meinen treuen Hund und befahl ihm, die Enten zu suchen. Er sah mich fragend an, denn er wußte nicht, wohin er schwimmen sollte. Ich zeigte ihm mit dem Finger den Weg, allein er war bei dem Schwimmen zu weit rechts gekommen. Ich wies mit dem Finger links. Sogleich schlug er diese Richtung ein und brachte nach kurzer Zeit die eine Ente. Ich nahm sie ihm unter Lobsprüchen und Liebkosungen ab und befahl ihm, die andere herbeizuholen. Er sprang sogleich wieder in den Teich, folgte genau der Weisung meines Fingers und legte nach wenigen Minuten die zweite Ente in meine Hand, indem er mich mit einem triumphirenden Blicke ansah. Natürlich liebkoste ich ihn jetzt ganz besonders zärtlich, worüber er hoch erfreut war.

Ebenso fand er später ein in tiefem Rohre liegendes Wasserhuhn, welches ich Tags vorher geschossen hatte und dessen Lagerstelle ich ihm nur mit dem Finger zeigen konnte. Er war auch äußerst gewandt im Fangen der nicht flugfähigen Enten, Teich- und Wasserhühner, denn er ergriff sie nicht nur auf der Oberfläche des Wassers und holte sie aus den dichtesten Schilf- und Rohrwäldern heraus, sondern brachte sie auch von dem Grunde des Teiches herauf. Einst legte er im April ein völlig flugfähiges Teichhuhn, welches er unter einem Erlenstocke hervorgezogen hatte, vor mich hin. So erpicht und gewandt er war, Säugethiere und Vögel in der Freiheit zu fangen, so nachsichtig und liebevoll zeigte er sich gegen die in meinem Zimmer frei herumlaufenden und herumfliegenden Vögel. Er that ihnen nicht das Geringste zu Leide, deswegen verloren sie auch alle Furcht vor ihm und hüpften ganz nahe um ihn herum.

Mit einem jungen Kiebitze schien er eine Art von Freundschaft geschlossen zu haben, denn von ihm ließ er sich Alles gefallen. Das merkte der Kiebitz bald und wurde so dreist, daß er ganz keck über den unter dem Ofen liegenden Waldmann hinweglief.

Alle diese Geschichten beruhen auf Thatsachen, welche ich verbürgen kann. Nächstens berichte ich vielleicht noch einige.




Der Leuchtthurm von Nord-Vorland und dessen katadioptrischer Apparat.

In dem einzigen vorigen Jahre forderte das Meer mit seinen beispiellosen Stürmen blos an den englischen Küsten nicht weniger als 1645 Menschen (gegen 340 im Jahre vorher) mit 1416 Schiffbrüchen, die einen Verlust von etwa zwei Millionen Pfund Sterling darstellen. Die meisten englischen Küsten sind gefährlicher, als andere Meeresgrenzen, theils wegen steiler Felsen, theils wegen Sandbänken und felsiger Untiefen. Es kommt daher besonders viel auf richtiges Fahrwasser, auf die genaueste Kenntniß des Meeresbodens und der Gegenden an, in welchen ein Schiff sich in jedem gegebenen Augenblicke befindet. Hier sind denn die Leuchtthürme, welche England mit ihren weithinstrahlenden Fixsternen umkränzen, von erster Wichtigkeit. Merkwürdiger Weise haben dies die Engländer, das größte moderne Seevolk, erst neuerdings besser eingesehen und angefangen, für eine größere Zahl wirklicher Leuchtthürme zu sorgen. Vor zwanzig Jahren gab es erst dreißig schlecht mit Kohlen- und Holzfeuer oder Talglichtern erleuchtete Thürme der Art. Im Frühjahre 1858 zählte man 77, daneben über 30 Feuerschiffe mit etwa 700 Beamten und Arbeitern. Seitdem aber sind einige der bedeutendsten und vollkommensten Leuchtthürme errichtet worden und noch andere im Bau begriffen.

Als eine der neuesten und vollkommensten Sonnen für umnachtete Schiffe gilt der Leuchtthurm von „North-Foreland,“ dem hervorspringenden Felsenstück zwischen Broadstairs und Kingsgate an der Küste von Kent, rechts von der Themsemündung und dem ungeheuern Meereskirchhofe „Godwin Sands“ gegenüber. Wer des Nachts themsewärts fährt und von Hamburg oder einer französischen Küstenstadt herüberkommt, kann das warnende Licht weit aus dem dunkeln Horizonte aufblitzen und die aufschäumenden Wogen mit aufleuchtenden Kämmen darin sich spiegeln sehen.

