Die Gartenlaube (1862)/Heft 5

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)


Auf dem Lande und vollends in den Bergen, wo der Winter jedes Dorf und bisweilen jedes einzelne Haus im Dorfe zu einer abgeschiedenen Insel macht, bleiben, wie die Cultur rund umher auch fortgeschritten sein mag, doch theilweise noch heute jene Verhältnisse bestehen, in denen das Haus erzeugen und leisten muß, was innerhalb desselben bedurft wird. Der Hausherr und die Hausfrau müssen, wenn sie ihrer Pflicht genügen wollen, Rath wissen für jeden vorkommenden Fall und geistig und leiblich die Hülfe zu bieten verstehen, die der Augenblick erheischt. Das war aber vor sechzig bis siebzig Jahren und vollends in den Schweizer Bergen noch viel unerläßlicher, und die Freiin von Thuris galt in weitem Umkreise für eine Frau, die wohlerfahren, rasch entschlossen und auch sehr geduldig war, wo es darauf ankam, ein Leiden des Körpers zu heilen oder einem Kummer der Seele tröstend zu begegnen. Sie verstand zu reden und reden zu machen, und wußte zu schweigen und zum Schweigen zu zwingen.

So hielt sie denn auch den Bruder ab, ihr sein Herz zu enthüllen, so lange dieses Herz ihr noch von Leidenschaft bewegt und mit sich selbst im Kampfe zu sein schien. Er sollte ihr nichts vertraut haben, was ihn vor seinem eigenen Gefühl oder vor seiner Schwester binden konnte, und sie wünschte sich nicht auf eine Widerlegung einzulassen, ehe die Zeit und die Entfernung ihr als siegbringende Bundesgenossen zu Hülfe gekommen wären.

Sie sprach mit dem Bruder nur von sich und von ihrem eigenen Leben. Von der Liebe redete sie zu ihm, welche sie ihrem Gatten verbunden, und wie dieselbe stark genug gewesen sei, ihr den ganzen Lebensweg zu erhellen und ihr Herz noch zu erwärmen, da das seine erkaltet war. Sie schilderte ihm den Hingegangenen, den Graf Joseph nur gesehen, als er mit den Eltern gekommen war, die Schwester in Thuris nach ihrer Hochzeit zu besuchen, und indem sie ihm beschrieb, wie ihr Gatte hier im Lande gewaltet und gewirkt, forderte sie den Bruder, ohne es auszusprechen, zur Nachfolge auf.

Die Herren von Thuris waren ein neues Geschlecht im Vergleich zu den Grafen von Rottenbuel, und sie gehörten nicht dem hohen Adel des Landes an. Einige von ihnen hatten aber Töchter desselben geheirathet, viele sich mit den Töchtern nichtadliger freier Häuser verbunden, und gerade diese Stellung zwischen den alten Geschlechtern und dem übrigen Volke hatte den Herren von Thuris ihren Einfluß und ihr Ansehen unter dem Theile der Bündner verschafft, welchem das Uebergreifen der österreichischen oder französischen Herrschaft in Graubünden ein Dorn im Auge war, und welcher es deshalb als eine Schmach ansah, wenn die Bündner, welche freie Männer in einem freien Lande waren, sich zu Söldnern an den fremden Höfen hergaben und ihre Söhne die Schlachten fremder Fürsten mit ihrem Blute ausfechten ließen.

Conradine war in den Begriffen der alten Aristokratie erzogen worden, aber aus der Atmosphäre des Hofes in die Berge, aus ihrem Vaterhause zu Paris in das Haus ihres Gatten nach Thuris in die Stammesheimath versetzt, hatte sie sich[WS 1], eben weil sie eine unabhängige und zum Herrschen geneigte Seele war, mit warmer Ueberzeugung den Ansichten ihres Mannes angeschlossen, und der Stolz auf ihr altes Geschlecht hatte sie die Unabhängigkeit des Vaterlandes schätzen lehren, in welchem kein Fürst die Freiheit des Edelmannes beeinträchtigte und keine Schranke für denselben existirte, sofern er dem Gesetze nicht zu nahe trat, das er selbst sich mit den Theilnehmern der drei Bünde auferlegt hatte.

Geehrt von dem alten hohen Adel, dem sie durch ihre Geburt verbunden war, und dessen Ansprüche sie aufrecht erhalten zu sehen wünschte, geliebt von den neuen Geschlechtern, denen sie sich freiwillig angeschlossen hatte, genoß die Freifrau eines ungemeinen Ansehens in dem ganzen Engadin, und Schloß Thuris war der Vereinigungspunkt für alle diejenigen, welchen die Suprematie der fremden Fürsten und die Tyrannei der Mächtigen gegen die Geringen im Lande gleich verhaßt waren. Nach Thuris ging man, um sein Herz zu entlasten, nach Thuris, um Rath und Trost für seine Sorgen und Mitgefühl für seine Freuden zu finden, und wer die Freifrau in ihrem Hause beobachten konnte, wenn Leute aus den entlegensten Thälern und von den höchsten Bergen sie aufzusuchen kamen, oder wer sie gesehen hätte, wenn sie bei irgend einer Reise durch das Land in den Schlössern und in den Hütten vorsprach, der hätte eingestehen müssen, daß manche Königin die Freifrau um die Herrschaft zu beneiden habe, welche sie durch ihre ernste Güte gewonnen hatte, und um die Liebe und Verehrung, mit welcher man ihr lohnte.

Was Frau Conradinen geschah und sie betraf, war an und für sich ein Ereigniß im ganzen Engadin, und man hatte daher kaum erfahren, daß ihr Bruder, der Graf von Rottenbuel, heimgekehrt sei, so wurde Schloß Thuris von Gästen nicht leer, und Graf Joseph sah allmählich vor seinen Augen sich Menschen und Zustände entfalten, so verschieden von Allem, was er bisher gekannt, daß er ein Bedürfniß fühlte, fest zu halten, was er erlebte und was er bei diesem Erleben dachte. Die Tagebuch-Hefte, welche Jungfer Ursula mir überließ, geben davon Kunde.


Schloß Rottenbuel den 16. August 1787. Man erzählt von einem Manne, der so lange im Gefängniß gesessen, daß er, der reinen Luft und des hellen Tageslichtes entwöhnt, sie nicht ertragen [66] konnte und bei der Berührung durch sie todt zu Boden fiel. Aehnlich ergeht es mir. Die reine Luft, welche ich hier athme, regt mir das Blut auf und macht meine Gedanken so unruhig durcheinander wogen, daß ich kaum weiß, was ich fühle und was ich wünsche. Die Natur um mich her ist groß und ernst, die Menschen sind ihr ähnlich. Hier geboren und erzogen zu sein, hier zu leben, wenn man hier erzogen ward, ist vielleicht ein neidenswerthes Glück, aber nicht Jeder ist für jedes Glück geschaffen. Die Sprache klingt rauh an mein Ohr, die Wahrheit des Ausdrucks ist oft zu nackt, und erscheint doppelt so, wenn sie neben der Verfeinerung auftritt, welche eine große Anzahl meiner Landsleute sich im Auslande erworben haben. In keinem Gesichte sehe ich jenes Lächeln, Franziska’s Lächeln, welches mein Herz erwärmte, und keiner Lippe entquillt ihr süßer Ton!

Den 25. August. Die Nähe meiner Schwester thut mir wohl. Ihre Heimath freilich ist in diesen Bergen. Ihr Sinn ist hoch, ihr Verstand klar wie diese Luft, ihr Herz tief und still wie die ruhenden Seen dieses Landes, und ihr Auge sieht auf Jeden und auf Alles so sanft herab wie die Sonne am Mittag. Jeder Tag erschließt mir deutlicher, was meine Schwester ist, jeder Tag macht mir es klarer, was sie aus mir machen möchte. Vorsorgende Liebe soll hier im Lande die Wege bahnen für eine Ausgleichung, die zu kommen nicht säumen wird. – Wie weit hin ihre Verbindungen reichen, wie gut sie unterrichtet ist! – Die Nähe täuscht den Blick bisweilen wirklich. Mich dünkt, auch ich sehe von hier aus deutlicher, was sich jenseits der Berge vorbereitet, was an dem Horizonte Frankreichs emporsteigt, und was auch hier emporsteigen könnte, ein drohendes Gespenst, wenn man’s nicht im Voraus zu bannen trachtet.

Den 29. August. Welch köstliche Tage habe ich verlebt! Es scheint mir, als hätte ich zum ersten Male, seit ich lebe, frische Luft geathmet. Die Sonne ging eben auf, als wir Thuris verließen. Es war kalt auf der Lenzer Haide, der Inn floß voll und weißschimmernd durch die Wiese hin, die hier, ein wahres Naturspiel, zwischen den Felsen ausgebreitet ist. Es muß viel Schnee geschmolzen sein, viel Wasser sich gelöst haben von den Gletschern, der Strom hat sich mächtig gehoben. Die Sonne ist schön, wenn sie über die Berge emporsteigt und warm und liebevoll das Lebendige bis in die tiefsten Gründe suchen und erquicken geht. Eine Sonne sollten die alten Geschlechter in ihr Wappen setzen – barmherzig erwärmen und beleben müßten sie die Welt mit ihrem Lichte, damit man ihnen das Bestehen gönnte, das Bestehen wünschte und auf ihr Bestehen hoffte, wie auf der Sonne unfehlbares Licht.

Ich meinte so viel Menschen zu kennen, so viel Freunde zu haben in Paris, hier will mir’s erscheinen, als hätte ich Niemand gekannt und keinen Freund gehabt. Was wußte ich von den Menschen, die ich täglich sah? Was wußten die Menschen von mir, die sich meine Freunde nannten? Conradine kannte Kind und Kindeskinder, wohin wir kamen. Sie wußte, was man erstrebte, was man bedurfte, was Jedem fehlte und worauf er hoffte, und Jedermann wußte von ihr. Man rief ihr entgegen, als man mich an ihrer Seite sah, man hatte mich mit ihr erwartet, und man tadelte sie, daß sie den Sohn noch immer in der Fremde lasse. – „Ich gönne ihm Zeit, es einsehen zu lernen,“ sagte sie sich vertheidigend, „wie viel besser es hier in Bünden ist!“ – Solche Gemeinsamkeit verdoppelt das eigene Leben, und wenn ich höre, welche Sorgen die Andern zu tragen haben, mit wie Wenigem sie sich zufrieden geben, wie viel und wie wenig der Einzelne leisten kann, so bewältigt mich eine Art von Resignation. Daneben kommt mir der Wunsch zu nützen und zu beglücken – damit das Leben nicht ungebraucht vergeht. Wie oft ich auch zurück denke nach Paris – was könnte ich dort erfahren, das mich freute?

Am Nachmittage langten wir bei dem alten Freunde meiner Schwester an, das bevorstehende Fest mit ihm zu feiern. Das ist ein echter Rhätier, ein echter Bündner, dieser alte Herr von Gunta; und wie vornehm er aussieht in seiner altväterischen Tracht, in der dunklen, schmucklosen Kleidung! wie schön seine Tochter aussah, als sie an ihres Vaters Seite uns auf der Schwelle ihres Hauses zu begrüßen kam! Die Falten ihres weißen Kleides flossen leicht bewegt an ihrem schönen Leibe nieder, das blaue Band, das ihr schwarzes, unfrisirtes Haar zusammenhielt, spielte im Winde auf ihrer bräunlichen Schulter, und die dunkeln Augen begrüßten mich so zutraulich, als hätte sie einen Bruder vor sich, oder als wäre die prächtige Jungfrau noch ein Kind, das noch alle Menschen liebt und von Allen sich nur Gutes erwartet.

Am folgenden Tage fand die abermalige Installation des Herrn von Gunta zum Landammann statt. Er war schon früher dreimal in diesem Amte gewesen, und weil er Vertrauen genießt, kam man von dem ganzen Gau zusammen, der Feier beizuwohnen. Schon früh am Morgen zogen die Mädchen spazierend einher, in den scharlachrothen, faltenreichen Röcken, auf welche von den schwarzsammetnen, goldverbrämten Miedern die langen Bänder bis zu den Fersen niederhingen. Wie die seidenen, vielblumigen Schürzen schimmerten, und wie keck und fröhlich die Augen blitzten unter dem straff emporgekämmten Haar, das die kleinen Käppchen und die großen Silbernadeln nicht zusammen zu halten vermochten! Auch Fräulein von Gunta hatte für den Tag die Landestracht angelegt, und half den Mägden ihres Hauses bei der Bewirthung der Gäste, als wäre das ihres Amtes. Ich machte ihr eine Bemerkung darüber. Sie sah mich mit einem gewissen Erstaunen an. „Soll ich den Menschen nicht dienen,“ sagte sie, „welche gekommen sind, meinem Vater Vertrauen und Ehre zu erweisen?“

Das Schloß füllte sich mehr und mehr, und da die Hausfrau todt ist, vertrat Veronika ihre Stelle. Ihr Anblick rührte mich, weil ihre stolze Freude über ihres Vaters Ansehen sie so demüthig machte, und alle ihre Demuth den Adel ihres Wesens nicht verbergen konnte. Mitten aus dem Kreise der sie umgebenden Mädchen sah man immer sie. Ich habe in Trianon manchmal an der Seite der Königin gestanden, wenn sie die Schäferin spielte; man konnte es vergessen, daß man eine Königin vor sich hatte, so lieblich sah sie aus. Veronika’s strenge, königliche Schönheit läßt sich nicht verhüllen, fordert in jedem Augenblick Bewunderung – Bewunderung – nicht Liebe.

Den 30. August. Das Volksfest auf Schloß Gunta liegt mir noch im Sinne, die natürliche Freude bei demselben hat mich erwärmt. Jedermann war gerührt, als von fern her der altertümliche Marsch erklang, und die drei ausgeputzten Musikanten, mit den bunten Bändern an ihren Hüten und Instrumenten, in feierlich gemessenem Schritte vor den berittenen Wahlmännern einhergingen, die, fest in ihre Mäntel gehüllt, den Degen an der Seite und eine bunte Kokarde am Hute, ihnen bis an die Pforte des Schlosses folgten. Hier stiegen die Wahlmänner ab, und während die Menge sich in dem Schloßhof und außerhalb desselben immer dichter zusammendrängte, holten die Wahlmänner mit dem bisherigen Landammann den neuen Landammann herunter. Barhäuptig und mit goldbordirten Mänteln setzten sich die beiden Landammänner nun ebenfalls zu Pferde, während die Musik und die Menge ihnen entgegen jubelten und die alte Gerichtsfahne, welche schon die Schlachten des fünfzehnten Jahrhunderts mitgemacht, vor ihnen einhergetragen wurde. Eine Weile ging der Zug durch das Land, und selbst die Frauen, selbst meine Schwester und Veronika schlossen sich ihm an. Mitten in einer Haide machte man Halt. Der bisherige Landammann bestieg einen der auf der Haide liegenden Steine und übergab mit Dank für das Zutrauen seiner Mitbürger das Amt in des alten Gunta Hände. Nun betrat dieser die natürliche Tribüne, und in einer Umgebung, die großartiger nicht leicht zu denken ist, stehend auf dem Steinblock, der vielleicht schon Jahrtausende an dieser Stelle gelegen, leistete er den Eid der Treue in der alterthümlich hergebrachten Form, empfing er das kleine, braun angestrichene Stäbchen und das mehrere hundert Jahre alte, vergilbte Statutenbuch als Insignien seines Amtes, die er dem Weibel zur Bewahrung übergab, und sprach dann in kräftig feuriger Rede zu dem Volke, von dem Glück der Freiheit, deren sie genossen, und von dem stolzen Bewußtsein, keinen Herrn über sich zu wissen, als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, der diese Berge in ihren Grundfesten aufgerichtet, der das Firmament ausgespannt über die Erde und seine Sonne daran gesetzt, und der lebendig unter ihnen sei in seinen Wundern und Zeichen.

Und als solle dieser Rede ein Schluß gegeben werden, großartig und imponirend wie der Sinn des Mannes, der sie gesprochen, so rollte in dem Augenblicke von der nächsten Bergesspitze eine mächtige Lawine hernieder, daß ihr lauter Donner über das Thal hinschallte und wieder und wieder von den Felsen nachklang, bis das letzte Echo in dem jubelnden Lebehoch und Vivat untergangen war, mit welchem die Bürger ihren Erwählten begrüßten.

Ich fühlte mich wohl in den Reihen dieser Menschen. Das Herz schwoll mir in einer großen Empfindung, und ich war gerührt. Conradine bemerkte es. „Hast Du Aehnliches erlebt an Deinem Königshofe zu Versailles?“ fragte sie. Ich bin ihr die [67] Antwort schuldig geblieben, denn ich weiß mir selber noch keine Antwort auf die Fragen zu geben, die sich in mir regen. Mein Sinn wird unwillkürlich von einer Sehnsucht, die ich mir nicht eingestehen mag, in die weite glänzende Ferne zurückgezogen, obschon meine jetzige Umgebung mich anzieht und meine Theilnahme gewinnt. Ich habe den rechten Halt verloren; und ich bildete mir doch ein, ein Mann zu sein! –

Den 4. September. Meine Schwester sendete mir gestern den Brief, den sie von ihrem Sohne erhalten. Was soll er mir? was konnte er mir bringen, das ich nicht wußte, nicht erwartet hatte, als der Prinz mir schrieb? –

Es war ja lange Franziska’s Plan gewesen, und sie hat ihren Weg mit meisterhafter Sicherheit verfolgt. Was kümmert es sie, daß sie mein Leben vergiftet? daß sie mich um Glück und Hoffnung betrogen? daß ich den Jüngling jetzt beweinen und beneiden könnte, der durch meine Hand ihrer schrankenlosen Eitelkeit zum Opfer fiel? – Und doch wollte ich, Ulrich hätte geschwiegen. Es thut mir weh, daß Conradine sie verachtet. Es brennt mir in der Seele, daß ich nicht Verehrung fordern darf für das Weib, welches ich mit nicht zu besiegender Leidenschaft geliebt, für das Weib, das ich verdamme[WS 2] und das ich nicht vergessen, nicht verschmerzen kann.

Schloß Thuris, den 14. September. Welch ein Weg, welche Nacht war das! – Conradine hat Recht, dies Land, dies Leben müssen auch der Weiber Herzen stählen!

