Die Gartenlaube (1864)/Heft 16

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 16.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.





Der Schatten.
Erzählung von Carl August Heigel.
(Fortsetzung.)


Sogar das frostige Herz der Durchlaucht schmolz unter Montigny’s jugendlicher Wärme, seinem Schwatzen und Schmeicheln. Sie ließ sich von ihm zu Tische führen und hörte schon nach dem ersten Gang nur noch auf ihn, vor Vergnügen mit den weißen Wimpern zwinkernd und ihres Nachbarn zur Linken ganz vergessen. Stephanie, die ihnen gegenüber zwischen dem Fürsten und einem siebenzigjährigen General wie eine Elfe zwischen zwei Eisbären saß, beneidete die Fürstin und mußte sich Gewalt anthun, um nicht immer nach ihrem Cousin zu blicken.

Musik spielte während der Tafel. Als Eis servirt wurde und der Champagner in den Gläsern perlte, ward das Gespräch lauter und allgemeiner. Heinrich, der weiland als Schloßherr an diesen Unterhaltungen hatte Theil nehmen müssen, nun aber als stummer Gast sie genauer verfolgen und prüfen konnte, erschrak über die Leerheit der Gespräche, die Unwissenheit, welche Mancher dabei verrieth, und die Herzensrohheit, die nicht selten unter gewähltem Ton hervorzüngelte.

„Alexandrine, horche doch!“ rief der taube Fürst seiner Gemahlin zu. „Sie spielen das Terzett aus der Zauberflöte.“

My dear, Du irrst Dich,“ erwiderte die Fürstin, zerstreut hinhorchend. „Sie spielen Verdi; Verdi!“ wiederholte sie lauter. „Oh, come mobili sono le donne …“

„Lieben auch Sie Verdi, Durchlaucht?“ fragte Montigny. „Verdi ist mein Componist, Heine mein Poet.“

„Dann haben wir Einen Geschmack,“ erwiderte sie. „O ich lebe und schwebe in Musik! Der Fürst hat eine erlesene Kapelle. Wenn Sie uns endlich einmal auf Stauff besuchen, soll sie nur Verdi spielen.“ Und sie versenkten sich wieder in ein leise geführtes Gespräch, während dessen die Fürstin manchmal scheu nach ihrem Gatten und auf die übrige Gesellschaft blickte. Aber der Erstere suchte die Gräfin für das neue Drainirungssystem seines Güterdirectors zu interessiren, die Andern schwatzten wirr durcheinander. Montigny’s Lippen zuckten immer übermüthiger.

Waldenburg sah Stephaniens unmuthiges Erröthen, sah ihr Auge bald auf die Fürstin, bald auf Edgar blitzen und verstand sie. Sie war eifersüchtig. Kurz nach dem Dessert erhob sie sich und gab damit das Zeichen zum Aufbruch nach der Terrasse. Dort theilte sich die Gesellschaft sofort in verschiedene Gruppen. Einige gingen auf der Terrasse plaudernd auf und nieder, Andere lehnten am Treppengeländer, die Mehrzahl lustwandelte im Park. Man trank Kaffee, die älteren Herren rauchten, die jüngeren schlossen sich den Damen an.

Waldenburg verfolgte mit den Augen seine Gattin. Sie streifte an Montigny vorüber und flüsterte ihm dabei einige Worte zu; Edgar antwortete lachend. Heinrich errieth ihn: er machte sich über die Fürstin lustig. Aber Stephanie ließ sich so schnell nicht versöhnen, sie ging in den Park hinab, wohin ihr Montigny mit verdrießlichem Gesicht folgte; dort wurden sie von einem heitern Schwarm umringt und festgehalten.

Fräulein Fanny hatte Heinrich in’s Auge gefaßt. Fühlte sie Mitleid mit dem verlassenen Mann oder fand sie es an der Zeit, dem immer keckeren Drängen eines jungen Officiers, ihres Begleiters, zu entrinnen, sie trennte sich von Letzterem und trat zu Waldenburg.

„Sie wohnten wohl nie einer so großen Tafel bei, Herr Kaplan?“ begann sie in ihrer resoluten Weise. „Uebrigens sollte ich Ihnen grollen, denn während des Diners haben Sie mich grausam vernachlässigt und ihre Aufmerksamkeit ausschließlich der Gräfin und Herrn von Montigny gewidmet. Allerdings das einzig Interessante der ganzen Tafel! Ich wette, Sie dachten an den nahen Tag, an dem Sie Beide trauen werden.“

„Liebte die Gräfin ihren Gemahl so wenig, daß sie ihn so bald vergessen könnte?“

„O ja, ich glaube, sie liebte ihn. Kurz nach dem Todesfall erhielt ich meine Stelle und fand die Wittwe wie Niobe, ganz in Thränen. Aber kann man denn immer an Leichen denken? Und sagen Sie selbst, bilden Stephanie und Edgar nicht das schönste Paar der Welt? Auch hörte ich von einem alten Privilegium, demzufolge Montigny, sobald er ihre Hand und das Schloß erhält, in den Grafenstand erhoben würde. Sie bliebe also Gräfin.“

„Ist Schönheit die einzige Bedingung einer glücklichen Ehe? der Vorbehalt eines Titels die einzige Rücksicht?“

„So meint’ ich es nicht. Ich bin überzeugt, daß die Gräfin jetzt ihren Cousin liebt, wärmer vielleicht als ihren ersten Gemahl. Ich kannte diesen nicht, aber was ich von meiner Gebieterin, von Herrn von Montigny und Andern über ihn hörte, macht mich vermuthen, daß er für Stephanie nicht der rechte Mann war. Er ein mystischer Träumer, der sich über Gott und Welt, Menschenbestimmung und was weiß ich den Kopf zerbrach; die Gräfin aber träumt niemals am Tag und Nachts gewiß nur von Bällen und Soiréen. Zu gefallen, hält sie für ihre einzige Bestimmung, und ihr Ideal ist vielleicht die Fürstin Metternich in Paris. Ich fiel aus den Wolken, als sie sich heute von einem gespenstischen Schatten etwas einredete. Bisher sah sie nur Sonnenschein auf ihrem Wege. Zu [242] dieser lebensfrohen, reizenden Weltdame denken Sie sich nun jenen melancholischen, „von des Gedankens Blässe angekränkelten“ Mann! Ich fürchte, der gute Graf hat Stephanie mit seinen gewichtigen Discussionen oft entsetzlich gelangweilt. Montigny dagegen paßt seiner Gemüthsart und – seinen Fehlern nach vollkommen zu Stephanie.“

„Sie thun ihr Unrecht!“ fuhr Heinrich empor.

„Kennen Sie denn die Gräfin schon?“ fuhr Fanny, die Schultern zuckend, fort. „Ihres Cousins Charakter mag sich wohl auf den ersten Blick errathen lassen, von Männern wenigstens. Aber sie lernt sich nicht so bald auswendig. Ihre Augen verstehen so sanft zu blicken, ihre Lippen so himmlisch zu lächeln, aber – Sie werden mein Vertrauen nicht mißbrauchen! – ich, die Dienerin, vor der man sich giebt, wie man ist, sah dieselben Augen so böse funkeln, daß ich vor ihnen zitterte. Montigny ist leichtsinnig, flatterhaft; die Gräfin ist es auch. Montigny kann aus Laune Menschen zu Thränen quälen; die Gräfin kann es auch. Heute bin ich ihre süße, liebe Fanny, morgen läßt sie mich, weil es regnet oder ihr neues Kleid nicht ankam, fünf Stunden lang eine politische Abhandlung vorlesen, von der wir Beide nichts verstehen, die uns Beide langweilt; unterbricht mich, nur um meine Aussprache zu tadeln, und quält sich, blos um mich noch mehr zu quälen, bis mir die Stimme versagt und ich halb ohnmächtig vor Brustweh werde …“

„Sie ist launisch wie ein Kind.“

„Sie kann grausam wie ein Teufel sein,“ versetzte das Mädchen mit gesteigerter Leidenschaft. „Vergebung, Herr Kaplan, daß ich solch’ böse Zunge führe, aber ich litt zu viel in diesen Kreisen, um sie zu lieben. Man machte mich zur Heuchlerin; lassen Sie mich Ihnen gegenüber wieder einmal wahr sein. Nach einem Jahre werd’ ich Sie fragen, ob ich Recht hatte; nach einem Jahre werden Sie wissen, was Zurücksetzung, Verdächtigung, Kränkung heißt – jene glatten, schmeichelnden, schönen Wesen haben ja Zeit genug, um unser Herz langsam, mit feinen Nadelstichen zu tödten! Sie werden sie fühlen, diese zierlichen Dolche, denn Sie sind bürgerlich bescheiden, still und wahrscheinlich arm …“

Heinrich betrachtete mit tiefem Mitleiden das Mädchen, das ihm vor einer Stunde noch das fröhlichste, sorglose Wesen schien. Die lang verhaltene Bitterkeit war ihr, einem entfesselten Strome gleich, entstürzt, Thränen standen in ihren Augen, und von den aufgetürmten Empfindungen, die sie einem Leidensgenossen zu bekennen wähnte, wogte noch ihre Brust. „Ach,“ dachte Heinrich, „nun verstehe ich das Lächeln dieser armen Geschöpfe, die ein unseliges Geschick an unsere Launen kettet. Weil wir ihnen nicht erlauben, Empfindungen zu äußern, halten wir sie für unempfindlich.“

Unterdessen hatten sich nach und nach alle Gäste um Stephanie versammelt. Fanny blickte hinab, trocknete sich die Augen und sagte mit flüchtigem Lächeln: „Ich ließ mich zu leidenschaftlichen Aeußerungen hinreißen, welche Sie wahrscheinlich für thöricht und grundlos halten. Es geschieht mir selten, und beinahe glaube ich nun selbst an eine besondere Gewalt Ihrer Stimme. Die Gräfin sprach davon, während sie zum Diner sich ankleiden ließ, und versicherte, Ihre Stimme klänge wie aus dem Grabe. Nun, Todte sind verschwiegen. Vergessen Sie meine Worte und lassen Sie uns dem Triumphzug der Grazie und Freude folgen. Kommen Sie! Man begiebt sich tiefer in den Park. Dort wird man sich auf dem schattigen Rasen lagern, scherzen und spielen … Wenn wir nicht selbst kommen,“ setzte sie ironisch hinzu, „einladen und holen wird man uns nicht.“

Waldenburg lehnte die Theilnahme ab. Er wolle nach der Sennhütte über der Heinrichswand. Angelo habe ihm soviel von der wilden Schönheit des Weges erzählt, daß er darnach brenne.

„Ja,“ erwiderte sie, „der Weg soll sehr schön, sehr romantisch, aber auch lebensgefährlich sein. Wenn Sie im Bergsteigen nicht sehr geübt sind, unternehmen Sie das Wagniß nicht! Ein falscher Tritt ist sicherer Tod.“

„Ich bin im Gebirge geboren. Mein Fuß geht nicht fehl.“

Fanny zuckte die Schultern. „Gott behüte Sie dann auf Ihrem Wege! Auf Wiedersehen!“ Sie eilte die Terrasse hinab, um der Gesellschaft zu folgen, welche im grünen Wirrsal des Parks langsam verschwand.




Die mondhelle Nacht lag über der Landschaft, als Heinrich von der Sennhütte, von Angelo zurückkehrte. Schon von Weitem klang ihm der Hochzeitsjubel entgegen. Als er durch die Dorfstraße ging, waren nur wenige Fenster an den Häusern erhellt, wo Kranke lagen oder altersschwache Leute wohnten. Wer gesunde Beine hatte, war im Adler, und die im hellerleuchteten Gasthaus nicht Platz fanden, drängten sich vor dem Hause oder waren auf die abgeschirrten Fuhrwerke der Gäste aus der Nachbarschaft gestiegen, eine günstige Gelegenheit abwartend, wo sie durch den dichtbesetzten Hausflur nach dem Tanzsaal schlüpfen konnten. So empfing Heinrich im Freien schon ein lustiges Gewühl. Die Dirnen gingen Arm in Arm zu Dreien und Vieren auf und nieder. Die jungen Bursche standen in Haufen beisammen, stießen sich und jodelten übermüthig in die Tanzweise hinein, die von oben durch die geöffneten Fenster rauschte. Dazwischen drängten sich Livreebediente mit Windlichtern; Equipagen kamen vom Schloß gefahren und nahmen die Herren und Damen auf, die, in Tücher eingemummt, aus dem Adler traten, um nach ihrem Gut zurückzukehren. Hoch über dem Eingang aber leuchtete aus Tannenreisig das buntfarbige Transparent mit dem flammenden Herzen, dem Myrthenkranz und dem Wahlspruch der Grafen Waldenburg.

Heinrich kannte den Weg, der zur Hinterthür des Gebäudes führte. Er ging über den Hof an den Stallungen vorüber. Durch einen kleinen Garten gelangte man dann in’s Haus.

Der angrenzende Felsen warf einen breiten Schlagschatten über die Blumenbeete. In diesem Schatten sah Heinrich ein einsames Paar stehen, Mann und Frau. Er hielt ihre Hand und flüsterte hastig, bewegt; sie schluchzte. Als Heinrich den niedrigen Gartenzaun geräuschvoll öffnete, fuhren sie scheu von einander. Sie huschte in eine nahe Laube; der Mann verschwand rasch durch die Hausthüre. Aber beim Oeffnen derselben fiel – freilich nur einen Augenblick lang – der Lichtschimmer vom Flur auf ihn, und Heinrich glaubte die Gestalt Montigny’s zu erkennen.

Der Ueberraschte zögerte; da schallten Schritte hinter ihm. Ein hochgewachsener Bauernbursche, mit einem mächtigen Blumenstrauß auf der Brust, näherte sich eilig. Mit einem flüchtigen Blick maß er den Fremden und murmelte, als er dessen Priesterkleid erkannte, einen Gruß. Dann ging er vor Heinrich rasch in den Garten, sah sich um und trat zuletzt in die Laube.

„Toni, Du bist’s?!“ sagte die Frauenstimme erschrocken.

„Ja, ich, Dein Toni, der glücklichste Bub’ heut’ auf der ganzen Welt!“ antwortete es. „Und Du hast Dich davon geschlichen, sitzest hier und – ich glaube gar, Du weinst! Afra! mein Goldherz, mein liebes, liebes Weib!“

Heinrich schauderte. Das Mädchen, das an Montigny’s Seite geweint hatte, war die Braut, war Afra, die Tochter des reichen Silberbauers, „der jetzt den Fuchs des seligen Grafen hat.“

Heinrich floh vor seinen eigenen Gedanken in das Geräusch des Festes. In der großen Wirthsstube des Erdgeschosses standen die gedeckten Tische der Hochzeitsgäste. Dort saßen am Ehrenplatz das Jubelpaar und die Eltern der Braut, in buntem Gemisch Bauern und Bäuerinnen, Bürger aus Wendelstein und Forstleute, Alle festlich geputzt, vor sich Wein und Speisen im Ueberfluß.

Draußen auf der Treppe ging’s hinauf, hinab. Die Tänzerpaare eilten zum Saal empor oder kehrten erhitzt, mit rothen Gesichtern, von dort zurück. Der Raum, in dem getanzt wurde, lag von der Treppe links. Da summten und sangen die Geigen, dröhnten die Bässe und schmetterten zu Clarinetten und Flötenläufen die Trompeten. Die Paare schwirrten und wirbelten durcheinander, schwangen und drehten sich … Rechts befand sich das geräumige, mit Tannen und Birken ausgeschmückte Gemach für den vornehmen Besuch, für die Gräfin und ihre Gäste. Heinrich, dem die zahlreichen Neugierigen vor der weitgeöffneten Thür Platz machten, trat hastig vor die Schwelle und überblickte den hellerleuchteten Raum. Um eine gedeckte Tafel mit dem silbernen Theeservice der Gräfin saß und stand man in losen Gruppen umher. Die Mehrzahl der Gäste, unter ihnen das Fürstenpaar, hatte sich bereits entfernt. Einige Herren und Damen hielten Stephanie umringt, die schön wie eine Fee aussah, und Montigny redete seiner Cousine eifrig zu. Unweit davon stand schmunzelnd der Adlerwirth. Die Gräfin blickte verlegen zur Erde und schien zu schwanken. Dann schlug sie die Augen zu Edgar auf und erhob sich tief erröthend. Die Herren klatschten in die Hände, auch die Uebrigen drängten sich fröhlich hinzu; der Adlerwirth aber rief Hurrah! und stürmte aus dem Gemach in den Tanzsaal. Dort stieß er links und rechts um sich, gewann die Mitte und schrie, seine Mütze schwenkend, zu [243] den Musikanten empor: „Einen Extrawalzer für die Frau Gräfin! … Platz, Platz für die Herrschaften!“

Waldenburg fuhr, in’s tiefste Herz getroffen, zurück. Unter den zuströmenden Landleuten stehend, sah er mit flirrenden Augen sein Weib am Arme Montigny’s und ihr glänzendes Gefolge an sich vorüberschreiten, sah sie dann am Arme Montigny’s tanzend dahinschweben, langsam erst, belebter, feurig, trunken dann von der langentbehrten Lust. Er fühlte, daß er diesen Anblick nicht länger ertragen könnte, ohne sich auf das schöne, bewunderte Paar wie ein Tiger zu stürzen. Gewaltsam faßte er seinen Entschluß und floh …

Eine Stunde später verließ die Gräfin in Montigny’s, der Baronin und Fanny’s Begleitung das Haus. Die noch anwesenden Herren gaben ihr bis an ihren Wagen das Geleit.

„Das Transparent, Ihro Gnaden!“ sagte der Adlerwirth, bevor Stephanie in den Wagen stieg. „Das Transparent haben gräfliche Gnaden noch nicht gesehen; es ist erst um Neun trocken geworden.“

Sie drehte sich um und las über der Thüre:

„Treu dem Fürsten, wie dem Knecht;
Treu als Gatten:
Auf der Waldenburg Geschlecht
Fällt kein Schatten.“




Tief in der Nacht hörte Fanny einen entsetzlichen Schrei aus dem Schlafgemach ihrer Herrin. Sie eilte hinüber. Stephanie saß gespensterbleich, mit weitgeöffneten, starren Augen auf ihrem Lager. „Der Schatten,“ sagte sie von Schauern geschüttelt, „der Schatten war wieder da!“




3.