Die neuesten englischen Leuchtthurm-Apparate sind den Franzosen entnommen. Die berühmteste seefahrende Nation leuchtete mit Holz, Kohlen und Talglichtern von ihren Thürmen, bis man erfuhr, daß Fresnel und Condorcet in Paris viel bessere Methoden erfunden und zur Ausführung gebracht hätten. Die Engländer schickten Stevenson hinüber, welcher die französische Reflections-(Zurückstrahlung) und Refractions-(Strahlenbrechung) Methode studirte und allmählich in England zur Geltung brachte. – Bei dem Reflections-Apparate steht das Licht vor einem Hohlspiegel, der das Licht so zurückwirft oder reflectirt, daß die Strahlen parallel mit der Axe des Spiegels auslaufen. Der Refractions-Apparat hat das Licht hinter einer Glas-Linse, welche das Licht so bricht, daß es sich in Linien, parallel mit einer, die man sich vom Focus nach dem Centrum der Linse gezogen denkt, bewegen muß. In der Regel wandte man Reflections-Apparate mit Licht, das sich dreht, so an, daß die Lichter in ihren Drehungen und verschiedenen Reflectionen vom Hohlspiegel immer in regelmäßigen Wiederholungen Lichtblitze nach den verschiedenen Richtungen des Horizontes warfen. Die Refractions-Apparate mit Drehung arbeiten so, daß eine einzige mächtige Lampe durch die sich um sie drehenden Linsen immer so oft Lichtblitze in die Ferne erzeugt, als diese Linsen die imaginäre Linie zwischen Focus und Centrum durchschneiden.

Erstere, die sogenannte katoptrische (brechende oder spiegelnde), und letztere, die dioptrische oder „durchsehende“ Methode, hat man jetzt zu einer katadioptrischen vereinigt, um sich die Vortheile beider zu sichern und deren Nachtheile zu umgehen. Für das dioptrische System gehörige Linsen zu bekommen, ist ungemein schwierig und kostspielig. Die katadioptrische Beleuchtung besteht nun wesentlich darin, daß man die Linse gleichsam in besondere Ringe zerlegt, wodurch man das Licht mit allen Reflectoren noch verdoppeln kann. Die optisch-mathematische Auseinandersetzung dieses Processes würde uns tief in die exacte Wissenschaft führen und viele Zeichnungen nöthig machen, außerdem noch Vieles voraussetzen.

Sehen wir uns hier nur die katadioptrische Laterne näher an, die jetzt (seit September 1858), ein Werk der Herren Wilkins und Co. in London, auf dem Leuchtthurme von North-Foreland fast jede Nacht von umnachteten und sturmgepeitschten Schiffen als Licht und Halt, als Rettung und Trost begrüßt wird.

Die Laterne ist 14 Fuß weit und 22 hoch, sechszehnseitig und mit diagonalen Reifen, „Astragalen“, versehen. Diese Ringe oder Reifen beschränken durch ihre Stellung die Lichtbrechung auf einen kleinen, schrägen Raum; aufrecht gestellt, würden sie es durch die ganze Höhe des Refractions-Gürtels beeinträchtigen. Außerdem hat diese Construction das Gute, daß sie dem ganzen Rahmenwerk mehr Festigkeit gibt und so verhältnißmäßig dünnere Reifen-Barren, die weniger Licht aufhalten, genommen werden können.

Die Glasscheiben sind dreieckig und als solche stärker, als vierseitige von derselben Größe. Die Körpermasse der Laterne besteht aus einem Gemisch von Kanonenmetall und Kupfer, ohne lackirt oder sonst übertüncht zu sein. Sie kostete etwas über 1500 Pfd. Sterl. ohne den Leucht-Apparat darin, der mit mehr als 1000 Pfund bezahlt ward. Letzterer besteht aus einer großen Argand’schen Lampe mit drei Dochten, die so viel wie siebzehn gewöhnliche Argand’sche Lampen an Oel verzehrt und die Leuchtkraft von dreißig solchen Lampen ausstrahlt.

Freilich nur die, „welche hinaus gehen in Schiffen auf die wogende See und ihr Geschäft auf großen Wassern haben“, können würdigen, was eine solche Lampe in sternenloser, stürmischer Nacht für Lebens- und Leuchtkraft um sich her ausgießt. So möge der Nord-Vorland-Leuchtthurm stehen und leuchten und sprechen mit der Sprache, die ihm Longfellow gegeben:

„Nur frisch, nur segelfrisch, ihr stolzen Schiffe!
Als Flügelbrücken spannt den Ocean!
Ich bin euch Sonn’, ich schütz’ euch vor dem Riffe
Und helf’ euch Männern, selbst ein Mann.“



[301]

Der Leuchtthurm von Nord-Vorland.

[302]
Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
V.

In ihren musikalischen Studien war Wilhelmine Schröder-Devrient sehr gewissenhaft. Jeden Morgen sang sie die Tonleiter und einige der Bordogni’schen Solseggien. Sie war längst eine Künstlerin von europäischem Ruf, als sie noch immer Musikstunden nahm, und so lange der alte, berühmte Gesanglehrer Mieksch – ein Schüler Bernacchis – in Dresden lebte, kehrte sie nach jeder Kunstreise unter sein despotisches Scepter zurück.

Diese Kunstreisen hatten Wilhelminen schon in den zwanziger Jahren von Königsberg bis an den Rhein geführt; in Berlin hatte sie verschiedene Mal gastirt; in München, in Frankfurt a. M., in vielen kleinern Städten, die auf ihrem Wege lagen, hatte sie gesungen und überall den höchsten Enthusiasmus erregt.

An den Huldigungen, die ihr zu Theil wurden, hatte sie eine herzliche Freude und sie gab dieselbe in so liebenswürdiger Weise zu erkennen, daß sich fast überall zwischen ihr und dem Publicum eine Art von Freundschaftsverhältniß bildete. Dabei kam es oft zu den drolligsten Scenen, und noch in der letzten Zeit erzählte die Künstlerin mit vielem Humor von derartigen Auftritten.