Wir waren vorgestern hier von Thuris aus nach Schloß Gunta geritten, den Wahlschmaus zu begehen. Das Schloß, seine Höfe, seine Gärten waren voll Menschen. In der großen Halle, auf dem Hofe waren die mit Speisen und Getränken überfüllten Tische aufgestellt. Die Menschen waren meilenweit herbeigekommen, es war wie bei einer Kirchweih, das Begrüßen, das Besprechen, die Freude, die Vivats und das Schießen fanden kein Ende, bis man zum Tanze ging.

Man tanzte in der großen Hausflur des Nebengebäudes, denn nur das Volk begehrte den Tanz. Die Musikanten, welche an dem Wahltage ihre Künste geübt, spielten auf, ein paar an die Mauer befestigte Lampen, in denen große Unschlittklumpen den Docht tränkten, machten die Beleuchtung. Man begann mit dem alten romanischen Nationaltanze, mit der Scarpetta, und der Landammann hatte darein gewilligt, auch Veronika an dem Tanze theilnehmen zu lassen. In zwei langen Reihen stellten die Burschen sich wie zu einer Ecossaise auf, Veronika wieder in der Landestracht an der Jungfrauen Spitze. Als die Tänzer sich geordnet hatten, verstummte die Musik, man tanzte nach Gesang. In langen, gezogenen Tönen sangen die Männer im Chor: Chi t’a fait quella scarpetta, chi te va tan bein? (Wer hat Dir die Schuhe gemacht, die Dir so wohl anstehen?) und in gleichem Ton und Rhythmus erwiderte der Chor der Mädchen: Mi l’a fait el amore, chi mi vuol tan bein! (Mein Liebster hat sie mir gemacht, der mir so sehr wohl will!) Sie wiegten sich dabei mit den Körpern nicht unschön nach dem Takte, und so oft die Worte tan bein gesprochen wurden, schlug die ganze Gesellschaft rhythmisch in die Hände und sprang mit beiden Füßen auf dem Platze empor, den Taktschlag zu verstärken. Man setzte das eine ganze Zeit lang fort, und ich suchte in Veronika’s Zügen zu lesen, was sie in dieser Gesellschaft und was sie bei diesem Tanze empfände, der mir den Südsee-Insulanern entlehnt zu sein schien. Ihr Auge war hell, ihr Mund lächelte, sie war sehr heiter. – „Wie können Sie diesen Tanz ertragen, der kein Tanz ist?“ fragte ich sie endlich. Sie sah mich an, als falle ihr mein Aeußeres auf, und es wollte mir dünken, als erröthe sie. Aber mich gleich darauf mit ihrem hellen Auge anblickend, sagte sie: „O, der Tanz ist schön! Wir Alle haben die Worte der Scarpetta von unsern Müttern gelernt, und haben die Scarpetta getanzt, sobald wir auf den Füßen stehen konnten. Kindheit und Jugend und unsere Mütter und Gespielen – Alles lebt uns in dem Tanze, in der fröhlichen Scarpetta!“ – Und gleich darauf sang sie wieder ihr: Mi l’a fait el mi amore, chi mi vuol tan bein! und sang es mit einem so fröhlich herausfordernden Blick gegen mich, mit so viel Lust, mit so viel eigenem Behagen und so viel absichtlichem Trotze, daß ich mir eingestehen mußte, es gehöre nicht viel Kunst dazu, diesem schönen Wesen sehr wohl zu wollen!

Als man sich in dem Nationaltanze genug gethan, spielten die Musikanten den Ländler auf, und ein junger Bursche näherte sich Veronika. Ich sah, daß des alten Gunta Stirne sich runzelte, ich mußte lächeln. Die Tochter im Arme des Bauern zu sehen, stand dem aristokratischen Volksmanne doch nicht an; aber das brachte ihn mir menschlich näher, obschon es mir, falls es dessen noch bedurfte, den Beweis gab, wie es mit der allgemeinen menschlichen Gleichheit, welche Herr von Gunta und meine Schwester so zu preisen lieben, hier in diesen Bergen beschaffen ist.

Auch ich mochte jedoch Veronika dem Bauernsohne nicht überlassen. Ich kam ihm zuvor, nahm ihre Hand und führte sie ohne besondere Neigung in die Reihe. Aber es war eine Lust, sie zu heben und zu stützen, sie zu führen und zu halten, in ihr klares Auge zu sehen und die fröhlichen Worte von ihren schönen reinen Lippen zu vernehmen. Wohl dem Mann, dem es einst vergönnt sein wird, mit freiem Herzen sie die ersten Laute der Liebe stammeln zu hören, den ersten Kuß von diesem unentweihten Munde zu trinken.

Man tanzte bis in den Nachmittag hinein, dann brach man plötzlich auf, denn viele der Gäste hatten weite Strecken zurückzulegen, und auch wir dachten uns auf den Weg zu machen. Da aber Veronika, welche ihres Vaters Gäste zu entlassen hatte, uns begleiten sollte, um einige Tage in Thuris zu bleiben, wurden wir aufgehalten, und die Sonne neigte sich zum Untergange, als wir Schloß Gunta verließen.

Conradine, deren Selbstgefühl sich in jedem Zuge, in jeder Aeußerung ihres Wesens ausspricht, ritt allein gleich hinter ihrem Diener her. Ich folgte an Veronika’s Seite, die Mägde der beiden Frauen und mein Reitknecht schlossen den Zug. Veronika, die, wie meine Schwester, immer eine Beschäftigung haben muß, unterhielt sich damit, mir die Namen der Berge, der einzelnen Bergspitzen, der Schlösser, Dörfer und Weiler zu nennen, an welchen wir vorüberkamen. Aber wir waren noch nicht lange unterwegs, als es mir auffiel, wie selbst die nächsten Berge sich vor unserm Blick verschleierten, und wie es dunkler wurde, als es der Zeit auch zu erwarten stand.

Der Tag war schwül gewesen trotz seiner Helligkeit, jetzt lagerten die Wolken sich dichter und dichter zusammen. Bisweilen tauchte ein Stern auf, um schnell wieder zu verschwinden, und ein heißer, schwerer Luftstrom zog in bebenden Schwingungen dann und wann durch das Thal. Hier und da tönte es wie ein Seufzen aus den Schluchten empor, hier und da hallte es wie ein unterdrückter Angstschrei von den Bergen nieder. Die Vögel flogen trotz der beginnenden Dunkelheit noch unruhig kreisend über unsern Häuptern umher und suchten dann in banger Hast ihre Nester zu gewinnen. Veronika war still geworden, ihr Auge schaute sorglich nach der Stelle hin, an welcher die Sonne untergegangen war. Die Nacht brach vorzeitig ein, die Windstöße folgten einander in immer kürzeren Zwischenräumen, das Pfeifen, das Stöhnen, das Grollen in der Luft wurde immer stärker und vernehmlicher, und die schwüle Wärme legte sich, obschon wir uns noch hoch genug befanden, wie mit eisernen Reifen athembeklemmend um Brust und Gehirn.

Conradine wendete sich um. „Dein Vater hat Recht gehabt, Veronika!“ sagte sie, „der Föhn kommt auf!“

„Ja!“ versetzte Veronika, und beide Frauen schwiegen wieder.

Es lag etwas Achtunggebietendes in ihrer Ruhe vor dem Ausbruch einer nahen Gefahr. Und das Unheil ließ nicht lange auf sich warten, denn kaum daß sie gesprochen hatten, so zuckte ein gelber Blitz durch das untere Gewölk, ein zweiter, ein dritter flammten von der andern Seite durch die Finsterniß, und als wären alle Stimmen der Natur entfesselt, so wild brauste, pfiff und hallte es durch die Nacht. Der Schall des Donners verlor sich in dem wilden Tosen. Sich auf dem Pferde zu halten war unmöglich, auch wenn die Thiere weniger von Angst ergriffen und scheu gewesen wären. Ich hatte die Frauen herabgehoben, aber ein Obdach, ja selbst eine Zuflucht war nirgend zu finden. Der Regen begann in Strömen niederzufallen, das ganze Firmament stand in Flammen, der Sturm steigerte sich zum Orkan, wir hörten die Wasser von den Bergen niederbrausen, es wurde kalt und kälter, die Nacht grauenhaft finster, der Regen verwandelte sich in stechend scharfen Schnee, und wir standen mitten auf der Haide, ohne ein Vorwärts, ohne ein Zurück. Mir schlug das Herz in der Brust, ich bangte für die Frauen, deren Mäntel schon lange kein Schutz mehr waren gegen dieses Wetters vernichtende Gewalt.

Unkundig der hiesigen Verhältnisse hatte ich beim Ausbruch des Orkans vorgeschlagen uns unter den Schutz der Bergwand zu flüchten, die sich zur linken Seite der Straße hinzog, aber das Herabrollen der Steine, welche das niederströmende Wasser mit sich [68] führte, machte das unthulich, und ohnmächtig und schutzlos der Wuth der Elemente preisgegeben, wurden die Minuten uns zu langer Zeit. Die unthätige Sorge, die Unmöglichkeit helfen, abwehren, beschützen zu können, und das lautlose Schweigen der Frauen marterten mich. Ich hätte mich erleichtert gefühlt durch ihre Klagen; ich hätte sie zu beruhigen, zu trösten, ich hätte doch irgend Etwas zu thun, für sie zu thun gehabt; ich hätte weniger lebhaft empfunden, wie hülflos wir waren.

Endlich nach einer halben Stunde ließ der Orkan in seinem Toben nach, die Blitze wurden seltener, Schnee und Regen hörten auf, nur die Kälte blieb empfindlich. Zog noch bisweilen ein Windstoß durch die Luft, so klang es, als ob er jetzt von ferne käme, und er fegte das Gewölk und die Nebel, in denen wir uns befanden, vor sich her, daß die blaßgelbe kalte Scheibe des Mondes für Secunden aus der Finsterniß hervorbrach, um eben so schnell hinter den fliegenden, sich zusammenballenden und wieder verschwebenden Wolkenzügen zu verschwinden.

Wir athmeten auf, wir konnten daran denken, vorwärts zu kommen, wenn schon es unmöglich war, die Pferde wieder zu besteigen, denn die Verwüstung auf dem Wege war zu groß. Hier lag eine riesige Arve entwurzelt, als hätte man sie mit Hebeln aus der Erde gehoben, dort versperrten niedergerollte Steinblöcke den Weg, den an andern Stellen das Wasser des ausgetretenen Flusses durchgerissen hatte. Mit Mühe und Noth erreichten wir spät in der Nacht den nächsten Hof. An ein Weitergehen, an eine Heimkehr war nicht zu denken. Nicht nur unsere Kleidung, auch die mitgenommenen Mantelsäcke waren bis in ihren innersten Kern durchnäßt. Man half uns in dem Hofe aus, und der Eindruck des Traumhaften, dem ich hier so häufig unterliege, umfing mich lebhafter als je zuvor, da ich mich in jener Nacht unter dem schlichten Dache, an dem weißen Holztisch, in der Kleidung eines Landmanns, den bäuerlich gekleideten Frauen gegenüber befand.

Als das Feuer auf dem Heerde brannte, uns zu erwärmen, sagte meine Schwester: „Mir ist ganz bange geworden draußen!“ „Mir auch!“ fügte Veronika hinzu. „Ich dachte, wie der Vater um uns in Sorgen sein würde, ich fürchtete auch wirklich, wir würden umkommen in dem Orkan, und ich lebe doch so gern!“

„Aber Sie äußerten keine Furcht!“ wendete ich ein.

„Ich betete in meinem Herzen!“ gab sie mir zur Antwort.

Glückliches Mädchen! möge der Himmel Dir Deinen starken und schweigenden Muth, Dein frommes Gottvertrauen und Deine Freude an dem Leben stets erhalten. O, daß ich sie zu theilen vermöchte!




Die Aufzeichnungen des Grafen Joseph brachen damit ab. Es fanden sich deren auch keine aus spätern Tagen vor; es ist anzunehmen, daß nur das erste Alleinsein in der ihm fremden Natur ihn in jene lyrische Stimmung versetzt hat, in der er zu dem schriftlichen Selbstgespräch seine Zuflucht genommen. Dagegen bot eine Reihenfolge von Briefen den weiteren Einblick in die Verhältnisse des Grafen Joseph dar. Der erste derselben ist von der Freifrau von Thuris an ihren Sohn gerichtet. Ich theile ihn und die ihm folgenden Briefe ganz so mit, wie sie mir übergeben worden sind.

„Thuris, den 16. Februar 1788.

Ich habe Dir eine Trauerpost mitzutheilen, mein lieber Sohn! Unser alter, trefflicher Freund, mein treuer Gunta ist gestorben. Eine Erkältung, die er sich auf der Jagd zugezogen, ist ihm tödtlich geworden, und unsere arme Veronika ist nun verwaist. Sie hatte Dir das Unglück, das sie betroffen, den Verlust, den wir Alle erlitten haben, selber melden wollen, ich habe es ihr abgenommen, da sie viel zu schreiben hat und nebenher für die Freunde ihres Vaters Sorge tragen muß, die gekommen sind, ihm die letzte Ehre zu erweisen. Sie hat sich in allen diesen Tagen, am Krankenbette, bei dem Tode ihres Vaters und in den Obliegenheiten, welche jetzt auf sie fallen, durchaus bewährt, wie ich sie zu finden gehofft hatte. Ihr Schmerz ist sehr tief, aber sie bleibt Herr über sich und ihn, und zeigt sich sanft und fest zugleich.

Ich habe ihr vorgeschlagen, zu mir nach Thuris zu kommen, wenn die Bestattung ihres Vaters erfolgt sein wird; sie hat das aber abgelehnt, und ich finde das begreiflich. Sie wird sich selbst genügen, ihren Gram ausleben wollen, wenn sie ihre ersten Obliegenheiten erfüllt hat; ja ich traue ihr zu, daß sie den Vorsatz ausführt, welchen sie am Sarge ihres Vaters in den ersten Augenblicken nach seinem Tode aussprach, als ihre Leute wehklagend den Verlust ihres Gebieters beklagten. Sie scheint in Gunta bleiben und mit Hülfe ihrer treuen und erfahrenen Leute die Bewirthschaftung ihrer Güter in dem Sinne unseres verehrten Freundes fortführen zu wollen. Ich wüßte auch nicht, was sie daran hindern sollte, denn ich würde in dem gleichen Falle das Gleiche gethan haben.

Indeß hoffe ich, daß bald eine andere Hand ihr die immerhin nicht leichte Aufgabe tragen helfen wird. Vielleicht sage ich mit dem Worte „hoffen“ mehr, als ich vertreten kann. Was man aber lebhaft wünscht, das hofft man auch.

Dein Onkel lebt sich bei uns ein, und die Nachrichten, welche Du mir im vorigen Herbste gegeben, haben sicherlich nicht wenig dazu beigetragen. Schon seit Monaten spricht er nicht mehr von seiner Rückkehr nach Paris, die anfangs eine fest beschlossene Sache für ihn war. Die Stille und Einsamkeit auf Rottenbuel gewinnen einen Reiz für ihn, die Bewirthschaftung seines Erbes fängt an, ihm ein Interesse einzuflößen. Es geht ihm allmählich der Sinn dafür auf, daß der Adel nur ein Edelmann ist in seinem eigenen Schlosse, auf seinem eigenen Grund und Boden, und daß er in die Classe der abhängigen Dienerschaft hinuntersteigt, sobald er sich herbeiläßt, sich fremdem Willen unterthan zu machen, wäre es auch dem Willen eines Königs. Es überraschte ihn offenbar, als ihm Veronika dies ihr angeborene und anerzogene Empfinden einmal aussprach, und ich hoffe, ihr Einfluß wird ihn bewegen, seinen Abschied zu begehren und hier zu bleiben, wo er hingehört. Was hat er an dem Hofe Ludwig’s XVI. zu suchen? Was soll ihm diese Marquise und ihr falsches Spiel? – Sein freier Mannessinn hat Schaden gelitten in der gefährlichen Luft jenes Hofes, sein Empfinden ist verwirrt in dem trügerischen Lichtglanz einer Atmosphäre, in der auch Du, wie mich bedünken will, jetzt lange genug geweilt hast. Wer, wie ich, beständig in der freien Natur gelebt und gelernt hat, sie zu beobachten und zu verstehen, der gewinnt, so meine ich, auch ein Verständniß für die Zeichen in dem Geist der Menschen und der Zeit; und wie ich meist voraussehen kann, wenn der Sturm uns droht in unsern Bergen, so dünkt mich, fühle ich das Herannahen eines Sturmes, der vom fernen Westen, über den Ocean herüber, ein Wetter, ein befreiendes, die Luft entladendes Gewitter vor sich hertreibt. Der Marquis von Lafayette, der die Reihen seines Regiments verließ, um den Amerikanern zu Hülfe zu eilen, welche für ihre Unabhängigkeit kämpfen, war vielleicht schon der Sturmvogel, der dem Orkan vorausflog. Und wir wissen, was ein Orkan zerstören kann! Habe ich das in der Erdenwelt doch im letzten Jahre an unserm armen Walde praktisch genugsam erfahren.

Deine baldige Heimkehr würde mir in jedem Sinne lieb sein, obschon sie um meinetwillen, die ich mich gut befinde, nicht eben nöthig ist.“

(Fortsetzung folgt.)




Schweizer Alpen-Bilder.
Nr. 2. Meister Braun.

Meister Braun, von dessen riesiger Kraft und Gutmüthigkeit so viel gerühmt wird und dem’s wohl gerade wegen dieser seiner letzten löblichen Eigenschaft Altmeister Goethe im Verkehre mit Freund Reinecke so übel ergehen ließ, ist selbst bei uns, in dem schluchtenreichen schweizerischen Hochlande, bereits ein seltener, deswegen aber immer noch kein unbedingt gern gesehener Gast geworden, weil’s um die vortrefflichen Eigenschaften des zottigen, anscheinend so bauernhaft plumpen Burschen denn doch, bei Lichte besehen, hie und da bedenklich aussieht. In den Thälern und Schluchten, die sich zu Füßen und an den Flanken der riesigen Gletscherpyramiden des Berner Oberlandes doch zahlreich genug vorfinden, ist er seit Jahrzehnten weder von Wildheuern, Sennen, noch selbst von Gemsjägern mehr angetroffen worden. Der gute Petz ist zwar ein ganz erträglich guter Kletterer und ein weit flinkerer

[69]

Meister Braun auf dem Ziegenstalle.
Originalzeichung von H. Jenny.

