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Die Gartenlaube (1864)/Heft 26

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[401]
Der Zeuge.
Von J. D. H. Temme.
(Schluß.)

„Ah, Emchen,“ fragte Herr Milden, „Du warst so lange mit der blassen Frau allein; zuerst im Wagen, dann hier. Was hat sie Dir Alles erzählt?“

„Nichts!“ sagte Frau Milden.

„Ah, nichts? Sie sollte nicht ihr Herz gegen Dich geöffnet, ausgeschüttet haben?“

„Mit keinem Worte! Das zeigt eben die große, edle Seele dieser Frau. Sie war mit mir allein, mit mir und mit ihrem Herzen, das wahrhaftig schwerer zu tragen hat, als die Herzen Millionen anderer Menschen, die auch schwer genug leiden und dulden müssen – ich erfuhr es nachher, auf einmal, so vollständig; es schmetterte mich selbst nieder –. Sie erkannte die theilnehmende, die verschwiegene, die mütterliche Freundin in mir. Kein Wort der Anklage, kein Wort der Klage nur kam über ihre Lippen. Ich wußte nicht, ob ich mehr Mitleid oder mehr Bewunderung für die Frau haben solle.“

„Und nachher, Emchen? Was war nachher geschehen?“

Frau Milden schwieg.

„Nachher, mein Kind? Hier? Als es Dir auf einmal klar wurde, was ihr Herz drücke? Wer war hier bei Euch gewesen?“

„Fragt mich jetzt nicht. Ich versprach ihr, zu schweigen.“

Die Augen der Braut waren nicht mehr blos feucht, sie standen voll Thränen, und durch die Thränen las man darin die Angst ihres Herzens.

„Es ist mir so bang, Tante, als ob ein Unglück geschähe. Der Mann sah so entsetzlich aus, und auf seiner Stirne stand der Tod, der Mord. Ah, er muß ja so oft gegen die armen Menschen auf das Todesurtheil antragen und wird so nach und nach vertraut mit dem Tode. Tante, wie kann man einen Staatsanwalt heirathen? Aber laß uns gehen, laß uns ihnen folgen. Mir ist, als ob wir die Frau beschützen müßten!“

Sie zog die Tante mit sich fort, und die Anderen folgten ihr. Es war ihnen Allen, als wenn die Angst des reinen Herzens des Mädchens weiter und klarer sähe, als sie es konnten.

Sie kehrten zu dem Gasthofe zurück, der oben auf dem Weißen Stein neben jener Stelle lag, auf welcher man die schönste Aussicht des Berges hatte. Die erste Frage der Braut war nach dem Staatsanwalt und seiner Frau. Sie waren dagewesen, berichtete ein Kellner; aber nur sehr kurze Zeit; dann hatten sie sich wieder entfernt.

„Abgereist?“

„Nein! Sie haben ihre Reisesachen zurückgelassen. Der Herr wünschte, noch erst die Sonne untergehen zu sehen. So gingen sie die Höhe dort hinauf.“

„Und wohin von da weiter?“

„Ich weiß es nicht. Sie müssen auf der andern Seite weiter gegangen sein.“

„Das ist sonderbar!“ sagten die Reisenden sich ansehend.

Ein Mädchen des Hauses sah die bedenklichen, fast betroffenen Gesichter. Sie nahte sich der Frau Milden.

„Die Dame war sehr traurig, als sie gingen. Ich glaube, sie wollte nicht gern mit. Man sah ihr eine so eigene Angst an, und der Herr – ah, gnädige Frau, es wurde mir selbst angst, wenn ich ihn ansah. Ich wäre auch nicht mit ihm gegangen.“

„Siehst Du, Tante?“ sagte die Braut.

„Aber, Kinder,“ rief Herr Milden, „seid Ihr nicht thöricht? Wie sollte der Mann dazu kommen, so aus heiler Haut, für nichts und wider nichts zum Verbrecher zu werden?“

„Seine Leidenschaft,“ sagte der Domherr, „kann Alles auf sich nehmen und tragen, nur sich selbst nicht.“

„Und,“ sagte die Braut, „warum ist er ein Staatsanwalt, der mit dem Leben der Menschen zu spielen gelernt hat? Gott stehe der armen Frau bei! Horch!“ rief sie auf einmal, und sie wurde leichenblaß und zitterte wie Espenlaub.