So z. B. von einem Abend in Königsberg, wo sie gleich nach ihrer Verheirathung gastirte. Sie gab die Frau von Schlingen in den Wienern in Berlin und sang ein eingelegtes Liedchen in Wiener Mundart, eine Klage des Heimwehs, die alle Zuhörer tief ergriff. Als der letzte Ton verklang, saß die Menge in athemlosem Schweigen, aber plötzlich erhebt sich im Sperrsitz ein alter Herr und bittet mit flehend erhobenen Händen, Madame Devrient möge ihm den einzigen Wunsch gewähren, ihm eine Abschrift dieses Liedchens zu geben, – worauf sich von allen Seilen dasselbe Verlangen in lauten Ausrufungen aussprach. Die Sängerin stutzte – aber nur einen Augenblick, dann trat sie lächelnd an die Lampen und erwiderte, es thäte ihr leid, daß sie diesen Wunsch nicht erfüllen dürfe; sie hätte dem Dichter versprochen, keine Abschrift des Gedichts zu geben. „Aber Sie werden das Liedchen wohl öfter von mir hören,“ fuhr sie schalkhaft fort; „und wenn Sie es dann nachschreiben wollen …“ Da capo! Da capo! fiel die Menge jubelnd ein; die Herren griffen zu Bleistift und Brieftasche – Wilhelmine sang, und am folgenden Morgen coursirte das Lied in der ganzen Stadt.

Zu diesen heitern Erinnerungen gehörte auch eine poetische Epistel, die der Künstlerin während eines Gastspiels in Leipzig von zwei Studenten zugeschickt wurde. Die jungen Musensöhne schildern darin auf’s Beweglichste ihre Sehnsucht, Frau Schröder-Devrient als Fidelio zu sehen, und schließen mit den Worten:

„Da Du, der Töne Zauberkönigin,
Erst heut’ in unsre Stadt gezogen,
Und das Semester nun zum Ende hin,
Wo Vaters Wechsel längst verflogen,
So bitten wir – zwei Musensöhne –
Vasallen auch im Reich der Töne,
Uns heute einmal zu beglücken
Und zwei Parterre-Billets zu schicken.
Es bleibt Dir unser heißer Dank
Nicht heute nur, nein lebenslang!“

Daß die Bitte erfüllt wurde, braucht kaum gesagt zu werden. Die wunderlichste aller Huldigungen aber wurde der berühmten Frau von einem Ungar zu Theil, der ihr in höchster Begeisterung zuruft:

„Wo nimmst Du denn her diese Zauberbewegung,
      Mit der Du das Auge berückst?
Wo nimmst Du denn her die Gewalten der Töne,
      Mit denen das Ohr Du bestrickst?
Stehn Dir zu Gebote verdoppelte Glieder.
      Und singst Du mit vielfachen Zungen die Lieder?“

Am meisten freute sich Wilhelmine über die Liebesbeweise, die sie vom Volke empfing. Es that ihr wohl, wenn ein Arbeiter mit den Worten: „das ist ja unsre Schröder-Devrient!“ die Mütze vor ihr zog; oder wenn sie bemerkte, daß sich die Marktweiber anstießen und ihren Namen nannten, wenn sie vorüber ging, und ganz glücklich war sie über eine alte Leinwandverkäuferin, die ihr – als sie das letzte Mal nach beinah zehnjähriger Abwesenheit nach Dresden zurück kam – auf offenem Markt mit den Worten: „Ach! meine beste Madame Devrient, sind Sie denn wieder da?“ um den Hals fiel. „Das ist mein Stolz, daß ich im Herzen des Volkes stecke,“ pflegte sie zu sagen.

Das war wirklich der Fall und wird es wohl noch lange sein, denn das Volk hat ein treues Gedächtniß für seine Freunde. Als die Künstlerin von der Bühne scheiden wollte, weiß ich, daß ein Zimmermann, der als Maschinist im Theater beschäftigt war, sein fünfjähriges Töchterchen mit in die Probe nahm, damit das Kind doch einmal die Schröder-Devrient sehen sollte. „Paß auf und sieh Dir diese Frau recht ordentlich an,“ sagte er zu der Kleinen; „die Andern kannst Du alle vergessen, aber diese nicht, das ist die Schröder-Devrient.“

Im Frühjahr 1830 erhielt die Künstlerin einen Ruf nach Paris, das heißt, sie wurde auf zwei Monate von der Direction der italienischen Oper engagirt, die eine deutsche Truppe aus Aachen kommen ließ und für die ersten Tenorpartien den berühmten Anton Haitzinger gewann. Mit stolzer Freude unterschrieb Wilhelmine den Contract, dessen Bedingungen ebenso glänzend als ehrenvoll waren, aber je näher die Abreise heranrückte, um so schwerer fühlte sie sich von der Größe der übernommenen Verpflichtung bedrückt. „Ich hatte nicht allein meinen eigenen Ruf, ich hatte die deutsche Musik zu vertreten,“ schrieb sie; „wenn die Künstlerin nicht gefiel, so mußten Mozart, Beethoven, Weber darunter leiden. Bei diesem Gedanken überfiel mich eine solche Angst, daß ich mehr als einmal im Begriff war, Alles daran zu setzen, um den Contract wieder rückgängig zu machen.“

Es kamen aber auch Stunden, wo sie sich der Größe ihrer Aufgabe freute und wo das Gefühl der eignen Kraft mächtig genug wurde, alle Besorgnisse zu überwinden. „Nicht wahr, ich bin eine Künstlerin – ich darf mich in den Kampf wagen?“ sagte sie dann zu den Freunden, die ihr in den Stunden der Muthlosigkeit vergebens zuzureden suchten. Nach und nach befestigte sich aber in ihr die Ueberzeugung, daß gerade sie zur Prophetin deutscher Kunst berufen wäre, und so trat sie in gehobner Stimmung die Reise an.