Fußgänger, als man ihm bei bloß oberflächlicher Bekanntschaft zutrauen möchte; der windschnellen Gemse aber thut er’s in beiden Künsten gleichwohl bei Weitem nicht nach, selbst nicht einmal dem Steinbock, der, gleich ihm, vor der unermüdlichen Beutelust der Jäger dieses Revieres sich in noch wildere und unzugänglichere Gebiete zurückziehen mußte. Dennoch ist er noch weit entfernt, so ganz wie Cooper’s letzter Mohikaner sein ganzes edles Geschlecht aussterben zu sehen. Noch immer bieten ihm die grausigen, wild zerklüfteten Gebirge des Unter-Engadin, des Ofnergebirges, Münsterthals etc., das tessinische Blegnothal und die fast unzugänglichen Felslabyrinthe, die sich um die gigantischen Felsstöcke des Wallis lagern und auffallender Weise auch die bei Weitem weniger steilen und wilden Gebirgszüge des waadtländischen Jura bequeme und sichere Standquartiere, in denen ihn nur selten der Jäger aufstören würde, wenn nicht das Bedürfniß nach einer guten Mahlzeit ihn von selber in weniger einsame Regionen hinaustriebe. Freund Braun ist nämlich ein außerordentlich fein gebildeter Gastronom, und wenn er auch ein Ziegen- oder selbst Rinderlendenstück ungebraten verzehrt, so liebt er doch einen Salat ohne Essig und Oel, aber von feinen, fetten Wiesenkräutern dazu, und vermißt dabei nur mit schwerem Verdruß eine Nachkost von Erdbeeren, Birnen, Trauben und besonders von süßem Honig, lauter Dinge, für die er zuweilen seinem Wirthe den warmen, weichen Pelzrock in Versatz lassen muß.

Das südliche Rhätien scheint noch immer die meisten Bären zu zählen, und besonders im untern Engadin hausen jedenfalls beständig eine Anzahl von Bärenfamilien, deren Spuren dem in jenen felsigen Revieren herumstreifenden Jäger fast jeden Tag zu Gesichte kommen und deren Zahl immerhin auf dreißig Stück geschätzt wird. Ihren beständigen Aufenthalt nehmen die Bären mit Vorliebe in einsamen, zwischen steil abfallenden Gebirgswänden liegenden, schwer zugänglichen Schluchten, die bis fast zur Schneegrenze hinauf mit finsterem Nadelholz bewachsen sind. Von da aus aber machen sie, wie bereits bemerkt, oft sehr verwegene und weitgedehnte Spaziergänge in die bewohntem Gegenden, so z. B. vom Engadin aus durch die ganze Südkette der rhätischen Alpen und von da in’s traubenreiche, milde Tessin hinunter, oder vom Einfischthale, wo es hinsichtlich feiner Leckereien nur sehr mittelmäßig bestellt sein mag, abwärts in die sonnigen Rebgelände des Walliser Landes. Doch mögen wohl solche Streifereien bloß mehr zu den Extratouren oder sommerlichen Vergnügungsreisen zu rechnen sein, denn im Allgemeinen gehört Freund Braun seiner ganzen gewichtigen Anlage nach zu den behäbigen Philistern unter der sonst so beweglichen Sippschaft der Alpenthiere und verläßt, wie der Staatshämorrhoidarius, nur selten sein eigentliches Gebiet, was auch um so gerathener für ihn erscheint, als es bekanntlich im Bündnerlande der Leute gar manche giebt, die eine sicher treffende Büchse führen und ihm gar scharf auf den Dienst lauern, und die, wie der Schloßpächter von Zernetz, schon eigenhändig zwölf seiner naschhaften Vettern erlegt haben. Im Jahre 1857 mußten einzig [70] im Engadin acht alte und junge Bären die schwere Hand ihrer unermüdlichen Verfolger empfinden, und der Jagdabenteuer giebt es unzählige, welche von den Bären-Nimroden erzählt werden. Selbst das Jahr 1861 war wieder ein bärenreiches, und wenn man den öffentlichen Blättern des Bündnerlandes Glauben beimessen darf, so sind im letztverflossenen Jahre 4 bis 5 Stück erlegt worden. Unter so bewandten Umständen hält sich Braun meist in seinen Schluchten auf und begnügt sich mit magern Ebereschenbeeren und selbst Feldmäusen. Wird aber der Drang nach besserer Kost einmal gar zu mächtig in ihm, dann macht er sich Nachts auf den Weg nach irgend einem Ziegenstalle, deckt, wenn’s geht, mit seinen gewaltigen Tatzen das Dach ab, oder rennt, ganz wie ein Mensch, mit seinem breiten Rücken die Thüre ein und holt sich eine Ziege zum Nachtschmause heraus. Einen solchen Moment stellt das diesem Aufsatze beigedruckte Bild, „Meister Braun auf dem Stalle“, dar, und die Geschichte ist zudem buchstäblich wahr. Ziegenhirten in einer der rauhesten Alpen des Rhätikon bemerkten einst, daß das Gras um die Hirtenhütte über Nacht glatt abgeweidet und zudem die Thüre zum Ziegenstalle zerkratzt worden war. Vergeblich durchsuchten sie jedoch die nächste Umgebung und den tiefer liegenden Zirbelkieferwald nach dem vermutheten ungebetenen Gaste. Gleichwohl beschlossen sie aufzupassen, und einer von ihnen holte zur größeren Vorsicht eine alte Muskete aus dem nächsten Thaldorfe herauf, die denn auch, wie Herr von Tschudi, der das Abenteuer berichtet, bemerkt, mit vieler Andacht geladen wurde. Den Tag über machten sie die Bemerkung, daß die Ziegen dem Landfrieden keineswegs recht trauten und sich nur mit Widerwillen von einer weiter unten weidenden Rinderheerde entfernen mochten. Zwei Nächte paßten übrigens die Sennen vergeblich. In der dritten Nacht aber wurden sie plötzlich durch ein Geräusch auf der Ziegenhütte geweckt, und entdeckten bald einen Bären, der sich zuerst vergeblich bemühte, die Thüre aufzudrücken, worüber das gehörnte Völklein drinnen im Stalle sehr unruhig zu werden anfing. Die beiden Sennen, welche als treulose Schildwachen auf ihrem Lauerposten geschlafen hatten, waren eben keine verwegenen Jäger, und es wurde ihnen beim Anblick des seltsamen Besuchers etwas unheimlich zu Muthe. Der eine schlich zur Alphütte, um auch die übrige Hauptmacht zum Treffen zu rufen, während sein Genosse in ziemlich trostloser Stimmung seine alte Muskete in Kriegsbereitschaft setzte. Inzwischen hatte der hartnäckige Petz richtig mit seinen gewaltigen Pranken die Thüre eingedrückt, bei welcher Gelegenheit die flinken Ziegen wie toll aus der Hütte stürzten und sich meckernd auf die benachbarten Felsen retteten. Petz aber hatte denn doch richtig eine der Flüchtigen gepackt und schickte sich eben an, die Euter seiner Beute zu verspeisen. Gerade in diesem Moment rückte aber jetzt die ganze Hauptmacht der Sennen, mit Prügeln, Melkstühlen und andern unliebsamen Werkzeugen versehen, vorsichtig zum Angriffe heran. Einer von ihnen, ein ehemaliger Gemsjäger, nahm dem verfassungslosen Wachtposten die Muskete aus den Händen und ging auf den schmausenden Bären los. Dem schien es nun freilich sehr unangenehm zu sein, in seiner Mahlzeit gestört zu werden, denn er richtete sich sogleich auf den Hinterbeinen empor und gab durch gewaltiges Brummen seine üble Laune zu erkennen. Der beherzte Senne ließ sich aber dadurch in seinem Vorgehen nicht beirren, knallte in nächster Nähe seines Gegners los, und der starke Streifschuß zerschmetterte dem armen Petz die rechte Rippenseite. Freilich probirte der Geschädigte noch, sich mit wüthenden Tatzenhieben für die ihm widerfahrene Unbill zu rächen, es half ihm aber diesmal weder sein Grimm noch seine Kraft, denn die übrigen Sennen kamen nun ebenfalls herbei und schlugen den Verwundeten vollends todt. Der Erschlagene gehörte zu den braunen Bären und wog 240 Pfund.

Nicht immer aber läuft die Geschichte so mißgeschicklich für Petz ab, wie dieses Mal, was schon die folgenden Thatsachen beweisen: Ein Bär erwürgte im September 1853 auf der Stutzalp im Engadin in wenigen Tagen nicht weniger denn funfzehn Schafe, von denen er sich einige mitten aus der brüllenden Rinderheerde wegholte; ein Umstand, der um so mehr auffällt, als die Heerden bei einem Angriffe des gefürchteten Räubers sich sonst als feste Phalanx in einen Kreis zusammenzustellen und, den gehörnten Kopf tief gesenkt und nach außen gekehrt, den Feind muthig zu erwarten pflegen. Auf der Buffaloraalp zerrissen die Bären Anno 1858 nicht weniger als 29 Stück aus einer einzigen Schafheerde, und im Sommer 1860 beanspruchte ein einziger Petz innerhalb vierzehn Tagen in Zernetz gar 17 Schafe zur Befriedigung seiner kleinen Bedürfnisse.

Wird der Bär wegen solchen polizeiwidrigen Thuns verfolgt, so trabt er meist ganz langsam und gemächlich fort und wird, ohne selbst angegriffen zu sein, wohl nie dem Menschen gegenüber die Offensive ergreifen. Brennt man ihm aber eins auf die Wolle und trifft nicht gut, dann ist, wie bereits angedeutet, nicht mehr gut mit ihm zu verkehren, und eine Verwundung entflammt, statt ihn zum Rückzüge zu bewegen, seinen Zorn zur rasendsten Wuth. Den schlagendsten Beweis zu dieser Angabe bildet folgendes Abenteuer des Jägers Rindi, aus Disentis im Bündnerlande. Im December 1838 die breite Spur eines Bären verfolgend, verlor er gegen Abend dieselbe an einer schroffen, unheimlichen Felsenwand, die nur auf einem schmalen, gefährlichen Pfade zu erklettern war und in der Höhe oben über schwindelndem Abgrunde hinführte. Muthig erkletterte der todverachtende Mann diesen Pfad, bis er oben in der Felswand ein Loch entdeckte, in welchem er des Bären Behausung vermuthete. Hier mußte einer von Beiden auf dem Platze bleiben, denn ein Ausweichen war weder für den Jäger noch für den Bären möglich. Vorsichtig schlich Rindi heran und gewahrte, in die Höhle hineinspähend, zwei Augen, die ihn aus dem Dunkel des engen Loches wie glühende Kohlen anfunkelten; die Pranke des Bären hing sogar so weit heraus, daß er sie hätte mit der Hand anfassen können. Zweimal versagte dem kühnen Jäger der sonst so sichere Stutzen. Endlich krachte der Schuß; aber des Bären wüthendes Gebrüll rief gleich mit dem Knall das Echo der Gebirge wach und schien die Felsen erbeben zu machen. Rindi retirirte so weit möglich von der Höhle zurück, um den Stutzen wieder zu laden. In der Höhle war es still geworden, und als der Jäger näher trat, konnte er selbst weder Tatze noch Augen der Bestie mehr gewahren. Nach einer Weile glaubte er ein leises Kratzen und Scharren zu vernehmen, und von einem Gefühl plötzlichen Schreckens gepackt, verließ er eilig die Schlucht.

Am nächsten Morgen nahm er drei andere Jäger mit sich, um das Raubthier, das derweil doch verendet haben konnte, aufzusuchen. Diesmal wurde der Angriff jedoch von oben herab unternommen; die Jäger kletterten an einer langen, hart am Felsen stehenden Tanne zu der Bärenhöhle hinunter, voran ein August Biskuolm, den Stutzen auf den Rücken geschnallt. Kaum aber war der Mann auf dem Felsenpfad angelangt, so stürzte der über den wiederholten Besuch erbitterte Bär mit zwei gewaltigen Sätzen auf ihn los, umklammerte ihn mit den Armen und schmiß ihn kunstgerecht, wie ein Schwinger, auf den Boden. Biskuolm rollte sammt seinem Gegner, laut um Hülfe rufend, einen Abhang hinunter, konnte sich jedoch endlich aus der gefährlichen Umarmung losmachen und den Stutzen von der Schulter reißen. Der erboste Braun war aber eben so flink wieder auf den Beinen, so daß der Mann kaum eben noch Zeit fand, ihm den Kolben seines Gewehres vorzuhalten, als er zum erneuten Angriffe heranstürzte. Rindi kam glücklicherweise auf den Hülferuf seines Freundes ebenfalls die Tanne herabgeklettert und jagte der Bestie noch rechtzeitig seine Kugel zwischen die Rippen. Der Bär zog sich auf dieses freilich ein paar Schritte zurück, machte jedoch eben wieder Anstalt aufs Neue sich auf die Jäger zu werfen, welches Vorhaben nun aber Biskuolm mit einem dritten, tödtlichen Schusse vereitelte. Als man den Bären untersuchte, entdeckte man, daß schon der Tags vorher empfangene Schuß ihm das Gebiß zerschmettert hatte. Das war ohne Zweifel dem kämpfenden Biskuolm sehr zu statten gekommen. Der Umstand, daß er während des Ringens mit dem wüthenden Raubthiere sammt dem letztern bis dicht an den Rand des Abgrunds gerollt und nur wie durch ein Wunder dem zerschmetternden Sturze entgangen war, genügte, um ihn noch nach langen Jahren bei der Erinnerung an den gefährlichen Kampf mit Schauder zu erfüllen.

Launiger als das Vorhergehende klingt die Geschichte von dem Bergamasker Schäfer, der auf seinem Saumthiere über den Buffalora-Paß dahertrabte und dabei auf zwei junge Bären stieß. Die beiden Thierchen stießen erschrocken ein kleines Geschrei aus, worauf die Bärenmutter, ihre liebe Nachkommenschaft bedroht glaubend, wüthend herbeirannte und das Pferd anfiel, das jedoch seinerseits die tolle Angreiferin mit kräftigen Hufschlägen zu bedienen anfing, während der Hirt von seinem Rücken sprang. Bei den wiederholten Angriffen fällt der zottige Mantel des Schafhirten vom Pferd und der Bärin über das Gesicht. Darüber doppelt ergrimmt, [71] wühlt sie sich heraus und zerreißt das arme Kleidungsstück in hundert Fetzen. Der Hirt aber, nicht faul, fand es nicht gerathen, zu warten, bis die Bestie mit dieser Verrichtung zu Ende war; er machte es wie ein bekannter Held des alten Testaments, ließ seinen Mantel im Stich, schwang sich auf’s Roß und galoppirte in leicht begreiflicher Hast davon.

Es mag zwar, trotz des Gesagten, wahr sein, was die Naturforscher von unseren Bären, deren es bei uns drei Arten giebt – den großen schwarzen, den großen grauen und den kleinen braunen, nebst einer weißen, aber äußerst selten vorkommenden Spielart – behaupten, daß sie nämlich, im Ganzen genommen, ein so ziemlich gutmüthiges Vieh seien. Zu trauen aber ist den Burschen, die trotz ihrer gerühmten geraden, ehrlichen Manier, den Feind von vorne anzugreifen, denn doch den Nebel vortrefflich zu benutzen wissen, um einem fetten Rinde mitten in der Heerde auf’s Kreuz zu springen, nie so ganz, und wir gestehen, daß wir die hübsche Geschichte von dem Bären, der einem Erdbeeren suchenden Mädchen die süßen Früchte aus dem Körbchen naschte und sich dann forttrollte, ohne dem Kinde das Mindeste zu Leide zu thun, extra für Leute geschrieben erachten, die das Unglaubliche im Glauben zu leisten vermögen.

Die grausenerregende Unglücksgeschichte von dem englischen Capitain Lork, der vor ungefähr einem Jahre bei Nacht auf eine noch jetzt nicht aufgeklärte Weise in den Bärenzwinger zu Bern hinuntergerieth und da ein wahrhaft entsetzliches Ende fand, hat bewiesen, daß der Bär auch im wohlgefütterten und zudem halbzahmen Zustande eben immer ein gefährliches Raubthier ist, das diesen Charakter nur selten verleugnen wird. Es ist zwar richtig, daß der gewaltige männliche Bär im Zwinger eine gute Weile wartete, bevor er zum Angriff schritt, aber das Ende war darum nur um so fürchterlicher. Selbst der gezähmte Bär, der auf den Jahrmärkten herum mit seinen Tanzkünsten das Publicum ergötzen muß – ein Schicksal, das doch ganz geeignet sein sollte, den armen Petz vollkommen zahm zu machen, behält noch immer einen Rest der alten Tücke bei. Das hat jener Emmenthaler Bursche erfahren, der, zu einem der erwähnten Marktauftritte kommend, sich’s in den Kopf setzte, mit dem tanzenden Bären es im „Schwingen“ probiren zu wollen. Der Emmenthaler war nämlich einer jener nervigen, riesigstarken Ringkämpfer, die alljährlich an dem großen nationalen Schwingfeste zu Bern Theil nehmen, bei welcher Gelegenheit die berühmtesten Schwinger des ganzen Landes sich gegenseitig öffentlich zu messen pflegen. Der übermüthige junge Geselle, der schon so manchen wackern Gegner geworfen hatte, meinte in seiner Weinlaune, er werde es mit eben so guter Aussicht auf Sieg und Erfolg mit einem so elenden Bären wagen dürfen. Der Bärenführer machte zwar ein sehr bedenkliches Gesicht zu dem gefährlichen Unterfangen, gab jedoch am Ende seine Einwilligung, als der Kampflustige ihm ein Fünffrankenstück übergab, mit dem Bemerken, es behalten zu dürfen, falls sein Bär Sieger bleibe.

Jetzt ging’s unter gewaltigem Zusammenlauf des Marktpublicums los. Der Bär hatte zwar die üblichen kurzen Hosen nicht an, bei deren Gürtel und am Kniesaum sich die Schwinger beim Kampfe zu fassen pflegen; das genirte aber den Sohn des Gebirges wenig, das langhaarige Fell des Burschen that ja denselben Dienst und wurde auch sofort rüstig gepackt. Der Bär, der eben nicht recht begreifen mochte, um was es sich handle, brummte zwar ein wenig, fand aber keine rechte Zeit zum Widerstande. Der Schwinger wirbelte ihn fast gleich beim ersten Anpacken wie eine Feder in die Luft und schmiß ihn in sausendem Schwunge so mächtig und kunstgerecht auf den Rücken, daß dem guten Petz fast Hören und Sehen vergehen mochten.