„Was war das?“ riefen sie Alle, und sie hatten Alle bleiche Gesichter, und ihnen Allen rieselte ein Beben durch die Glieder.

In einiger Entfernung waren zwei Schüsse gefallen, in jener Gegend, aus der sie vor wenigen Minuten gekommen waren.



4. Zwei Flüchtlinge.

Oben auf der spitzen Bergeskuppe lag zwischen dem alten Gemäuer ein einzelner Mensch. Er war bekleidet mit einer groben, grauen Leinwandjacke, wie sie die Sträflinge der Zuchthäuser und Festungen tragen. Seine Gesichtszüge, sein feingebauter Körper zeigten einen Mann der höhern Stände. Sein Gesicht sah blaß, angegriffen aus; die graue Jacke war mit Blut bedeckt. In dem angegriffenen Gesichte las man einen ungebeugten Muth, einen fast wilden Trotz. Den linken Arm trug der Mann in einer Binde. Sie war von weniger grober und weicher grauer Leinwand, jedenfalls aus dem Hemde des Flüchtlings hergestellt; sie war mit Blut bedeckt, wie die Jacke.

Der Mann blickte unmuthig um sich her. Der schönste Anblick, den das Gebirge zu bieten hatte, bot sich ihm da oben dar. [402] Die Steile Wand, der Kuppe gegenüber, lag noch tief unter ihm. Er sah weit über sie hinweg; er sah über alle Berge der Kette hinweg, in die endlose Ebene mit ihren Städten und Dörfern nach der einen, in Gebirge und Waldungen nach den andern Seiten. Aber die Mannigfaltigkeiten und Schönheiten der Natur waren für seinen Unmuth nicht da. Ihn beschäftigte etwas Anderes.

„Wo er bleiben mag! Er muß schon über eine Stunde fort sein. Die Sonne stand noch hoch, als er ging; jetzt wird sie schon bald untergehen. Er glaubte, in kurzer Zeit wieder da zu sein. Wenn ihm ein Unglück begegnet wäre, wenn er den Verfolgern in die Hände gefallen wäre! Teufel! Ich wäre mit ihm verloren. Mit dem verdammten Arme könnte ich mich nicht wehren. O, ich würde es dennoch. Lebend bringen sie mich in jene Löcher nicht zurück. Zuletzt bliebe das Grab da unten?“

Er lag an der abschüssigsten Stelle des Berges; fast so steil, wie die Steile Wand ihm gegenüber, senkte von dem Gemäuer ab die Seite der Kuppe sich hinunter, in den tiefen, dunkeln Abgrund, der den Felsen und die Kuppe von einander trennte. Der Mann mit dem verwundeten Arm brauchte auf der Stelle, an der er lag, sich nur herumzuwerfen, um in die bodenlose Tiefe hinunterzustürzen.

In den Abgrund richteten sich seine Blicke.

„Es wäre ein tiefes Grab – pah, ein desto stilleres, ruhigeres. Es wäre sogar ein romantisches, ein so recht schauerlich romantisches, wie die Romantik der Gräber sein muß. Aber würden sie mir das lassen? Würden sie die Ruhe, den Frieden da unten mir gönnen? Dem Hochverräther? Es wäre ja ein ehrliches Begräbniß da unten. Wie darf ein Mensch ehrlich begraben werden, der die Throne hat umstürzen wollen, wie sie sagen?“

Es stieg Jemand langsam den Berg hinauf. Als man oben auf der Spitze seinen Schritt hören konnte, klatschte er leise in die Hände, um dem Verwundeten zu melden, wer komme. Ein paar Minuten nachher war er oben. Es war ein starker, schöner, blasser Mann mit regelmäßigen, vornehmen Gesichtszügen. Sein Wesen zeigte einen tiefen, melancholischen Ernst, gepaart zugleich mit Klarheit und Besonnenheit und mit einer ruhigen und um so festeren Entschlossenheit. Er war gekleidet wie ein wohlhabender Landmann. Einen ähnlichen Anzug hielt er über den Arm geschlagen. Seine Hände trugen Lebensmittel.