Unterwegs verweilte sie in Weimar, wo sie das Publicum, dem sie bekannt und lieb war, durch einige Gastrollen entzückte. Der achtzigjährige Goethe, der seit seiner Entlassung als Intendant – 1817 – das Theater nicht mehr betrat, wünschte die Künstlerin zu hören, deren Lob ihm von allen Seiten mit Begeisterung verkündigt wurde. Er lud sie ein, ihn zu besuchen, und sie sang ihm einige Lieder vor, denen der alte Herr mit steigendem Interesse lauschte. Ueber Stimme und Vortrag der Sängerin sprach er sich anerkennend aus – der höchste Triumph vielleicht, den Wilhelmine je errungen hat, denn Goethe hatte sich längst gewöhnt, das Gute und Schöne nur in der Vergangenheit zu finden. Zur Erinnerung an dies einzige Zusammensein mit dem großen Manne bewahrte Wilhelmine in ihrem Album ein Blatt von seiner Hand. Ein aufsteigender Adler, der eine goldene Lyra in den Fängen trägt, ist darauf gemalt, und darunter steht in herrlichen, festen Schriftzügen:

„Guter Adler, nicht in’s Weite,
Mit der Leyer nicht nach oben!
Unsre Sängerin begleite,
Daß wir Euch zusammen loben.“

Weimar, 24. April 1830.   Goethe.

Sobald Wilhelmine in Paris angekommen war, begannen die Proben, und schon am 6. Mai debütirte sie als Agathe. Das Haus war zum Erdrücken voll; die Menge sah in lautloser Erwartung der Oper – und der Künstlerin entgegen, von deren Schönheit das Gerücht Wunderdinge erzählte. Mit großer Befangenheit trat Wilhelmine auf. Aber gleich nach dem Duett mit Aennchen wurde sie durch lauten Beifall ermuthigt; als die große Scene am Fenster begann, hatte sie sich vollständig in der Gewalt – sie war wieder einmal, wie Weber gesagt hatte, „die erste Agathe der Welt“, und das Entzücken des Publicums sprach sich so stürmisch aus, daß die Künstlerin vier Mal aufhören mußte zu singen, weil sie das Orchester nicht mehr hörte. Am Schluß des Actes wurde sie im vollen Sinn des Wortes mit Blumen überschüttet, [303] und denselben Abend brachten ihr ihre Bewunderer eine Serenade. – Paris hatte die deutsche Sängerin anerkannt!

Es schien kaum möglich, daß sich nach diesem glänzenden Debüt der Enthusiasmus des Pariser Publicums steigern könnte – und doch war es so. Fidelio besonders erregte einen Sturm des Entzückens. Die verschiedenen Ouvertüren, die Beethoven zu seiner Leonore geschrieben hat, wurden längst in den Concerten des Conservatoire mit unnachahmlicher Meisterschaft vorgetragen, aber die Oper lernte Paris erst durch Wilhelmine Schröder-Devrient in voller Schönheit kennen. „Seht diese Frau, die der Himmel eigens dazu gemacht zu haben scheint, Beethovens Fidelio zu sein!“ ruft einer der französischen Berichterstatter aus. „Sie singt nicht, wie andere Künstler singen; sie spricht nicht, wie wir es gewöhnt sind; ihr Spiel ist den Regeln der Kunst durchaus nicht angemessen – es ist, als wüßte sie gar nicht, daß sie auf einer Bühne steht! Sie singt mit der Seele noch mehr als mit der Stimme, ihre Töne kommen aus dem Herzen mehr als aus der Kehle … sie vergißt das Publicum, sie vergißt sich selbst, um ganz in dem Wesen aufzugehn, das sie darstellt.“ – Der Eindruck war ein so gewaltiger, daß, obwohl nur Haitzinger und der Chor Wilhelminen würdig zur Seite standen, nach dem Schluß des Stücks der Vorhang wieder aufgezogen und das Finale wiederholt werden mußte – was bis dahin noch niemals vorgekommen war.