Petz hätte nun freilich als guterzogener und regelrechter Schwinger sich fein ordentlich besiegt geben und seinen Gegner, den er im Fallen mit zu Boden gerissen, säuberlich loslassen sollen. Er verstand jedoch die Sache anders und schlang unter wüthendem Gebrumme die gewaltigen Pranken um den sehnigen Körper seines Besiegers, dem ob dieser illoyalen Umarmung bald der Athem zu entfliehen drohte. Der über seine Niederlage äußerst erbitterte Bär war nur durch die schlagenden Gründe seines Herrn zu bewegen, den fast erstickten Gegner loszulassen, der nachher sich ausdrückte, es komme ihm vor, als wären alle seine Rippen in einem Schraubstock zerknackt worden. Hätte der Bär nicht einen Maulkorb angehabt, so hätte es auch leicht zum Knacken kommen dürfen.

Uns ist nur ein einziger verbürgter Fall bekannt, daß ein Bär sich wirklich dankbar und nobel benommen hätte. Er ist jedenfalls launig genug, um ihn unsern Lesern zum Schlusse zu erzählen. Der vor einigen Jahren verstorbene langjährige Wärter des Bärenzwingers in Bern, ein hochbetagter Greis, hatte eines Morgens seinen lieben Mutzen, für die er eine wahre Anhänglichkeit hegte, und mit denen er auf möglichst vertrautem Fuße stand, das Futter in den hinter dem Zwinger angebrachten Stall gebracht, während die Bären draußen im Zwinger herum spazierten. Natürlich vermittelte sich der vertrauliche Verkehr zwischen dem sogenannten Bärenvater und seinen zottigen Pflegebefohlenen nur durch das schwere eiserne Fallgitter, das den Stall vom Zwinger trennte. Der Wärter hatte eben seinem Liebling, dem mächtig großen männlichen Bären, seinen Lieblingsleckerbissen, gelbe Rüben, zwischen den Gitterstäben durchgeschoben und sich dafür von dem dankbaren Thiere die Fingerspitzen belecken lassen, ein Spiel, das der Verfasser dieser Zeilen den guten alten Mann noch oft selbst hat treiben sehen. Hatte er das gethan, so pflegte er durch den Stall seinen Rückzug zu nehmen, von wo aus eine Thür auf die Treppe ging, die in seine Behausung hinauf führte. Hatte er diese Thüre hinter sich, so zog er dann mittelst einer da angebrachten, mit dem Zwingergitter in Verbindung stehenden Schnur das letztere wieder empor, um die Bären in den Stall zu lassen. Das that er denn auch diesesmal und wanderte ruhig weiter. Oben auf der Treppe angekommen, fiel’s ihm plötzlich ein, daß er vergessen habe, den Riegel der Thür hinter sich vorzuschieben, und daß diese daher bloß angelehnt sei.

Erschrocken wandte der alte schwerhörige Mann sich um, um eilig das Versäumte nachzuholen. – Es war schon zu spät – keine zwei Schritte von ihm wandelte der männliche Bär, mit seiner riesigen Gestalt fast das enge Treppenhaus ausfüllend, gravitätisch, aber ohne Zeichen von böslichen Absichten, daher; aber dicht hinter ihm folgte das Weibchen mit zornigem, dem Wärter alle Nerven durchschütterndem Brummen. In diesem fürchterlich kritischen Momente fiel dem vor Alter schon fast kindischen Greise ein seltsames Auskunftsmittel bei, um den gefährlichen Nachbar zum Rückzuge zu bewegen. Er schaute das Thier mit vorwurfsvollen Blicken an und hielt ihm im eindringlichsten Tone alle die vielen Wohlthaten vor, die er ihm während seines langen Aufenthalts im Zwinger erwiesen, zählte die vielen „Rübli“ auf, die er ihm gespendet, und endete mit den freilich selbst für ein Bärenherz rührenden Worten: „Lueg, Mani, du bist d’r undankbarst Bursch vo der Welt, wenn d’ di jetzt nit abemachst!“

Und richtig, der Mani, wie der gewaltige Bär von der bernischen Bevölkerung genannt wurde, wurde von dem moralischen Gewichte dieser Gründe überwältigt und machte langsam und gravitätisch „kehrt“. Das Weibchen aber war nicht so leicht zu rühren und suchte zähnefletschend neben dem weichherzigen Gemahl vorbei und an den Bärenwärter zu kommen. Der gestrenge nun auf seine Oberherrlichkeit eifersüchtige „Mani“ vermerkte das jedoch sehr übel und schlug seine Frau mit einem einzigen wuchtigen Hiebe seiner gewaltigen Pranke so effectreich hinter die Ohren, daß sie, wie aus einer Bombe geschossen, die Treppe hinünterflog und in den Stall zurückkollerte, wohin er ihr auch sofort nachfolgte und es ruhig geschehen ließ, daß der an allen Gliedern zitternde Wärter die Thür hinter ihm festriegelte. Der alte Wärter büßte mit schwerer Krankheit seine Unvorsichtigkeit.

Auch bei dieser Gelegenheit hat sich die von den Naturforschern gemachte Beobachtung bestätigt, daß die weiblichen Bären viel grimmigeren und gefährlicheren Naturells seien, als die männlichen. Es wird Leute geben, die wegen dieser Thatsache kaum erstaunen werden. Der noble „Mani,“ der bei dieser Geschichte eine so schöne Rolle spielte, befindet sich gegenwärtig ausgestopft im Museum der Naturgeschichte zu Bern, wo er noch jetzt durch seine riesige Größe und gewaltigen Formen die Bewunderung der Beschauer erregt.

A. Bitter.



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Die deutsche Expedition nach Mittelafrika und ihre Gegner.

Als vor nunmehr zwei Jahren die „Gartenlaubezuerst und gleichzeitig die Zeitschrift „Aus der Heimath“ die erste Anregung und namentlich die Gartenlaube die bestimmte Aufforderung brachte, zur Erforschung der Schicksale des muthigen Reisenden Eduard Vogel eine Expedition auszurüsten, bewies die rege, lebendige Theilnahme, welche sich überall zu erkennen gab, wie hoch sich das deutsche Bewußtsein gegen früher hin erhoben hatte. Das deutsche Volk zeigte sich seiner würdig. Es nahm mit einem Schritt eine Stellung ein, um welche alle Gutgesinnten die Engländer und Nordamerikaner mit Schmerz hatten beneiden müssen. Eine begeisternde Bewegung ging durch das deutsche Land. Es galt, nach unserem Franklin zu fragen; es galt die hierzu nöthigen Mittel zusammen zu bringen. Der edelsten Fürsten einer trat an die Spitze der Bewegung, und die Gaben flossen reichlich von allen Seiten her.

Das deutsche Volk wollte der Welt beweisen, daß es wohl das Eine zu würdigen weiß, durch welches es herrscht unter den gesitteten und gebildeten Menschen der Erde: – die deutsche Wissenschaft! – jene Wissenschaft, welche selbst unsere eitelsten und ruhmsüchtigsten Nachbarn nicht anzutasten wagen; jene Wissenschaft, welche die Ehre des deutschen Namens aufrecht halten mußte in Zeiten, wo diese Ehre verpfändet, fast vergessen schien. Deshalb rüstete man nicht einfach Boten aus, welche nur hingehen sollten, um nach Vogel zu fragen, sondern wählte eine jenes muthigen Vorkämpfers deutscher Wissenschaft würdige Gesandtschaft. Die Wahl war schwer. Es galt nicht bloß, Leute zu finden, deren Wissen und Wissensdrang mit freudigem Opfermuth sich paart, sondern wissenschaftliche Männer, von denen wenigstens einige auch Erfahrungen mitbrachten, welche durch keine Schätze aufgewogen werden können, – Männer, welche Afrika erprobt, welche die Tücke seines Klima’s und die Tücken seiner Eingebornen kennen gelernt und dadurch Mittel gefunden hatten, diesen beiden gewaltigen und noch hundert anderen Hindernissen zu begegnen. Man konnte keinen Besseren wählen, als Theodor v. Heuglin.

Dieser Reisende und Forscher hatte vorher acht Jahre lang in Afrika gelebt und als österreichischer Consulats-Beamter gerade diejenigen Länder und Völker kennen gelernt, um welche es sich für die Expedition zunächst handelt; er hatte schon hinreichende Proben seiner Befähigung gegeben: kurz, die Wahl mußte als eine durchaus glückliche betrachtet werden. Dies zeigte zunächst die Kreuzzeitung. Sie schleuderte gegen den Erwählten ihre Verdächtigungen und Schmähungen; – Beweis genug, daß ihr der Mann unliebsam war, welcher sich außerdem beliebt gemacht hatte.

Heuglin wählte sich Begleiter, wie sie ihm tauglich schienen. Er traf seine schwierige Wahl aus einer großen Anzahl opferfreudiger Männer, und bis jetzt steht so viel fest, daß seine Auswahl im Ganzen ebenfalls eine glückliche genannt werden muß.

Die deutsche Expedition verließ Europa im Anfange des verflossenen Jahres und ging zunächst nach Aegypten, um sich hier in Alexandrien und Kairo mit den noch nöthigen Reisebedürfnissen zu versehen und vor Allem die Schutz- und Geleitsbriefe zu erhalten, welche zu derartigen Reisen unerläßlich sind. Nur wer aus Erfahrung weiß, wie außerordentlich schwerfällig und zeitraubend alle Unterhandlungen mit Türken und Arabern sind, kann es begreiflich finden, daß die Expedition zu diesem Zweck einige Wochen in Aegypten verweilen mußte. Als man endlich fertig war und die nöthigen Leute angeworben hatte, traten die Reisenden ihren Weg an. Derselbe war ihnen durch den Ausschuß der Expedition in Gotha so genau als möglich vorgezeichnet. Man war überein gekommen, zunächst das rothe Meer als Straße zu benutzen und von Massaua aus nach Westen hin vorzudringen. Die Regenzeit sollte in den Gebirgsländern der Bogos abgewartet werden und zwar aus dem einfachen Grunde, um die Leute nicht gleich im Anfang des Unternehmens dem höllischen Klima des Ostsudahn aufzuopfern. Bei dem länger währenden Aufenthalt in den genannten Gebirgsländern handelte es sich um das Bestehen und Gedeihen des Unternehmens. Nur Heuglin und Munzinger konnten gewissermaßen als Eingebürgerte betrachtet werden; sie hatten die für alle Neulinge in den Tropen unheilschwangere Frühlingszeit bereits mehrmals durchlebt und kannten die Gefahren des Klima’s und die Art und Weise, vor ihnen sich möglichst zu schützen. Die übrigen Mitglieder würden wahrscheinlich nicht einmal Chartum erreicht haben, wenn man ohne Vorbereitung geradenwegs auf das Ziel losgegangen wäre. Gleich bei der Ankunft in Ostafrika erkrankten Einige der Reisegesellschaft, und Dies mahnte in eindringlicher Weise zur Vorsicht. Sie genasen, sobald die Expedition die ungesunden Tiefländer verlassen hatte und nach den reinen Höhen aufbrechen konnte. Die Zeit des Aufenthaltes in den Ländern der Bogos war übrigens keine Zeit des Müßigganges, kaum eine der Erholung; zu wirken und zu schaffen gab es genug: die bereits eingesandten, noch zu erwähnenden Arbeiten geben Zeugniß davon.

Dies ist, in kurzen Worten ausgedrückt, die bisherige Geschichte der Expedition.

Wie es mit allen großartigen Unternehmungen zu gehen pflegt, so auch hier. Heuglin und seine Gefährten sind bereits vielfach angegriffen und verdächtigt worden. Persönliche Feinde des Ersteren haben von Aegypten her gewirkt und andere Feinde in Deutschland treulich geholfen. Man hat Heuglin der allerverschiedensten Dinge beschuldigt und ihm nicht nur Ehrlichkeit und Redlichkeit, sondern auch alle Befähigung zu seinem schwierigen Amte abgesprochen. Als nun vollends die Nachricht einlief, Heuglin beabsichtige, nicht auf geradem Weg nach Wara zu gehen, häuften sich die Angriffe, Schmähungen und Verdächtigungen; selbst unsere Gartenlaube, welche für Alles wacker ankämpft, was deutschen Ruhm befördern kann, lieh ihnen Raum und Stimme. Ich würde zur Entgegnung aller Beschuldigungen der deutschen Expedition niemals eine Feder angesetzt haben, hätte nicht ein Mann seinen Namen in die Wagschale geworfen, auf dessen Forschungen und Leistungen das ganze Deutschland stolz zu sein alle Ursache hat. Dieser Mann ist – vorausgesetzt, daß die erhaltenen, öffentlich umlaufenden Nachrichten der Wahrheit entsprechen, – kein geringerer als Dr. H. Barth, der berühmte Afrikareisende.

Wenn irgend Jemand Hochachtung hat vor Dr. Barth’s Reisen, Arbeiten, Forschungen, Erfolgen, so bin ich es. Um so schwerer wird es mir, ihm hier gegenüber zu treten. Aber hier gilt es der Sache, nicht Personen. Und Dr. Barth wird es mir gewiß verzeihen, wenn ich weder seine Ansicht, noch seine Handlungsweise hinsichtlich der deutschen Expedition gut heißen kann. Ich meine, daß alle Diejenigen, welche für das große Unternehmen Theilnahme zeigen, sich vereinigen und verbinden müßten, um den jetzt in Afrika weilenden Reisenden ihre so schwierige Aufgabe erleichtern, ihnen es möglich machen zu helfen, die Expedition zu Ruhm und Ehre des deutschen Namens zu Ende zu führen. Für Dr. Barth’s Leistungen bin ich mehr noch, als Andere, ein Bewunderer; in dieser Angelegenheit muß ich ihm Gegner sein. Gerade in diesem Falle beanspruche auch ich gehört zu werden; denn auch ich kenne die Länder, um welche es sich handelt; ich selbst habe in ihnen jahrelang gelebt und gearbeitet.

Dr. Barth hat meiner Ueberzeugung nach Unrecht gethan, jetzt schon die deutsche Expedition anzugreifen. Er mußte bedenken, daß seine Worte die von tausend Andern aufwiegen; er mußte die goldene Wahrheit im Auge behalten, daß bei allen derartigen Unternehmungen die Ergebnisse entscheidend sind; er mußte sich erinnern, daß er selbst rücksichtslos angegriffen wurde, als er, unfähig sich zu vertheidigen, in Afrika weilte und wirkte; er mußte endlich erwarten, daß Heuglin ebenso gut Vertheidiger finden würde, wie er sie fand in seinem treuen Freunde Petermann[1]. Wie glänzend hat dann Barth sich selbst gerechtfertigt! Wie verstummten seine Neider und Feinde, als er sein gewaltiges Werk veröffentlichte! [73] Die deutsche Expedition wird, wenn man sie wirken und arbeiten läßt, ein gleiches Endergebnis erlangen; sie wird, wenn man ihr die Mittel entzieht, gelähmt werden, noch ehe sie eigentlich zu arbeiten begonnen. Dies muß Jedem klar werden, welcher mit den afrikanischen Verhältnissen vertraut ist; und eben deshalb glaube ich schon jetzt und an diesem Orte das Unternehmen vertheidigen zu müssen, selbst einem Barth gegenüber.

Aus den letzten Nachrichten, welche von den Reisenden eingegangen sind, erfahren wir, daß die Expeditionsmitglieder beschlossen haben, sich zu trennen. Daraus geht aber durchaus nicht hervor, daß sie ihr eigentliches Ziel aus den Augen verloren hätten. Dieses Ziel, „die Aufklärung der Schicksale Eduard Vogel’s, die Rettung seiner Papiere und die Vollendung seines wissenschaftlichen Unternehmens“, wird nach wie vor die Aufgabe der Expedition bleiben. Herr von Heuglin ist mit dem Plane umgegangen, von den Bogosländern aus durch Abyssinien nach Kaffa vorzudringen und von dort auf dem Sobat und dem weißen Nil nach Chartum zurückzukommen, statt einen directen Weg nach Chartum, dem Ausgangspunkt für die Reise nach Wadai, einzuschlagen. Eine solche Erweiterung des ursprünglichen Planes hat den Ausschuß in Gotha so überrascht, daß er sich damit nicht hat einverstanden erklären können. Er hat demzufolge Heuglin aufgefordert, an vereinbarten Plane festzuhalten und mit möglichster Beschleunigung die Reise nach Wadai fortzusetzen. Zugleich sind die Herren Munzinger und Kinzelbach ermächtigt und mit den nöthigen Mitteln versehen worden, um allein nach Wadai vorzudringen. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Heuglin der Aufforderung des Ausschusses eben wird nachkommen müssen, wodurch er dann freilich auch die gerechteste der Beschuldigungen ohne Weiteres widerlegen wird.

Aber gesetzt auch, er habe seinen Plan wirklich zur Ausführung gebracht, so ist meines Erachtens noch immer kein Grund vorhanden zu der Behauptung, daß das gesetzte Ziel aus dem Auge verloren worden sei. Nach §. 3 der Instruction, welche Heuglin vom Ausschuß erhalten hat, steht ihm die ausschließliche Leitung des ganzen Unternehmens zu. „Bei wichtigen Veranlassungen wird,“ so heißt es, „Heuglin nicht unterlassen, mit seinen wissenschaftlichen Begleitern in Berathung zu treten.“ Es versteht sich von selbst, daß der Leiter einer solchen Expedition im Sinne dieses Paragraphen auch das vollste Recht besitzt, nach seinem Dafürhalten die Reise einzurichten, also unter Umständen auch die Expedition selbst zu theilen. Das Letztere würde Heuglin’s Plane nach erfolgt sein, ja, es ist sogar möglich, daß es erfolgt ist. Aber dann ist es geschehen mit Zustimmung der übrigen Reisenden und in der vollsten Absicht und Ueberzeugung, gerade durch diese Theilung dem Unternehmen selbst auf das Beste zu nützen. Aus den erwähnten Nachrichten geht hervor, daß unter den mohammedanischen Völkerschaften im Westen Abyssiniens seit dem Tode Abd-el-Medschid’s eine so bedenkliche Gährung herrscht, daß es Thorheit für christliche Reisende wäre, ehe die Aufregung sich gelegt, jene Länder zu bereisen, in welchen anerkannter Maßen eine im höchsten Grade glaubenseifrige und mißtrauische mohammedanische Bevölkerung wohnt. Aus Dr. Barth’s Werke ersehen wir nur zu deutlich, welchen Gefahren der in Afrika reisende Europäer gerade seines Glaubens wegen ausgesetzt ist. Barth selbst ist aus diesem Grunde öfter in Lebensgefahr gekommen, als durch die Einwirkungen des Klima. Ich meinestheils kann nur bestätigen, daß viele Sudahnesen geneigt sind, zur Ehre Gottes einen Christen umzubringen. Ich selbst habe zwar von dem Glaubenseifer jener beschränkten Menschen nicht zu leiden gehabt; aber ich habe auch keinen Anstand genommen, mich an den Orten, wo es mir unnöthig erschien, mit meinem Christenthume zu prahlen, als gläubigen Muslim auszugeben. Dies kann jedoch nur ein mit den Verhältnissen innig vertrauter, der arabischen Sprache vollkommen mächtiger Europäer thun. Unsere Reisenden würden sehr bald als Christen erkannt und darnach behandelt werden. Dieser eine Punkt ist wichtig genug, um ein Zögern Heuglin’s nicht nur zu rechtfertigen, sondern sogar zu gebieten. Was nun ist natürlicher, als daß zwei begeisterte Forscher, wie Heuglin und Steudner es sind, bis zu der hoffentlich bald eintretenden Aenderung der Verhältnisse nicht müßig liegen, sondern in Ländern arbeiten wollen, welche ihnen und der Wissenschaft die reichste Ausbeute versprechen?