„Stärke Dich zuerst, Golzenbach,“ sagte er zu dem Verwundeten. „Dann kleide ich Dich um.“

„Wo warst Du so lange, Wartenburg?“ fragte ihn der Graf Golzenbach.

„Ich traf nicht sofort die Leute, denen ich mich zeigen durfte.“

„Und Du hast Alles?“

„Wie Du siehst.“

„Auch Waffen?“

„Zwei Pistolen; mehr hatten sie, um nicht Aufsehen zu erregen, nicht anschaffen können.“

„Gieb mir eine von ihnen, Wartenburg. Man kann nicht wissen, was kommt, und ich möchte mein Leben vertheidigen, so lange ich mich rühren kann, mit dem gesunden, wie mit dem gebrochenen Arme. Ist das Ding geladen?“

„Mit einer Kugel.“

Herr von Wartenburg hatte zwei Pistolen hervorgezogen. Er übergab eines davon dem Grafen Golzenbach; das andere behielt er für sich.

„Waren schon Verfolger dagewesen?* fragte der Graf.

„Drei Gensd’armen mit einem Officier sprengten vorbei. Ich sah sie selbst.“

„Teufel, wenn die eine Ahnung davon gehabt hätten, daß ich hier oben war.“

„Sie hatten sie eben nicht.“

„Wartenburg, weißt Du, wer sonst noch hier ist? Gerade jetzt?“

„Wer wäre es?“

„Jener Elende! Unser Verfolger, unser Mörder! Der Staatsanwalt von Rachenberg! Hat je ein Mensch mit mehr Recht einen häßlichen Namen getragen?“

Herr von Wartenburg hatte die Nachricht schweigend aufgenommen.

„Wie, Wartenburg, Du geräthst nicht in Wuth?“

„Und warum?“

„Ueber die Nähe dieses Menschen, der so viel Unheil über uns gebracht hat!“

„Er that seine Schuldigkeit, Golzenbach. Er erfüllte die Pflicht seines Amtes, eine harte zwar –“

Der Verwundete fuhr auf, daß sein kranker Arm ihn schmerzte.

„Pflicht? Schuldigkeit? So nennst Du den Haß, die Rache, die Verfolgungswuth dieses Menschen?“

„Laß uns davon schweigen, Freund,“ sagte Herr von Wartenburg. „Wir sind parteiisch gegen ihn.“

„War er es nicht gegen uns?“

„Er mußte es sein; sein Amt verlangte es so. Und von seinem Amte verlangte es die Ruhe und Ordnung des Staates. Er mußte uns verfolgen, und wir dürfen somit kein Urtheil über ihn fällen. Auch nicht, wenn er in seinem Eifer weiter gegangen ist, als er hätte gehen sollen. Wo hätten wir stehen bleiben können, wenn wir seine Ankläger gewesen wären?“

Der Verwundete fuhr nicht wieder auf.

„Du magst Recht haben, Freund Wartenburg,“ sagte er.

„Ich weiß es nicht. Du bist ein ruhiger, verständiger Mensch. Ich bin es nicht; ich kann, ich will es nicht sein. Ich weiß nur Eins: hätte ich den Burschen in diesem Augenblicke hier – Du hast mir die Waffe da gegeben – in dem Momente, da ich ihn sähe, säß’ ihm die Kugel in der Brust.“

„Du wolltest zum Mörder an ihm werden, Golzenbach?“

„Ist er nicht mein Mörder? Der Deine? Der Verderber so vieler edler Freunde?“

„Laß uns von etwas Anderem sprechen, Golzenbach.“

„Und Du willst nicht einmal erfahren, wo und wie ich ihn gesehen habe?“

„Ich weiß es.“

„Auch Du sahest ihn?“

„Nein, aber –“

„Aber?“

„Ich sah und sprach seine Frau.“

Herr von Wartenburg sprach die Worte mit leiser, fast zitternder Stimme. Graf Golzenbach mußte ihn still ansehen. Der Trotz, die wilde Leidenschaft wichen aus seinem Gesichte. Man las darin Bewunderung für den Mann, mit dem er sprach.