Neben ihrer künstlerischen Thätigkeit – die deutsche Gesellschaft gab außer den beiden schon genannten Opern: Euryanthe, Oberon, die Schweizerfamilie, die Vestalin, und die Entführung aus dem Serail – wurde Wilhelmine durch das Pariser Leben vielfach in Anspruch genommen. Sie kam mit vielen ausgezeichneten Persönlichkeiten zusammen; die anmuthigen Formen der französischen Geselligkeit thaten ihr wohl; die Kunstschätze der Pariser Sammlungen erschlossen ihr eine neue Welt – ihr Gesichtskreis erweiterte sich in jeder Richtung. Aber während sie das Fremde unbefangen auf sich wirken ließ, und alles Gute und Schöne freudig anerkannte, wuchs und erstarkte in ihr die Liebe für deutsches Leben, deutsche Kunst. „Was wir an unserer Musik haben, ist mir erst damals recht klar geworben.“ sagte sie, „und wenn mich die Franzosen auch noch so enthusiastisch aufnahmen – wohlthuender war mir immer der Beifall eines deutschen Publicums, von dem ich mich verstanden wußte, während bei den Franzosen vor allem die Mode entscheidet.“

Die deutsche Oper war zur ungünstigsten Zeit nach Paris gekommen; die Julirevolution war im Anzuge. Schon verkündigten einzelne Sturmvögel den Ausbruch des Ungewitters, und die politischen Interessen drängten mehr und mehr alles Andere in den Hintergrund. Der Abschied Wilhelminens wurde darum nicht so allgemein beachtet und beklagt, wie der ihrer Vorgängerin, Henriette Sontag, die Paris im Januar verlassen hatte. Nur die Musikverständigen und die ihr persönlich Befreundeten fühlten die Lücke, die sie zurückließ, und ihr selbst war Paris so lieb geworden, daß sie von Herzen in den Abschiedsgruß: „Auf Wiedersehen!“ einstimmte.

Wilhelmine kehrte nach Deutschland zurück; den Rest ihres Urlaubes, der bis zum October währte, benutzte sie zu kleinen Erholungsreisen und Besuchen bei Freunden. Auch ihren Bruder, Wilhelm Smets, suchte sie auf. Er war damals Pfarrer zu Hersel am Rhein, ein stiller Gelehrter, der jeden Augenblick, den ihm die Amtsgeschäfte übrig ließen, den Büchern widmete. Um so größer war darum auch das Erstaunen seiner Pfarrkinder, als in den ersten Septembertagen eine Extrapostchaise durch die Dorfgasse rasselte und vor dem Pfarrhause hielt, wo die unzähligen Koffer und Hutschachteln, womit der Wagen bepackt war, abgeladen wurden. Das Erstaunen wuchs, als bald darauf eine schöne, junge Frau mit blonden Locken am Arme des hochwürdigen Herrn erschien, um Dorf und Umgegend in Augenschein zu nehmen.

Im Pfarrhause war nun für einige Tage ein gar fremdartiges Leben. Vom Morgen bis zum Abend hörte man darin singen, lachen, hin- und herlaufen, und das schöne Gesicht der fremden Frau war bald an diesem, bald an jenem Fenster zu sehen. Von Alt und Jung wurde der Zaun des Pfarrgartens belagert, denn Jeder war begierig, einen Gruß der freundlichen blauen Augen zu bekommen oder die Lieder der Fremden zu hören, die bald lustiger waren, als der lustigste Tanz, bald so traurig, daß dem Lauschenden das Herz still stand und daß ihm Thränen in die Augen stiegen.

So kam die Kirchweih heran, – ein Tag, von dem man noch heute in Hersel erzählen hört, denn Wilhelmine Schröder-Devrient war mitten unter den Fröhlichen, tanzte mit den Bauermädchen um die Wette, sang Volkslieder und österreichische Schnaderhüpfeln, und als das ländliche Orchester einen besonders feierlichen Walzer anstimmte, umfaßte sie ihren hochwürdigen Herrn Bruder, zog ihn trotz seines Sträubens in die Reihen der Tanzenden und ließ ihn nicht los, bis der Walzer zu Ende war. – Aber auch die fröhlichen Tage gingen zu Ende. Der Reisewagen wurde wieder bepackt, der Pfarrer nahm Abschied von der Schwester, und in Hersel kehrte Alles in’s alte Gleis zurück. Im Pfarrhause war es todesstill; die neugierige Jugend drängte sich nicht mehr um den Gartenzaun; der Pfarrer saß wieder wie sonst einsam bei seinen Büchern – aber der Name der Entfernten wurde lange noch, besonders von den Armen, mit Liebe genannt, denn auch hier hatte sie – wie das immer ihre Art war – die Hungrigen gespeist und die Nackenden gekleidet. Und auch sie erinnerte sich gern der Idylle des Pfarrhauses.

Nach dem unruhvollen Leben der letzten Monate hatte ihr das stille Dorf unsäglich wohl gethan, und vor Allem hatte sie das Zusammensein mit dem treuen brüderlichen Freunde erquickt, dessen Namen sie nie ohne Rührung nannte. Als sie, nach Dresden zurückgekehrt, ihre Sachen ordnete und zufällig das Album aufschlug, fand sie neben Goethe’s Versen ein Blatt, worauf der Bruder geschrieben hatte:

„Wenn den Adler schützend auf der Reise
Goethe heißet mit Dir zieh’n,
Steht er mir an, daß den Herrn ich preise,
Der Dir himmlischen Gesang verlieh’n,
Der Dich, Schwester Sängerin, begleite,
Huldvoll lenkend Deines Lebens Stern.
Zögst Du dann auch in die weitste Weite,
Stets vereint sind wir im Geist des Herrn.“

Bis nach Weihnachten blieb die Künstlerin in Dresden und am 1. Januar 1831 begann sie ein Gastspiel in Berlin. Sie wurde vom Publicum mit Enthusiasmus aufgenommen. Der Wunsch, sie ganz für Berlin zu gewinnen, sprach sich so dringend von allen Seiten aus, daß die Direction der Oper – Spontini war damals General-Musik-Director – Unterhandlungen mit ihr anknüpfen mußte.