Montigny hatte die Damen bis zu ihren Zimmern begleitet und war dann in den Adler zurückgekehrt, wo Baron Aßperg mit den noch anwesenden Officieren am Spieltisch saß. Er verlor und schuldete dem Baron, als man beim Anbruch der ersten Frühröthe endigte, eine bedeutende Summe. Lafleur, der das Frühstück servirte, fand Herrn von Montigny auf dem Divan ausgestreckt und eine Zeitung lesend. „Man ist nicht bei Laune,“ sagte sich Lafleur, während er den Tschibuk für Edgar in Stand setzte. Er präsentirte die Pfeife.

Montigny gab mürrisch zu verstehen, daß er nicht rauchen wolle.

Lafleur nahm den Ausdruck tiefster Verzweiflung an. „Haben der gnädige Herr nicht gut geschlafen? Befehlen der gnädige Herr Brausepulver?“

„Nein.“

„Wissen Euer Gnaden schon die Neuigkeit? Der Schatten ist heute Nacht wieder erschienen.“

„Wer?“

„Der Schatten im gelben Zimmer.“

„Dummes Zeug!“

„Das Fräulein erzählt’ es der Kammerjungfer. Er soll heute schon bedeutend größer als gestern gewesen sein. Die Frau Gräfin ist krank vor Schrecken.“

„Liegt sie zu Bett?“

„Nein, seit einer Stunde ist sie auf, aber Titi findet sie sehr blaß und melancholisch. An der Frau Gräfin Stelle schliefe ich keine Nacht länger neben dem gelben Zimmer, und wenn ich was zu sagen hätte, so würde das ganze Schloß umgebaut, ohne Schlupfwinkel, geheime Thüren und Gänge.“

Montigny hob den Kopf empor. „Was für geheime Thüren und Gänge?“ fragte er aufmerksam.

„Ja, das weiß man eben nicht. Als der grüne Saal zum Gewächshaus gemacht wurde, fand man hinter dem Getäfel eine Treppe, die zum rothen Zimmer im ersten Stock führte. Nun, solcher Treppen kann es mehrere geben. Die Kammerjungfer behauptet, der selige Graf und Pater Angelo hätten sie gekannt, Vielleicht kennt sie aber auch ein Anderer, den wir nicht kennen. Vielleicht lebt Einer im Schloß und mitten unter uns, den Niemand sieht und hört …“

Montigny sah den Bedienten wie Jemanden an, der uns eine neue Idee giebt. Lafleur lächelte voll Genugthuung über seine eigene Schlauheit. „Der dumme Mohr,“ fuhr er fort, „Titi und alle Andern im Vorzimmer schwören darauf, daß der Schatten der Geist des seligen Herrn sei. Noch einfältiger aber schwatzt seine Amme, die Kreislerin. Die Alte ist seit Jahren verrückt. Wenn Unsereiner sie besucht – wir thun’s der Merkwürdigkeit wegen – und fragt sie nach dem seligen Herrn, sagt sie, ihr Heinzi wäre gar nicht todt, ihr Heinzi lebte noch. Und fragt man sie weiter woher sie denn das wisse, legt sie die Hand auf den Brustlatz und antwortet: daher! … Na, das ist purer Unsinn, denn ist Einer ’mal eingesargt, kommt er nicht wieder ’raus. Aber daß Jemand im Schloß ist, der nicht hineingehört, das glaub’ ich.“

„Lafleur, Sie sind so einfältig, wie die Andern.“

„Ach, Herr von Montigny,“ grinste der Diener, „das meinen Sie doch nicht im Ernst. Uebrigens habe ich noch eine Bitte –

„Rasch, rasch! Sie sind ein unerträglicher Schwätzer.“

„Der neue Kaplan war grob gegen mich.“

„Sie werden es verdient haben.“

„Bitte, Euer Gnaden, dem ist nicht so. Wie ich das Frühstück für Euer Gnaden aus der Küche holen will, hält mich der Kaplan an und fragt nach der gräflichen Bibliothek. – Die ist in Körbe verpackt, sage ich, und nach dem Speicher gebracht. – Was, schreit er, die kostbare Bibliothek! – Ich zucke die Achseln und sage, daß ich weder den Herrn Grafen, noch seine Bibliothek gekannt hätte. – Schaffen Sie augenblicklich die Bücher nach meinem Zimmer! spricht Herr Stein. – Ich habe keine Zeit, antworte ich, Herr von Montigny wartet auf sein Frühstück. – Erst gehorch Er mir, knirscht er. – Das werd’ ich bleiben lassen, sag’ ich. Ich gehorche hier nur Herrn von Montigny und der Frau Gräfin … Was thut er? Weiß der Geier, woher die alte Vogelscheuche auf einmal soviel Kraft bekam! Er faßt mich am Kragen und zerrt mich die Treppe hinauf bis in den Speicher. Ich raisonnirte und wehrte mich, aber es half nichts. Korb für Korb mußt’ ich ihm nach dem Thurm schleppen … Ja, erst gehorcht man mir und dann Herrn von Montigny, hat er gesagt. Wenn also der Kaplan mich bei der Frau Gräfin verleumden sollte, bitt’ ich, daß Euer Gnaden –“

„Genug davon,“ unterbrach ihn Montigny. „Gehen Sie jetzt zum Baron. Ich lasse ihn bitten, mich auf der Terrasse zu erwarten.“

Lafleur verbeugte sich und ging. „Ich bin gerächt,“ triumphirte der Bediente. „Der Pfaffe muß aus dem Haus,“ dachte Montigny. „Ich will nur Leute um mich, die Respect vor mir haben.“




Der Tag war heiß. Als die Sonne im Mittag stand, machte Heinrich einen Gang durch den Garten. Im Vorüberschreiten hört er aus einer Laube die Stimmen Edgar’s und Aßperg’s. Sie sprachen französisch. Waldenburg wollte vorbeigehen, aber der Klang seines eigenen Namens bannte ihn.

„Mein Vetter Heinrich dreht sich im Sarge um,“ sagte Montigny.

„Diese Rücksicht hindert Sie doch nicht?“ versetzte der Baron.

„Doch, doch! Der Graf war ziemlich gut gegen mich; er ließ mich reisen und bezahlte zweimal meine Schulden … Freilich war unser Verhältniß kein zärtliches. Wir paßten zusammen wie – wie ein Gebetbuch und Heine’s Romanzero. Auch stand ich nicht in der Gunst seines Herzbruders und Gewissensrathes Angelo. Ich nehme daher ohne Bedenken von meiner Cousine Herz und Hand Besitz, aber sein Schloß, seinen Stammsitz veräußern – Pest! Meine Mutter war eine Waldenburg; es empört sich mein Blut gegen diesen Handel.“

Heinrich zuckte zusammen; er konnte den Platz nicht mehr verlassen.

„Gut,“ hörte er den Baron sagen. „Das ist recht rührend, recht gewissenhaft. Nur schade, daß Sie nicht noch einen Cousin haben, der Ihnen zum dritten Male Ihre Schulden bezahlt. Schulden, die wohl das Sechsfache Ihrer früheren Verpflichtungen betragen.“

„Herr Baron!“ brauste Montigny empor.

„Recht so, spielen Sie den Beleidigten, weil ich Ihr Freund bin und Ihr Retter werden will, weil ich Ihnen den Abgrund zeige, an dem Sie stehen. Kein Wort weiter! Wenn ich nicht Ihr aufrichtiger Vertrauter sein darf, will ich gar nicht Ihr Vertrauter sein.“

„Nun, in Henkers Namen, seien Sie aufrichtig! Halten Sie mir den Spiegel vor, machen Sie mir die Hölle heiß! Ich kann nicht mehr Kopfweh bekommen, als ich schon habe.“

[244] „Ich bin ja kein Angelo, mache Ihnen keine Vorwürfe wegen Ihrer tollen Wirthschaft. Sie sind nun einmal ein Lebemann, ein Cavalier, echtes Vollblut mit allen nobeln Passionen. Wie Sie leben, leben müssen, bedürfen Sie mindestens zwölftausend Thaler Renten. Das finde ich durchaus lobenswerth; der Mensch steigt um so höher in meiner Achtung, je mehr er braucht. Leider wirft Ihnen Ihr eigenes Vermögen nur zweitausend ab. Zwar hege ich eine hohe Meinung von Ihrer Liebenswürdigkeit, Grazie und Ueberredungsgabe – wie Sie dem Silberbauer einen Wechsel in die Hände spielten, war ein Meisterstück! Aber das geht nicht immer. Eines Tages werden Sie nur noch Gläubiger und keine Creditoren haben. Sie müssen sich also zu verbessern suchen –“

„Wenn ich meine Cousine heirathe –“

„Nun, wenn Sie Ihre Cousine heirathen, was dann? Dann werden Sie ihr am Morgen nach der Hochzeit ein Sündenbekenntniß machen und von Wucherern Geld auf das Schloß aufnehmen müssen, um Ihre Schulden zu bezahlen. Und dann, da Sie kein Hans Träumer wie Ihr Cousin sind, sich nicht in Bücher vergraben, nicht Milch statt Sect trinken, werden Sie sich in diesem alten Eulennest sehr bald langweilen, werden mit der Gräfin ein Hôtel in der Residenz beziehen und also doppelte Rechnung machen. Grund und Boden hier werfen eine hübsche Summe ab, aber sie wollen auch klug verwaltet und ausgenützt sein, und Sie sind kein Landwirth.“

„Mit der Zeit kann ich es werden.“

„Nie! Sie haben Ihre Seele der Gesellschaft, dem Spieltisch und dem Ballet verschrieben. Diese drei Teufel geben Einen nicht los, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Andrerseits werden Schloß, Land und Wald an Ihnen zehren, denn man hat auch das Mittelalter nicht umsonst. Kurz, ich sehe Ihren sichern Ruin, durch die Heirath zwar verzögert, aber dann rapid, schrecklich, hoffnungslos.“

Es entstand eine kurze Pause. Montigny pfiff leise vor sich hin. Dann hörte Waldenburg den Baron mit gedämpfter Stimme fortfahren: „Ich zeigte Ihnen den Rettungsweg. Herrn von Stranzau’s Schwiegervater, der Jud’ Levy, will sein Töchterchen, die gnädige Frau, durchaus in einem Ritterschloß sehen. Levy kann ein Fürstenthum bezahlen … Sie wissen, Stranzau thut nichts ohne mich. Gesprächsweise ließ ich einmal ein Wort von Waldenburg fallen. Das ist ja meiner Schwiegermutter Ideal! schrie Stranzau. – Unter Levy’s Leuten befindet sich ein alter Waldenburger. Dieser scheint die Bankiersfrau auf die Romantik der Bergschlösser gebracht zu haben. Denn sie schwärmt für nichts mehr, als für ein thurmgeschmücktes, verwittertes Schloß in pittoresker Landschaft, für lange Corridore, hohe Säle und geheimnißvolle Treppen. Ich, immer in Gedanken, in Sorgen um Sie, lasse einen Schimmer von Möglichkeit blicken, Schloß Waldenburg zu erwerben. Stranzau überschlug sich vor Freude, und seit jener Stunde bin ich bei Levy’s bon enfant.“

„Levy ist ein Geldmensch, ein Speculant. Er wird mich beim Kauf übervortheilen.“

„Bah, diese Börsenhelden haben ihre schwachen Seiten. Nach Ihrer Hochzeit machen Sie sobald als möglich Levy’s Bekanntschaft. Sie laden Stranzau und Schwiegereltern nach Waldenburg ein und spielen hier den liebenswürdigen Wirth. Das weibliche Israel wird entzückt sein, die Männer bearbeite ich, und – heißen Sie mich einen Schwätzer, wenn Sie nicht ein brillantes Geschäft machen! Dann sind Sie das alte Gemäuer los, haben ein baares Capital und können in der Residenz die Stellung einnehmen, die Ihnen gebührt.“

„Wenn aber Stephanie in den Verkauf nicht einwilligt?“

„Montigny?! Muß ich das von Ihnen hören? Eine Frau, die uns liebt, nicht einwilligen? Sie scheinen sich heute vorgenommen zu haben, naiv zu sein …“

„Meine Cousine liebt mich jetzt; sie wird mir auch ihre Hand reichen; wenn sie mich aber besitzt, fürchte ich eine Wandlung. Denn ihre Seele hat Schmetterlingsflügel, wie die meinige. Das Errungene reizt nicht mehr. Sehr bald wird es Scenen geben. Ich habe manchmal hundert Teufel in mir. Diese Scenen werden uns abkühlen, und dann – ach, Aßperg, wir sind doch Alle Träumer! Mein schneller Sieg über Stephanie, anfangs mein Triumph, meine Wonne, ruft jetzt Bedenken in mir wach: sie wird dem zweiten Gatten nicht treuer sein als dem ersten …“

„Also sehen Sie sich vor!“

„Ich habe eine dunkle Ahnung, Stephanie wird nach der Hochzeit sich Nein zu sagen angewöhnen, wie sie jetzt zu Allem Ja spricht.“

„Also sehen Sie sich vor, mein Lieber! Machen Sie einen klugen Contract! Sichern Sie sich in gewissen klingenden Fragen vor diesem Nein!“

„Parbleu, das werd’ ich. Ich will wenigstens goldne Fesseln tragen.“

„Und was Waldenburg betrifft –?“

„Waldenburg wird verkauft … Still! Wer geht da?“ Montigny sprang empor und schlug das Gezweig auseinander. Er sah Heinrich mit einem ernsten Blick vorübergehen. Erblassend taumelte er zurück und rief: „Himmel, mein Cousin!“

„Sind Sie toll?“ sagte Aßperg, durch die Oeffnung blickend.

„Es ist der Kaplan.“

„Ganz recht,“ erwiderte Montigny, der mit Mühe sich faßte. „Gestern bestritt ich selbst jede Aehnlichkeit, aber in diesem Augenblick – in diesem Augenblick, schwör’ ich Ihnen, erschien er mir wie Heinrich’s Gespenst.“

Der Baron maß Edgar mit bedeutungsvollem Blick. „Unglücklicher,“ sagte er, „Sie haben noch ein Gewissen.“

„Wenn der Schleicher uns belauscht hat?“

„Das werd’ ich sofort erfahren,“ sprach Aßperg und verließ den Laubengang. Nach wenigen Minuten kam er zu Heinrich zurück. „Beruhigen Sie sich,“ lächelte er zufrieden. „Herr Stein versteht kein Wort Französisch.“

(Fortsetzung)




Ein Tag in Shakespeare’s London.
Zur dreihundertjährigen Shakespeare-Feier.
Von Julius Rodenberg.
1. Von Whitehall bis zur Meermaid.

Obwohl London im 16. Jahrhundert nicht viel mehr Einwohner zählte, als Köln, und nicht ganz so viel, als Hamburg heute besitzt, so galt es doch schon damals für eine der größten Städte in der Christenheit, und unser deutscher Tourist Hentzner, welcher 1598 dort war, berichtet daher mit aufrichtigem Staunen, daß der Umfang dieser Stadt „beinahe eine ganze Meile beträgt“. Damals, wie heute, gab es eine City von London und eine City von Westminster, aber die Vorstädte, deren Häusermassen heute das Stein- und Mörtelmeer von London schwellen, waren damals noch grüne Felder und blumige Wiesen, und die City von Westminster selber war nicht viel mehr als eine Vorstadt von Palästen, der Sitz des Hofes und der Edlen von England. Hier war die damals schon alte Abtei und Kathedrale von Westminster, die Halle des Parlamentes und York-Place, eine prachtvolle Residenz, erbaut von Cardinal Wolsey, aber von Heinrich VIII. seinem ehemaligen Günstling nach dessen Sturz geraubt und darauf „mit ihrem reichen Vorrath von Kostbarkeiten, ihren Tapeten von Gold- und Silberstoff, ihren Tausenden von Stücken feiner holländischer Leinwand und ihren Vorräthen von Silber-, ja sogar schönem Goldgeschirr, welches zwei große Tafeln bedeckte,“ von dem Monarchen in höchsteigenen Gebrauch genommen. Seitdem hieß diese Residenz „Whitehall“, und hier, im Glanze von Englands glorreichsten Tagen, saß Elisabeth, „von Gottes Gnaden Königin von England, Frankreich und Irland, die Beschützerin des Glaubens“, auf dem Throne.

Wo jetzt das Gewirr dunkler Höfe und die übelberüchtigten Seitengassen des „Strand“ bis an die schlammigen Ufer der Themse reichen, da standen damals die Stadthäuser der Bischöfe, der Gesandten und der großen Lords. Schöne Gärten umgaben sie und an

[245]

Fletcher.   Shakespeare mit seinen Freunden in der Taverne „zur Meermaid“.  
Shakespeare.  Taylor.  Burbage.  Ben Jonson.  Oldcastle.

ihren Mauern plätscherte das Wasser der in jenen Tagen noch „silbernen“ Themse dahin. Hier war Bedford-House und Leicester-House und Essex-House – jetzt verschwunden von den Stellen, wo sie gestanden, und nur den Straßen, Plätzen und Quartieren des neuen Londons ihre alten Namen hinterlassend. Hier war auch Durham-House, und da, in einem kleinen Studirzimmer, welches die Themse überblickte, saß Sir Walter Raleigh, der Kriegsheld, der Entdecker ferner Länder, der Gelehrte und der Hofmann. Ein Kranz berühmter Namen schloß sich um den Thron von Elisabeth: es war das Jünglingsalter und die Heldenzeit von England. Philipp von Spanien, welcher aus einem Bewerber um ihre Hand ein Feind Elisabeth’s geworden, hatte England zu vernichten gedroht mit einem furchtbaren Heere von Schiffen, der sogenannten Armada. Aber „Gott blies und sie waren zerstreut.“ Dieses Gottesgericht war der Anfang von Englands Macht zur See. Die Blüthe der Colonien begann, und im Innern, von der Freiheit des Glaubens getragen, regte sich mit dem wachsenden Wohlstand zugleich das geistige Leben der Nation.