„Reiche mir Deine Hand, Wartenburg,“ sagte er dann, und er drückte herzlich die Hand des Freundes. „Du bist eine edle Seele. Ich wollte, ich könnte es auch sein. Aber erzähle mir von der armen Frau. Vielleicht bessert es mich doch. Wo fandest Du sie? Was sprachst Du mit ihr?“

„Nachher, mein Freund,“ sagte Herr von Wartenburg, dem ein tiefer Schmerz die Brust zerwühlte. „Nur so viel laß mich jetzt Dir sagen: sie ist ein unglückliches Weib; nie sah ich ein unglücklicheres.“

„Und sie wäre mit Dir so glücklich geworden,“ rief der Graf, „und Du mit ihr! Und – o, könnte ich doch dem Elenden den Hirnschädel zerschmettern!“

Und plötzlich fuhr der Verwundete noch einmal auf.

„Da ist er! Sieh, sieh! Und mit ihr!“

Sein Blick war nach der steilen Felsenwand auf der anderen Seite der Schlucht gefallen. Er starrte dorthin. Er konnte das Auge nicht abwenden. Das Auge glühte Haß, Rache, Zorn, Wuth. Er griff krampfhaft nach der Waffe, die er neben sich gelegt hatte.

Auch Herr von Wartenburg hatte hinsehen müssen. Er war überrascht worden. Dann stand er, wie von Angst, wie von tödtlichem Entsetzen ergriffen. An der Steilen Wand waren ein Herr und eine Dame erschienen. Die Flüchtlinge erkannten sie. Sie glaubten, trotz der Entfernung, die Züge der beiden blassen Gesichter zu unterscheiden, die finsteren des einen, die schmerzlichen des anderen. Und die Beiden standen so nahe an dem dunklen, bodenlosen Abgrunde; dicht neben einander, der Mann an der Seite der Frau, die Frau an dem Manne. Eine Bewegung des Einen, eine gegenseitige Berührung konnte den Anderen in die Tiefe stürzen; in der Tiefe war der sichere Tod. Herrn von Wartenburg hatte Entsetzen ergriffen. Selbst den Grafen Golzenbach schien ein Schauder zu durchziehen.

„Er ermordet sie!“ rief er. „Er stürzt sie in den Abgrund.“

„Bist Du wahnsinnig, Mensch?“

„Du denkst es selbst, Wartenburg. Du hast sie vorhin gesprochen, sagst Du?“

„Ich sprach sie.“

„Und er hat es erfahren?“

[403] „Vermuthlich!“

„Sicher! Warum wäre er nochmals hier? Jetzt mit ihr? Vorhin war er ohne sie da, in anderer Gesellschaft. Er hat sich die Stelle besehen. Oder vielleicht warst Du unterdeß gerade bei ihr. War es so?“

„Es war so.“

„Und als er zurückkam, erfuhr er es. Schon das Aussehen der Frau mußte es ihm entdecken. Ich kann es mir denken. Ich sehe die arme, blasse, bebende Frau. Die Wuth, der Wahnsinn seiner wilden Eifersucht ergriff ihn. Er konnte sie verbergen; er hat die volle Gewalt über sein Aeußeres. Er hat das Verderben, den Tod der Frau beschlossen. ‚Es ist so schön an der Steilen Wand,‘ sagte er zu ihr laut, in Gegenwart der Anderen, mit denen er da gewesen war. ‚Schade, daß Du nicht mit da warst, mein Kind. Du mußt noch hin. Komm. Wenn Du eilst, so sehen wir noch gerade dort die Sonne untergehen; man kann keinen prachtvolleren Anblick haben.‘ – So lockte er sie hin. Zweifelst Du? Sieh, da geht gerade die Sonne unter. Und es ist in der That ein Prachtanblick, Wartenburg, und sie haben ihn auch da unten auf dem Felsen, und während die arme Frau in ihn versunken ist und den letzten verschwindenden Strahlen folgt, und dabei an ihre glücklichen Tage denkt, die auch verschwunden sind, schon so lange freilich und auf immer, da facht die letzte Gluth der Sonne die wildeste Gluth in seinem Innern an, und – ein Ruck seiner Hand, und ein Schrei, und sie ist verschwunden –“