Sie stellte Forderungen, die heutzutage jeder mittelmäßigen Sängerin gewährt würden, für Wilhelmine Schröder-Devrient wurden sie zu hoch gefunden – (der Taglioni wurde freilich zu derselben Zeit ein Engagement mit 6000 Thaler Gage und drei Monate Urlaub angeboten) – und da Wilhelmine viel zu sehr Künstlerin war, um mit ihrer Kunst Wucher zu treiben, ging sie ohne Weiteres auf die Gegenvorschläge der Direction ein. Der Contract wurde aufgesetzt, Alles war in Ordnung, bis auf die letzte, allerhöchste Bestätigung – plötzlich erfolgt von oben herab abschläglicher Bescheid! Wenige Wochen zuvor hatte Wilhelmine vom Könige, für ihre herrliche Darstellung der Vestalin, ein Geschenk erhalten, auch der Intendant, Graf Redern, war für das Engagement – man fragte und forschte vergebens, was der Künstlerin jetzt auf einmal entgegenstehen könnte.

Und doch lag die Antwort nahe: Wilhelmine verstand sich nicht darauf – und bis an’s Ende hat sie das nicht gelernt – jene einflußreichen Persönlichkeiten für sich zu gewinnen, die sich um jede größere Kunstanstalt drängen, im Dunkeln ihr Wesen treiben, eine Menge Fäden in den Händen haben, durch welche sie auf Directionen und Journale einwirken, und die nichts begehren, als dann und wann einen Tribut aus der Börse des Künstlern, für den sie sich interessiren, oder einen Platz an seinem Tische, oder auch nur das Recht, mit seiner Freundschaft zu prahlen. Wilhelminens ganzer Künstlerstolz empörte sich bei dem Gedanken, auch nur den Schatten eines Erfolges solchen Einflüssen verdanken zu sollen. Noch in der letzten Zeit erzählte sie mit Entrüstung von einem „Geschäft“ in Frankfurt a. M., dessen Besitzer jedem gastirenden Künstler ein Buch überreicht, worin die verschiedenen Huldigungen rubricirt sind: so und so viel für das „Empfangen“ – so und so viel für einmaligen, zweimaligen, dreimaligen Herausruf. Das Rufen während der Scene ist höher taxirt, als nach Schluß des Actes. Auch Blumen- und Lorbeerkränze besorgt der gefällige Mann; Gedichte sogar auf Papierstreifen oder Atlasbändern – der Künstler braucht nur zu wählen – und zu bezahlen! „Auch mir hat man das Buch geschickt,“ sagte Wilhelmine [304] mit jenem ihr eigenthümlichen Zucken der Lippen, das ihren Mund so ausdrucksvoll machte, „ich habe sehr berühmte Namen darin gelesen, den meinigen würdet Ihr vergebens suchen!“

Wilhelmine Schröder-Devrient wies jede erniedrigende Protection, jede Annäherung der „Herrn von der Claque“, alle unwürdigen Anerbietungen, die bald in der feinsten, bald in der unverschämtesten Form gestellt wurden, mit Abscheu zurück. Es ist ihr freilich auch passirt, daß die Herren, die für Journale über sie geschrieben hatten, ihr nachträglich eine Rechnung für „Correspondenzen“ überreichten. Einmal wurden ihr sogar für Empfehlungsbriefe, die sie aus Gutmüthigkeit angenommen, aber niemals abgegeben hatte, hundert Thaler abgefordert. Sie hat in solchen Fällen dem Unverschämten entweder ohne Umstände die Thür gewiesen, oder sie hat die geforderte Summe bezahlt, „um das Gesindel los zu werden“ – aber sie hat das nie gethan, ohne ihre tiefe Verachtung auszusprechen oder ohne dem „gefälligen Freund“ zu bedeuten, daß er ihre Schwelle nicht mehr betreten dürfe. Diese Herren haben sich dann gerächt mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote standen, d. h. sie haben verleumdet und intriguirt.

Schon in Paris hatte die Künstlerin in dieser Beziehung bittere Erfahrungen gemacht, auch in Berlin sollte sie die Macht der beleidigten Coterie kennen lernen. Vergebens sprach sich das Publicum, vergebens der bessere Theil der Tagespresse ganz entschieden für sie aus – die Unterhandlungen waren und blieben abgebrochen, obwohl die Berliner Oper damals keine Primadonna hatte. Der Einfluß ihrer Widersacher ging sogar so weit, daß ihr das Benefiz verweigert wurde, welches vorher jedem bedeutenden Gast: der Schechner, der Sontag, der Heinefetter, gewährt war.