Ein massives Steinthor, schwarz vom Ruß der Jahrhunderte, trennt heute den Strand von Fleetstreet, die City vom Westende; damals that es ein Schlagbaum von Holz, frisch bemalt und mit farbigem Tuch behangen, die Tempel-Barre, Temple Bar, genannt, nach der benachbarten [246] Juristeninnung vom Tempel. Hinter Temple Bar begann die City, das eigentliche London jener Tage. Hier, mit ihrem selbstgewählten City-Monarchen, dem Lord-Mayor, welcher seinen Hof und seinen Hofgarten so gut hatte wie die Königin auf der andern Seite der Barre, wohnten alle die guten Bürger von London. Hier hausten die reichen Kaufleute, deren fast fürstlicher Luxus gleichen Schritt hielt mit dem Wachsthum der Colonien, des Handels und der ostindischen Compagnie. Ihre Häuser, aus eichenen Balken gezimmert, mit gothischen Fenstern und Giebeldächern, gaben den Straßen, obgleich sie eng waren, eine malerische Perspective. Nur noch sehr wenige von diesen Elisabeth’schen Häusern sind übrig geblieben in der City von London, um uns einen Begriff zu geben von der reichen Bauart und dem bessern Geschmack jener Zeit. Das große Feuer von 1666 hat sie fast sämmtlich zerstört. Aber damals standen sie noch in all ihrer pittoresken Schönheit, mit ihren geschnitzten Balkenenden und ihren Blumen von Eichenholz über der Thür und an den Fenstern. Ein jedes Haus hatte, ganz ebenso wie zu jener Zeit in Deutschland und heute noch vielfach in den Schweizer Städten, sein besonderes Zeichen, nachdem es hieß; denn Häusernummern gab es dazumal noch nicht. Da waren Zeichen nach den Gewerben und Zünften, und da waren Zeichen, die auf den Handel und die Schifffahrt und die fernen Länder Bezug hatten. Da war ein Mohrenkopf und ein Griechenkopf in seinen natürlichen Farben (oder wenigstens, was man dafür hielt), und da war ein goldener Ball und ein goldenes Kreuz. Dieses Haus hieß „zum schwarzen Bullen“ und jenes Haus hieß „zum rothen Löwen“. Alle diese verschiedenen Marken und Figuren und Kennzeichen mit ihren bunten Farben und starken Vergoldungen waren auf den Straßen zu sehen. Es muß ein sehr fröhlicher Anblick gewesen sein. Und auch die Brücken hatten ihre Häuser auf beiden Seiten, und in der Mitte von London-Bridge stand sogar eine Kirche.

Und so malerisch wie die Straßen selber war auch das Treiben der Menschen darin. Da war nicht der eiserne Lärm von tausend Rädern in Bewegung: „da war (wie der alte Chronist Stowe sagt) allerweg ein lustiger Lärm von gastlichen Zubereitungen. Die Köche riefen heiße Rippen von geröstetem Rindfleisch, wohlgebackene Pasteten und andere Lebensmittel aus; da war ein Klingen von zinnernen Krügen, von Harfe, von Flöte und Psalter“. Die Namen von Pudding-lane, Weinstraße und Hahn- und Pastetengäßchen im heutigen London erinnern noch an die leckeren Bissen von ehedem. Und so wenig, als an den Häusern, war unsere Monotonie von Braun und Grau in den Trachten jener Zeit. Das war damals Alles phantasie- und farbenreich, angenehm und unterhaltend für das Auge. Es war mehr Individualität und mehr Heiterkeit in der Welt und in den Kleidern. Das Zeitalter, welches die erhabene Pracht der Münster aufzuthürmen und die stattlichen Söller der Edelsitze, die traulichen Erker der Bürgerhäuser zu bauen verstand, das hatte auch eine staunenswerthe Erfindung für das Costüm. Welch’ ein ungeheurer Reichthum von Phantasie ward auf die Schuhe, die Hüte, die Hosen und die Mäntel verschwendet! Auf jene Schuhe, deren Spitzen sich bald aufwärts drehten, wie ein Widderhorn, bald ausbreiteten, wie ein geöffneter Fächer; auf den Kopfputz, welcher variirte von dem Barett bis zu dem Hut mit thurmartiger Spitze; auf die Mäntel, welche sich von dem kurzen normännischen Spenser bis zu dem weiten und faltenreichen spanischen Mantel abstuften. Lustige Cavaliere in Sammet, Seide und feinem Tuch, welches von Gold- und Silberstickerei funkelte, paradirten durch die Straßen, und ebenso wie der Adel, hatte auch der Bürgerstand seine Farbe und seinen Putz, und jede Gilde, jedes Handwerk, jede Profession ihre Wappen und Zeichen. Schwarz war ganz aus der Mode; und inmitten dieses fortwährenden Gepränges von Spitzen und Atlas, von grünen, scharlachen, nelkenrothen oder himmelblauen Röcken, von pflaumenfarbenen Mänteln und gelben Ueberwürfen bezeichnete ein Anzug von dunklem Stoff den Kopfhänger, den Augenverdreher, den Frömmler, den Puritaner. –

In dieses London, so lebenslustig damals, so kräftig in dem Gefühl des nationalen Aufschwunges, so schimmernd von den neuen Reichthümern, so rauschend von den Festen des Hofes, den Aufzügen und Vergnügungen der Bürger, in dieses London kam um das Jahr 1586 William Shakespeare aus seiner ländlichen Heimath in Warwickshire. Er war dreiundzwanzigjährig und hatte daheim eine Frau, welche acht Jahr älter war, als er, und drei Kinder gelassen. Ob er aus Stratford am Avon geflüchtet, der Wilddieberei und der Abfassung eines Spottgedichtes auf den Friedensrichter Sir Thomas Lucy beschuldigt, oder ob er ausgewandert, mit der Absicht, in London sein Glück zu versuchen, das wissen wir so wenig, wie es uns bekannt ist, ob er seine dramatische Laufbahn damit begonnen, vor dem Theater die Pferde zu halten oder auf das Theater die Stühle zu stellen. Aber seht, da ist er; sein Genius hat ihn zur rechten Zeit an den rechten Ort geführt. Aus den Händen der Zünfte und Gewerbe, welche das Drama Jahrhunderte lang, in der Gestalt von Mirakelspielen und Mysterien, auf den Straßen und dem offenen Marktplatze aufgeführt hatten, war es nun endlich in die Hände der Dichter und der Künstler, in den Palast der Königin und die Halle der Edlen gelangt. Die Lust, zu spielen und Schauspieler zu sehen, ward allgemein. Jeder große Lord hatte seine Truppe von Schauspielern, welche sich seine „Komödianten und Diener“ nannten und die Provinzen durchzogen, wenn sie in der Hauptstadt keine Beschäftigung fanden. Das erste öffentliche Theater in London, das Blackfriars-Theater, ward 1576 eröffnet; zu Ende des Jahrhunderts gab es schon siebzehn Theater, auf welchen täglich gespielt ward. Außerdem spielten die Studenten auf den Universitäten, die Juristen in ihren Innungsgebäuden, sogar die Lehrburschen von London spielten, so daß es wahr wurde, was das Sprüchwort sagte und was man später als Inschrift an da Globe-Theater setzte: „Totus mundus agit histrionem“. (Die ganze Welt macht den Schauspieler.) Shakespeare trat in die Truppe von Blackfriars ein, welche, ursprünglich im Dienste des Grafen von Leicester, später von der Königin patronisirt ward und den Namen der „Schauspieler der Königin“ annahm. Dieser Titel hat sich erhalten und es führen ihn gegenwärtig die Schauspieler von Drurylane, welche sich immer noch „Ihrer Majestät Diener“ nennen. Das junge Mitglied der Blackfriarstruppe zeichnete sich sehr bald aus: schon 1589 ward er zum Mitbesitzer, zum „sharer“ des Theaters gemacht, welches, wie es der Zeit nach das erste war, so auch dem Range nach, hinsichtlich seines Werthes, das erste der Hauptstadt blieb. „Shakespeares dramatische Unterhaltungen wurden,“ wie sich ein gleichzeitiger Schriftsteller ausdrückt, „die größte Unterstützung unseres Haupt-, wenn nicht jeden Theaters in London.“ Er hatte noch sein dreißigstes Jahr nicht erreicht, da war „unser freundlicher Willy“, der „honigzungige Shakespeare“, ein populärer und ein berühmter Mann. „Er ist unser Plautus und unser Seneca, der beste Mann in England für das Lustspiel und die Tragödie,“ sagt Francis Meres im Jahre 1598.

Wo aber haben wir ihn zu suchen in diesem London, das für die Begriffe jener Zeit schon so groß war? Nun, es gab drei Plätze in dem damaligen London, wo man sicher sein konnte, im Verlaufe eines bürgerlichen Tages einen jeden Mann, der zur guten Gesellschaft gehörte, wenigstens einmal zu treffen, entweder im St. Pauls-Dome, oder in der Taverne, oder im Theater.

Die St. Paulskirche war damals die große und fashionable Promenade von London. Was gegenwärtig der Reitweg Rotten-Row im Hydepark ist und im 17. und 18. Jahrhundert der Mall war, das war im 16. Jahrhundert St. Paul, die alte Metropolitankirche von London, nicht der Platz vor der Kirche, sondern die Kirche selber. Es gingen überhaupt wunderbare Dinge in den Kirchen vor; sie waren die Theater, die Gerichtshöfe, die politischen Kampfplätze und die Lotteriehäuser jener Tage. Das alte Drama, das Mirakelspiel, bevor es auf die Straßen gewandert war, hatte Jahrhunderte lang seinen Sitz in den Kirchen gehabt, und noch aus dem Jahre 1592 hören wir, daß bei einem Besuch der Königin Elisabeth in Oxford der Gottesdienst in der Universitätskapelle nicht so bald vorüber war, als man auch die Kapelle schon in ein Theater für die Vergnügungen des Nachmittags verwandelte. Um dieselbe Zeit verbot die akademische Obrigkeit derselben Universität das Rauchen in den Kirchen „wegen der zu großen Masse des Qualmes“. Die Gemeindewahlen wurden fast überall in den Kirchen vollzogen und sehr häufig, besonders in Zeiten von ansteckenden Krankheiten, wurden auch die Assisen daselbst gehalten. Am Ungenirtesten jedoch benahm man sich in der genannten Metropolitankirche von London, derjenigen, welche, im großen Feuer zerstört, auf derselben Stelle stand, wo jetzt der Dom von St. Paul sich erhebt. Das St. Pauls des heutigen London ist ein Kuppelbau, nach dem Muster der Peterskirche in Rom; St. Paul in Shakespeare’s London war ein gothischer Dom, mit einem schmalen Thurm, der aber durch Feuer im Jahr 1561 halb zerstört war, mit Kreuzgängen und einem Todtentanz an den Außenwänden. Im Innern [247] waren Kapellen und Schreine, welche von kostbaren Steinen und Gold und Silber schimmerten; die Glasmalereien der Fenster warfen ein vielfarbiges Licht auf das prachtvolle Silbergeräth des Hochaltars und den Schrein des heiligen Erkenwald, an welchem ein großer Sapphir funkelte, von dem man glaubte, daß er die Krankheiten der Augen heilte. – So oft Königin Elisabeth mit ihrem noblen Gefolge nach St. Paul kam, um dem Gottesdienste beizuwohnen, wurde sie fast unveränderlich begleitet von „zwei weißen Bären“. Aber dieses war nicht das Aergste. Schon seit der Reformationszeit war das Schiff des Domes ein ganz allgemeiner Durchgang geworden für die Lastknechte mit Bierfässern, Brodkörben, Fisch, Fleisch und Früchten; beladene Maulesel, Pferde und andere Thiere zogen unaufhörlich von der einen Thür zur andern, die Marmormosaiken mit Stroh, Abfall und Schmutz jeder Art bestreuend. Durch die hohen Flügel des Domes klang Rossegewieher und auf den Bänken im Chöre schnarchten die Trunkenbolde. An die Säulen wurden Zettel geschlagen und an der sogenannten „Si quis“-Thür drängten sich die Dienstboten, welche eine Herrschaft suchten. Die Advocaten hatten ihre Stände, an denen sie ihre Clienten empfingen. In den Seitengängen standen die Wucherer, und das Taufbecken ward als Comptoir bei den Zahlungen benutzt. Der Lärm war sehr groß, und während in einem Theil des Domes die Orgel ging und die Predigt gehalten ward, wurde in dem andern geflucht, geschworen und betrogen. Das Mittelschiff aber war für die fashionable Promenade reservirt; es war der Platz für die Neuigkeiten und das tägliche Rendezvous für die geistreichen und galanten Herren der Stadt.

Dieser mittlere Theil der Kirche hieß im Jargon jener Tage „das mittelländische Meer“, oder „Herzog Humphrey’s Promenade“, nach dem Grabmonument des Herzogs Humphrey genannt, welches sich darin befand. „Mit Herzog Humphrey zu Mittag speisen“, hieß in der damaligen Redeweise so viel, als kein Geld haben, um ein Mittagsessen zu bezahlen. Ein Diarist jener Zeit, Francis Osborn, giebt uns folgende Beschreibung: „Es war damals die Mode für die bessern Classen, für Lords und Hofleute und Männer von allen Berufsarten, sich in St. Paul gegen eilf Uhr Morgens zu treffen und in dem Mittelflügel bis zwölf zu promeniren, nach dem Mittagsessen aber von drei bis sechs, während welcher Zeit Einige von Geschäften, Andere von Neuigkeiten sprachen. Nun, in Rücksicht auf den Weltverkehr ereignete sich wenig, was nicht zuerst oder zuletzt hierher gekommen wäre. Und ich, als ich jung war, mischte mich um diese Stunden unter die auserlesenste Gesellschaft, die ich auftreiben konnte.“ Hierher, in diese seltsame Versammlung der Laster, Thorheiten, Moden und Launen des damaligen Londons, ist auch Shakespeare oft genug gekommen. Hier fand er die Modelle für seine Komödien und die Zielscheiben für seinen Witz. Hier fand er Pistol und Bardolph, Junker Tobias von Bleichenwang und Junker Schmächtig. „Hier (in St. Paul) habe ich ihn mir gekauft,“ wie Falstaff von Bardolph sagt. –

Wo aber fand er ihn selber, ihn „den alten, fetten Ritter“, diese Blume aller Kneipgenies? Nun, ich denke der Ort ist nicht zu verfehlen, wo der sich aufhält, dessen Wort ist: „Soll ich meine Bequemlichkeit nicht haben in einem Wirthshaus?“ Die Tavernen „zur Meermaid“, „zur Mitra“, „zum Horn“ oder „zum Eberkopf“ sind nicht weit, und in einer davon werden wir ihn finden, denn, wie es in dem Codex der Modeherren von damals hieß: „sein Essen muß in einer von den berühmten Tavernen sein.“

Aber ehe wir noch diese Stätten fröhlicher Geselligkeit, gefüllter Krüge und sprudelnder Witze erreichen, haben wir noch, grad beim Austritt aus St. Paul, einen merkwürdigen Anblick. Hier, auf dem Kirchhof von St. Paul, um eines jener Straßenkreuze, an welchen das alte London reich war, sitzt eine Versammlung von Andächtigen in freier Luft, und unter dem Kreuz steht ein Mann in Schwarz, welcher predigt. Es ist ein Puritaner, welcher gegen die Sittenlosigkeit der Zeit, gegen ihre Vergnügungen und ihre Theater nicht am wenigsten donnert. Dieser Mann und seine Partei werden auch ihren Tag haben, um die Kirchen zu säubern und die Theater zu schließen!

Man sagt, daß Shakespeare die Bekanntschaft von Sir John Oldcastle (denn so hieß das Original unseres bewunderten Freundes Sir John Falstaff) in einer Taverne von Eastcheap, im „Eberkopf“ gemacht habe. Diese Taverne erfreute sich noch sehr lange eines großen Ruhms in der Nachbarschaft des Fischmarktes von Billingsgate, bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts der damalige Besitzer, vielleicht aus Reue über die Sünden seiner Vorgänger und Vorgängerinnen, diesen Aufenthalt der „Dame Hurtig“ der Kirche vom heiligen Michael vermachte, um einen Kaplan aus dem Einkommen zu unterhalten. Aber der Eber wollte unter dem Kirchenregiment nicht recht mehr floriren; zu Anfang unseres Jahrhunderts wurde das alte Nest zwischen einem Barbier und einem Flintenschmied getheilt, über deren aneinanderstoßenden Läden bis zum Jahre 1831 noch der in Stein gehauene Eberkopf zu sehen war. Da aber wurden auch diese letzten Insassen des Eberkopfs expropriirt, das Haus wurde niedergerissen, um Raum für die neue London Bridge zu machen, und genau auf der Stelle, wo der „alte Jack“ gezecht und, als er seine Schulden nicht bezahlen konnte, mit einem Schwur auf seinen vergoldeten Becher der Wirthin die Ehe versprochen, steht nun die Bildsäule eines Mannes, der seiner Zeit nicht weniger corpulent, aber viel weniger witzig war: die Reiterstatue Wilhelm’s IV.

Die Taverne, welche Shakespeare meistens frequentirte und wo er mit seinen Freunden die längsten und berühmtesten Sitzungen hielt, war die Taverne „zur Meermaid“, deren heitere Zechstube unsere Abbildung zeigt. Sie stand in Breadstreet, einer Nebengasse von Cheapside, zwischen der heutigen Southwark-Bridge und London-Bridge. Das Haus, wie fast das ganze Shakespeare’sche London, wurde von dem großen Feuer hinweggenommen; indessen zeigt man noch heute den Platz, wo es gestanden, und eine gute Reihe von Traditionen hat sich erhalten. Der Name des Wirthes war Dun. Seine Gäste versammelten sich entweder zum Mittagsessen, welches gleich nach zwölf eingenommen wurde, oder zum Abendbecher, gegen sechs, wenn das Theater aus war. Speisezettel gab es damals allerdings nicht. Aber doch haben sich einige Kochbücher aus jener Zeit erhalten. Vielleicht interessirt es die Leserinnen, zu erfahren, was Mr. Dun’s Küche für Shakespeare und seine Freunde thun konnte. Hier sind einige Delicatessen: gekochte Tulpenstengel; marinirter Puter, in Weißwein und Essig gesotten und mit Fenchelsauce servirt; gepökelte Gans mit Nelken und Ingwer; Gelée von Kleeblumen und Omeletten von Malvenstengeln mit Rosenwasser.