„Aber, Mensch, Du bist wahnsinnig – das Wundfieber!“

„Und sie ist verschwunden, sage ich Dir, und er sieht ihr mit den großen, glühenden Augen recht ruhig und genau und scharf nach, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich todt ist und nicht wieder herauf kommt, und wenn er davon überzeugt ist, dann fängt er an, sich die Haare ausreißen zu wollen, und erhebt ein Zetergeschrei, das Niemand hört, und ruft um Hülfe, zu der ihm kein Mensch kommt, und rennt zu seiner Gesellschaft zurück, und erzählt das entsetzliche Unglück, das ihm passirt ist – eine unvorsichtige Bewegung der Unglücklichen, und sie war hinuntergestürzt, ehe er sie retten konnte, ehe er es nur gesehen hatte. Und sie glauben ihm! er ist ja Oberstaatsanwalt; und wer will ihm beweisen, daß er der Mörder ist? Und – und sieh, Wartenburg, sieh!“

Er stand stumm. Sie standen Beide sprachlos, mit starrenden und erstarrten Augen. Die Sonne ging unter. Oben auf der Kuppe war der Anblick frei über den ganzen westlichen Horizont. Man sah die volle Pracht, in welcher der mächtige, glühende Körper immer tiefer sank, um dann ganz zu verschwinden. An der Steilen Wand war der Blick in die Ebene beschränkt. Man sah nur einen Fleck, einen schmalen Streifen von ihr, durch den schmalen Zwischenraum, den der vorspringende Felsen auf der einen und die noch weiter vorgeschobene Kuppe auf der anderen Seite bildeten. Und durch diesen schmalen Zwischenraum drangen auf einmal, wie mit einem Zauberschlage, die letzten Strahlen der Sonne; hinten auf jenem schmalen Streifen sah man sie plötzlich aufblitzen, leuchten, glühen, nur einen Augenblick lang.

Es war ein wunderbarer Augenblick! Der Staatsanwalt und seine blasse Frau hatten fast unbeweglich neben einander gestanden. Ihre Mienen, ob sie mit einander gesprochen, hatte man auf der Kuppe in der Entfernung nicht unterscheiden können. Hatten sie den Untergang der Sonne, den reizenden Anblick, der sich ihnen noch darbieten sollte, erwartet? Oder hatte Anderes sie beschäftigt?

Auf einmal streckte der Mann die Hand, den Arm nach der Frau aus. Die Frau flog zurück von dem Rande des Abgrundes bis an die steile Wand des Felsens.

„Was war das?“ rief Graf Golzenbach, „wollte der Bursch sie hinunterstoßen? Sie gewahrte es früh genug, sie entwich ihm. – Aber was ist denn das wieder? Er folgt ihr; sie weicht nicht mehr vor ihm zurück. Sie sieht ihn an. Sie sprechen mit einander, und sie hört ihm zu und antwortet ihm. Will er sie wieder zutraulich machen? Sie steht ruhig da. Sie sieht sich sogar um, von ihm weg. Er braucht nur nach ihr zu langen; sie gewahrt es nicht. Und – heiliger Gott! – Aber wie kann ich den heiligen Gott zu dem Burschen rufen, zu dem nur der Teufel gehört? Und doch – und doch! Heiliger Gott, so stehe denn der armen Frau bei! – Der Mensch hat sie angefaßt! Er geht wieder an den Abgrund! Sie folgt ihm! Er zieht sie, schleppt sie! – Wartenburg, rufe, schreie. Rette das arme Weib! Wenn wir auch darüber zu Grunde gehen! Wenn der Elende auch nicht zum Mörder wird! Rufe ihm zu, daß er Zeugen hat. Ich kann es nicht. Mir versagt die Stimme.“

Herrn von Wartenburg versagte die Stimme wohl nicht.

„Nein, nein!“ sagte er aber, „Du siehst falsch, sprichst im Fieber.“

„Und was sehe ich falsch?“ rief der Andere, „hat er sie nicht gefaßt? Steht er nicht mit ihr unmittelbar an dem Abgrunde? Sieht sie ihn nicht an? Und wie sollte sie ihn ansehen, wenn nicht bittend, bittend um ihr Leben? Und – ha, er läßt sie los! Er läßt den Arm sinken. Er tritt von ihr zurück. Aber er tritt wieder hinter sie. Er streckt den Arm wieder nach ihr aus! Sie beugt sich nach vorn herüber! Sie schwankt – sie – Heiliger Gott! – sie fällt – sie sinkt. Siehst Du sie noch, Wartenburg? Meinen Augen ist sie entschwunden. Aber ich glaube, der Wahnsinn blendet sie mir, faßt mich.“

„Dich nicht!“ sprach die bebende Stimme des Herrn von Wartenburg.