Am 26. März trat Wilhelmine zum letzten Male – als Fidelio – auf. Sie hatte sich inzwischen entschlossen, eine zweite Einladung nach Paris anzunehmen, der ein bleibendes Engagement folgen sollte, und wollte ihre Reise schon am nächsten Tage antreten. Das Publicum überschüttete sie mit Beifallszeichen. Es war, als wollte man sie durch verdoppelte Liebe für die Kränkungen entschädigen, die sie in den letzten Wochen erfahren hatte. Die Künstlerin war tief ergriffen. Als mit dem letzten stürmischen Hervorruf von allen Seiten die Worte: „Hierbleiben! Wiederkommen!“ erschallten, trat sie dicht an die Lampen und erwiderte mit jener einfachen Herzlichkeit, durch welche ihr Wesen so unwiderstehlich war:

„Ich danke Ihnen für Ihre nachsichtsvolle Güte. Sehnlich hätte ich gewünscht, daß es mir vergönnt gewesen wäre, hier zu verweilen. Mit Schmerz scheide ich von meinem Vaterlande, das ich nie vergessen werde!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Noch einmal überflogen die schönen, in Thränen schimmernden Augen das überfüllte Haus; dann nahm sie einen der vielen Kränze und ein Gedicht, das vor ihren Füßen niedergefallen war, vom Boden auf und entfernte sich mit gesenktem Haupt und zögernden Schritten.

Als Abschiedsgruß erhielt sie noch am nächsten Morgen ein Blatt von Ludwig Rellstab, das sie bis an’s Ende unter ihren liebsten Andenken aufbewahrt hat. Es enthielt die Verse:

„Erstaunt seh ich Dein zauberisch Verschwenden;
Ein Herz hat jede Brust doch nur zu spenden,
Und Du schenkst eines jedem Ton und Blick.
Dennoch erschöpfst Du nie des Reichthums Quellen,
Denn jeder Blick, jedweden Tones Schwellen
Bringt Dein Geschenk Dir tausendfach zurück.

Berlin, 27. März 1831.   L. Rellstab.

Empfunden bei jedem Ton, den ich von Ihnen gehört.“




Blätter und Blüthen.


Bild aus Alexander von Humboldt’s Leben. Während A. v. Humboldt’s großer Reise im südlichen Amerika mit Aimé Bonpland, in den Jahren 1799 bis 1804, durchstreiften sie einst, wie so oft, mit wissenschaftlichen Forschungen beschäftigt, das wilde Cordillerengebirge. Sie waren manchen Tag in den einsamen Wäldern umhergeirrt, ohne ein menschliches Antlitz gesehen zu haben, nur das Geschrei der zahlreichen buntgefiederten Vögel erfüllte ihr Ohr. – Plötzlich horcht Humboldt auf; ein eigenthümlicher Ton, der unmöglich von den Vögeln des Waldes herrühren kann, hat sein Ohr berührt und seine Seele wunderbar ergriffen. Der Ton ist verstummt; dem Naturforscher ist, als habe er geträumt. Da läßt sich der Ton wieder und näher vernehmen; Humboldt winkt Bonpland zu, während sich seine Augen mit Thränen der Ueberraschung und Rührung füllen. Ton reiht sich an Ton, es ist die allen Deutschen wohlbekannte und theuere Melodie des Volkslieds von Usteri: „Freut euch des Lebens“, die von einem menschlichen Munde lustig gepfiffen wird. Die horchenden Naturforscher vernehmen endlich ferne Schritte, der Pfeifer der Liedsweise kommt näher und nun wechselt er und statt des Pfeifens singt er mit heller Stimme:

„Man schafft so gern sich Sorg und Müh,
Sucht Dornen auf und findet sie,
Und läßt das Veilchen unbemerkt,
Das uns am Wege blüht.“

Humboldt hält sich nicht länger; er stürmt auf den fröhlichen Sänger los. Noch wenige Schritte, und er steht einem einfach gekleideten Manne gegenüber, dessen gesunde Gesichtsfarbe und Züge eine heitere deutsche Menschenseele verkünden und der vielleicht zehn Jahre älter ist als er selbst. Der Mann ist mit den Utensilien des Vogelfangs ausgerüstet und augenscheinlich beschäftigt, Papageien und Loris zu fangen.

„Hoho, Mann, Ihr müßt ein Deutscher sein?“

„Das versteht sich, ein ganzer und echter Deutscher vom Kopfwirbel bis zur Fußzehe. Das beste Stück daran ist das Ding, das unterm linken Knopfloch hämmert. Das ist erst einmal recht deutsch. Und Sie, Herr, sind doch wohl auch ein deutscher Landsmann?“

„Errathen! Ich bin aus Berlin. Und Sie, Landsmann?“

„Ich bin aus Waltershausen am Thüringerwalde.“

„Wo Bechstein, der Naturforscher wohnt, der die treffliche Naturgeschichte der Singvögel geschrieben hat.“

„Der ist mein Schulcamerad und Kumpan. Wir sind genug zusammen auf den Vogelfang in unsere Berge gegangen. Der hat viel von mir gelernt, und ich von ihm.“

„Aber, Landsmann, wie kommen Sie denn in diese amerikanischen Wälder? Es scheint, um auch hier Vögel zu fangen?“

„So ist’s. Ich bin der Vogelfänger und Vogelhändler Thiem. Die deutschen Singvögel führ’ ich tausendweise nach Amerika, und nehme amerikanische Vögel als Rückfracht nach Deutschland mit.“