Aber wir glauben, daß der feiste Herr am obern Ende der Tafel, der, welcher von sich zu sagen scheint: „Du siehst, ich habe mehr Fleisch als andere Menschen und also auch mehr Schwachheit,“ – wir glauben, daß der es mit dem „Roast-beef von Alt-England“ gehalten, und daß er mehr Sect als Rosenwasser zu sich genommen. „Ich wollte den fetten Jack nicht für die Hälfte der großen Männer in den Chroniken aufgeben!“ ruft Washington Irving aus. „Was haben sie für mich oder meinesgleichen gethan? Sie haben Länder erobert, von denen ich keine Hand breit besitze; oder sie haben Lorbeeren errungen, von denen ich kein Blatt geerbt; oder sie haben Thaten verrichtet, welche ich ihnen nachzumachen weder die Kühnheit noch die Gelegenheit habe. Aber der alte Jack Falstaff! – der freundliche Jack Falstaff! – der süße Jack Falstaff! – hat die Grenzen des menschlichen Vergnügens erweitert; er hat große Gebiete des Witzes und der Laune hinzugefügt, in welchen der ärmste Mann sich ergötzen mag, und er hat eine unfehlbare Erbschaft von fröhlichem Gelächter hinterlassen, um die Menschheit lustiger und besser zu machen bis in das späteste Geschlecht.“ – Darum Heil dem edlen Sir John Falstaff! Und Heil dem edlen Sir John Oldcastle, der des vortrefflichen Bildes vortreffliches Original gewesen!

Zwischen dem Essen und Trinken wurde scharf gedampft, denn seit Sir Walter Raleigh den ersten Beutel voll Tabak aus Westindien mitgebracht, war das Rauchen in den exclusiven Kreisen jener Tage Mode geworden. Shakespeare’s Collegen vom Globe- und Blackfriars-Theater, Lawrence Fletcher und John Taylor und Richard Burbage, die Originaldarsteller von Hamlet, Lear und Othello, rauchten. Shakespeare selber scheint der neuen Mode nicht gehuldigt zu haben, da er derselben in keinem seiner Stücke Erwähnung thut; aber Ben Jonson muß ein Freund von dem „ Schnepfenkopf“ gewesen sein, wie man die Pfeife damals nannte. In seinen Komödien ist sehr oft die Rede davon. Richard Burbage war der erste Schauspieler seiner Zeit. „Der wird für keinen Gentleman gerechnet, der Dick Burbage nicht kennt; es giebt kein Landmädchen, das nicht von Dick Burbage sprechen könnte,“ heißt es in „Rückkehr vom Parnaß“, einem Schauspiel aus dem Jahre 1602. Richard Burbage muß auch ein sehr schöner Mann gewesen sein. Einmal, als er Richard III. gespielt [248] hatte, verliebte sich eine schöne Bürgerin von London so sehr in ihn, daß sie ihm ein Rendez-vous unter der Parole „Richard III.“ bewilligte. Der Dichter des Trauerspiels, Shakespeare, hörte die Verabredung und beschloß, das Abenteuer selber zu bestehen, ging und fand unter der ausgemachten Parole wirklich Einlaß. Später kam Burbage. „Richard III. ist vor der Thür!“ ließ er hinaufsagen. „William der Eroberer war vor Richard III.,“ ließ William Shakespeare hinuntersagen und behauptete das Feld.

Shakespeare war der liebenswürdigste und eleganteste Gesellschafter; etwas schwerer und schwerfälliger war Ben Jonson. Ben Jonson, nach Shakespeare der berühmteste Dramatiker jener Zeit, hatte ein sehr abenteuerliches Leben geführt. Zuerst hatte er studirt, dann war er Soldat gewesen, ferner Schauspieler geworden, darauf hatte er einen seiner Collegen erschossen und war zu lebenslänglichem Gefängniß verurtheilt worden. Aber er wurde begnadigt und benutzte den Rest seines Lebens, um für die Bühne zu schreiben. Eine gute Cameradschaft, nur ein- oder zweimal durch Eifersüchteleien vorübergehend getrübt, verband ihn mit Shakespeare. Beide waren witzig, Beide waren geistreich und erfahren in den Dingen der Welt. Ihr Gespräch belebte die Unterhaltungen in der Meermaid und ihre Witz- und Wortspiele wurden in London colportirt. –

Aber es schlägt zwei Uhr von der Bow-Kirche, und nun müssen wir die Sitzung aufheben, „wir müssen uns über die See begeben,“ wie es in der Sprache jener Zeit heißt, d. h. ein Boot nehmen und uns nach einem der Theater rudern lassen, welche diesseits oder jenseits der Themse dicht am Ufer liegen. Denn Schlag drei Uhr Nachmittags beginnt die Vorstellung.




Bilder aus der Kinderstube.
Von Gustav Steinacker.
2.

Der Schulrath F., den ich vor einer hübschen Reihe von Jahren in T. kennen lernte und öfters besuchte, war ein ganz wackerer, daneben auch ein gelehrter Mann. Er stand als Pädagoge in großem Ansehen, hatte manches Schul- und Erziehungsbuch geschrieben, und ich trat, damals noch ein ziemlich junger Anfänger, mit einer Art von scheuer Ehrfurcht in sein Haus und eine Kinderstube, weil ich da das Muster einer guten Erziehung zu finden und praktisch studiren zu können hoffte. Aber in dieser Erwartung – das ward mir allzubald klar – hatte ich mich echt gründlich getäuscht. Eine gewisse Elternkrankheit, an welcher der gute Mann nicht viel weniger, als seine Gemahlin, die Frau Schulräthin, litt und die mir später auch noch in andern als schulräthlichen Kreisen sehr häufig begegnete, machte alle seine Eriehungswissenschaft und Erziehungspraxis im eigenen Hause zu Schanden. So hatte denn auch ich in seiner Kinderstube allerdings Gelegenheit, gar viel zu lernen, nur in umgekehrter Weise, nämlich nicht wie man’s machen, sondern wie man’s nicht machen muß, um mit glücklichem Erfolge zu erziehen. Daneben ward mir auch von Neuem klar, daß die Geist und Gemüth so schwer bedrohenden Kinderkrankheiten, die in so vielen Kinderstuben herrschen, fast durchgängig nur die natürliche Folge von eben so vielen pädagogischen Elternkrankheiten sind, welche, je weniger sie allgemein genannt und beachtet werden, um so größeres Unheil anrichten.

Mein guter Schulrath hatte damals ein allerliebstes fünfjähriges Söhnchen, Namens Hermann. Schön, blühend und schwarzäugig wie ein Liebesgott, pausbäckig wie ein Raphael’scher Engel auf dem Bilde der Madonna della Sedia und voll lebendigen Muthwillens, wie er Knaben in jenem Alter so wohl kleidet, stahl er nicht nur unwillkürlich allen Freunden und Bekannten des Hauses das Herz, er hatte es, was weit schlimmer, offenbar schon längst seinen Eltern gestohlen, und – was das Schlimmste von Allem, der Kleine wußte das ganz genau und war darum im besten Zuge, auch ihnen gegenüber seinen Namen immer mehr mit der That zu führen.

Schulrath F. war ein sehr liebenswürdiger Gesellschafter. Er sah dabei gern Gäste in seinem Hause und an seinem Tisch, und diese folgten auch sehr gern der schulräthlichen Einladung, denn die Frau Schulräthin war, was sonst nicht allen Schulräthinnen eigen sein soll, als treffliche Köchin und liberale Wirthin bekannt, ebenso veranschaulichte auch der Keller des Herrn vom Hause, oder vielmehr dessen gewählter Inhalt, auf das Einleuchtendste den Unterschied zwischen einem Schulrath und einem – Volkschullehrer. Bei derlei Gelegenheiten speisten nun die älteren Kinder gewöhnlich nicht bei Tische, sondern erhielten ihr Contingent in der Nebenstube. Hermannchen aber nahm bei einer jener mir unvergeßlichen Veranlassungen alsbald seinen Sitz in nächster Nähe der bereits aufgetragenen Suppenschüssel als einen ihm von Gott und Rechtswegen gebührenden Vorzug in Beschlag, und wehe dem, der es versuchen wollte, ihn von da zu verdrängen. Die Mama versuchte es wirklich einmal, als ich gerade mit anwesend war. „Hermännchen,“ sprach sie, „stehe auf und mache dem Herrn da Platz!“ Doch mein Hermännchen hatte dafür keine Ohren. Er blieb ruhig sitzen und begann gemüthlich sein Spiel mit den bereit liegenden Messern und Gabeln. „Das schickt sich nicht, Kind, leg’ gleich Messer und Gabel an ihren Ort und steig’ vom Stuhle.“ Hermann schüttelte ruhig den Kopf und blieb sitzen. Die Mama benutzte in ihrer Verlegenheit den Eintritt eines Gastes, um das pädagogische Zwiegespräch mit ihrem Söhnchen abzubrechen und die Aufmerksamkeit der Anwesenden davon abzulenken.

Hermann hatte sich’s unterdessen bequem gemacht und von den aufgelegten Brodschnitten eine Wagenburg zu bauen angefangen. Das war der Mama denn doch zu viel. Sie begann von Neuem: „Hermann, sei doch artig! was werden die fremden Herren von Dir denken!“ Das schien jedoch Hermann ebenso wenig zu kümmern, als die hinzugesetzte Drohung: „Wenn Du nicht gleich artig bist, so sage ich es dem Papa, und Du bekommst Eins ab.“ Als auch das nichts fruchtete und Hermann mit einer Entschiedenheit, die manchem deutschen Minister dem Auslande gegenüber sehr zu wünschen wäre, dabei verharrte: „Ich gehe nicht und ich fürchte mich nicht!“ als selbst die dem Kleinen in’s Ohr geflüsterten Versprechungen und Drohungen ebenso wenig verfangen wollten, wie die Lock- und Schrecktöne einer Russell’schen diplomatischen Note an die deutschen Cabinete: da blieb freilich zuletzt gegen den renitenten Kleinen nichts übrig, als die lang verzögerte und höchst ungern in Anwendung gebrachte gewaltsame Maßregel der – Execution. Die Frau Schulräthin faßte also, kraft ihrer mütterlichen Autorität, das unfolgsame Söhnchen unter den Armen und hob es vom Stuhle.

Aber Hermännchen wußte alsbald Hannemännchen zu spielen. Er kannte aus Erfahrung die schwache Seite seiner Frau Mama, und wie man es anzufangen habe, um ihr gegenüber seinen Willen durchzusetzen. Er sing ein klägliches Zetergeschrei an und nöthigte dadurch Mama zur Nachgiebigkeit und zum Rückzuge – natürlich nur aus Rücksicht auf ihre lieben Gäste. Der Kleine behielt also seinen bevorzugten Platz an der (europäischen) Tafel, mit der nachträglichen Drohung: „Warte nur, Du ungezogenes Kind, Du sollst Deine Strafe schon bekommen!“ und der Gast, dem der Ehrenplatz an Mama’s Seite zugedacht war und von Rechtswegen gebührte, ward gebeten, dem kleinen Eigensinne zu weichen und weiter hinabzurücken. Ich war durch diesen Auftritt um eine pädagogische Studie reicher geworden und höchst begierig zu erfahren, was denn der Herr Schulrath dazu sagen würde, der noch mit einigen Gästen im Nebenzimmer verweilte und soeben in ihrer Begleitung eintrat. Er ignorirte indeß auf gut diplomatisch, was er doch nicht zu ändern vermochte, und erging sich dafür später mit seinem Tischnachbar in einem eifrigen Gespräch über die Principien der neuern Pädagogik, wobei seine Gelehrsamkeit einen glänzenden Triumph feierte. Aber auch Hermännchen errang zwischen Mama und dem zuvorkommenden Gaste, der die Achillesferse der mütterlichen Eitelkeit sehr wohl zu kennen und zu benutzen schien, einen Triumph und einen guten Bissen nach dem andern. Dies erhöhte seine Siegeszuversicht so sehr, daß er sich zuletzt Alles erlaubte, von Allem haben wollte, höchst ungenirt in alle Compot- und Dessertschüsseln langte und seine Kirschkerne dem [249] fremden Gaste auf den Teller warf, seine von Bratenfett triefenden Hände am Tischtuch abwischte und ähnliche Kurzweil trieb, die, anfangs mehrfach belacht und dadurch unterstützt, zuletzt doch alle Schranken des Zulässigen so sehr überschritt, daß der Schulrath genöthigt war, seine väterliche Autorität geltend zu machen. Aber selbst diese brachte es zu nichts weiter, als zu leeren Drohungen, die denn auch ziemlich wirkungslos verhallten.

Ich hatte dann nach Tische und bei späteren Anlässen noch öfters Gelegenheit, diese schlimme Elternkrankheit näher kennen zu lernen, und konnte es dem klugen, aber verzogenen Kinde nicht gerade verdenken, daß es sich durch derlei Drohungen nicht einschüchtern ließ, sich das Papier zu seinem Spielzeug, statt aus dem Papierkorb, lieber von dem Arbeitstisch des Vaters holte, den ihm mit dem Stocke drohenden Papa durch seine entgegengesetzte Drohung, ihm dann den Stock zu zerbrechen, zum Lachen brachte und die Ruthe hinter dem Spiegel vollends wenig respectirte, weil sie meist nur hinter dem Spiegel oder als Demonstration in der Hand des Vaters oder der Mutter blieb, ohne je mit dem Rücken des Kindes in allzunahe Berührung zu kommen.

Ich lernte daraus, daß in der Pädagogik, wie in der Politik, das viele Drohen eben so wenig taugt, als das viele Verbieten, da beides den Eigensinn und die Lust am Verbotenen methodisch groß zieht. Darum hüte man sich, einen Wald voll verbotener Früchte um das Kind zu pflanzen, man entziehe es vielmehr so viel wie möglich der Versuchung; dagegen bestehe man mit ruhiger, aber unerbittlicher Strenge auf Gehorsam im Betreff des wirklich Verbotenen. Jeder Drohung folge im Nichtbeachtungsfalle unnachsichtlich die Strafe, und zwar ohne lange Strafpredigten, die gleichfalls in das Capitel der Elternkrankheiten gehören. Die rechte Elternliebe beweist sich eben in jener Selbstüberwindung des schwachen Vater- oder Mutterherzens, das nur zu geneigt ist, sich durch Bitten, Thränen und Geschrei entwaffnen, oder im Interesse der Ruhe um jeden Preis zu einer Nachgiebigkeit verleiten zu lassen, die Niemand sichrer zu bemerken und schlauer auszubeuten versteht, als ein kluges Kind. Auf diese Weise wird recht systematisch jener Eigensinn gezeitigt, der keineswegs, wie viele verblendete Eltern sich einzureden lieben, ein Zeichen von Charakterstärke, sondern blos von Selbstsucht und Egoismus ist, dem es an der zügelnden Schranke der Zucht, des Gehorsams und der Selbstüberwindung fehlt.

So wie der Eigensinn als eine der verbreitetsten Kinderkrankheiten namentlich durch Schuld der Eltern und ihrer verkehrten Erziehung sich in vielen Kinderstuben zeigt, so begegnen wir daselbst häufig auch einer andern, nicht minder verhängnißvollen, ja, in ihren Folgen und Wirkungen noch weit verderblicheren: der Lüge, und auch hier trifft Eltern und Erzieher oft ein noch viel begründeterer Vorwurf, als das Kind selbst. Jede Lüge, als bewußte und vorsätzliche Verleugnung der Wahrheit, ist zunächst immer ein Kind der Noth und das Capitel der Nothlügen darum ein unbegrenztes. Die Noth, die zur Lüge führt, wird dem Kinde aber nur allzu oft gerade von Denen bereitet, die den Beruf hätten, es davor zu bewahren. Das Erstere geschieht, wenn sie durch ihr eigenes, unbewachtes Beispiel in Wort und That, so wie durch eine Menge unüberlegter, unpädagogischer Verbote, Vorstellungen in dem Kinde wach rufen, welche bei eintretender Versuchung die Lust ihr zu folgen erregen. Eltern, die sich in Gegenwart des Kindes keinen Zwang anthun, ja vielleicht regelmäßig manchen guten Bissen genießen, der dem Kinde versagt ist, dürfen sich nicht wundern, wenn dadurch in diesem ein Keim der bösen Lust gepflanzt wird, die bei vorkommender Gelegenheit den verbotenen Genuß in ganz anderer Weise zum Gegenstande ihrer Uebertretung macht, als die kleine Hedwig, welche einmal ihrer mir befreundeten Mutter die offene Zuckerdose unter Thränen brachte, mit der Bitte, sie zu verschließen, und auf die ernste Frage der Mutter: „Hast Du daraus genascht?“ mit rührender Treuherzigkeit antwortete: „Nein, aber ich habe gewollt!“