Der besonnene Mann stand unbeweglich leichenblaß; seine Augen starrten nach drüben, nach der Felsenwand, an der die unglückliche Frau nicht mehr zu sehen, in den Abgrund, in dem sie verschwunden war; wieder nach dem Felsen, an dem der finstere Mann ebenfalls leichenblaß und unbeweglich stand. Die Sonne war untergegangen.

„Dich nicht,“ wiederholte er tonlos. „Aber die Unglückliche war von ihm erfaßt.“

„Die Todte? Die Ermordete?“ rief der Andere.

„Todt ist sie –“

„Und gemordet!“

Herr von Wartenburg sah den Grafen an, als wenn er aus einem Traume erwache.

„Gemordet? Von wem?“

„Von dem Elenden – von ihrem eigenen Gatten!

„Nein, nein!“

„Mensch, sahest Du nicht? Hattest Du keine Augen?“

„Aber nicht die Augen des Wahnsinns, mein Freund.“

„Der Wahnsinn hat Dich ergriffen –“

Der leidenschaftliche Mann konnte nicht fortfahren. Die beiden Flüchtlinge hatten an alles Andere, aber nicht an sich, nicht an ihre Sicherheit, nicht an ihre Verfolgung gedacht. Dicht unter ihnen, in dem Gebüsch, das zu ihren Füßen die Bergkuppe bedeckte, war leises Geräusch laut geworden. Sie hatten es nicht gehört. Es war näher gekommen; die Blätter an den Zweigen der Sträucher hatten leise gerauscht; auf dem Moose an dem Boden hatte es gescharrt; sie hatten es nicht wahrgenommen.

Zwei Bewaffnete, zwei Gensdarmen, standen vor ihnen, plötzlich, wie sagenhaft aus dem Berge, aus dem alten Gemäuer herausgewachsen. Sie standen an der Seite des Grafen Golzenbach. Er sah sie und griff nach dem Pistol, das er neben sich liegen hatte; er spannte den Hahn, sprang auf und zielte nach einem der Gensdarmen. Der Gensdarm zielte mit seiner Waffe nach ihm, drückte sie ab, war ihm zuvorgekommen. Der Graf Golzenbach fiel, durch den Schuß in die Brust getroffen. Das Blut spritzte aus der Wunde hoch auf.

Herr von Wartenburg hatte sein Pistol ergriffen, gespannt. Er drückte es ab auf einen der Gensdarmen. Der Schuß ging los; die Kugel riß dem Gensdarmen die Kopfbedeckung fort; der Mann stand unversehrt. Der Flüchtling wollte sich auf ihn werfen, auf die beiden Gensdarmen, den Freund zu befreien.

„Rette Dich, Wartenburg,“ rief der Graf. „Ich habe die Kugel in der Brust, ich sterbe.“

Herr von Wartenburg wollte dennoch zuspringen. An der anderen Seite der Kuppe stiegen zwei andere Gensdarmen herauf. Er besann sich rasch. Zu retten, zu befreien war nichts mehr. Dem sterbenden Freunde die Augen zudrücken? Man hätte ihn nicht einmal zu ihm gelassen. Er flog den Berg hinunter. Schüsse fielen hinter ihm, trafen ihn nicht. Die Gensdarmen setzten ihm nach, erreichten ihn nicht.



5. Ein Blutzeuge und ein Hochverräther.

Es hatte schon angefangen zu dunkeln, als der Wagen der Reisegesellschaft angespannt vor dem Gasthause auf dem Weißen Stein hielt.

„Ob wir noch etwas warten?“ sagte Herr Milden. „Es ist [404] mir so unheimlich. Ich möchte gerne Gewißheit haben. Lange können sie nicht mehr ausbleiben.“

„Wenn sie zurückkommen, Onkel,“ sagte die Braut.

„Denkst Du denn immer noch an das Schlimmste, Kind? Du hast mir die Angst eingejagt.“

„Hm, Onkel, wir haben sie Alle, und auch ohne mich.“

Sie hatte Recht. Auch die Andern standen erwartungsvoll, gespannt, gedrückt; bereit zur Abreise und doch ohne Entschluß dazu. Sie waren in dem offenen Gärtchen, das sich vor dem Gasthause befand. In der Ferne tauchte aus dem Zwiedunkel eine Gestalt hewor.