Durch freie Vereinbarung unter den verschiedenen Mitgliedern ist von Munzinger und Kinzelbach der Beschluß gefaßt worden, allein nach Wara vorzudringen. Unsere Naturforscher erhalten dadurch um so mehr die Berechtigung, auf ihrem Felde zu wirken. Die Anzahl der Reisenden hat für die Möglichkeit des Gelingens solcher Expedition keinen Einfluß. Meines Erachtens ist es sogar besser, wenn nur eine geringe Zahl oder ein Einzelner es versucht, nach Dar el Fuhr und Wadai vorzudringen. Heuglin und Steudner werden also, selbst wenn sie jenen vielversprechenden Umweg ausführen, immer noch zur rechten Zeit für die Reise nach Wadai in Chartum eintreffen.

Nun ist aber gegenwärtig noch ein anderer Sendbote des Ausschusses der Expedition nach Wara unterwegs, ein ebenfalls bereits erprobter Reisender, Herr von Beurmann. Derselbe hat vom Ausschuß in Gotha die nöthigen Mittel erhalten und ist bereits über Marseille nach Bengasi abgereist. Von Bengasi aus wird er entweder über Siwa oder über Mursuk durch die östliche Sahara auf Wadai vorzugehen suchen; und somit wird das Ziel gegenwärtig nicht nur von einer, sondern von zwei Seiten erstrebt.

Unter diesen Umständen halte ich es geradezu für ein nicht zu sühnendes Unrecht, wenn man unsern beiden wackern Naturforschern verwehren will, auf dem von ihnen erwählten Wege und in der von ihnen beschlossenen Weise vorzudringen, zu arbeiten und zu wirken. Man hat eben eine wissenschaftliche Expedition ausgesendet, und das deutsche Volk hat ein Recht, zu verlangen, daß seine Sendbotschaft sich der deutschen Wissenschaft würdig zeige. Um nach Vogel zu fragen, genügten einfache Boten. Man konnte von Chartum oder von Mursuk aus Araber nach Wadai schicken; man konnte die Binnenhändler beauftragen und würde durch solche Leute schließlich über Vogel’s Schicksale vollkommen in’s Klare gekommen sein. Dies wollte man aber nicht, sondern man wollte, daß die Expedition ihre eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse haben solle. Man sandte eigentlich eine durchaus selbstständige wissenschaftliche Expedition nach Mittelafrika ab. Wenn man diese nun verdächtigen oder angreifen will, hat man, wie ich glaube, nur darnach zu fragen: ob die Mitglieder des Vertrauens, welches die wissenschaftliche Welt in sie setzt, würdig oder unwürdig sind; ob sie wirklich Etwas leisten oder nicht. Ueber diese Fragen können bloß die Herren entscheiden, denen die Arbeiten der verschiedenen Mitglieder unserer Expedition zugegangen sind und fernerhin zugehen werden. Ich kenne diese Herren nur theilweise und habe deshalb nicht an alle die gleiche Bitte richten können, mir ihre Ansicht über die deutsche Expedition mitzutheilen; aber ich denke, daß die Urtheile von denen, welche ich befragen konnte, wohl genügend sein dürften, das deutsche Volk über seine Sendbotschaft aufzuklären, und hoffe, daß da, wo Größen der Wissenschaft sprechen, wenigstens diejenigen verstummen werden, welche nicht, wie Dr. Barth, die Ehre genießen, jenen wissenschaftlichen Größen gleich zu stehen.

Um Thatsächliches zu bieten, will ich bemerken, daß die bisher eingesandten Arbeiten der deutschen Expedition von einem unermüdlichen Fleiße und einer ungewöhnlich hohen wissenschaftlichen Befähigung Zeugniß geben; daß diese Arbeiten jedenfalls ein leuchtender Stern mehr sein werden in dem Strahlenglanze deutscher Wissenschaft. Diese Meinung mögen die nachfolgenden Urtheile bestätigen. Ich hatte die Ehre, von dem Präsidenten der kaiserlich leopoldinisch-carolinischen deutschen Akademie, Dr. Kiefer, von dem als Ornitholog hochberühmten Dr. Hartlaub und von Dr. Petermann Antworten auf meine Anfrage zu erhalten. Sie mögen hier folgen:

„Nachdem ich schon früher und noch gestern nachträglich von unserm verehrten Reisenden, Herrn Hofrath von Heuglin, d. d. Kérén im Bogoslande Ostafrikas, September 1861, höchst interessante zoologische Beiträge zur Fauna Ostafrikas erhalten habe (welche bereits zum Druck, theils in die Leopoldina III. Nr. 2, theils in den 29. Band der Verhandlungen der kaiserlich leopoldinisch-carolinischen deutschen Akademie abgegeben worden sind), kann ich aus voller Ueberzeugung Ihrem Wunsche entsprechend erklären:

Daß die bisher eingegangenen Berichte des Herrn von Heuglin, so weit sie mir vorliegen, von einem unermüdlichen Fleiße, großer Kenntniß und stetem Eifer des Herrn von Heuglin die sichersten Documente abgeben und ihn als den würdigsten Träger einer Sendbotschaft des deutschen Volkes beurkunden, welche von dem allseitigen Interesse der Nation getragen und unterstützt wird, und zur Förderung der Wissenschaft und der Ehre des deutschen Namens gereichen wird und muß. [74] Ich füge hinzu, daß es eine traurige Erscheinung ist, daß Herr Dr. Barth in leidenschaftlicher, egoistischer Aufregung es sich zur Pflicht gemacht zu haben scheint, den in weiter Ferne weilenden und der Mittel zur Vertheidigung entbehrenden Herrn von Heuglin zu verdächtigen und der großartigen Expedition Hindernisse in den Weg zu legen. Absentem qui rodit amicum, … hic niger est, sagt der alte Horaz.

Ihnen das Vorstehende zu freier Verfügung stellend, beharre ich in vollkommenster collegialischer Hochachtung und Ergebenheit

     Jena, den 26. December 1861.

Der Präsident der kaiserlichen leopoldinisch-carolinischen deutschen Akademie.

          Dr. D. G. Kiefer.“ –

„Die mir bisher zugekommenen ornithologischen Reisearbeiten Heuglin’s sind trefflich und verdienen jedes Lob. Der neuentdeckten Arten werden mit Sicherheit etwa zehn, vielleicht noch mehr sein. Darauf kommt es ja aber gar nicht so sehr an. Die Hauptsache bleibt, daß Heuglin sich durchaus als aufmerksamer, geübter und fleißiger Beobachter der Lebensweise und der geographischen Verbreitung kund giebt; und als solcher hat er schon jetzt höchst Werthvolles geleistet. Unsere Wissenschaft darf sich ohne allen Zweifel das Beste von seinen Reiseunternehmungen versprechen. Weiteres sage Ihnen Petermann.

     Bremen, 27. December 1861.

          Dr. Hartlaub.“ –

„Am 15. December vorigen Jahres ist von der afrikanischen Expedition unter Th. von Heuglin’s Leitung eine größere sehr werthvolle Sendung von Briefen, Tagebüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen, Karten und Zeichnungen in Gotha angelangt, welche den jetzigen Stand des Unternehmens überblicken lassen und ein glänzendes Zeugniß von dem wissenschaftlichen Eifer des Reisenden ablegen.

Der Aufenthalt in den Bogosländern wurde zu umfassenden, ungemein erfolgreichen Forschungen über die Geographie und Naturgeschichte jener kaum erst aus dem Dunkel hervorgezogenen Landschaften benutzt, zu Forschungen, welche auch für die späteren wissenschaftlichen Leistungen der Expedition die freudigsten Hoffnungen erwecken. Zwei ausführliche Karten des oberen Ain-Saba-Gebietes und der an die Bogos nordwestlich angrenzenden Maria-Länder, gezeichnet von Heuglin, begründet auf astronomische Positionen, zahlreiche Winkelmessungen, genaue Routenaufnahmen und Höhenbestimmungen, gehören zu dem Vorzüglichsten, was mir während meiner geographischen Praxis von 23 Jahren als Ergebniß derartiger Expeditionen vorgekommen ist. Gleich musterhaft sind die ausführlichen Routenbeschreibungen und vielseitigen Notizen in Munzinger’s Tagebuch, welches außerdem die reichhaltigsten Fortsetzungen und Nachträge zu seinen früheren geographischen, linguistischen und ethnographischen Mittheilungen über die Bogos, Mensa, Habab, Maria und Barka enthält. Dazu kommen noch vollständige Reihen meteorologischer Beobachtungen, die botanischen Arbeiten Dr. Steudner’s, die ich noch nicht einsehen konnte, da sie nach Berlin adressirt waren, sowie endlich eine ganze Reihe zoologischer Berichte von Heuglin, zum großen Theil mit der Beschreibung neuentdeckter Arten angefüllt. Wir können nach diesen Arbeiten die Länder am oberen und mittleren Ain Saba, welche noch vor wenigen Jahren nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, den am genauesten erforschten Theilen Afrika’s beizählen; ein Ergebniß, welches neben dem rastlosen Eifer und den hervorragenden Talenten des Herrn von Heuglin hauptsächlich dem Zusammenwirken so vieler tüchtiger Kräfte zu danken ist und der Expedition zur größten Ehre gereicht.

     Gotha, 28. December 1861.

          Dr. A. Petermann.“

Nach diesen Zeugnissen habe ich keine Worte mehr zu verlieren. Das ganze deutsche Volk ist glücklicher Weise gebildet genug, um solche Arbeiten ihrer vollen Bedeutung nach zu würdigen. Aber ich kann nicht umhin, an diese Mittheilungen die Bitte anzuschließen:

          die wackeren Reisenden auch fernerhin mit den nöthigen Mitteln zu versehen.

Eine Expedition in Afrika kostet Geld, viel Geld; jedoch Deutschland ist reich genug, seine Sendbotschaft mit den nöthigen Mitteln zu unterstützen. Ich fordere deshalb zu wiederholten Beiträgen für die deutsche Expedition auf und bitte alle Gebildeten, welche für deutsche Wissenschaft und deutsche Forschung Theilnahme zeigen, sich den Sammlungen freundlichst unterziehen zu wollen. Und alle Diejenigen, welche mit mir einverstanden sind, ersuche ich, dahin wirken zu helfen, daß das großartige Unternehmen seinen ungestörten Fortgang habe zu Ruhm und Ehre des Vaterlandes.

Die deutsche Expedition ist eine deutsche Sache; sie wird ein Sieg mehr sein auf dem Felde, wo wir noch nie geschlagen wurden; sie wird dazu beitragen, dem deutschen Namen im Auslande zu neuer Ehre und zu neuem Ruhme zu verhelfen. Denen aber, welche ihre Spenden, sie seien so gering als sie wollen, in dieser Weise auf den Altar des Vaterlandes niederlegen werden, sage ich im Voraus meinen wärmsten Dank! Sie werden durch ihre Gaben beweisen, daß sie in dem Einen mit mir einstimmend sind: darin, daß die deutsche Expedition eine wissenschaftliche ist und als solche ihre eigenen Ergebnisse bringen muß!

Brehm.





Strafpredigt für Mütter und Erzieher.

Die Verziehung des Menschen in seinen ersten Lebensjahren.


Jede Unart, die ein Kind an sich hat, ist ihm anerzogen worden, und wird der Erwachsene einst zum Verbrecher, so trägt nur die schlechte Erziehung in seiner ersten Jugend die Schuld davon. Denn Verbrecher werden ebensowenig wie edle Menschen geboren, immer nur erzogen. Deshalb wird auch jeder echt menschlich fühlende Gebildete den Verbrecher stets nur als einen Unglücklichen ansehen können, der weit weniger für sein Verbrechen verantwortlich zu machen ist, als seine ersten Erzieher. – In der Regel beurtheilt man, aber ganz mit Unrecht, die Erziehung eines Menschen erst von den Schuljahren an und nimmt auf die Behandlung des Kindes in den ersten Lebensjahren gar keine Rücksicht, obschon diese Jahre gerade für das ganze zukünftige Leben die allerwichtigsten sind und der Mensch eigentlich schon in seinem 4.–6. Lebensjahre die Grundlage der Moral für’s ganze Leben gelegt haben sollte. – Die meisten Eltern glauben leider ihrer Verpflichtung als Erzieher vollständig Genüge geleistet zu haben, wenn sie ihre Kinder nur in die Schule schicken, ohne zu bedenken, daß hier wohl der Geist gebildet wird, die wirkliche Erziehung aber schon früher im Hause vollendet sein mußte. Und diese häusliche Erziehung liegt hauptsächlich der Mutter ob; ihr gehören die frühesten und tiefsten Einwirkungen auf das Kind an, so daß die Erziehung des Menschen größtenteils aus dem Schooße der Mutter vollendet wird. Unterrichten und belehren läßt sich ein mündig gewordener Mensch wohl noch, erziehen aber nicht mehr. Also, Ihr Mütter! erziehet, so lange es noch Zeit dazu ist, und nehmt Euch Jean Paul’s Ausspruch zu Herzen: „Verächtlich ist eine Frau, die Langeweile haben kann, wenn sie Kinder hat.“ Aber freilich, um gut erziehen zu können, müßt Ihr Mütter selbst gut erzogen sein und als Erzogene leben und handeln.

Warum werden denn nun aber die meisten Kinder in den ersten Lebensjahren schon verzogen, und warum kommen sie schon, wie die Erfahrung lehrt, mehr oder weniger moralisch verkrüppelt in die Hände der Lehrer? Nur deshalb, weil die ersten Erzieher, zumal die Mütter, in dem unglückseligen Wahne befangen sind, daß, wenn beim Kinde nur erst der Verstand kommt, damit auch ohne Weiteres Folgsamkeit, sowie die Erkenntniß von Gut und Böse kommen wird. Ja, manche Mütter leben sogar in dem Aberglauben, daß einem Kinde bestimmte Untugenden ebenso wie Tugenden angeboren sein können, so daß gegen die ersteren nichts auszurichten sei und letztere auch ohne Nachhülfe sich entwickeln würden. Sie wissen zu ihrem und ihrer Kinder Unglück gar nicht, daß der Verstand nun und nimmermehr in einem bestimmten Alter in das Kind hineinfährt, sondern daß er vom ersten Augenblick des Lebens an ganz allmählich durch Sinneseindrücke im Gehirne angefacht [75] wird. Sie wissen ferner nicht, daß aus dem neugebornen Menschen, ebenso wie aus einer weichen Modellirmasse, je nachdem diese in die Hände eines Geschickten oder eines Stümpers geräth, ebensowohl etwas Gutes wie Schlechtes hervorgehen kann, und daß durch frühzeitige Gewöhnung ein Mensch, wenn er sonst nur mit gesunden Organen (besonders mit einem gesunden Gehirn) geboren wurde, in körperlicher, geistiger und moralischer Beziehung einen sehr hohen Grad von Vollkommenheit erreichen kann.

Zur Zeit überläßt man aber die erste Erziehung des Menschen größtentheils nur dem Zufalle, bei dem die Ammen, Kindermädchen und Kindermuhmen, Tanten und Großmütter eine Hauptrolle spielen, und die allermeisten Eltern, bauend auf die spätere Besserung ihrer Kinder durch die Schule, thun ihr Möglichstes in der Sitten-, Willens- und Verstandesverderbniß derselben. Macht dann aber die Schule aus solchen Rangen keine so guten und klugen Kinder, als die Eltern wünschen, dann schreiben diese den armen Lehrern, nicht aber sich selbst, die Schuld davon zu. Und solcher einfältigen Eltern giebt es sehr viele und ganz besonders auch unter den sogen. bessern Ständen.

Aber auch die guten Leistungen eines kleinen Kindes beurtheilt man in der Regel ganz falsch, indem man sie stets ohne Weiteres einem angebornen Talente (einer Anlage) zuschreibt, ohne sich darum zu kümmern, unter welchen Verhältnissen jenes Kind bis zu der Zeit lebte, als man auf seine Leistungen aufmerksam wurde. Forscht man aber genau darnach, so ergiebt sich stets, daß in den ersten Lebensjahren des Kindes solche Momente eingewirkt haben, die das sogen. Talent zur Entwickelung brachten. Ohne Zweifel hat es der Mensch in seiner Macht, aus dem Kinde ein Genie zu erziehen, nur muß er mit der Erziehung dazu gleich nach der Geburt des Kindes anfangen.

Womit beginnt denn eigentlich das Verziehen des Kindes? Mit dem Herumtragen, Schaukeln, Wiegen, Einbischen und Einsingen. Auch das kleinste Kind gewöhnt sich nämlich sehr bald so an jene Bewegungen, daß es schreit, wenn es dieselben entbehren soll. Da nun die Angehörigen das schreiende Kind sofort durch das Herumtragen u. s. f. zu beruhigen suchen, so lernt das Kind nach und nach durch Schreien seine Wünsche zu erreichen, seinen Willen durchzusetzen und wird eigensinnig, trotzig, dickköpfig. Läßt sich ein schreiender Säugling nur durch Herumtragen u. s. f. besänftigen, so ist er sicherlich schon verzogen, und es muß ihm so schnell als möglich durch Liegen- und Schreienlassen, ja sogar durch einige Klitsche auf das Gefäß, diese Unart wieder abgewöhnt werden. – Es sei hierbei den Müttern gesagt, daß sie beim Schreien eines gutgezogenen, gesunden, kleinen Kindes die Ursache des Schreiens stets nur zu suchen haben: 1) im Mangel an Nahrung, und dann hört das Kind sofort auf zu schreien, wenn es zu trinken bekommt; 2) im Naß- und Kaltliegen, und dann wird frische warme Wäsche das Schreien stillen; 3) in Luftanhäufung im Darme, und dann wird ein Klystier von warmem Wasser, sowie Reibungen des Bauches das Kind still machen. Aber die allermeisten Kinder schreien aus Ungezogenheit.