Das „führe uns nicht in Versuchung!“ des Vaterunsers sollten sich daher auch in dieser Beziehung alle Eltern und Erzieher recht angelegentlich zur Pflicht machen. Nicht, als ob damit dem Kinde jede Versuchung überhaupt erspart bleiben solle; dafür sorgt schon das Leben hinlänglich, und ohne Kampf und Sieg auch keine Tugend; wohl aber ist es die Pflicht der Eltern, das Kind nicht muthwillig Versuchungen auszusetzen, ehe noch die Kraft des Widerstandes in ihm genährt und gepflegt worden ist. Gesellt sich dann bei dem Erliegen zu dem Gefühl der Schuld und Uebertretung auch noch die durch Erfahrung mehr oder weniger begründete Furcht vor der Strafe, so ist im Betretungsfalle der kleine Nothlügner fertig, der dann nur zu leicht zum Gewohnheitslügner werden kann. Die rechte Liebe, die das Vertrauen im Kinde weckt und nährt und bei allem Ernst jede sonstige Uebertretung mit Milde, dagegen jede wirkliche Lüge mit unnachsichtlicher Strenge straft, dürfte auch hier die sicherste Schutzwehr dagegen sein. Ich sage absichtlich: jede wirkliche Lüge, denn meine Erfahrung hat mich gelehrt, daß bei besonders lebhaften, phantasievollen Kindern sich häufig ein halb unbewußtes Verleugnen der Wahrheit findet, das der Lüge ziemlich ähnlich sieht, aber doch keineswegs als solche betrachtet werden kann. Es besteht vielmehr in jenem unwillkürlichen Vermischen von Dichtung und Wahrheit, in jener „Lust zu fabuliren“, die bekanntlich schon der deutsche Altmeister Goethe von seiner Mutter, der Frau Rath, die darin selbst ziemlich stark war, geerbt hat. So hatte auch ich vor einiger Zeit einen Knaben in Erziehung, der mit dieser Gabe in hohem Grade bedacht war. So oft er irgendwo zum Besuch gewesen, wußte er seinen Cameraden mit der ernsthaftesten Miene Dinge zu erzählen, die er alle gesehen und erfahren haben wollte, welche aber für jeden Unbefangenen so ziemlich das Gepräge der Aufschneiderei an sich trugen. Mir erschien die Sache nicht ganz unbedenklich, aber ich überzeugte mich, daß es wirklich nur ein Uebermaß von dichterischer Phantasie war, welches den Knaben bei seinen naiven Erzählungen unwillkürlich mit sich fortriß. Er liebte überhaupt die Hyperbeln und die Superlative, sah leicht auf gut Don Quixotisch eine Windmühle für einen Riesen an und trug durchaus kein Bedenken, einige harmlose Reiter, die ihm auf dem Wege begegnet, in ein Regiment Husaren zu verwandeln. Ich hielt darum für’s Beste, ihn bei seinen Erzählungen so viel als möglich im Auge zu behalten und mit aller Ruhe jede unterlaufende Dichtung in Wahrheit umzusetzen und auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, ohne ihm weiter Vorwürfe über seine hyperbolische Ausdrucksweise zu machen. Das ließ sich denn der Knabe – der beste Beweis, daß es ihm nicht eigentlich um’s Lügen zu thun war – auch ruhig gefallen, und als so verschiedene Male durch mich der Gellert’sche oder vielmehr der Fritz’sche große Hund, ohne Anwendung der Brücke, von Pferd und Kuh und Kalb zum gewöhnlichen Hunde reducirt worden war, verlor sich allmählich jener poetische Lügenansatz ohne Nachtheil für die poetische Begabung, welche sich später zu meiner Freude auf’s Glücklichste geltend machte und der Pflege nicht unwerth erschien. Ein strenges und plumpes Zufahren hätte hier leicht verschüchternd oder erbitternd gewirkt und weit mehr Schaden angerichtet, als verhütet; ein völliges Ignoriren dagegen die Lust und Gewohnheit „zu fabuliren“ leicht zum Hang für wissentliche und vorsätzliche Wahrheitsverletzung, also – zur Lüge steigern können.




Ein Besuch bei Garibaldi auf Caprera.
Von Moritz Wiggers.
(Schluß.)

Auf dem Wege zum Eßzimmer hatten wir wieder die Küche zu passiren. Hier hatte sich die Gesellschaft des Hauses aufgestellt, um den General zu erwarten. Unter derselben befanden sich auch die beiden jungen Sgaralinos, welche ihm dort vorgestellt wurden. Wir gingen darauf zusammen in’s Eßzimmer, wo ein Tisch für etwa sechszehn Personen gedeckt stand. Der General setzte sich an das eine Ende desselben. Rechts von ihm nahmen seine beiden Söhne Platz, links von ihm der Dr. Giuseppe Guerzoni, ich und mein Freund, der Maschinist. Zu den eingeladenen Fremden gehörten noch die beiden Sgaralinos. Außerdem bestanden die Tischgenossen aus dem Major Basso, einem Calabreser, Namens Aquilo Barsani, und einigen Anderen, deren Namen ich nicht kannte.

Die tiefe Ehrfurcht, welche dem General von allen Seiten [250] bezeigt ward, drückte sich bei Tische auch darin aus, daß Niemand von selbst zu einem neuen Gegenstände des Gespräches die Veranlassung gab. Garibaldi leitete vielmehr die Unterhaltung durch eine Frage oder Bemerkung ein, und erst dann betheiligten sich die übrigen Tafelgenossen an dem von ihm angeregten Gegenstande.

Er gab, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Disposition zu dem Tischgespräche. Dies machte übrigens nicht den Eindruck des Künstlichen und Steifen, es hatte auch nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit der an den Höfen obwaltenden Etiquette. Der Vorrang, den man dem General ließ, war das Ergebniß einer heiligen Ehrerbietung, welche man für die Größe des Mannes im Herzen trug. Auch Garibaldi selbst war keineswegs steif in seinem Wesen oder in seiner Unterhaltung, im Gegentheil sprach sich darin eine Natürlichkeit und Ungezwungenheit aus, welche Aller Herzen gewann. Er knüpfte manches ernste Gespräch an, unterbrach es aber oft durch allerhand scherzhafte und humoristische Bemerkungen.

Das Essen war auf das Einfachste bestellt. Den Anfang machte eine Suppe mit verschiedenen Gemüsen darin, welche man, wenn ich nicht irre, in Italien zuppa romana nennt. Dann kam ein Gemisch von mehreren Arten gebratener Seefische, ohne jede weitere Zuthat. Der Diener mußte mir davon, auf Befehl des Generals, eine zweite Portion auffüllen. Hierauf ward ein mächtiger Käse aufgetragen, zu welchem ich von Garibaldi mit dem Bemerken genöthigt ward, daß er in Caprera fabricirt sei. Der Wein war auf Maddalena gewachsen. Nachdem die Tafel schon beendigt schien, trat der Diener noch mit einer großen Schüssel gekochter Quittenäpfel ein, präsentirte sie dem General und sagte zu demselben mit frohlockender Miene: „Hier sind einige Aepfel für den General.“ Garibaldi war über diesen unerwarteten Luxus ganz überrascht und erfreut und erwiderte: „Ah, bravo, wie gefallen mir diese Aepfel!“ Mit triumphirendem Blick reichte er dann die Aepfel weiter. Diese Einfachheit der Lebensweise machte einen tiefen Eindruck auf mich.

Wenn ich den Vorhang ein wenig lüfte, der die Häuslichkeit Garibaldi’s umgiebt, so geschieht es nicht, um die Neugierde der Leser zu befriedigen, sondern um auch in Deutschland die Kunde von der erhabenen Uneigennützigkeit dieses Mannes zu verbreiten. Er, der Alles für sein Vaterland eingesetzt hat und über Millionen hätte gebieten können, ist arm und lebt so einfach wie ein Arbeiter. Vergleichen wir damit den Luxus, welchen sein Feind an der Seine auf Kosten des französischen Volkes entfaltet. Wie schneidend contrastirt diese cäsarische Pracht Napoleon’s mit der republikanischen Einfachheit Garibaldi’s! Der große Haufe mag sich durch jene imponiren lassen; aber diese erfüllt den wahren Patrioten mit unaussprechlicher Ehrfurcht. Kein Wunder, wenn der Vertreter des modernen Cäsarenthums in Paris vor der antiken Uneigennützigkeit und Unbestechlichkeit des Helden auf Caprera erzittert!

Der General erkundigte sich auch nach dem Ausfall der am Morgen auf Caprera veranstalteten Jagd. Einer der Tischgenossen erzählte ihm, daß die Jagdgesellschaft zwei kleine Vögel geschossen hätte. „Ei, so viele?“ erwiderte er herzlich lachend.

Er fragte mich, wie viele Fürsten wir denn eigentlich in Deutschland hätten. „Ich glaube 31,“ antwortete ich, wobei ich in Anschlag brachte, daß Bernburg kürzlich zu existiren aufgehört hatte. Eine allgemeine Sensation entstand in der Gesellschaft. Ebenso erkundigte er sich, wie man in Deutschland über die polnische Frage dächte. Ich antwortete, daß die Meinungen darüber sehr getheilt wären und daß eine Lösung wegen der polnisch-preußischen Provinzen für uns sehr schwierig sei, daß aber die von den Russen verübten Barbareien den Polen in Deutschland allgemeine Sympathien erworben hätten.

Der General forschte auch speciell nach den Zuständen in Preußen und was man in Bezug auf den Ausfall der Wahlen für Hoffnungen hätte. Ich erwiderte, daß es wohl nicht zu bezweifeln stände, daß die früheren Elemente zum größten Theil wieder gewählt und durch einzelne radicale Abgeordnete noch verstärkt würden. Darauf erörterte ich die Bedeutung des gegenwärtigen Kampfes in Preußen. Es sei der letzte Kampf des Bürgerthums und der feudalen Aristokratie, die in dem Ministerium Bismarck gipfelte. Diese kämpfe um ihre Existenz als solche. Die Junker hätten die meisten Officier- und hohen Beamtenstellen in Händen. Der vierte Theil des Adels bezöge allein aus dem Militairetat eine Summe von jährlich mehr als acht Millionen Thaler. Würde dem Adel diese Einnahme fehlen und er nicht mehr im fast ausschließlichen Besitz der Officierstellen sein, so würde er nicht allein den wesentlichsten Theil seiner Macht verlieren, sondern er müßte auch, um existiren zu können, in’s bürgerliche Leben eintreten. Das Junkerthum in Preußen kämpfe für seine Privilegien, wie die Pflanzer des amerikanischen Südens für die Aufrechterhaltung der Sklaverei. Es wisse sehr wohl, daß, wenn es unterliege, seine Macht für immer gebrochen sei. Daraus erkläre sich die Hartnäckigkeit, mit welcher die Junkerpartei dem ganzen Volke Widerstand leiste. Demnächst sprach ich meine Ansicht aus, daß zwischen der nobilità italiana, und der aristocrazia prussiana ein großer Unterschied existire. Diese sondere sich vom Volke und von dem bürgerlichen Leben ab und bekämpfe die Einheit und Freiheit der deutschen Nation aus Rücksicht auf ihre Privilegien. Jene aber habe mit dem Volke für die Einheit Italiens gekämpft, stehe mit im bürgerlichen Leben und pflege Wissenschaften und Künste. Garibaldi wollte dies nicht zugeben, namentlich bestritt er, daß der italienische Adel den Wissenschaften obliege; es seien nur einzelne Ausnahmen da, wie z. B. Pallavicino Trivulzio. Als ich ihm indeß entgegnete, daß der italienische Adel doch die feudalen Vorrechte nicht mehr habe, wie der Adel im Norden Deutschlands, gab er dies mit der Bemerkung zu, daß allerdings die feudale canaglia in Italien schon lange vernichtet sei. Aber die moderirte Partei, welche alle Stellen für sich besitze und alle andern ausschließen wolle, wäre jetzt an die Stelle der aristocrazia feodale getreten.

Die Zahl der Bevölkerung auf Caprera gab mir der General auf 56 Personen an, worunter 34 Arbeiter. Menotti corrigirte und sagte, daß augenblicklich die Zahl 60 betrüge, wozu Ersterer die scherzhafte Bemerkung machte: „Ich hätte nicht geglaubt, daß die Bevölkerung in so kurzer Zeit so bedeutend gestiegen wäre.“

Beim Aufstehen von der Tafel wandte sich Garibaldi an mich und sagte: „Schließlich übergebe ich Sie meinem Doctor, der mit Ihnen über unsere politischen Angelegenheiten sprechen wird. Ich will auf mein Zimmer gehen und bitte Sie später noch einmal zu mir zu kommen.“ Der General entfernte sich darauf, und ich machte mit dem Doctor Guerzoni einen längeren Spaziergang, wobei mir mein Begleiter sehr interessante Aufschlüsse über die politischen Parteien in Italien und die gegenwärtige politische Situation gab. Nachher ließ ich mich bei dem General melden, um Abschied von ihm zu nehmen. Ich ward in sein Wohnzimmer geführt, das zugleich Arbeits- und Schlafzimmer und auf das Einfachste möblirt ist. Ich wollte nur einen Augenblick verweilen, um den General, dessen Zeit durch die Ankunft der Post, welche ihm eine Menge Briefe und Zeitungen gebracht hatte, sehr in Anspruch genommen war, nicht länger zu stören. Aber ich mußte mich setzen, eine Cigarre bei ihm rauchen und ihm eine Menge von Fragen beantworten, die er für mich noch in Bereitschaft hatte. Bei dieser Zusammenkunft war nur noch Guerzoni gegenwärtig. Eine Einladung Garibaldi’s, am andern Tage wiederzukommen, schlug ich seinetwegen aus: lange genug schon hatte ich seine Gastfreundschaft genossen. Wir schieden auf das Herzlichste von einander. Aus meinem tiefsten Innern that ich ihm die Sympathien kund, die ich für ihn hegte, und sagte ihm, daß diese lang ersehnte persönliche Bekanntschaft mir stets unvergeßlich sein werde. Auf meinem Gesichte mochte er es wohl lesen, daß ich keine leeren Worte machte. Er drückte mir warm die Hand und sprach die Hoffnung aus, daß wir uns nicht zum letzten Male gesehen hätten.

Guerzoni und Basso begleiteten mich noch eine Strecke, worauf ich mich auch von diesen verabschiedete und mit Magherini nach Maddalena zurückfuhr, wo wir spät am Nachmittage wieder anlangten. Ich machte noch einen längern einsamen Spaziergang an den klippenreichen Ufern von Maddalena und sah dort noch den röthlichen Schein der untergehenden Sonne. Der Eindruck, den die Persönlichkeit Garibaldi’s auf mich gemacht hatte, war ein gewaltiger gewesen, und ich verstand es jetzt, wenn Moritz Hartmann in einem in den Walesrode’schen Studien und Kritiken veröffentlichten Aufsatze über Italien von dem unwiderstehlichen Zauber spricht, den jener Mann auf Alles ausübt, was in seine Nähe kommt. Aber wodurch übt er diese Anziehungskraft? Ich glaube, die Natürlichkeit, Einfachheit, Biederkeit und Geradheit, welche aus seinem ganzen Wesen, aus jedem Zuge seines Gesichts hervorleuchten, die Liebe zu seinen Mitmenschen, die in ihm gleichsam verkörpert ist und in seinen klaren, liebreichen Augen sich abspiegelt, die durchaus wahre Natur dieses Helden, dies Alles macht ihn so unwiderstehlich.

Den größten Theil des andern Tages war ich mit einer Arbeit [251] für Garibaldi beschäftigt. Derselbe hatte mir nämlich verschiedene in deutscher Sprache an ihn gerichtete Briefe mit dem Ersuchen übergeben, ihm den wesentlichen Inhalt derselben in italienischer Sprache auszüglich mitzutheilen. Natürlich ergriff ich mit Freuden diese Gelegenheit, Garibaldi den kleinen Dienst zu erzeigen. Ich theile dieses Factum nur mit, um meinen Landsleuten zu empfehlen, daß sie in ihren etwaigen Schreiben an ihn sich der italienischen, französischen oder englischen Sprache bedienen mögen; denn mit Ausnahme des Kochs im Garibaldischen Hause, eines Südtyrolers, der mir auf meinen Wunsch aus dem Küchenfenster etwas Feuer zum Anzünden meiner Cigarre hinausreichte und bei dieser Gelegenheit zu unserer beiderseitigen Freude und Ueberraschung eine längere deutsche Unterhaltung mit mir anknüpfte, versteht Niemand auf ganz Caprera die deutsche Sprache. Zu gleicher Zeit möchte ich aber auch dringend rathen, mit gleichgültigen Briefen dem General nicht beschwerlich zu fallen. Derselbe erhält mit jeder Post einen Stoß von Briefen, und seine Zeit ist kostbar. Man würde daher gut thun, ihn mit Bitten um Uebersendung seines Bildnisses, mit Zustellung von Photographien seiner unbekannten Pathen in Deutschland, die mit langen Beschreibungen des Aeußern derselben und Erklärungen begleitet sind, warum das Bildchen nicht ganz naturgetreu geworden sei, mit Ersuchen um Mittheilung über sein Befinden und dergleichen Dingen zu verschonen, wie ich sie unter den mir eingehändigten Briefen gefunden habe.