„Sie sind ein interessanter Mann, Landsmann. Auch ein Stück Naturforscher, wie ich selbst. Wie sind Sie denn auf diesen in seiner Art einzigen Betriebszweig gekommen?“

„Meines Zeichens bin ich eigentlich ein Schuster. Ich hatte aber kein rechtes Sitzfleisch; der Vogelfang war nun einmal meine Leidenschaft. Es erging dem Matthäus Bechstein ebenso. Der studirte auf den Pfarrer, gerade wie ich aus den Schuster; wir liefen mit der Leimscheide, dem Gärnchen und der Würmerschachtel in die Berge und fingen Vogel. Hernach, als er zum ersten Mal predigte, bracht’ er nichts als Vogelfang vor. Er gründete die Forstlehranstalt in unserer Vaterstadt, mich aber bracht’ er auf die Idee, mit meinen eingefangenen und angelernten Singvögeln auf den Handel zu gehen. Zuerst reiste ich damit nach Rußland und hab’ in Petersburg manche Jahre gute Geschäfte gemacht, die mir die Lust erweckten, auch nach Amerika zu gehen. Erst verkaufte ich in New-York und andern großen Städten meine thüringischen Waldmusikanten und nahm Papageien dafür mit. Endlich kam mir der Gedanke, die amerikanischen Vögel selbst hier zu fangen, wie die deutschen drüben. Und so sehen Sie mich, Herr Landsmann, als Vogelfänger und Vogelhändler zweier Welttheile.“

Humboldt’s Freude über den deutschen Landsmann und Geschäftsgenossen war ungemein groß, und der treffliche Bonpland theilte sie. Sie blieben einige Zeit mit dem lustigen Thüringer zusammen, der sie durch seine Schnurren und Erzählung seiner Abenteuer oft ergötzte, und Humboldt pflegte später oft die Scene in den Urwäldern Südamerika’s zu erzählen, die seiner Versicherung nach ihm die höchste und angenehmste Ueberraschung seines Lebens bereitet. Er pflegte dann lächelnd hinzuzusetzen: „Was doch alles aus einem deutschen Schuster werden kann: Hans Sachs ein großer Dichter, Jakob Böhme ein großer Philosoph und Thiem ein großer Vogelfänger in Europa und Amerika!“


Ich habe Thiem noch gekannt; er war ein sehr origineller Mensch und setzte seine ungeheuern Reisen mit Vögeln bis zu seinem Tode fort. Abwechselnd ging er nach Amerika und Rußland, und nach Petersburg und Moskau führte er die gefiederten Bewohner des Thüringerwaldes und der Cordilleren. Eine Menge Menschen in unserem südwestlichen thüringischen Gebirge fingen für ihn Meisen, Finken, Rothbrüstchen, Drosseln, Gimpel (Dompfaffen), Nachtigallen etc. und lehrten sie künstliche Gesänge. Sehr interessant war sein großer Wagen, der außer dem Gestell aus lauter kleinen hölzernen Gebauern zusammengesetzt war. Diese waren so geschickt placirt, daß die Vögel bequem gefüttert und getränkt werden konnten. Fuhr Thiem nach Rußland, so mischte sich auf seinem Wagen das Geschrei der Aras und Loris in das Gezwitscher der gefiederten Kinder unserer heimischen Wälder. – Ich konnte als Knabe nie an dem von Pferden in die weite kalte Welt hinausgezogenen ungeheueren Vogelhaus mit seinen Tausenden von Bewohnern vorübergehen, ohne daß mir das Wasser in die Augen trat. Die armen freundlichen Kinder unserer schönen Berge! Da wurden sie aus ihrer grünen, sonnigen Heimath mit den kühlen Quellen, mit den lauschigen Waldplätzchen, hinausgeschleppt in das entsetzliche steinerne Petersburg und über das Weltmeer in das trostlose New-York, um sich nach wenigen Monaten schon aus Sehnsucht nach ihren lieben Wäldern todt zu grämen und zu singen. – Damals wußte ich freilich noch nicht, daß das nicht allein das Loos der Singvögel ist, die dumm genug sind, grausamen, habsüchtigen Menschen in’s Garn zu gehen.

L. St.



Für „Vater Arndt“

gingen in letzter Woche weiter ein: 5 fl. Wagl, Doktr. in Grätz – 2 Thlr. 20 Ngr. Schündler in Neuenteich – 20 Ngr. Joseph Keil in Neuenteich – 2 Thlr. 20 Ngr. aus Oberösterreich – 2 fl. Pollak in Krems (a. d. Donau) – 1 Thlr. Gust. Thon in Haynau – 5 fl. Gutsbesitzer Hecht in Katzengrün (Böhmen).

Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es ist das erste Mal, daß diese höchst denkwürdigen, bis jetzt fast unbekannten historischen Thatsachen, von denen Trenck in seiner Lebensbeschreibung nur Andeutungen gibt, in ausführlicher Weise erzählt werden. Auch die Hindeutung auf den eigentlichen Grund der grausamen Behandlung des Freiherrn von der Trenck ist neu und jedenfalls richtiger als die in Trenck’s Erzählung.
    Die Redaction.
  2. Der hier beschriebene Becher gehört der reichhaltigen Sattlerschen Sammlung auf Schloß Mainberg bei Schweinfurt an.