Man bedenke doch, daß der Mensch in der ersten Zeit seines Lebens, weil die Hirnthätigkeit durch Sinneseindrücke noch nicht gehörig erweckt ist, ohne alles Bewußtsein lebt und daß seine Bewegungen und sein Schreien rein automatisch (durch Nervenreflex erzeugt) sind. Nach und nach erst bildet sich durch wiederholte Eindrücke auf die Empfindungsnerven und das Gehirn, also durch Gewöhnung, das Behaglichkeits- und Unbehaglichkeitsgefühl aus. Es dauert lange, ehe das Kind die Einzeleindrücke unterscheiden lernt. Ueber die Zunge des Säuglings muß erst einige Zeit die süße Muttermilch geflossen sein, ehe er sie als angenehm schmeckt, vorher nimmt er eben so leicht die bittersten Stoffe, wie die Brust der Mutter. Gerade so verhält es sich mit allen andern Empfindungen, und man hat es deshalb in der Hand, dem Kinde durch Gewöhnung eine Menge von Empfindungen zum Bedürfnisse zu machen, die, wenn sie dann einmal nicht erregt werden, das Kind zum boshaften Schreien und Erzwingen des Gewünschten antreiben. – Die Hauptregel bei der geistigen Erziehung des jungen Menschen, und zwar schon des Säuglings, ist deshalb: Alles vom Kinde abzuhalten, an was es sich nicht gewöhnen soll, dagegen das, was ihm zur andern Natur werden soll, beharrlich immer und immer zu wiederholen. Man lasse sich gesagt sein, daß das Kind schon Eindrücke für das ganze Leben aufnimmt, noch ehe wir oft denken, daß überhaupt Etwas Eindruck auf dasselbe macht.

Ist nun dem Kinde dadurch, daß seinem Schreien zur Erreichung seines Willens von Seiten der Erzieher stets nachgegeben wurde, Eigensinn und Trotz anerzogen worden, so bildet sich bei demselben allmählich neben Willensschwäche die entschiedenste Willkür aus. Denn anstatt durch Ueberwinden von Hindernissen und durch selbstständige Anstrengungen von Seiten des Kindes demselben Willenskraft anzuerziehen, lassen sich die Eltern und Wärterinnen durch Schreien und Weinen des Kindes, ganz nach Willkür der verzogenen Krabbe, alle möglichen Hilfsleistungen abzwingen. Ja, manche Eltern sind sogar stolz auf den festen Sinn ihres Kindes, wie sie den Eigensinn desselben zu nennen belieben, und wünschen geradezu, daß diesem Eigensinne stets Folge geleistet werde. Da braucht man sich dann freilich nicht zu wundern, daß solche Kinder nur das thun und lassen, was ihnen gerade behagt, daß ihre Willenskraft sich nicht, wie es doch sein sollte, zum Wollen und Thun des Guten entwickelt, und daß von Selbstbeherrschung und Gehorsam, der Haupttugend eines Kindes, nicht die Rede sein kann. Man werfe nur einige Blicke in die Kinderstuben und man wird reichliche Gelegenheit haben, zu bemerken, welche Willkürherrschaft weinende Kinder über die Angehörigen ausüben und wie diese letztern als folgsame Sclaven unartiger Kinder von diesen Alles abzuhalten und denselben Alles zu leisten suchen, was einige Mühe oder unangenehme Empfindung machen könnte. Wie kann aber bei solcher Erziehung die Grundlage zur wahren Willensstärke, Selbständigkeit und Charakterfestigkeit gelegt werden? Den meisten Kindern wird auch dadurch, daß ihnen die Eltern und Wärterinnen Alles an den Augen absehen, nicht bloß Unselbstständigkeit, Willensschwäche und Herrschsucht anerzogen, sondern gleichzeitig der Entwickelung von Aufopferungsfähigkeit und Wohlthätigkeitssinn entgegengetreten. Das Kind werde selbst beim Spielen nicht daran gewöhnt, zu meinen: es brauche immer Jemand, der ihm spielen helfe.

Ein großer Fehler bei der Erziehung ist es auch, daß man in Bezug auf Beherrschung unangenehmer Empfindungen und Schmerzen die Kinder falsch gewöhnt, daß man ihnen Widerwillen gegen eine Menge von Dingen anerzieht und daß man sie so leicht „aus dem Häuschen kommen“ läßt. Aber freilich sind die Erzieher in dieser Hinsicht meistens selbst verzogen und gehen dem Kinde mit einem schlechten Beispiele voran, indem sie sich gleich über Alles entsetzen und ekeln, bei Ueberraschungen außer sich gerathen etc. Man bedenke doch, daß der Nachahmungstrieb beim Kinde so groß ist, daß es sich sehr schnell ebenso das Gute wie Schlechte seiner Umgebung angewöhnt. Das Beispiel, das Beispiel! ohne dieses bringt man es bei Kindern zu nichts (Rousseau). Und wenn dein Kindermädchen nascht, lügt und trügt, sollte wohl dein Kind von Allem das Gegentheil von ihr lernen? – Es ist ferner ganz falsch, bei jedem Stoße oder Falle, bei Verletzungen und Unwohlsein des Kindes in lautes Jammern und Wehklagen darüber auszubrechen, das Kind zu bemitleiden und leidenschaftlich zu liebkosen; man beachte lieber viele dieser Zufälle gar nicht oder rede höchstens dem Kinde darüber ruhig zu. Ebenso suche man die Verdrießlichkeit und Uebellaunigkeit eines gesunden Kindes ja nicht etwa durch Aufmerksamkeiten und absonderliche Beschwichtigungsmittel zu verscheuchen, wohl aber durch Beschäftigung, sowie durch Nichtbeachtung oder selbst Strafe. Man erhalte die Kinder durch Beschäftigung in guter Laune, denn Thätigkeiten (Spiele), nicht Genüsse, erhalten Kinder heiter.

Daß Kinder in ihren ersten Lebensjahren schon zu Heuchlern und Lügnern, ja sogar zu Dieben erzogen werden, läßt sich fast in allen Kinderstuben wahrnehmen, nur sieht man da diese Laster nicht als solche an, sondern findet sie ganz allerliebst und possirlich, und nennt sie pfiffige, kluge Streiche. Meistens legt Naschwerk (die Zuckerdüte) den ersten Grund zu diesen Lastern, denn um dergleichen zu erlangen, stellt sich manches Kind unwohl, während ein anderes sich auf Schmeichelei oder Stehlen verlegt, ohne daß die Eltern wegen dieser Geringfügigkeit, wie sie dieses Gebühren des Kindes zu nennen pflegen, strafend einschreiten. – „Nicht wahr, das hat unser Engelchen nicht gemacht?“ spricht die Frau Mama ihrem unartigen Kinde so lange vor, bis dieses endlich seine That wirklich ableugnet. – Nimmt das kleine Brüderchen seiner ältern Schwester heimlich Etwas weg und will diese ihr Eigenthum zurück, so entsteht eine große Heulerei und es heißt: „Du großes garstiges Mädchen, laß doch dem lieben Kleinen das Spielzeug.“ – „Wer hat das zerbrochen?“ „Ich nicht!“ schreien gleichzeitig alle Kinder und dabei beruhigt sich denn auch die Frau Mutter, anstatt den Lügner nun erst recht ausfindig zu machen und tüchtig durchzugerben [76] – „Warte, warte, Du kleiner Tausendsasa, Du Du,“ lispelt die Mutter unter Kosen dem Kindchen zu, was soeben im Umdrehen ein Zuckerplätzchen wegstibitzte und’ in’s Mäulchen steckte, während hier doch Strafe nöthig gewesen wäre. – „Iß doch, iß, sonst bekommt es die Schwester,“ oder „sonst esse ich es auf,“ oder: „sieh, wie Schönes Du hast, das hat Brüderchen gar nicht.“ Gleichgültig sieht manche Mutter es an, wie auf solche Weise Mißgunst und Eigennützen dem Kinde angebaut werden, da man doch fast jedes Kind an die entgegengesetzte Tugend, an die Freude des Gebens und Wohlthätigseins gewöhnen könnte. – Es ist sehr traurig, daß Eltern und Erzieher nicht einsehen wollen, wie schon in den ersten 3 bis 4 Lebensjahren, wo das Selbstbewußtsein noch sehr gering ist, doch dem Menschen, und zwar nur durch richtige Gewöhnung, ohne alle Ansprache an den Verstand, das Gefühl für Rechtes und Gutes für’s ganze Leben so eingeimpft werden kann, daß es bei jeder Probe besteht. Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, die nicht zeitig genug entwickelt werden können, erzeugen sich im Kinde am besten dadurch, daß man selbst gegen dasselbe vollkommen wahr und offen ist, und niemals schlaue Lügen desselben belächelt, sondern sogar unschuldige Unwahrheiten bestraft. Achtung vor dem Eigenthume Anderer läßt sich dem Kinde dadurch beibringen, daß man ihm nicht alle Gegenstands zu nehmen erlaubt die es wünscht und die Anderen gehören; daß man dagegen aber auch sein eigenes Spielzeug ihm nicht entziehen läßt.

Der allergrößte Fehler eines Kindes ist aber der Ungehorsam, und dieser dürfte leider bei nur wenigen Kindern fehlen. Ja selbst wenn sie folgen, so geschieht dies doch meistens nur nach öfteren Befehlen oder wohl gar erst auf die Androhung einer Strafe und auf das Versprechen einer Belohnung hin. – Warum ist nun aber der Ungehorsam, welcher als das größte Hinderniß für die spätere Erziehung anzusehen ist, den allermeisten Kindern eigen? Weil die Mütter nicht von Haus aus dem Kinde durch die consequenteste und gleichförmigste Behandlung und Gewöhnung an das Gehorchen den Gehorsam anerzogen haben. Anstatt mit Ruhe, Ernst, Umsicht und wenig Worten nur das zu verbieten, was überhaupt und immer unterbleiben kann und soll, und was, wenn es dem Kinde einmal befohlen wurde, durchaus von diesem ausgeführt werden muß verbieten die Mütter oft nur nach zufälliger Laune, nicht selten im Scherze und mit Lachen, sehr oft das, was sie früher häufig übersahen und auch später nur manchmal wieder verbieten; sie dringen ferner nicht darauf, daß dem Verbote stets sofortige Folge geleistet werde, sondern lassen es ruhig hingehen, wenn das Kind den Befehl auch nicht ausführt. Nur dadurch, daß Alles, was sich das Kind nicht angewöhnen soll, aber doch thut, nicht bloß manchmal, sondern stets und so lange verboten und bestraft (aber ordentlich, nicht bloß durch ein Paar Klappse gestraft) wird, bis dasselbe das frühere Thun und Treiben völlig vergessen hat, nur dadurch läßt sich ein gutes, folgsames Kind erziehen. Man befehle und verbiete Kindern überhaupt nur da, wo es durchaus nöthig ist; man verbiete nicht eher, als bis man auch entschlossen ist, die verbotene Sache unter keiner Bedingung mehr zu gestatten, und befehle nichts, als was man durchsetzen will und kann. Man muß nicht am Verbieten Freude haben und schlage nur unerlaubte Dinge, aber bestimmt ab. Ein sehr großer Verstoß gegen die Erziehungsregeln ist es, wenn Eltern den Gehorsam des (nämlich unfolgsamen) Kindes erbitten oder erschmeicheln wollen. Ueberhaupt taugt eine Erziehung kleiner Kinder durch Belohnung (Näschereien, Spielzeug, Geld) gar nichts, ein liebevolles Benehmen der Eltern gegen das folgsame Kind muß für dasselbe die schönste Belohnung sein.

Sowie nun den meisten Kindern von Seiten ihrer Mütter Ungehorsam, Eigensinn, Trotz, Willensschwäche, Eigennutz, Neigung zum Lügen und Stehlen von frühester Kindheit an anerzogen werden, ebenso thun diese Mütter in der Regel auch nichts, um ihren Kindern Bescheidenheit, Ordnungsliebe und wahre Reinlichkeit anzugewöhnen, dafür impfen sie denselben Eitelkeit, Vormäuligkeit und Dünkelhaftigkeit ein. Daß ferner der Grund zum Muthe und zur Selbstbeherrschung durch, die Mütter gelegt würde, läßt sich ebenfalls nicht behaupten. Jedoch wollen wir auf die zuletzt genannten Fehler und Unarten nicht weiter eingehen, wir beabsichtigten nur zu zeigen, welche schlimmsten Laster Kindern schon von Geburt an allmählich anerzogen und so zur Grundlage des schlechten Charakters Erwachsener werden.

Schließlich stellen wir noch die Behauptung auf: beim Menschen muß die Hauptgrundlage zum Guten bis zum 4.-6. Lebensjahre gelegt sein; nach dieser Zeit sollte eine Bestrafung durchaus nicht mehr stattfinden dürfen, denn beim gutgezogenen, gehorsamen Kinde werden schon sanfte Ermahnungen zum Unterlassen des Unrechten und zum Thun des Rechten vollständig hinreichen. Um nun aber solche wirklich gute Kinder erziehen und dann der Schule zur weitern Ausbildung ihres Verstandes, Gemüthes und Willens übergeben zu können, dazu muß die häusliche, vorzugsweise die mütterliche Erziehung durchaus eine andere werden, als sie jetzt ist, und wir stimmen deshalb aus voller Ueberzeugung dem Ausspruche bei:

Gebt uns bessere Mütter, und wir werden bessere Menschen haben.“
Bock.





Ein Denkmal auf dem Schlachtfelde von Jena.

Wenn die Saale aus dem anmuthigen Thalkessel, in welchem die alte gar liebe Universitätsstadt Jena liegt, wieder heraustritt, so nähern sich auf beiden Seiten die Bergwände des Thales mehr und mehr wieder; so daß der Strom, aus frischem Wiesengrunde sanft dahin fließend, in neckischen Windungen bald links bald rechts der Berge Sohle berührt. Die Verschiedenheit der Bildungen beider Wände verleiht der Gegend den lieblichsten Reiz. Während auf der rechten Seite immer von Zeit zu Zeit einzelne schroffe Kegel vorspringen, welche nach hinten zu durch hufeisenförmige waldbesäumte Ringe in Verbindung stehen, senkt sich links eine enggeschlossene Kette herab, nur an wenigen Stellen durch Schluchten und Wasserrisse unterbrochen. Klettern wir in einer dieser Schluchten empor, so stehen wir auf einer weiten von vielen Dörfern besäten Hochebene, welche sich hin bis nach Weimar senkt, von wo aus der Ferne der breitrückige Ettersberg als eine dunkle Masse herüber schaut. – Diese Hochebene ist der Schauplatz eines der düstersten Ereignisse der deutschen Geschichte, es ist hier das Schlachtfeld von Jena. Man sieht es der Segensfülle, welche die Natur auf diesen Gefilden ausbreitet, wo im Sommer des Brodes goldene Frucht in dichten Halmen steht, nicht an, daß einst hier eine blutige Saat gesät worden ist; nur tief unter der Erde reden so und soviel Zeugen von dem großen Völkerstreite, der einst hier ausgerungen ward – sie selbst nun, die Streiter, voll des tiefsten Friedens. Nur ein einzig Gedächtnißzeichen erhebt sich noch über der Erde. Mitten auf freiem Felde, in der Nähe des Dorfes Rödigen, steht ein Halbkreis von hochgewipfelten Linden um ein kriegerisches Denkmal. Es ist ein hoher Würfel aus Seeberger Sandstein, auf welchem sich pyramidenförmig ein Officierhut und mehrfache Kriegsembleme ausbreiten. Gleich hinter diesem ragenden Gedenksteine liegt dann noch einer platt auf der Erde, wie voll demüthiger Anhänglichkeit an jenes Fuße geschmiegt. Es ist ein stiller Friedhof im freien Felde, auf den wir getreten sind. Es ist nicht bloß die große Geschichte des Vaterlands, es ist auch die kleine Geschichte zweier Herzen, von denen dies Denkmal Zeugniß redet: es ist der Grab- und Gedenkstein eines in der Schlacht Gefallenen, den treue Gattenliebe ihm und zugleich sich selbst zum Denkmal setzte. So sehen wir auch vorn nach der offenen Seite zwei verschlungene Hände in den Stein gehauen als liebender Vereinigung sprechendes Symbol und die von der Gattin des Gefallenen selbst erwählten Worte:

Wenn Du auf diesem Leichensteine
Verschlungen flehest Hand in Hand,
Die zeigt vom irdischen Vereine,
Der innig aber kurz bestand.

5
Es zeugt von einer Abschiedsstunde,

Wo Hand in Hand sich schmerzlich rang,
Von einem heil’gen Seelenbunde,
Von einem himmlischen Empfang.

Von dem Gefallenen aber erzählt die andere Seite rechts, wo es heißt:

„Freiherr August Wilhelm v. Bissing, Premier-Lieutenant im Churfürstlich Sächs. Chevauxlegers-Regiment Prinz Clemens, [77] geboren zu Großkayna in Thüringen den 14. Februar 1773, gefallen hier auf diesem Felde am Tage der Schlacht von Jena, den 14. October 1806.“

„Dem Gefallenen,“ spricht die dritte Seite, „errichtete treue Gattenliebe dies Denkmal und fand auf wundersame Weise ihren Tod, nach 52jähriger einsamer Wanderschaft ausruhen zu können an der Seite des Frühgeschiedenen.“

Von dieser wundersamen Weise, von dem Tode des sächsischen Officiers und von der Wiedervereinigung mit seiner Gattin hier auf diesem Grabe des Schlachtfeldes, davon wollen wir Euch nun erzählen.