Am 18. begab ich mich wieder auf die Italia, um nach Livorno zurückzukehren. Zuvor traf ich im Raffo’schen Wirthshause Menotti und händigte ihm die für seinen Vater übersetzten Briefe ein. Auf dem Schiffe, wo ich in Begleitung Barsani’s, der beiden Sgaralinos und Mangherini’s anlangte, sah ich Jenen noch ein letztes Mal. Ich fragte ihn, ob es nicht etwas einsam für ihn in Caprera wäre. –„O, nein,“ erwiderte er, „Maddalena ist ja so nahe.“ – „Aber in Maddalena leben auch nicht viele Leute.“ – „Gewiß, aber mein Vater ist so gern in Caprera.“

Auf dem Dampfschiffe ward ich von den Officieren und Passagieren auf das Zuvorkommendste behandelt, nur weil man wußte, daß ich auf Caprera gewesen war. „Wie geht es dem General?“ fragte man mich von allen Seiten. Der erste Lieutenant nöthigte mich in seine Cajüte zum Kaffee, die beiden Maschinisten zeigten mir die Maschine und führten mich nachher zu ihren Cajüten, um eine Flasche Bordeaux mit ihnen zu leeren. Ich mußte ihnen von Garibaldi und allen Erlebnissen auf Caprera erzählen. Unterwegs machte ich noch die interessante Bekanntschaft eines Maurers, der bei Garibaldi in Diensten stand und zu einem kurzen Besuche bei Frau, Kindern und Mutter nach Livorno reiste. Er arbeitete das ganze Jahr auf Caprera und machte nur von Zeit zu Zeit einen Ausflug zu den Seinigen nach Livorno. Er heißt Pasquale Manueli und ist einer der Tausend, welche am Zuge Garibaldi’s nach Marsala Theil genommen haben. Außerdem hatte er in den Jahren 1859 und 1862 unter Garibaldi gedient. Ich unterhielt mich stundenlang mit diesem muntern Burschen, der seine Feldzüge mit einer Lebendigkeit und Anschaulichkeit schilderte, die mich in Erstaunen setzten. Mit Mund und Gesticulationen wußte er alle kriegerischen Situationen zu copiren. Wenn er von Garibaldi und seinen Kriegsthaten sprach, dann leuchteten ihm ordentlich die Augen. Wie einen Gott verehrte er ihn, und Thränen standen ihm in den Augen, als er von dem Heldenmuth von Garibaldi’s Frau und deren tragischem Ende erzählte. Bekanntlich war dieser nach Beendigung des Kampfes in Rom mit seiner im Sterben liegenden Gattin geflohen, die er vor sich auf’s Pferd gesetzt hatte. In der Nähe von Bologna hatte er sich in eine einsame Hütte geflüchtet. Dort sah er, wie Pasquale erzählte, einen Bauern auf der Diele liegen, anscheinend im Schlafe. Er weckte diesen und fragte ihn, wer er wäre. „Ich bin ein armer unschuldiger Bauer, Herr, Ihr werdet mir doch Nichts zu Leide thun?“ erwiderte dieser. „Schlafe ruhig weiter, mein Freund, Dir wird Nichts geschehen,“ sagte Garibaldi und legte seine sterbende Frau auf einen Strohsack in der an die Diele stoßenden Kammer. Während er über sie gebeugt ist, sieht er zurück und bemerkt durch eine Spalte in der Thür, daß der Bauer eine brennende Laterne aus dem obern Fenster hält. Es war ein Spion, der Garibaldi erkannt hatte und die Oesterreicher herbeirufen wollte. Der General stürzt aus dem Zimmer. „Verräther,“ ruft er, feuert sein Pistol auf den Bauer ab und streckt denselben todt nieder. In dem nämlichen Augenblick haucht die Kranke ihren Geist aus. Garibaldi rettet sich mit dem Leichnam seiner Frau im Arm durch’s Fenster vor seinen Verfolgern. – Mit gleicher Lebendigkeit wußte Pasquale von der Tapferkeit Menotti’s und seiner Schwester zu erzählen, die ihrem Vater nach Sicilien gefolgt war und ihn während des ganzen Feldzuges zu Pferde begleitet hatte. Sie ist jetzt in Genua verheirathet. Pasquale ist drei Male schwer verwundet worden. Er brannte vor Begierde, noch einmal unter Garibaldi zu fechten und mit ihm in Rom einzuziehen. „Ein schlechter Kerl, welcher sein Leben nicht für sein Vaterland freudig hingiebt,“ sagte er. Wenn tausend Leute von solchem Schlage unter einem Garibaldi vereinigt sind, dann kann man sich vorstellen, daß mit ihnen Etwas auszurichten ist! Als einer der Tausend erhält Pasquale, wie er mir erzählte, vom Staate eine Pension von täglich 1 Franc und 40 Centimes (etwa 11 Sgr.). „Nicht zuviel, wenn man zwei Königreiche erobert hat,“ bemerkte ich. Von jenen Tausend sind nur noch 400 am Leben.




In einem Buche, welches die medicinische Geschichte der Verwundung Garibaldi’s enthält, hat der Doctor Bipari ein interessantes Bild von diesem entworfen. Einen Auszug davon las ich kürzlich in der in Mailand erscheinenden politisch-literarischen Zeitschrift l’Alleanza. Das Bild von Garibaldi ist darin so treu wiedergegeben, daß ich mit nachstehender Uebersetzung desselben meinen Artikel schließen will.

„Der General Garibaldi ist von Körper mehr proportionirt als groß. Er hat breite Schultern, einen schönen Hals, eine schöne Brust, schöne Arme, und seine schöne Gestalt ist wie aus Marmor gemeißelt. Seine Muskulatur ist fest und prononcirt, seine Sehnen sind stark; sein Knochenbau enthält keine hervorstehende Ecke, welche die allgemeine Harmonie seiner Glieder stören könnte, wodurch er so wunderbar geeignet ist, jede Art von körperlichen Strapazen zu ertragen, – seine Hüften und Beinröhren sind geschmeidig, was ihn zu einem so unermüdlichen Fußgänger macht. Sein Kopf wäre vielleicht ein wenig zu stark, wenn nicht die Breite seiner Schultern dies verdeckte. Seine Stirn ist hoch und breit; seine Augen sind lebhaft und nehmen einen beredten Ausdruck an, wenn sie nach den Regungen seiner Seele verschieden reflectiren, sein Gesicht ist sehr scharf – es ist eine Eigenthümlichkeit an ihm, daß, wenn er den Blick horizontal auf den Raum heftet, wie wenn er nach irgend einem Gedanken hascht, der Augapfel sich zusammenzieht und ein Flämmchen zum Vorschein kommt, welches aus dem Centrum der Hornhaut hervorleuchtet. Es lebt kein menschliches Wesen, welches dann die Tiefe seines Gedankens zu durchdringen vermöchte. Menotti ähnelt hierin seinem Vater. Garibaldi’s Gesicht erinnert an Christus, wie wenigstens das Bild uns diesen vorstellt. – Seine Haut ist weiß und wird durch die Sonne nicht braun, sondern rosenfarben.

Er hat das glücklichste Temperament, welches die Natur einem Sterblichen schenken kann, denn es besteht aus dem nervösen, dem sanguinischen und dem kaltblütigen (linfatico) zusammen. Auf diese Weise sind so zu sagen drei verschiedene Menschen in ihm – der Mann des Gedankens, der Mann der Handlung und der Mann der ruhigen und sicheren Festigkeit in der Ausführung seiner Pläne. Das nervöse Temperament setzt ihn in den Stand, jeden Gedanken zu begreifen und die Tragweite desselben in einem Augenblick zu verstehen: vermittelst einer Art von Divinationsgabe faßt er sofort den Kern jeder Frage. Er ist ein wahrhaftes Genie, denn obgleich in seiner Jugend nicht zu tiefen Studien angehalten, hat er von Natur Gedanken, durch welche die alten Weisen groß wurden. Begabt mit einem großen Gedächtniß, kann er weise sein, wie und wie sehr er will, wenn, wie Tullius sagt, die Weisheit im Gedächtniß besteht.

Wenn er entschlossen ist, eine Sache auszuführen, dann wiegt das sanguinische Temperament vor. Seine Befehle sind Blitze, wie ein Blitz folgt die That dem Gedanken. Ihn hält nicht auf und nicht zurück die Ermüdung, sei er zu Fuß oder zu Pferde, nicht Sonne oder Regen, nicht Hunger oder Durst, bis daß er seinen Entschluß zur Ausführung gebracht hat. Deswegen verabscheut er im Kriege die Hindernisse Cäsar’s (impedimenti di Cesare), und operirt so rasch wie möglich. In der Schlacht ist Niemand ruhiger als er. Dann wiegt offenbar in ihm das kaltblütige Temperament vor. Ich habe gekannt und kenne sehr tapfere Soldaten, aber die feierliche Ruhe Garibaldi’s, den höchsten Grad der Unerschrockenheit, habe ich bei Niemandem gesehen.

Er zieht die Krempe seines Hutes über die Augen, um besser [252] den Blick concentriren zu können. Ganz unbeweglich auf seinem Pferde, beobachtet er Alles und trifft Vorsorge für Alles in der Nähe. Bomben, Kugeln, Raketen, Blei hüllen ihn bisweilen wie in eine Wolke, und er scheint es nicht zu gewahren, indem er die Haltung und das Ansehen Jemandes hat, der ein vorzügliches Kunstwerk in aller Seelenruhe betrachtet. Wankt aber eine Compagnie im Bataillon, dann sieht man ihn vorwärts stürzen und, sein Kriegsgeschrei erhebend, die weichenden Soldaten zum Angriff zurückführen. – Das Gefühl, welches in ihm vorherrscht und in dem alle anderen Gefühle wie die Strahlen im Centrum sich zusammenfassen, ist die Liebe. Er liebt den Menschen, als Einzelnen und als Ganzes, die ganze Menschheit wie sie ist, er liebt das Geschaffene – die Natur, erfreuet sich an der Schöpfung, an dem Wiehern des Pferdes, an dem Fluge der Vögel, an dem Fortschießen der Fische, an dem Duft der Blumen, am Grün der Pflanzen, an der Klarheit der Gewässer und an der Majestät des Meeres. Seine ganze Seele athmet Liebe. Die Schlechten beklagt er, indem er sagt, man müsse ihnen die Wege bahnen, um gute Menschen zu werden. Mit Zorn redet er nur von den Mächtigen, welche, anstatt die Völker glücklich zu machen, sie aus Niederträchtigkeit, aus Genußsucht oder Herrschsucht beständig in Angst und Schmerz erhalten.“




Vom Kriegsschauplatz.
Veile und das Gefecht vom 8. März.

Nach dem ewigen Schneesturme und den eisigen Regenschauern war endlich einmal ein Tag gekommen, der das Nahen des Frühlings ahnen ließ, als ich in einem unter unsäglichen Schwierigkeiten aufgetriebenen gliedermarternden hohen holsteiner Stuhlwagen von Kolding gen Veile fuhr. Die jütische Ostküste ist ein reizender Fleck Erde und wird’s immer mehr, je weiter man sich von der eintönigen flachen nordschleswigschen Landschaft entfernt. Der Boden erhebt sich zu ganz stattlichen Hügeln, die mannigfache höchst anmuthige Thäler und Thälchen durchschneiden, und wird in der Umgebung von Veile selbst wahrhaft romantisch. Wie ein Eiland stieg tief zu meinen Füßen der an sich unbedeutende Ort aus einem kleinen Landsee auf, welcher durch Canäle mit der malerischen Einbucht der Ostsee, dem Veiler Fjord, in Verbindung gebracht ist.

Wie blau, wie friedlich lag das Meer; wie still und heimelig lockte der See; wie anmuthig waren die Linien der freilich noch unbelaubten Buchengehölze und der dunkelen Fichtenbestände, die aus dem Grunde bis zu dem Rücken der Höhen aufsteigen, welche den Thalkessel einfassen; – wie schön mußte es hier erst sein, wenn ringsum das junge saftige Sommergrün die freundlichen Landhäuser und Gehöfte umrahmt und umflüstert! Einen Augenblick hatte ich vergessen, wie entsetzlich diese liebliche Idylle aus ihrer träumerischen Ruhe gescheucht worden war, welches blutige Schauspiel sich vor wenig mehr denn acht Tagen hier inmitten des „jütischen Paradieses“ abgespielt hatte, – aber nur einen Augenblick. Die Erinnerungen an das Gefecht vom 8. März drängten sich immer mehr und immer schauerlicher zusammen auf der Straße, die ich dahin rumpelte; das dumpfe Gedröhn, das von Osten, von Fridericia, her an mein Ohr schlug, mehr als Alles aber das finstere, mißtrauische, feindselige Gebahren der Menschen, denen ich unterwegs begegnete oder die ich in den ärmlichen Schenken traf, vor denen unsere Gäule auf der drei Meilen langen Tour verschnaufen mußten – für uns selbst war an Verpflegung und Erquickung in diesen elenden schmutzigen Herbergen nicht zu denken – mahnten mich eindringlich daran, daß es keine Luftfahrt war, auf der sich der pflichtgetreue Berichterstatter der Gartenlaube befand, den vielmehr lediglich sein Beruf, mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Ohren zu hören, was er schildert, weiter nordwärts im verheerten, ungastlichen jütischen Lande trieb.

Welches furchtbare Bild aber bot sich mir erst, als ich von dem letzten steilen Hange in die Stadt hinabkam! Da standen viele Häuser ohne Dach, anderen fehlten große Stücke der Vorderwand, fast in keiner der nördlichen Gassen war noch ein Fenster zu bemerken, die Schornsteine überall herabgerissen, – so hatte das dänische Geschütz hier gewüthet, das die heranbrausenden Sturmcolonnen der Oesterreicher begrüßte.

Der Tag von Veile ist einer der blutigsten des gegenwärtigen Feldzugs gewesen, doch abermals zum glänzenden Triumphe der österreichischen Tapferkeit und Kriegstüchtigkeit geworden, wie es überhaupt scheint, als seien die kaiserlichen Truppen bestimmt, überall da in den Vordergrund zu treten, wo es gilt, im Kampfe mit der blanken Waffe, Mann gegen Mann, den eigentlichen Heldenmuth an den Tag zu legen, während die Preußen ihre Erfolge bis jetzt fast ausschließlich der Ueberlegenheit ihrer schnellfertigen und weittragenden Geschosse verdanken.

Das Gefecht vom 8. März mit seinem in heller Nachmittagsstunde entbrannten grausigen Straßen- und Barrikadenkämpfe, an denen sich die fanatischen Bürger, ja halbschürige Buben betheiligten; das endliche Erstürmen der nördlichen Hügel, von wo aus, hinter Gräben und Holzverhauen, eine dänische Batterie ihre explodirenden Shrapnels dem von den südlichen Höhen anrückenden und die Stadt kämpfend durchrennenden neunten österreichischen Jägerbataillon und den Regimentern Hessen und Belgien entgegensandte; wie eine Abtheilung der letzteren selbst eine Stelle des Fjords durchwatete, um dem Feinde von rechts in die Flanke zu fallen und ihn in seiner stärksten Position, in einem Hohlwege, anzugreifen, durch welchen sich die Straße nach Horsens zieht, – das Alles haben die Tagesblätter zweifelsohne bereits mehr oder minder ausführlich und mit größerer oder geringerer objectiver Treue berichtet; ich will also in weitere Einzelheiten dieses unter der persönlichen Führung des verehrten „Vater Gablenz“ errungenen neuen Sieges der österreichischen Waffen nicht eingehen. Nur die Bemerkung sei mir verstattet, daß der kriegsschauplätzliche Künstler diesen letzgenannten entscheidenden Act des blutigen Werkes, das Gemetzel in der Schlucht auf der Horsenser Chaussee, zum Gegenstände seines schmerzlich lebensvollen und traurig wahren Bildes gewählt hat.

Es war ein schwerer Moment, als die österreichischen Bataillone über einen den gedeckten dänischen Kanonen völlig offenen morastigen Anger in diese Schlucht eindrangen, von einem unaufhörlichen Kleingewehrfeuer umwettert, welches der Feind aus seinen Verhauen auf sie niederhageln ließ. Doch vorwärts geht es, immer vorwärts, achtlos der Cameraden, die ringsum stürzen; plötzlich erschallt ein donnerndes Hurrah und das Bajonnet beginnt zu arbeiten. Abermals Hurrah und wiederum Hurrah, die Kanonen schweigen, und in tollen Sätzen, immer um sich hauend und stechend, springen die Löwenmuthigen rechts und links die steilen schlüpfrigen Abhänge hinan, wo sich hinter Erdwällen und Barrikaden die dänischen Schützen geborgen hatten. Da hielt der Feind nicht länger Stand und begann eiligst Fersengeld zu geben. Er hatte schwere Verluste gehabt, obschon den Oesterreichern, die nur 4000 Mann zählten, fast um die Hälfte überlegen und in einer außerordentlich günstigen Stellung, die er für unnehmbar gehalten haben mochte. Welchen heilsamen Schrecken die kühnen, unermüdlichen und blitzschnellen Oesterreicher dem „tappern Landsoldaten“ abermals eingejagt haben, läßt sich denken. „Alles in der Welt, nur nicht wieder diesen Weißröcken gegenüber, die den hellen Gottseibeiuns im Leibe haben!“ – so haben sich mehrfach gefangene Dänen geäußert. – Leider war inzwischen die Nacht hereingebrochen, so daß die Verfolgung des unaufhaltsam fliehenden Feindes nicht energisch betrieben werden konnte; sonst dürfte kaum ein Mann des dänischen Corps entkommen sein.

Beim Eindringen in den beschriebenen Engpaß war es auch, wo im gegenwärtigen Kriege der erste Schleswig-Holsteiner sein jugendliches Heldenleben im Kampfe gegen den verhaßten Unterdrücker zum Opfer brachte. Bei Veile fiel der Oberlieutenant im österreichischen Regimente „König von Belgien“ Hugo Rathlev, ein Sohn des derzeitigen Amtmanns in Kiel, des Justizraths Rathlev.

Zwar noch zu jung, um sich an der ersten Erhebung der Herzogthümer im Jahre 1848 thätig betheiligen zu können, fand er sich doch durch dieselbe in seiner von Kindheit an genährten Neigung zur Kriegerlaufbahn bestärkt und endlich 1856 die Gewährung seiner langgehegten Wünsche. Der damals achtzehnjährige

[253]

Das Gefecht in der Schlucht auf der Horsenser Chaussee bei Veile.
Originalzeichnung unsers Specialartisten Otto Günther.

[254] Jüngling trat als Cadet in das österreichische Heer ein, um 1859, als eben creirter Lieutenant, den zweiten italienischen Feldzug mitzumachen. Am Tage von Solferino war es ihm vergönnt, einen besonders wichtigen Punkt, den Meierhof von San Martino, ohne dazu befehligt zu sein, mit Sturm zu nehmen, eine große Anzahl Gefangener zu machen und mit dieser Position den linken Flügel der Benedek’schen Truppenaufstellung vor Umgehung durch die Franzosen zu bewahren. Der sichere militärische Blick und die That des jungen Officiers blieben nicht unbeachtet; der Orden der eisernen Krone wurde sein nächster Lohn. 1863 zum Oberlieutenant befördert, sah er 1864 das heißeste Sehnen seines deutschen Herzens gestillt, als er mit seinem Regimente, demselben, welches der tapfere Herzog Wilhelm von Württemberg befehligte, in der Brigade Nostiz zum Kampfe ausziehen durfte gegen den niederträchtigen Vergewaltiger seines schönen Heimathlandes.