„Der Staatsanwalt!“ rief Herr Milden, der Alles zuerst sah.

„Und er kommt allein!“

„Ohne seine Frau!“

„Allmächtiger Gott, wo mag er die Frau gelassen haben!“

„Und er geht so langsam, so schwankend.“

„Er sieht aus wie ein Mörder.“

Der Oberstaatsanwalt von Rachenberg kam langsam mit schwankenden Schritten näher; sein Gesicht war geisterbleich. Er sah die Gesellschaft, ging aber an ihr vorüber dem Hause zu. Der Wirth begegnete ihm.

„Ist ein Richter hier in der Nähe?“ fragte er den Mann.

„Das nächste Gericht ist eine Stunde von hier in der Stadt,“ wurde ihm geantwortet; „aber einer der Richter ist zufällig bei mir im Hause.“

„Rufen Sie ihn her.“

Der Wirth ging in das Haus, und der Staatsanwalt ging vor dem Hause auf und ab. Sein Schritt wurde rascher, fester, wieder langsamer. Der Wirth kam mit einem Herrn aus dem Hause. Er stellte den Herrn dem Staatsanwalt vor.

„Der Herr Stadtrichter!“

„Ich bin der Oberstaatsanwalt von Rachenberg, aus der Residenz,“ sagte der Staatsanwalt.

Der Stadtrichter verbeugte sich tief.

„Ich habe Ihnen ein entsetzliches Unglück anzuzeigen,“ fuhr der Staatsanwalt fort. „Es fordert Ihre sofortige amtliche Thätigkeit heraus. Ich machte mit meiner Frau einen Spaziergang zu der Steilen Wand. Wir wollten den Sonnenuntergang dort sehen. Der Fels ist schmal – Sie kennen ihn?“

„Ich kenne ihn, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Unmittelbar unter ihm öffnet sich ein tiefer felsiger Abgrund.“

„Ich weiß es, Herr Oberstaatsanwalt.“

„Meine Frau war unvorsichtig. Ich hatte nicht auf sie geachtet. Sie hatte sich zu weit vorgebeugt, das Gleichgewicht verloren. Ein entsetzlicher Angstschrei! Ich sah mich nach ihr um. Sie war hinuntergestürzt. Ich sah sie stürzen. Sie verschwand meinen Blicken.“

Der Staatsanwalt hatte mit langsamer, gemessener fester Stimme gesprochen. Ein Schrei des Entsetzens drang hinter ihm aus der Reisegesellschaft hervor.

„Sie ist gemordet!“ schrie die Braut auf.

Die Andern hatte das Entsetzen stumm gemacht. Der Staatsanwalt fuhr mit seiner ruhigen Stimme zu dem Richter fort: „Ich horchte in die Tiefe hinein, ich vernahm keinen Laut.

Die Unglückliche muß an einem Felsenstück zerschmettert sein, oder ihr Körper ist unten am Boden zerschmettert worden.“

„So kann es nur sein,“ verbeugte sich der Richter.

„Sie werden die Leiche sofort müssen aufsuchen lassen.“

„Ich werde auf der Stelle die nöthigen Befehle dazu ertheilen.“

„Sie werden dann noch heute Abend den Thatbestand feststellen müssen. Ich war allein. Außer mir war kein Zeuge weiter da. Sie werden nur mich zu vernehmen haben. Indeß, ah!“

Er sah sich um nach der Reisegesellschaft. „Mit den Herrschaften waren meine Frau und ich hierhergekommen. Sie werden auch sie vernehmen müssen, über das, was sich zugetragen hat bis zu dem Augenblicke, da ich mich mit meiner Frau von ihnen trennte, um zu der Steilen Wand zu gehen.“ Der Richter verbeugte sich.

„Ich schwöre, daß er sie gemordet hat,“ sagte die Braut.

„Mädchen, willst Du falsch schwören?“

„Können Sie das Gegentheil beschwören, Onkel?“

„Hm, es ist eine fatale Sache! Wir werden jetzt hier bleiben müssen.“

Sie mußten es. Der Richter war an Herrn Milden herangetreten.