Das Terrain, auf welchem das Denkmal steht und der sächsische Officier fiel, bildet die äußerste östliche Grenze des Schlachtfeldes und gerade einen der wundesten Flecke im ganzen Kampfe. Einige hundert Schritte links von dem Denkmale zieht sich ein Gehölz, das den poetischen Namen „die Thalfrau“ führt, bis nach dem auf der äußersten Spitze östlich liegenden Dorfe Rödigen. Entlang dieses Holzes und dann weiter nach Dornburg zu stand beim Beginn der Schlacht der sächsische General Holzendorf, welcher von dem commandirenden General Hohenlohe am Tage vorher abgeordnet war, nach Dornburg zu marschiren, um die dasigen Höhen zu besetzen. Man hatte Napoleon nicht die Verwegenheit zugetraut, daß er die Höhen vor Jena erklimmen und hier auf der Hochebene die Schlacht entgegen nehmen würde. Es war daher keine geringe Bestürzung, als man sich endlich davon überzeugen mußte, daß er es doch that und, ehe nun die bis nach Weimar hin und weiter zerstreute Armee sich sammeln konnte, schon gethan hatte. Zum Unglück war an jenem Morgen einer jener dichten Herbstnebel, wie sie noch jetzt an jener Stelle des Saalthals oft sich zeigen, der namentlich das Thal drunten ganz den Blicken verbarg und den Heraufzug der Feinde nicht eher erkennen ließ, als bis die tönende Sprache des Erzes von seiner Anwesenheit Kunde gab. So erging’s namentlich den bei dem Dorfe Rödigen stehenden Sachsen. Lassen wir hierüber einen Augenzeugen reden. Es ist ein kleines gekrümmtes Männchen, das langsam an seinem Stabe heranhumpelt, es grüßt schon von Weitem mit seinem Tuchkäppelchen. Seine Hände zittern und können kaum den Stab halten. Die Augen sind, wie oft bei alten Leuten, geröthet und thränend, noch ist aber das Haar nur wenig grau, und munter die Zunge.

Das Denkmal bei Rödigen.

Es ist der alte Putsche von Rödigen, ein hoher Achtziger, er hat den Officier noch mit begraben. Er läßt sich auf eine der dort stehenden Ruhebänke nieder und erzählt, während drüben vom Dorfe lustige Musik zur Kirmeß aufspielt:

„Ich und mein Nachbar Christian Künzel wir waren am Morgen des vierzehnten allein noch im Dorfe, alle Anderen waren mit ihrer Habe hinunter nach der Neuengönne geflüchtet und hatten in den dortigen Schluchten sich verborgen. Da kam etliche Mannschaft in’s Dorf und begehrte sechs Mann aus dem Dorfe zu Führern. Da Niemand, wie gesagt, weiter im Dorfe war, so mußten sie sich mit uns Beiden begnügen, und wir wurden hierauf zu dem Regiment geführt. Der General breitete eine Karte aus und frug uns nach den naheliegenden Ortschaften. Dann hieß es plötzlich: „Boten vor!“ und nun sollten wir vorn an der Front in den Nebel hinein die Truppen dem Feinde entgegenführen. Aber die Franzosen waren uns ja schon ganz nah, und ehe wir nur ein paar Schritt in den Nebel thaten, kamen uns schon geschlagene Preußen entgegen. „Die grünen Husaren retiriren!“ erscholl’s plötzlich, und diese kamen nun auch schon gesprengt, und unsere Truppe machte Kehrt, warf die Gewehre zum Theil hin und schloß sich der Retirade an. Wir aber retirirten gleichfalls nach Hause. Da stürzte denn auch, das habe ich noch gesehen, der hier begrabene Cavallerieofficier, nachdem sein Pferd tödtlich getroffen, zu Boden, und über Roß und Reiter flog der Sturm der Flüchtigen. Das Regiment, dem ich vorausgehen sollte, hatte keinen Schuß gethan. Sie waren ja Alle verrathen und verkauft. Das französische Gold“ – und noch mehr murmelte der Alte vor sich hin, seine Hände zitterten heftiger, unwillig wandte er den Kopf hin und her. Es ist in der That ein in dasiger Gegend und unter den Veteranen jener Zeit verbreitetes Gerücht, daß Verrath und Spionage den Ausgang jener unglückseligen Schlacht herbeigeführt hätten. Nun war es dazumal allerdings eine Zeit, da die Tugend und das Ehrgefühl in vielen Herzen begraben war, indeß wollen wir zur Ehre der deutschen und preußischen Nation glauben, daß jenes Gerücht eben nur ein Gerücht war und ist. Und wenn auch jener Pfarrer in W., der den Marschall Soult durch’s Rauhthal führte und damit gerade den bei Rödigen stehenden Truppen die niederschlagende Ueberraschung bereitete, nicht die Kraft des Märtyrerthums in sich trug, wie jener schlichte Schäfer, von dem die Gartenlaube schon erzählt, so ward er wenigstens nicht freiwillig zum Verräther am Vaterlande. Immerhin aber erfüllt es das Herz mit heiligem Unwillen, erfahren zu müssen, daß durch größere Vorsicht und geringere Kopflosigkeit der einzelnen Heerführer jener Schlacht so leicht eine ganz andere Wendung hätte gegeben werden können. So flüchtete namentlich der bei Rödigen retirirende General Holzendorf eiligst über Stobra nach Apolda und verließ das Schlachtfeld ganz, anstatt sich nach dem bei Vierzehnheiligen stehenden Hauptheere zu wenden und den Feind in der Flanke anzugreifen, während nunmehr dieser die entblößte linke Flanke des Hauptheeres als eine höchst willkommene Gelegenheit, dasselbe zu umgehen, ergriff. Fast nur der geringste Vorwurf trifft dabei den vielgeschmähten Hauptcommandirenden, Fürst von Hohenlohe, der, wenn er auch von vornherein Zeit und Gelegenheit versäumt hatte, im Moment der Entscheidung durch höchste persönliche Bravour und Entschlossenheit sich auszeichnete und nur nicht das Glück hatte, wie neun Jahre später sein Camerad Wellington bei Belle-Alliance, einen wie der Blitz daherfahrenden Blücher, sondern nur einen General Rüchel zu besitzen, der trotzdem, daß ihm Bote auf Bote entgegengeschickt wurde, erst Nachmittags 3 Uhr und zu einer Zeit auf dem Schlachtfelde erschien, da schon Alles verloren und selbst die kühnste Tapferkeit ohnmächtig war.

Kehren wir indeß wieder zu unserm gefallenen Officier zurück. Auch ihm gebührt der Preis der Tapferkeit. Er hatte sich an die Spitze der grünen Husaren gesetzt, um eine vom Feinde [78] bereits genommene Batterie zurück zu erobern; der Versuch mißlang, und er büßte ihn obendrein mit dem Leben. „Am andern Morgen,“ fuhr der alte Putsche fort, „fanden wir, ich und der Nachbar Claus von Rödigen und der auch noch lebende alte Schorcht von Lehesten, ihn auf dem Felde an der Stelle, wo jetzt das Denkmal steht, liegen. Er war bis auf’s Aeußerste beraubt und geplündert. An den Strümpfen, die man ihm noch gelassen, fanden wir die Zeichen seines Namens, und dieselben führten dann zu seiner Entdeckung, den Leichnam selbst aber legten wir in einen tiefen Wasserriß, den daselbst die Erde gebildet hatte, und deckten ihn mit Erde und Steinen dürftig zu; wir hatten keine Zeit für ihn aufzuwenden, denn rings um uns her lag es voll Verwundeter, welche gräßlich stöhnten, und wir wurden aufgeboten, dieselben nach Jena in die Stadtkirche zu schaffen, die zu einem Lazareth umgestaltet war.“

Es fand sich nun, daß der Gefallene der obenerwähnte Freiherr von Bissing war. Derselbe war seit einigen Jahren verheirathet – und nun beginnt der andere Theil, die wahrhaft rührende Herzensgeschichte des Denkmals.

Die junge hinterlassene Wittwe des Officiers, Mariane Leopoldine Franziska geb. von Frankenberg-Ludwigsdorf, kam bereits im nächsten Jahre, um die Grabstätte ihres Gemahls zu besuchen. Sie veranlaßte die Gemeinde Rödigen, dahin sieben Linden zu setzen, und beauftragte den Einwohner Claus, gegen eine jährliche Gratifikation von drei Thaler die Pflege und den Schutz der Bäume zu besorgen. Die Linden wurden gepflanzt und wuchsen und gediehen über dem Grabe. Sie erzählten ihrem stillen, einsamen Schützling, wie die Schmach, die auf dem Schlachtfelde dort gesäet worden, noch größere Ernten im ganzen Vaterlande hielt, wie noch Mancher außer ihm ihr zum Opfer fiel, erzählten ihm aber auch, wie, da die Noth am größten, auch die Rettung am nächsten war, erzählten ihm von dem kalten, rauhen Winter, der am sechsten Jahrestage der Schlacht das Handwerk der Rache eröffnete, und als drüben auf der Straße gen Weimar zu ein einsamer Schlitten mit einem noch einsameren Manne im wohlbekannten schwarzen Hütchen vorüberjagte, da rauschte es wie das Brausen eines heiligen Zornes heiliger Rache durch ihre Aeste. Und als wieder ein Jahr um war, erzählten sie dem Schlummernden unter der Erde von der großen Retirade nach dem größten aller Siege. Dann aber waren sie lange Zeit stumm und still, denn es gab nicht viel zu erzählen in der stillen, traurigen Zeit, die nachher kam, da die Völker wieder heimgingen zu Pflug und Werkstatt und die Früchte ihrer Arbeit an die Fürsten und Herren abtraten, und diese dafür scheu und angstvoll ihre Regungen belauschten. Und wie da so Manches vergessen wurde, so wurden es auch die Linden. Der für ihre Unterhaltung ausgesetzte Lohn wurde schon nicht mehr gezahlt.

Da – nachdem ein halbes Jahrhundert über dem Haupte des Begrabenen vorübergerauscht war, sollte es anders werden. Noch lebte ja drinnen in Schlesien die Wittwe des Gefallenen. Sie hatte nach dem Tode des Erstgeliebten ihr Herz weiterem ehelichem Glücke verschlossen. Wie nun oft gerade im Alter sich ein Widerschein der Gefühle der Jugend zeigt, so war auch im Herzen der hochbetagten siebzigjährigen Frau mehr als je die Sehnsucht nach dem auf dem fernen einsamen Schlachtfelde Gebetteten wach gerufen worden und mit ihr auch wieder ein langgehegter Wunsch – dem im Dienste des Vaterlands und ihrer Liebe Gefallenen ein Denkmal zu setzen, und nicht minder der weitere Wunsch, einst im Tode an seiner Seite zu ruhen. Sie führte diesen Wünsch mit Hülfe eines befreundeten Officiers in Weimar aus. Das Denkmal steht errichtet. Es soll der Act der Enthüllung und Weihe vor sich gehen. Die hochbetagte Greisin drängt es, an der bedeutungsvollen Schlußhandlung ihres Lebens mit Theil zu nehmen. Der Gedanke belebt neu die müden Lebenskräfte; sie meint sich stark genug zu der weiten Reise an die Grabstätte des Gemahls. Kinder und Enkel begleiten sie. Schon hat sie das heimische Schlesien hinter sich und steigt in Dresden frischen Muthes in den Wagen, der sie dem Ziele ihrer Hoffnung näher bringen soll; als aber in Riesa der Bahnzug anhält – ist sie still und leis hinüber geschlummert in die Heimath des Geliebten, wo immer der Zug ihrer Gedanken geweilt. Man kehrte mit der Entseelten nicht zurück. Treu dem Wunsche fuhr man mit der Todten weiter, um sie an die Seite dessen zu betten, der sie mit stiller Macht zu sich gezogen.

Es war ein heller heiterer Herbstabend, voll und klar schauten die Sterne hernieder, mitten drunter die geheimnißvolle Lichtsäule eines Kometen – es war im Jahre 1858 – als von Apolda herüber der vierspännige Leichenwagen, gefolgt von einem langen Conduct, nach der Stätte sich hinbewegte, wo unter den ragenden Linden das verhüllte Denkmal stand. Ueberall, wo er das Weichbild eines Dorfes betrat, klangen vom Kirchlein hernieder die Glocken und mehrte sich der andachtsvolle Zug. Ein Musikchor schloß sich an, und voll Weh und Trost zugleich drang durch die nächtliche Stille die alte Melodie des Grabes: „Jesus meine Zuversicht“. Ein Sängerchor benachbarter Lehrer sang das Lied: „Vom Wiedersehn“. Weither von Jena und Apolda hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, der Andacht geheimnisvollstes Schweigen lag auf derselben, als die schützende Hülle von dem Denkmale fiel, als dasselbe dastand in seiner blendenden Helle, beleuchtet vom gespenstischen Scheine der Fackeln, und es schien, als ob es sich geisterhaft aus demselben erhöbe, grüßend mit dem bleichen blutigen Haupte und mit den blassen welken Armen sich sehnend ausstreckend, die in Empfang zu nehmen, die sich ihm nahte, nicht in der Schönheit blühender Jugendfrische und wie am Tage des Scheidens vor zweiundfünfzig Jahren, nein, ebenso welk und todt und starr, bedeckt von der schwarzen Hülle des Todes. Und als nun unter der Rede und Einsegnung des Ortsgeistlichen die entseelte Frau des Kriegers gleich neben dem schlummernden Geliebten hinabgesenkt wurde, als sie sich vollendete, die Geisterumarmung, und es dahin rauschte durch die Nacht: „Auferstehn, ja auferstehn!“ da flossen die Wogen heilig schauernder Andacht hin über das steinige Blachfeld. Da oben aber am Himmel stand ruhig der räthselhafte, blinkende Verkünder des Krieges, als sei auch er aus unbekannter Ferne zu der Feier geladen, die im Kriege ihren Anfang und im Frieden ihr Ende gefunden.

Und so liegt sie zur Seite des ersehnten Freundes, und die Tragödie des Schlachtfeldes fand an der Stelle einen Abschluß rührendster Versöhnung.

Das ist die Geschichte des Denkmals von Rödigen: eine Geschichte deutscher Schmach, deutscher Liebe und deutscher Treue.

Fr Hbg.

Eine dunkle Geschichte.
Nach mündlicher Ueberlieferung.
Von I. E. Mand.
(Schluß.)


„Halloh!“ rief Graf Detlev und sprengte vollen Laufes davon; ihm folgte zunächst sein Bruder, der am obern Ende des Kreuzweges postirt war, und „Halloh“ rief vor ihnen Hans Björne. Die weit verstreuten Jäger folgten, so rasch sie konnten, und drangen von verschiedenen Seiten in den Wald. Mehrere Schüsse fielen fast zu gleicher Zeit; der Hirsch aber, nur leicht gestreift, brach plötzlich nach dem See zu hervor, und ihm folgte, einer der Ersten, Graf Adolph, und mehr seitwärts aus dem Dickicht kommend, Hans Björne, geisterbleichen Angesichts, aber weiterstürmend, der übrigen wilden Jagd nach.

Wo aber war Graf Detlev? Unter einer mächtigen Buche des Waldes, auf schwellendem Moose lag er in tiefer Todesohnmacht, indeß Welle auf Welle des purpurrothen Lebensstroms dem Herzen des edlen jungen Mannes entquoll.

„Das war Hans Björne’s Kugel! “ flüsterten die erblassenden Lippen. „O Clara – Clara!“ und damit schlossen sie sich auf ewig.

Der Morgenwind rauschte in den Zweigen, und die bunten Blätter fielen hernieder, leise, leise, und deckten ihn zu, indeß die Waldtaube ihr melancholisches Gurren zum Schlaflied anstimmte.

Durchbohrt von tödtlichen Kugeln hatte der schwimmende Hirsch [79] nur mit höchster Anstrengung das andere Ufer erreicht; dort rastete er einen Augenblick, bis die um den kleinen See herumjagende Schaar der Reiter und Hunde ihn zu neuer, verzweifelter Anstrengung aufstachelte. Aber seine Kräfte waren bald erschöpft, und lustige Fanfaren verkündeten das Halali.

„Wo ist aber Se. Erlaucht!“ frug, voll Besorgniß um sich blickend, der Reitknecht des Grafen Detlev zu Hans Björne gewendet, der ihn beim Beginn der Jagd von seinem Herrn zu entfernen gewußt hatte. „Weiß ich’s?“ entgegnete übermüthig der Däne, den Kopf abwendend, „frag’ dort den Grafen Adolph, der muß es wissen, er war ja zuletzt mit ihm drinnen im Wald.“

„Mein Bruder?“ frug dieser, im Kreis umhersehend. „Wahrhaftig, er fehlt! Rasch zurück, sein Pferd ist vielleicht gestürzt,“ und mit diesen Worten wandte er das seine. Gefolgt von der Mehrzahl der Anwesenden gewahrte er nicht, daß Hans Björne einen Pfad einschlug, der nach der entgegengesetzten Seite führte. Der treue Hector aber folgte ihm nicht, sondern hatte bald die Spur seines Herrn entdeckt, und mit einem Schrei höchsten Entsetzens kniete Graf Adolph an der Seite seines entseelten Bruders.

Alle waren wie gelähmt vor Schreck, und manches Auge wurde feucht; denn der Todte war seiner einfachen Herzensgüte, wie seines heitern, männlich festen Sinnes wegen geliebt; mancher Blick aber auch wandte sich von dem Bruder scheu zu Boden, wie vor einem entsetzlichen Gedanken. Ein Weheruf aber durchhallte das ganze Schloß, wie Stadt und Land, als am Nachmittag der Trauerzug anlangte, und kein Wort herzlicher Theilnahme für den Schmerz des Bruders begrüßte den nunmehrigen regierenden Grafen Adolph, der finster und gebeugt der Bahre folgte und sich bis zu der feierlichen Beisetzung der Leiche in seine Gemächer verschloß.

Hans Björne aber erschien nicht wieder auf Schloß Ranzau. Er war nach Kopenhagen geeilt, und bald verbreitete sich von dort aus als offene Kunde, was man sich in Holstein nur noch in’s Geheim zuflüsterte: der Graf Adolph habe seinen von ihm gehaßten Bruder auf der Jagd erschossen, und König Christian trage darum Leid wie nur ein rechter Bruder es könne.


Gastfreundschaft.