Im Gefechte von Oeversee, am 6. Februar, an welchem das Regiment „König von Belgien“ bekanntlich einen so ruhmvollen Antheil nahm, stand Rathlev zum ersten Male dem Landesfeinde gegenüber. Aber leider sollte seinem Thatendurst vorerst ein energisches Halt! geboten sein. Wie seinen Commandeur, den Herzog Wilhelm von Württemberg, so verwundete eine dänische Kugel auch den kühn voranstürmenden Jüngling. Sie drang in den rechten Oberschenkel ein, traf aber zum Glück das in der Hosentasche verwahrte Portemonnaie, worin sich merkwürdiger Weise ein dänischer Reichsthaler befand. An diesem prallte das Geschoß ab und verursachte somit nur eine Contusion, die freilich ziemlich schwerer Art war. Einige seiner Leute wollten ihn vom Schlachtfelde nach dem Verbandplatze tragen. „Nehmt zunächst die dort fort,“ rief Rathlev mit matter Stimme, indem er auf mehrere neben ihm hingestreckte gemeine Soldaten wies. „Seht Ihr denn nicht, daß sie schwerer blessirt sind, als ich es bin?“ Und der menschenfreundliche Officier harrte trotz der heftigsten Schmerzen ruhig aus auf dem Platze, wo er lag, bis jene armen Verwundeten in Sicherheit gebracht waren.

Erst kurz vor dem Treffen bei Veile war Rathlev wieder zu seinem Regimente gestoßen. Die sorgenden Eltern, in deren Hause er gepflegt worden war, wollten den kaum geheilten und noch nicht völlig erstarkten Sohn nicht schon wieder aus ihrer Obhut entlassen; allein die heilige Sache, der sein ganzes Denken und Trachten galt, trieb ihn unwiderstehlich fort zu neuem Strauß wider den glühend gehaßten Dänen.

Schon auf dem Marsche nach Veile scheint ihn eine bei dem Soldaten so oft sich erfüllende Todesahnung beschlichen zu haben. Einem Cameraden machte er seine Uhr zum Geschenke und einem andern trug er auf, nach der Affaire sofort seine Eltern von seinem Befinden zu unterrichten, da er selbst es wahrscheinlich nicht mehr können werde. Wahrhaft ergreifend und rührend aber war der Abschied von seinem treuen Diener. Er führte diesen hinter eine am Wege stehende Scheune, händigte ihm die ganze Baarschaft ein, die er bei sich trug, und küßte ihn mit den Worten: „Diesen Kuß bringst Du meinen geliebten Eltern und Geschwistern, wenn ich nicht mehr bin.“

An der Einnahme von Beile selbst hatte das Regiment „Belgien“ keinen Theil gehabt. Erst gegen vier Uhr Nachmittags erhielt es Befehl, durch die Stadt vorzurücken nach dem vom Feinde besetzten Nordrande des Thales. Kaum aus dem Orte, wurden die „Belgier“ von einem mörderischen Feuer empfangen. Eine offene sumpfige Wiese mußte, wie oben erwähnt, zuerst passirt werden, bevor man das Defilé erreichte, und hier, dicht am Eingange des letztern, stürzte Rathlev, immer an der Spitze seines Zuges, lautlos zu Boden. Ein Camerad bückte sich zu dem Gefallenen nieder und entdeckte, daß eine Kugel durch den Kronenorden geschlagen und diesen in die linke Brust des heldenmüthigen Officiers gebohrt hatte. Man hielt ihn, der sich nicht mehr regte, für todt und ließ ihn darum liegen, um im entsetzlichsten Kugelregen weiter zu stürmen. Nachdem aber die Abtheilung sich eine etwas gedeckte Stellung erobert hatte, liefen zwei Grenadiere – Saffran und Tschatter sind die Namen dieser Braven – aus eigenem Antriebe nach der „Hospitalwiese“ zurück, um nach ihrem geliebten Oberlieutenant zu sehen. Sie hörten sein leises Athmen und trugen ihn, mit ihren Leibern ihn deckend, durch das heftigste Feuer langsam und vorsichtig in ein unfernes Haus. Der Schwerverwundete, der, ungeachtet seiner Leiden und seines Blutverlustes, sich noch lebhaft für den Gang des Gefechtes interessirte und erst, als er von dem glücklichen Ausgange desselben vernommen, in’s Verbandhaus schaffen ließ, lebte noch bis zum Morgen des andern Tages, wo er, um neun Uhr, umstanden von treuen Waffengenossen, den letzten matten Odemzug that. – Am zehnten März wurde die theuere Leiche nach Kolding geführt, von hier aber durch zwei von Rathlev’s Brüdern nach Kiel gebracht, wo man sie am 15. März neben einem im letzten Kriege vor Friedrichsstadt gefallenen Officiere, welcher der Familie verwandt gewesen war, in ihr finstres Bett legte.

Es war ein endloser Zug, welcher dem blumengeschmückten Sarge des Tapfern folgte, den Grenadiere und Kürassiere abwechselnd zur Ruhestätte trugen. Officiere, Magistralsmitglieder, Bürgerdeputationen, die Professoren der Universität, die Liedertafel mit ihrer roth-blau-weißen Fahne, die Studenten mit ihren verschiedenen Bannern und unzählige Andere gaben, trotz des schrecklichen Sturms und Regens, dem für das Vaterland gebliebenen jungen Landsmanne das Geleite. Wohl blieb kein Auge thränenleer, als der schwarze Schrein in die dunkle Gruft gesenkt wurde, wohl ward selbst da und dort ein lautes Schluchzen vernehmbar, als die üblichen Ehrenschüsse in dreimaliger Wiederholung über das Grab knatterten, und doch will es mich dünken, ist er glücklich zu preisen, der vorzeitig dahingeraffte junge Held, daß ihm erspart bleibt, das leider kaum mehr zweifelhafte Endziel des Kampfes zu sehen, in dem er mit der vollen Begeisterung seines frischen patriotischen Herzens das Schwert geschwungen hatte, – daß er nicht, gleich uns Andern, gewahren muß, wie trotz all’ des vergossenen Blutes, trotz der Hunderte und Aberhunderte von Opfern, die sich fortan mit verstümmelten Gliedern und zerfetzten Leibern durch ein armes Leben schleppen müssen, trotz der Millionen, die aus den Taschen des Volkes für den Krieg genommen worden sind, trotz des unzweideutig und energisch genug ausgesprochenen Willens der ganzen Nation, trotz alledem vielleicht erst französische Diplomatenkünste sein urdeutsches Heimathland deutschen Mächten zum Trotz befreien müssen.




Blätter und Blüthen.

Geldmacherei. Es giebt ungeheuer viel verschiedene Arten, den Mitmenschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Einige davon, wie Straßenraub, Erpressung, Taschendiebstahl, werden im Allgemeinen für sehr unanständig gehalten; andere, wie Erbschleicherei, Abborgen und Nichtwiederbezahlen, leichtsinniger Bankerott etc., erfahren je nach der Größe der in Frage kommenden Summe eine bald mehr bald minder ungünstige Beurtheilung. Handelt es sich um fünf Thaler, so ist es die allerniederträchtigste Lumperei, die man sich denken kann, bei fünfhundert Thalern spricht man von „offenbarem Betrug“, bei fünftausend Thalern findet die öffentliche Meinung die Sache „nicht in Ordnung“, bei fünfzigtausend erstaunt sie, bei fünfmalhunderttausend bewundert sie hutziehend. Endlich giebt es gewisse Arten des Geldmachens, die, obwohl durchaus nicht besser als offenbare Beutelschneiderei, nicht nur oft genug vom Gesetz geschützt sind, sondern zum Theil sogar bei einer gewissen Classe des Publicums für anständig gelten. Spielbanken und damit zusammenhängend falsche Spieler – Institut und Zögling – sind in der sogenannten „besten“ Gesellschaft accreditirt und der Humbug aller Art blüht üppig unter der Hand der Gauner auf seinem von der Dummheit gedüngten riesengroßen Felde.

Die göttliche Freiheitsluft Amerikas ist dieser Pflanze eine kräftige Nährerin gewesen.

„Thu’ die Augen auf“ ist das erste Gebot des transatlantischen Verkehrs. Es gehören allerdings zu jeder Betrügerei, wie zur Liebe, allemal zwei, und da jeder Kauf auf einer freiwilligen Vereinbarung des Käufers und des Verkäufers beruht, so hat schließlich der Betrogene nur sich selbst anzuklagen.

Es giebt allerdings Betrügereien, vor denen sich das Publienm selbst bewahren kann und muß; andere aber wieder kann es nicht durchschauen. Wenn sich Jemand einen falschen Gulden aufhängen läßt, so ist er an seinem Verluste selber schuld, denn Jeder muß Blei von Silber zu unterscheiden wissen; ob aber ein theuer erkaufter Apparat oder ein kostspieliges Präparat die angepriesene Wirkung hat, das kann das Publicum nicht ohne Weiteres erkennen. Dazu gehören sehr häufig physikalische und chemische und mechanische und allerhand andere Kenntnisse, die nur bei Wenigen vorausgesetzt werden können. Die große Menge wird bei Allem, was ihr angeboten wird, immer auf das Probiren angewiesen sein, wenn sie nicht von sachverständiger Seite vorher belehrt, respective verwarnt wird. Und auf dies Probiren rechnen sehr häufig die ekelhaften Marktschreier auch nur. Sie wissen, daß sie für ihre angeblich neuen Erfindungen keinen dauernden Absatz erlangen werden, aber wenn ihre nichtsnutzige Waare von Tausenden und wieder von Tausenden probirt worden ist – dann haben sie ihr Schäfchen in’s Trockne und beginnen das alte Spiel mit etwas Neuem.

Sie ziehen mit ihren Reclamen wie Nomaden herum. Wenn eine [255] Gegend abgegrast ist, hören die Anzeigen und die selbstfabricirten Zeugnisse in den betreffenden Zeitungen allmählich auf; dafür tauchen sie an weiter entlegenen Orten wieder empor.

Als die Gartenlaube dem Laurentius’schen „persönlichen Schutze“ die Maske abgerissen, zog sich derselbe aus den größeren Städten auf das flache Land zurück und beglückte mit seinem Erscheinen Gegenden, die von der großen Verkehrsströmung abliegen. Wenn daher auch solch ein sauberer Gesell manchmal seine Rolle ausgespielt zu haben scheint, so ist er deswegen nicht allemal schon vollständig verschwunden. Bei der Heimlichkeit, mit welcher mancher derartige Handel getrieben wird, und bei der fortwährenden Wiedergeburt des Publicums werden „Pillen“ und „Tropfen“ vertrieben, die schon vor dreißig Jahren verkauft wurden. –

Da nun das Volk diese Blutsauger, die sich wie das Ungeziefer anheften und mästen, von selbst in ihrer oft mit vieler Kunst lackirten Fratze nicht so leicht durchschaut, so ist es Pflicht jedes Einzelnen, der etwas dazu beitragen kann, dieselben zu kennzeichnen und für möglichst weite Kreise zu brandmarken. Die Gartenlaube glaubt bei ihrer Verbreitung in dieser Hinsicht auch großen Nutzen stiften zu können, wenn sie die Betrügereien aufdecken hilft, denen das Publicum durch die fortwährend sich vermehrende Zahl von Geheimmitteln ausgesetzt ist. Sie wird deshalb von Zeit zu Zeit eigene Erfahrungen sowohl, als auch die Enthüllungen mittheilen, welche in dieser Beziehung manche technische und wissenschaftliche Journale geben, die aber immer nur einen verhältnißmäßig kleinen und, gewöhnlich gerade den am wenigsten berührten Leserkreis haben. Dabei hofft sie auf die Unterstützung aller Redlichdenkenden.

Der Anfang dieser Demaskirung sei mit einigen ganz besonders frappanten Beispielen gemacht.

Der sogenannte Schweizer Gehörliquor wird von einem Doctor Raudnitz verkauft, und zwar kostet ein Glas mit Gebrauchsanweisung 20 Ngr. Das ist zwar an und für sich nicht viel, wenn man aber erfährt, daß man für das Geld nichts Anderes erkauft hat, als destillirtes Wasser, dem der Herr Dr. Raudnitz weiter nichts zugesetzt hat, als einige Tropfen fuselhaltigen Branntwein, und daß der ganze Quark mit Glas und Gebrauchsanweisung auf höchstens 1 Ngr. zu stehen kommt, so bekommt die Sache einen bedenklichen Beigeschmack von Beutelschneiderei. – Was von der Wirkung zu erwarten ist, kann sich Jeder selbst sagen. –

Aus Paris kommt ein Cosmeticum in Flaschen in den Handel, welche 6 Unzen halten und 5 Franken kosten, es heißt: Lait antéphélic contre les taches et boutons du visage etc. Paris, Candis et Comp. Es soll also gegen Blüthchen, Ausschläge, Flechten, kurz gegen Alles helfen, was man nicht gern in der Physiognomie haben möchte. Wittstein hat dieses Mittel untersucht, nach seiner Analyse besteht es in 1000 Gewichtstheilen aus etwa 10 Theilen Quecksilbersublimat, 1 Salmiak, 140 Eiweiß, 7 schwefelsaurem Bleioxyd, 2 Kampher und 840 Wasser; wahrscheinlich ist es durch Versetzen einer salmiakhaltigen Sublimatlösung mit Eiweißlösung und schwefelsaurem Bleioxyd dargestellt worden; gewiß aber kostet die Herstellung einer Quantität, wie sie für vierzig Ngr. verkauft wird, noch nicht 1 Ngr.!

Aus England angeblich stammt das sogenannte Krystall-Pulver. Es wird dasselbe in Päckchen von 41/2 Loth mit Gebrauchsanweisung verkauft, soll anstatt der Seife zum Waschen benutzt werden und ganz unvergleichliche Dienste leisten. Gegen alles dies ist nichts einzuwenden, nur sollte das Paket nicht zu 12 Ngr. (40 Xr.) verkauft werden, denn man kann es sich für 15 Pfennige herstellen, und dann sollte das Salz nicht Krystallpulver heißen, sondern Soda, denn es ist nichts Anderes.

Wir enden für heute hiermit unsere Schwindeldemaskirung, haben aber noch Material in Fülle zur Hand, um sie demnächst fortzusetzen.




Ein Fisch, der sich einpuppt. Dem unersättlichen Menschen, der unbefriedigt seine Blicke zu dem Monde und anderen Weltkörpern erhebt, möchte ich jene Thierchen, die in den Dachrinnen leben, vergrößert vor Augen führen, um ihm zu zeigen, daß man nicht unsern Luftkreis zu verlassen braucht, will man Neues erfahren und Wunder sehen.

Der Regentropfen, der soeben vom Himmel in die Dachtraufe gefallen, hat ein Thier, das bis daher vertrocknet und todt dagelegen, von Neuem in das Leben zurückgerufen. Räderthierchen und Bärenthierchen, Infusorien, die unser Auge nur unter dem Mikroskope zu erkennen vermag, kapseln sich, sobald alles Wasser in ihrer Umgebung verdunstet ist, ein und bleiben in diesem Zustande lebensfähig, lange Zeit hindurch aber wie todt, liegen, bis neue Feuchtigkeiten ihre Lebensäußerungen wieder wach rufen, oder Winde diese leichten Körperchen weit mit sich forttragen, um das eine oder andere wieder in sein Element zu senken. Dieser Vorgang, obwohl schon längst erkannt, hat in belehrenden Blättern noch wenig die Runde gemacht, noch weniger aber möchte die Geschichte den Lepidosyren, eines Aales, dem Leserkreise bekannt sein, der ähnlich, wie diese Infusionsthierchen, sich einpuppt, sobald er sich von seinem Elemente verlassen sieht. Es ist dies eine Aalart, die an den Ufern des Nils lebt und an den seichten Stellen auf ihre Beute lauert. Würmer und kleine Fischchen sind seine Nahrung; er ist nicht viel dicker als eine gewöhnliche Federbüchse und nicht viel länger als einen Fuß; es kommen jedoch wahrscheinlich auch größere Exemplare vor. – Bekanntlich hat der Nil zu verschiedenen Jahreszeiten auch ein engeres oder weiteres Bette; seine Ufer sind nicht immer dieselben, denn was heute mit Wasser bedeckt, kann in einigen Wochen, wenn der Strom zurückgetreten ist, mit den herrlichsten Fruchtfeldern prangen. Die Stelle, wo der Lepidosyr noch vor Kurzem dem kleinen Gewürme nachjagte, liegt jetzt trocken, und der Aal ist zurückgeblieben auf der von der Sonne ausgedörrten Scholle. In einer thonigen Erdmasse, die, wie wir wissen, die Feuchtigkeit zurück hält, liegt nun, von einem braunen häutigen Beutel umgeben, dieser sonderbare Fisch; er ist fast ganz abgesperrt von der Außenwelt, sein Herz scheint nicht mehr zu schlagen, und seine Eigenwärme ist auf das Minimum herabgesunken, wie bei Thieren, die den Winterschlaf begehen. Der häutige Beutel sieht aus wie die Hülle eines Badeschwammes und hat da, wo der Kopf des Thieres gedacht werden muß, eine runde thalergroße Scheibe von demselben Stoffe als Verschluß. Von dieser Scheibe geht ein röhrenartiges Zäpfchen einwärts in den Mund des Thieres. Im zoologischen Garten zu Frankfurt wurde durch Weinland ein eingepuppter Lepidosyr veranlaßt, seine Hülle zu zerreißen, indem er ihn in das Wasser setzte, worauf wir die Hülle untersuchten. In dem soeben erwähnten Röhrchen fand sich Schleim vor, welcher zu der Ansicht führen könnte, daß während des Schlafes keine Respiration vorhanden war; wenn nicht die Eigenwärme des Thieres, höher als die umgebende Luft unmittelbar vor dem Erwachen, als Resultat einer, wenn auch sehr geringen Respiration angesehen werden müßte. Der Schleim ist wahrscheinlich erst in den letzten Momenten hier abgesetzt worden. In diesem scheintodten Zustande liegt der Aal viele Monate, ja vielleicht Jahre lang, bis neue Fluthen sich den Weg zu seinem Kerker bahnen; dann sprengt er seine Fesseln und er ist von Neuem das, was er war, ein Pfeil in den Gewässern.
Oefele. 




Die Kunst in der Industrie. Der neuesten Zeit, ähnlich wie in der Blütheepoche des Griechenthums und am Ausgange des Mittelalters, als Städtethum und Bürgerleben ihre höchste Entwickelung erreicht hatten, ist es vorbehalten gewesen, Kunst und Handwerk wieder zu nähern, auf das Schöne in der Industrie ein Hauptgewicht zu legen und bei allen Erzeugnissen des Gewerbfleißes nicht blos den unmittelbaren praktischen Zweck im Auge zu haben, sondern auch Mannigfaltigkeit und Reinheit der Form thunlichst anzustreben. Alle die großen Industrieausstellungen der beiden verflossenen Jahrzehnte, namentlich die zwei Weltausstellungen in London, sowie die zu Paris, legten Zeugniß ab von dieser immer allseitiger und glücklicher zur Geltung kommenden Tendenz.

Das gleiche Ziel, die Vermählung von Kunst und Technik, hat sich auch die seit Beginn v. J. im Verlage von J. Engelhorn in Stuttgart in monatlichen Lieferungen zu 71/2 Ngr. erscheinende von W. Bäumer und J. Schnorr herausgegebene gewerbliche Zeitschrift „Gewerbehalle. Organ für den Fortschritt in allen Zweigen der Kunstindustrie“ gesteckt, und nach den bis jetzt vorliegenden Heften dürfen wir mit Recht behaupten, daß sie ihre Bahn mit entschiedenem Berufe verfolgt. Die Gartenlaube ist nicht der Ort dies neue und zeitgemäße Journal ausführlicher zu besprechen, aber wir glauben mit vollem Grunde, es nicht nur den Gewerbtreibenden selbst als ein vortreffliches Bildungsmittel und Ideenmagazin, sondern Allen, die sich für die Entwickelung unserer deutschen Industrie interessiren, auf das Wärmste empfehlen zu dürfen. Text und Abbildungen sind gleich gelungen und umfassen das gesammte Gebiet der Technik, die Wohnung, das Geräthe und die verschiedenen Schmuckgegenstände und Stoffe. Auch wird den neuen Erfindungen, die von Einfluß auf Kunstindustrie sind, eine stätige Aufmerksamkeit gewidmet und schnellmöglich Bild und Nachweis darüber mitgetheilt werden.


Briefkasten.[1]


M. in M. Ein tiefer Schmerz geht durch Ihre Zeilen, mein armes Fräulein, und die Thränen, unter denen Sie den Brief schrieben, werden nach alledem, was Sie mir mittheilen, nicht die letzten sein, die Ihnen Ihr Herzenskummer auspreßt. In Ihrem Leid wenden Sie sich an mich, als ob ich Ihnen Hülfe oder doch Trost senden könnte! Wer hat für diese Wunden noch den rechten Balsam entdeckt? Wie heiß auch Ihre Herzen ineinanderflammten und wie sehr es Sie zu ihm hinzog, Sie haben sich eben nicht verstanden, und erst als die Hand den Abschiedsgruß winkte, erkannten Sie, wie unendlich theuer Ihnen der Mann war und wie kalt und liebelos fortan Ihre Lebenszukunft vor Ihnen liegt. Es ist die alte Geschichte, die der Dichter so wahr und schön in den einfachen Worten schildert:

O frage nicht, wer sich vergangen,
Ob ich die Schuld, ob Du sie trägst;
Was hilft’s, wenn welk die Kränze hangen,
Daß Du nach jeder Blüthe frägst.
Wir sind uns kalt und fremd geworden,
Das Segel winkt, die See geht hohl,
Nach Süden ich und Du nach Norden,
Verlornes Herz, leb wohl! leb wohl!


R. in N. An Ihren Folgerungen ist nur das Eine auszusetzen, daß die letzte Frage – nach der Kraft zur Regierung der Flügel – darin doch eine offene bleibt. Sobald Sie dieselbe in der Art beantworten, daß Sie mit Ihrem Apparat wirklich geflogen sind, werde ich mit dem größten Vergnügen dem Publicum Mittheilung machen.


L. in B. Urtheilen Sie nicht zu schnell. Ich will den mir geschilderten Mann nicht vertheidigen oder seine jähe Umwandlung gutheißen – wer könnte das auch – aber der Fluch des Lebens drückt oft überwältigend schwer auf das Haupt des Einzelnen und zwingt uns zu entschuldigen, wo wir nicht vertheidigen können. Erlauben Sie mir Ihnen eine kleine Geschichte zu erzählen.

Vor Kurzem traf ich wieder mit einem Freunde zusammen, den ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen. Damals kannte ich ihn als einen begeisterten Vorkämpfer der Volkssache, als einen unserer gewiegtesten Publicisten und als den besten Redner, der mit überzeugender Kraft alle Gegner der Freiheit zur Umkehr hinriß. Er that es ohne Eitelkeit und ohne persönlichen Vortheil – aus inniger Liebe für die Heiligkeit der Sache, für deren Rettung er, selbst noch in den Zeiten der hereinbrechenden Sündfluth, Alles [256] wagte. Jetzt wurde er mir als die rechte Hand des Ministers bezeichnet, als die feinste und, wie man begütigend hinzusetzte, auch die anständigste Feder der Reaction. Seit fünfzehn Jahren, wie gesagt, hatten wir uns aus den Augen verloren und keine Zeile gewechselt, nun stand ich dem politischen Gegner gegenüber und sprach nach langer Zeit zum ersten Male wieder mit ihm – allein auf seiner Stube.

Ich werde diese verlegenen Mienen, diese ängstlichen Gebehrden des sonst so gewandten Mannes, dieses Haschen nach lebhafter Unterhaltung niemals vergessen. Er kam mir mit der alten Liebe und Herzlichkeit entgegen, und die Erinnerung an jene Zeit schien ihn mit Freude zu erfüllen, aber schon nach einer halben Stunde ward unser Gespräch stiller, der Arme suchte sichtlich nach Stoff, um etwaigen Erörterungen vorzubeugen, und schwieg endlich ganz, als ich auf seine jetzige Stellung überging. Was ich ihm zu sagen hatte, war wenig, und ich that es mit Schonung und ohne Vorwürfe. „Sie sind nicht glücklich, lieber Herr,““ sagte ich schließlich.

Er sah mich lange mit großen Blicken an. Plötzlich stürzten Thränen aus seinen Augen, er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und weinte bitterlich. Niemand sprach ein Wort.

„Ja, Herr,“ sagte er endlich und im Tone seiner Stimme lag eine unendliche Wehmuth und Bitterkeit, „ja, ich bin sehr unglücklich. Sie wissen nicht, welche qualvollen Stunden, welche schlaflosen Nächte mich dieser Entschluß gekostet hat, und wie ich ihn endlich nur gefaßt, als mir nichts als das Elend der Meinen oder eine Kugel übrig blieb. Fünf Kinder und kein Brod – Sie kennen das nicht … es thut sehr wehe! Ich müßte Ihnen erzählen, wie ich, durch meine Betheiligung an den 48er Ereignissen aus aller Carrière gerissen, umsonst an allen Thüren und Thoren nach Arbeit klopfte und, überall abgewiesen, an dem Sarge aller meiner Hoffnungen, am Rande der Verzweiflung stand, ohne einen Ausweg, eine rettende Hand zu finden. Ich müßte Ihnen weiter auseinandersetzen,“ fuhr er fort und seine Stimme zitterte vor Erregung, „wie dem Parteimann von 1848 mit höhnischem Achselzucken überall der Rücken gekehrt und die bittersten Vorwürfe nachgerufen wurden, wie ich gebettelt um Beschäftigung und mich zu den niedrigsten Handarbeiten gedemüthigt …. es ist ein bitteres Stückchen Brod, lieber Herr, Jahr aus Jahr ein gegen seine Ueberzeugung zu schreiben, aber ich nahm es um meiner armen Kinder willen – sehr lieber, guter Kinder – und jetzt bin ich unglücklich, aber meine Kinder sind gerettet…

Es kann mir nicht einfallen die Handlungsweise des armen Mannes zu vertheidigen, diesem Jammer gegenüber aber hatte ich keine Worte und bin schweigend gegangen. Hinter Austern und Champagner und mitten im Taumel des Glückes ist es sehr leicht den Stab über einen Unglücklichen zu brechen, der meist ohne Vertheidigung zu Boden getreten wird. Der Hunger eines Kindes aber wiegt so schwer in den Handlungen eines Vaters, daß kein Dritter das Recht hat, ein endgültiges Urtheil darüber zu sprechen.


G. M–y in Paranaguà (Brasilien, Provinz Parana). Es ist mir gewiß erfreulich, daß man auch in so fernen transatlantischen Landen die Gartenlaube eifrig liest und werth hält, aber das hohe Porto Ihres Briefes ist weniger erfreulich, zumal Ihr überschwenglicher Panegyricus aus Mr. John Bull, von dem wir hier in Deutschland jetzt ein anderes Lied zu singen wissen, zur Reise in den Papierkorb verdammt ist.


F. L. in B. Lassen Sie uns nicht näher auf dieses Parteiwesen eingehen. Der Leipziger Dichter O. zeichnete neulich diesen unglückseligen Zustand sehr richtig:

Großdeutsch, kleindeutsch ist gleich zu unterscheiden:
Germania hängt am Kreuze zwischen Beiden!


R. R. in … s. Ihre Erzählung zeugt von Talent und einem warmen, begeisterungsfähigen Herzen, ist aber zum Abdruck doch noch zu jugendlich.


K. in G. Sie spötteln über die Turnerei und fragen höhnisch nach den geträumten Erfolgen des Leipziger Turnfestes. In den Büchern der Geschichte werden allerdings bestimmte Thatsachen als Erfolge dieses Festes nicht brilliren, aber Niemand kann an den stillen Nachwirkungen eines Festes zweifeln, der die Vereinigung einer so großen Anzahl der besten Männer des Vaterlandes zu einem gemeinsamen Zwecke und die wahrhaft überwältigende Begeisterung in allen Schichten der Bevölkerung gesehen hat. Ob unser Fest nach außen und innen gewirkt hat, mag Ihnen im Kleinen der nachfolgende Brief beweisen, den der Schreiber dieses Briefkastens kurz nach Beendigung des Festes von einer ihm unbekannten Dame aus Brandenburg empfing:

„Als mein lieber Alter heimkehrte vom Leipziger Turnfeste,“’ schreibt die Dame, „angefüllt von Eindrücken so mächtig, wie nie zuvor, da ergriff es auch mich in meinem tiefinnersten Wesen. Die Bedeutung einer Vereinigung so vieler tüchtiggesinnter Menschen wurde mir klar, und die Gedanken eilten zu den Männern, welche eine solche Vereinigung hervorzurufen und zu leiten wußten. Wenn ich diesem meinem innersten Denken nur zu Ihnen Ausdruck gebe, dessen Name uns in unserem Lieblingsblatt [2] so oft vor Augen tritt, so zürnen Sie mir wohl nicht. War es doch Ihr Blatt, dessen warme Schilderungen meinen Gatten und so viele Andere nach dort gezogen; übrigens ist es lediglich Schuld des Turnfestes und meines guten Alten, daß ich so schreibselig zu Ihnen eile, da der Letztere im Eifer gleich zu dem Sammelplatz der Intelligenz, auf Deutsch: in die Bierstube geeilt ist, um seine Eindrücke frisch wiederzugeben, mich somit mit meiner Erregung allein gelassen hat. Mögen Sie nun über meinen Einfall lachen oder sich ärgern, diese Zeilen lesen oder in den Papierkorb werfen, gleichviel, mir bleibt doch die Genugthuung, Euch lieben, wackern Männern gesagt zu haben, wie sehr wir Frauen Euer Wirken zu schätzen wissen, wie auch unsere Herzen für Eure Sache glühen.

Ihr treuen Kämpfer für Freiheit und Recht, haltet fest an Eurem Wirken, unbeirrt um die Gunst oder Ungunst der Machthaber; der Segen des Volkes, die Liebe der Mütter Eurer Kinder geleiten Euch auf Eurer mühevollen Laufbahn. Wie Euch jetzt im frohen Beisammensein Tausende umstehen, so tritt täglich geistig das Heer derer, die mit Euch einer Meinung sind, als moralische Macht zur Seite, und es ersteht ein Geist, frisch, fromm, froh und frei, der sich nicht fortmaßregeln läßt und mit deutscher Zähigkeit abwartet, wo er nicht handelnd eingreifen kann. Diesen Geist zu erwecken, wollen wir Frauen Euch treulich helfen. Wir wollen unsere Söhne erziehen im Geist der Freiheit, damit sie ausbauen lernen das Werk, das Ihr begonnen! Gut Heil!
Eine deutsche Mutter. 

Am–hn in Florenz. Gut gemeint, – aber unklar gedacht und darum unverständlich. Es giebt in der Gegenwart genug zu schaffen; lassen wir die graue Sagenzeit darum in Ruhe.


B. in C. Ueber die Richtigkeit Ihrer Annahme habe ich kein Urtheil. Etwas Erschöpfendes über das Auftreten der Krankheit in Hettstädt, wo sich bekanntlich die Trichinenepidemie in ihrer furchtbarsten Gestalt zeigte, finden Sie in der so eben erschienenen Schrift eines dortigen Arztes: Rupprecht, die Trichinenkrankheit. Nach der Mittheilung dieses Herrn erkrankten dort und wurden von ihm behandelt 103 Personen und zwar 11 nach dem Genusse von Rohfleisch, 9 nach Knackwurst, 23 nach Röstwurst, 7 nach Bratwurst und Fleischklößchen, 14 nach Schwartenwurst, 1 nach Blutwurst, nach Schweinebraten, 8 nach gekochtem Fleisch, 2 nach trichinisirtem Rindfleisch, 27 nach verschiedenen wiederholten Genüssen. Davon starben 16 Personen. Uebrigens verweise ich Sie auf den vortrefflichen Artikel unseres verehrten Mitarbeiters, Prof. Bock in Nr. 7 unseres Blattes.


Olg. in Ptbg. Sie klagen über die unwahrscheinlichen Entwickelungen vieler Romane und Erzählungen, die Sie nur mit Lächeln und Achselzucken lesen können, und meinen, das wirkliche Leben biete keine derartigen Ueberraschungen und romantische Schicksalswechsel. Das ist nur halbwahr. Wir wollen die Extravaganzen mancher unserer Novellisten nicht vertheidigen, aber das wirkliche Leben bietet so große und reiche Stoffe und zwar Stoffe, die in das Gebiet des Romantischen zu gehören scheinen, daß man nur keck hineinzugreifen braucht, um das schönste Sujet für eine Novelle, für ein Trauer- oder Lustspiel zu finden. Ich will Ihnen heute eine ganz einfache Thatsache aus dem Leben mittheilen und mir dabei nur die Frage erlauben, ob Sie dieses Sujet, wenn Sie es in einer Erzählung künstlerisch ausgesponnen fänden, nicht auch für ein unwahrscheinliches und überromantisches bezeichnen würden.

Der junge Herr v. … , aus einer angesehenen Familie stammend, befand sich im Jahre 18… als Freiwilliger bei dem in Münster garnisonirenden Husaren-Regimente, als er die Nachricht von dem plötzlichen Tode seines Vaters und zugleich die traurige Kunde erhielt, daß ihm aus dem als bedeutend erwarteten Nachlasse desselben kaum einige hundert Thaler zu Theil werden würden. Diese plötzliche Umwandlung seines Schicksals wirkte um so niederschlagender auf unsern jungen Husaren, als er sich wohl bewußt war, daß er nicht zu denjenigen gehöre, die ihre Jugendzeit so angewandt und sich einen solchen Schatz von Kenntnissen erworben, daß sie der Zukunft ruhig entgegensehen können; die Sorge für seine Zukunft überwog daher fast den Schmerz um den Tod des Vaters.

Nachdem er seinen Abschied erhalten und vergeblich hier und da um eine kleine Stelle angeklopft hatte, wandte er sich endlich entschlossen nach Essen, kaufte sich dort einen kleinen Wagen mit zwei Hunden, und aus dem schmucken Husaren ward ein schwarzer Kohlenfuhrmann. Von früh bis Abends spät fuhr er Kohlen von den Zechen nach der Stadt und verdiente für sich und seine Hunde sein, wenn auch oft recht kärgliches, tägliches Brod. Aber seine Kohlen waren gut, sein Maß reell und die Bestellungen wurden prompt besorgt; so kam es, daß der Kreis seiner Kundschaft sich immer mehr erweiterte. Unter seinen Abnehmern befand sich auch die Familie von H., und die einzige Tochter des Hauses, der das stille, bescheidene Wesen des Kohlenmannes aufgefallen, sorgte stets, daß demselben eine Portion Essen oder ein Butterbrod zu Theil ward, wenn er seine Kohlen abgeliefert hatte. So vergingen Monate, und in die Brust des Jünglings hatte sich unbemerkt neben dem Gefühle der Dankbarkeit auch noch ein anderes eingedrängt, das er aber, seine Lage bedenkend, still bei sich trug. Das junge Mädchen war das einzige Wesen auf der Welt, das an dem Armen Theil zu nehmen schien; was Wunder, wenn er ihr eines Tages seine Schicksale und seine Abstammung anvertraute. Seit dieser Zeit entspann sich zwischen Beiden ein Verhältniß, das um so stärker werden mußte, je geheimer die Liebenden die Gefühle ihres Herzens zu halten gezwungen waren, bis endlich die Tochter den Eltern ihre Neigung mit allen Nebenumständen offenbarte und diese nach einigem Zögern dem Glück des einzigen Kindes nichts mehr in den Weg zu legen versprachen.

Das Kohlenfuhrwerk verschwand und der schwarze Kittel verwandelte sich in die Kleidung eines Gentlemans, deren Träger bald der glückliche Gatte seiner Angebeteten wurde. Das glückliche Ungefähr wollte außerdem, daß reiche Verwandte der jungen Frau zu dem neuen Ehepaare zogen und von diesem treulich gepflegt wurden, wofür es sich bei dem bald erfolgten Tode der Alten als Erbe eines großen Vermögens sah.

Herr von … lebt noch. Das Glück hat ihn ebensowenig stolz gemacht, als das frühere Unglück ihn zu Boden zu drücken vermochte, und gern erzählt er ihn besuchenden Freunden seine Schicksale. Sein Kohlenkittel hängt wohlverwahrt in seinem Zimmer.


  1. Wiederholt bitte ich, alle Briefe für die Redaction an mich zu adressiren, da mir allein die Pflicht der Beantwortung obliegt.
    Ernst Keil. 
  2. Dieses Lieblingsblatt, das selbst von den Gegnern mit Interesse gelesen wurde, ist seit Ende December in Preußen verboten.