Wieder waren Jahre seit diesem Unglückstag verflossen, und der Letzte jener sieben Söhne, die einst das stolze Grafenhaus belebt hatten, schaltete darin als Gebieter. Die Macht und Ehre, die man ihn als Kind schon gelehrt hatte zu beneiden, ruhte jetzt wirklich auf ihm; aber wahren Genuß hatte er nicht davon, und die Consequenzen jenes unaufgeklärt gebliebenen Unglücksfalles drückten ihn trotz seiner Schuldlosigkeit schwer zu Boden. Die öffentliche Meinung hatte ihn, eingedenk des steten Unfriedens, in dem er mit seinem Bruder stand, verurtheilt, und seine fast völlige Isolirung war die empfindliche Folge davon. Was half ihm jetzt der Welt gegenüber das Bewußtsein, daß sein letzter Handschlag in aufrichtiger Absicht gegeben worden sei? was seine Reue über den jahrelang genährten Groll? Wohl hatte er aus den vorgefundenen Briefen Clara’s ersehen, wie sehr er sich über Detlev’s Verhältniß zu Isa getäuscht hatte; aber Isa, obgleich sie nicht an ihm gezweifelt hatte, war darum doch für ihn verloren, dazu kannte er den alten Baron, ihren Vater, zu gut.

Als deutschen Reichsgrafen konnte freilich der König von Dänemark den Grafen Ranzau nicht verhaften lassen, so lange derselbe auf seinem eigenen Grund und Boden blieb; aber daß Christian V., der von des Grafen Schuld so fest überzeugt schien, ihn nicht bei dem deutschen Reichsgericht in Wetzlar verklagte, nahm doch Viele Wunder.

So hatte sich denn Graf Adolph wohl gehütet, das umfangreiche Gebiet seiner Grafschaft zu überschreiten; aber diese nothwendige Beschränkung ward doch mit der Zeit dem souveränen Grafen immer drückender.

Wie gesagt, Jahre waren dahin gegangen und hatten ihren verhüllenden Schleier auch über jene unheimliche That gebreitet. Sie schien vergessen, und einzelne Gäste aus der Ritterschaft fanden sich wieder auf Schloß Ranzau ein. Unter die Wenigen jedoch, die dort nie ganz fremd geworden waren, gehörte auch der Amtmann von Pinneberg, zu dem Graf Adolph eine besondere Zuneigung hegte, die Jener immermehr zur Freundschaft zu gestalten beflissen war.

„Wenn nur dieser verwünschte Bann nicht auf mir läge, ich nähme ja sehr gern Eure Einladung an,“ sagte einst unmuthig der junge Graf beim Abschiede zu dem Amtmann, „denn wahrlich, ich habe dies Einsiedlerleben satt!“

Dieser aber lachte über diese thörichten Bedenken. „Ueber das Alles ist ja schon längst Gras gewachsen,“ sagte er, „vergessen es Eure Gnaden daher auch! – Also – wir rechnen auf des Herrn Grafen Gegenwart?“ – Und in der That machte sich an einem hellen Sommertage des Jahres 1722 der Graf Adolph auf, um der drückenden Einsamkeit seines Vaterhauses zu entfliehen. War nicht der Amtmann sein Freund und Kopenhagen weit? Was wagte er also?

In dem stattlichen, gastfreien Hause, welches das Ziel des Reichsgrafen war, hatten sich jedoch schon vor seinem Eintreffen mehrere Gäste eingefunden; aber sie zeigten sich nur nicht alle, im Gegentheil verbargen sie sich sorgfältig vor den Blicken der vornehmen Gesellschaft, der sie augenscheinlich nicht angehörten. Jene bestand zumeist aus Dänen, die eben aus der Hauptstadt kamen, oder doch solchen Deutschen, die durch ihre Sympathien dorthin gehörten. Mit jedem neuen Toaste wurde die Stimmung fröhlicher und lauter, und Graf Adolph gab sich mit vollem Behagen dem so lang entbehrten Genuß der Geselligkeit hin.

Eben begann der Champagner zu kreisen, da öffneten sich die Flügelthüren des Speisezimmer, und zu beiden Seiten des Eingangs stellten sich dänische Polizeibeamte auf; zwei in schwarze Amtstracht gekleidete Gerichtspersonen traten ein und schritten auf den erblaßten Grafen Adolph zu. „Im Namen Seiner Majestät des Königs Friedrich IV. verhafte ich Seine Erlaucht den Reichsgrafen von und zu Ranzau,“ sagte feierlich der ältere von Beiden, indeß der andere dem verwirrten, aber doch den Ueberraschten spielenden Hausherrn den Verhaftsbefehl vorzeigte.

Einen Blick tiefster Verachtung warf der Gefangene auf seinen Wirth. „Das ist Euch gut gelungen, wahrlich! ein Pröbchen dänischer Treue zum Dessert für Euren Freund!“ sagte er mit schneidender Bitterkeit und folgte in stolzer Haltung den Gerichtspersonen zu dem harrenden Wagen, dessen Escorte die Polizeimänner bildeten, die dazu eigens von Kopenhagen herübergekommen waren.


Numero Sieben.

Nahe der Küste, deren Granitfelsen unaufhörlich von den unruhigen Wogen der Nordsee gepeitscht werden, umbraust von den scharfen Nordwestwinden dieses Meeres und den größten Theil des Jahres in kalte Nebel gehüllt, liegen die grauen, feuchten Mauern des Schlosses Aggerhuus in Norwegen. Wer durch die schwere Eisenpforte desselben eintritt, läßt seine Vergangenheit wie seine Erdenhoffnung hinter sich; er ist namenlos – nur noch eine bloße Zahl in der Reihe seiner Leidensgefährten; – eine Nummer, die, auf das grobe Kleid des Sträflings geheftet, jeden Standes- und Bildungsunterschied zwischen dem zuletzt Angekommenen, dem Grafen Adolph Ranzau, und dem gemeinen Raubmörder auslöschte.– Nach einer kurzen, nur zum Scheine geführten Untersuchung war der listig in die Falle gelockte Reichsgraf auf königlichen Befehl lebenslänglich in die enge Zelle eines Gefängnisses eingekerkert worden.

Wenige Tage nach dem Verschwinden des Majoratsherrn, als kaum die Kunde sich verbreitete, legten königlich dänische Beamte kraft der Vollmacht, die ihnen von dem nunmehr erbberechtigten Sohne des Adoptivbruders ausgestellt worden war, Beschlag auf die Herrschaft und organisirten die gesonderte Verwaltung derselben, wie sie noch heutzutage zum Besten der königlichen Schatulle fortbesteht. Das deutsche Reich hatte mit seinen inneren und äußern Händeln ohnehin genug zu thun. Von der Seite also war keine kräftige Opposition zu befürchten, und das fait accompli der Besitznahme der Grafschaft Ranzau durch den 1722 regierenden Friedrich IV. ward mit dem Protest der übrigen erbberechtigten Agnaten zu den Acten gelegt.

Der Kerkermeister von Aggerhuus hatte schon mehr als einen der namenlosen Sträflinge, deren Erscheinung trotz des entehrenden, groben Tuches, was sie kleidete, ihre einstige höhere Lebensstellung verrieth, in die feuchten Zellen verschwinden lassen, deren Beaufsichtigung ihm oblag. Auch ein Blick auf den Grafen Adolph würde ihm genügt haben, wenn nicht die Strenge seiner isolirten Haft ihm das besondere Interesse bewiesen hätte, welches an seiner Bewahrung liegen mußte. –

[80] In dem alten runden Thurme, nahe dem Meere, dessen Felsklippen zur Zeit der Fluth von den Wellen bedeckt wurden, deren weißer Schaum hoch hinan bis an die eng vergitterten Fenster emporspritzte, saß der gefangene Reichsgraf auf der hölzernen Pritsche, die ihm zur Lagerstätte diente; vor ihm an die Mauer befestigt stand ein kleiner grobgezimmerter Tisch; seinen Arm darauf gelehnt, stützte die weiße, abgemagerte Hand sein blondes, jetzt kurzgeschornes Haupt. Tiefe Dunkelheit erfüllte den ungesunden Raum, von dessen Wänden die Feuchtigkeit herniedertropfte. Mit brennender, fieberhafter Röthe auf den bleichen Wangen, starrte der junge Mann unbeweglich nach dem Fenster und horchte dem Brausen der Fluth unter ihm. – Endlich brach durch das vom Sturme zerrissene Gewölk der Mond auf Augenblicke hervor, und wie von einem elektrischen Schlage berührt, erhob sich die hagere Gestalt; das Auge glühte in seinen tiefen Höhlen; mächtige Erregung schien seine Muskeln mit neuer Kraft zu stählen, und seine Brust erhob sich in dem Wonnegedanken: Frei! Er zog eine scharfe Feile aus ihrem Versteck hervor und setzte sie an das letzte noch zu durchschneidende Gitter des Fensters.

Die Stelle eines Kerkermeisters auf Aggerhuus war ein hartes Stücklein Brod, und keiner der Vorgänger des jetzigen hatte es lange genossen, wenn seine Natur nicht dem Felsen glich, auf welchem dies traurige Gefängniß am Meere lag. Schon hatte er sein Weib dahinsterben sehen, und sein einziges Kind schien ihrer Mutter folgen zu sollen. Ihm zur Liebe war er endlich bereit gewesen, dem Grafen zu seiner Befreiung behülflich zu sein, und hatte ein Schreiben für ihn vermittelt, welches ihm die nöthige Summe zur Flucht nach England verschaffte. Das Mädchen brachte der Vater einstweilen an den Strand zu Christen Sturen, dem besten Seemann der Küste, der es, wie er vorgab, bei erster Gelegenheit mit nach Kopenhagen nehmen wolle.

An eben jenem Abend lag ein englischer Kauffahrer ein Paar Seemeilen weit vor Anker, und Christen Sturen ging, trotz Sturm und Wellen, sein Boot zu laden, um in See zu gehen.

„Du wirst doch nicht so thöricht sein, bei so finsterer Nacht und steifem Nordwest einen Tanz mit den Wellen zu machen?“ rief ihm ein alter „Seebär“ zu, der unter der Thür seiner Hütte einen Pfeifenstummel zwischen den Zähnen hielt. „Hilft nichts, Vater!“ lachte Christen, „der Engländer muß seine Ladung trockner Fische bis morgen früh haben. Wird auch bald wohl ein bissel mondhell werden, denk’ ich!“ und damit schritt der wetterfeste Schiffer dem Strande zu, wo die Ebbe eben einzutreten begann.

In dem Boote lag wohlverhüllt die Tochter des Kerkermeisters, und er selbst stand schon harrend am Strande.

„Alles in Ordnung?“ rief ihm Christen entgegen. „Will’s hoffen!“ war die Antwort, und der Schiffer schlug die Arme übereinander, wie Jemand, der bereit ist zu harren, indeß der Andere gespannt nach dem nur dann und wann in festen Umrissen hervortretenden Thurme hinübersah. Da leuchtete hinter dem Fenster von „Numero Sieben“ ein rasch wieder verlöschendes Licht auf.

„Gott helfe ihm!“ murmelte der gutmüthige Christen, und das Herz des Kerkermeisters schlug rascher: hing ja doch von der Freiheit des Gefangenen, der eben das eiserne Gitter seines Fensters aushob, sein und seines Kindes Wohl ab.

Die Fluth hatte sich eben erst von den ausgespülten Klippen unter dem Thurme zurückgezogen, was die einzige Möglichkeit bot, nach dem Strande zu gelangen; schon schwebte der Flüchtling auf halber Höhe der schwanken Strickleiter und gelangte mit jeder neuen Sprosse, die sein Fuß prüfend erreichte, der Freiheit näher; da plötzlich – ein lauter Schmerzenslaut verhallte in dem Brausen von Wind und Wellen: das oben an dem Eisen des Fensters befestigte Ende der Strickleiter hatte sich gelöst, und der Unglückliche lag mit gebrochenem Hüftknochen am Boden. – Nur wenig hundert Schritte weit lag das rettende Boot, aber durch keine übermenschliche Kraftanstrengung vermochte er sich über das scharfe, ausgespülte Gestein fortzuschleppen und blieb endlich in ohnmächtiger Erstarrung liegen.

„Geht doch und schaut, woran’s liegt,“ mahnte wiederholt Sturen, „denn ausgeflogen ist der Vogel doch nun einmal, dem Signal nach; oder laßt mich mit Euch gehen; ist ihm etwas passirt, so nehme ich ihn auf die Schultern. Ich sage Euch, wir müssen fort, denn kommt erst die Fluth wieder, so erreichen wir bei dem Winde den Engländer nimmer zur rechten Zeit.“

„Der Mond ist zu hell, laßt uns warten! Gehen wir jetzt über die offne Düne nach dem Thurm, so kann uns leicht die Schildwache oben bemerken, und bis wir den Gefangenen gefunden und fortgebracht haben, ist uns der Rückweg abgeschnitten. Verdammte Geschichte das! – Habe nichts weiter für mich in Händen, als den Brief da, nach Holstein; das Geld soll der Engländer draußen haben!“ sagte der Kerkermeister.

„So laßt mich allein gehn, Ihr eigennütziger Gesell!“ brummte der mitleidige Sturen.

Der Umstand, daß der Gefangenwärter an diesem Abend gar nicht heimgekehrt war, hatte unter der Besatzung des Schlosses Verwunderung erregt, und der Corporal hatte einigen Argwohn und schauete oft und scharf nach dem Strand hinab, wo er mehrere Gestalten bemerkt zu haben glaubte. Er that dies auch gerade im Augenblick, wo Christen Sturen nach dem sogenannten Wasserthurme abbog.

„Wer da? Antwort oder ich gebe Feuer!“ – Rasch sprang der brave Schiffer mit ein paar mächtigen Sätzen zurück und warf sich auf den Sand, so daß die Kugel über ihn hinweg flog; eine Patrouille ward hinab beordert, aber schon wenig Minuten später tanzte das Boot mit den beiden Männern auf den Wellen, und mit ihm schwand jede Hoffnung auf Erlösung des unglücklichen Grafen Adolph.

Er hatte, durch den Gefangenwärter mit Schreibmaterial versehen, auf alle Fälle vor seiner Flucht einige Anordnungen getroffen, die durch des ehrlichen Christen’s Hände seinen Anverwandten die erste genauere Kunde von seinem Schicksal und der trauernden Isa ein letztes Lebenszeichen brachten. Ihr war auch die Sorge für die Tochter des nach England entkommenen Gefangenwärters empfohlen, und sie behielt dieselbe bei sich. Konnte sie doch mit ihr von dem einzigen Punkte, der auf der weiten, schönen Erde für sie noch Interesse hatte, reden – von dem meerumbrausten Felsen der Nordsee, und das Mädchen, das einst neugierig bei der Ankunft des Grafen gelauscht, mußte ihr immer wieder jede traurige Einzelheit davon erzählen.

Clara hatte sich in eines der großen Fräuleinstifte von Holstein zurückgezogen, wo sie, wie so viele ihrer einsamen Gefährtinnen, in Erinnerung und den Blick auf die Hoffnungen des Jenseits gerichtet, der Gegenwart nur in soweit lebte, als sie ihr Gelegenheit bot, Thränen zu trocknen und Leid zu mildern. Dorthin folgte ihr die durch gleiche Trauer mit ihr verbundene Freundin Isa nach dem Tode ihres Vaters.

Die große Familiengruft der Grafen von Ranzau-Breitenburg, der nächsten Agnaten der nunmehr erloschenen Hauptlinie jenes Namens, war an einem trüben Märztag um die Mitte des vorigen Jahrhunderts durch Fackeln erhellt, die eine seltsame Scene beleuchteten. Unter den reich mit Silber beschlagenen Särgen, die hier seit Decennien aufgeschichtet standen, befanden sich auch zwei ganz von starkem Silberblech: sie enthielten die sterblichen Ueberreste der Grafen Detlev, Vater und Sohn, und ein dritter war eben von der kunstfertigen Hand des Meister Martin in Preetz geliefert worden.

Er sollte einen andern aus grob gezimmerten Bretern umschließen, der geöffnet daneben stand. Lautlos, in stillem Gebet, umgaben ihn die anwesenden Männer entblößten Hauptes und schauten mit tiefer Bewegung auf die irdische Hülle Dessen, der darin nach dreizehn langen Jahren das Ziel schwerer Leiden gefunden hatte. In dem groben Anzug des Sträflings, den eisernen Ring um Hand und Fuß, lag der zum Skelet ausgetrocknete Körper vor ihnen.

Auf einen Wink des Grafen machte sich der anwesende Chirurg an sein Werk und sagte dann: „Kein Zweifel, gräfliche Gnaden, hier ist der schlechtgeheilte Schenkelbruch, den der selige Herr bei seinem Fluchtversuch von Aggerhuus erlitten hat.“

Der anwesende Geistliche sprach den Segen, und die silberne Hülle mit dem Wappen des Hauses empfing den letzten der sieben blühenden Söhne des Grafen Detlev Ranzau.

Alles, was die Familie endlich erlangt hatte, war – die Herausgabe seiner Leiche. Vergebens waren ihre Klagen bei Kaiser und Reich verhallt. Zwar hatte Karl VI. die Entfernung der dänischen Besatzung von den Schlössern der Grafschaft decretirt, aber ohne dem Befehl weiteren Nachdruck zu verleihen, als dies nicht geschah.

Und als endlich gar die Sterbeglocken des lebensmatten deutschen Reiches läuteten, waren es zugleich die der rechtlichen Ansprüche zur Wiedererlangung der großen Familiengüter in Holstein, Schleswig und Jütland, die zu der Grafschaft gehörten, und deren Revenüen noch heute nach der Hauptstadt Dänemarks wandern.


  1. Vergleiche: „A letter addressed to the President and Council of the Royal Geographical Society of London, by A. Petermann.“ das „Athenäum“ von 1850–55, das „Ausland“ Nr. 17 vom Jahre 1854 etc. – Petermann’s Streben und Wirken ist wenig gewürdigt worden. Er hat die Barth’schen Erfolge zu dem gemacht, was sie sind; er hat die Vogel’sche Reise ermöglicht und Barth durch sie Gelegenheit gegeben, von astronomisch bestimmten Gegenden zu sprechen. Einst hat dies Barth (Reisewerk, Vorrede p. IX und XVIII) dankend anerkannt; – im Ganzen ist dem unermüdlich thätigen Beförderer der Wissenschaft wenig gedankt worden. Ich thue es hiermit – hoffentlich zugleich im Namen aller meiner Leser. – Jetzt ist Petermann widerum der für die deutsche Expedition Arbeitende. So lange er mit dem Unternehmen zu thun hat, darf man sich darauf verlassen, daß Alles geschieht, und in der rechten Weise, was möglich ist, um dasselbe zum ruhmreichen Ende zu führen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sich sich
  2. Vorlage: veramme