„Sie hörten, was ich mit dem Herrn Oberstaatsanwalt sprach.“

„Wir haben es gehört.“

„Und Sie sind bereit? Ihre Vernehmung ist nur eine Formalität, die bald abgemacht sein wird.“

„Hm, es wäre doch die Frage,“ platzte Herr Milden heraus.

„Wie, mein Herr?“

Der kleine, dicke Herr sah fast ängstlich seine Nichte an. Die Braut wollte vortreten, etwas sagen; sie hatte nicht den Muth; sie stand scheu. Der Richter stutzte. Es mochten ihm sonderbare Gedanken durch den Kopf gehen. Der hochstehende Oberstaatsanwalt, der, wie Jedermann wußte, bald noch höher gestellt, als Präsident sein Vorgesetzter, dann gar Chef der Justiz des ganzen Landes werden sollte, dieser strenge, unbeugsame Vertreter des Rechts, dieser als ebenso leidenschaftlich wie hart und mitleidlos verrufene und gefürchtete Verfolger der Verbrecher, dieser Schrecken aller Inquisiten – sollte jetzt auf einmal als Verbrecher in seine Hände fallen, sollte selbst Inquisit werden, sein, des untergeordneten Richters Inquisit! Es war ihm nicht wohl zu Muthe bei dem Gedanken. Er wandte sich mit seinem bedenklichen Gesichte zu dem Herrn von Rachenberg zurück. Der Staatsanwalt war am Hause stehen geblieben. Er mochte halb vernommen haben, was mit dem Richter gesprochen war. Das Andere errieth er aus dessen Gesichtszügen.

„Ich stehe, bis Sie Alles festgestellt haben, zu Ihrer Verfügung,“ sagte er zu dem Richter.

Er sprach es stolz, aber mit einem gedrückten Stolze. Er wollte seine Gestalt aufrichten, sie sank unwillkürlich zusammen.

„Darf ich bitten, daß wir uns sämmtlich in das Haus begeben?“ sagte der Richter.

Er ging mit dem Staalsanwalt in den Gasthof. Die Anderen folgten. Er ließ sich besondere Zimmer anweisen. Dann ertheilte er Befehl zum Aufsuchen der Leiche und wollte nun zur sofortigen Vernehmung der Anwesenden schreiten. Mit dem Verhören des Staatsanwalts mußte er beginnen.

Herr von Rachenberg sah aus wie eine Leiche. Draußen im Zwiedunkel des Gartens hatte man es nur halb wahrnehmen können. Sein Gesicht war erdfahl; die Züge waren verstört, verzerrt; die großen Augen hatten ihren Glanz verloren, sie starrten wie ein Paar erloschene Kohlen. Er hatte sich auf einen Stuhl setzen müssen; er saß da wie ein gebrochener Mann. Man konnte ihn ohne Schrecken, ohne Entsetzen nicht ansehen.

„Darf ich jetzt um Ihre Mittheilungen bitten?“ sagte der Richter zu ihm.

Er wollte antworten, erzählen. Er vermochte es nicht. Alle seine Kräfte hatten ihn plötzlich verlassen, auch die Stimme, die Sprache.

Er mußte sich ermannen, gewaltsam, aber nur auf einen Augenblick.

Der Officier der Gensdarmen, der vorhin in dem Gehölze mit ihm gesprochen hatte, trat in das Zimmer, wandte sich zu ihm.

„Herr Oberstaatsanwalt, meine Leute bringen die Leiche Ihrer Frau Gemahlin.“

Er fuhr krampfhaft auf.

„Wo haben Sie sie gefunden?“

„In der Schlucht da hinten.“

„Und wie, wie?“

„Die Gensdarmen trafen auf die beiden Flüchtlinge aus der Festung. Von dem Einen erfuhren sie –“

Der Staatsanwalt sank in seinen Stuhl zurück. Seine Augen schlossen sich, er konnte nur mit dem Finger auf den Richter zeigen, daß das Weitere mit diesem zu verhandeln sei. Der Richter gab sich dem Officier zu erkennen. Er ordnete dann an, daß die Leiche hereingebracht werde. Zu seinem richterlichen Geschäfte gehörte es, sie von den Anwesenden, die die Todte gekannt hatten, anerkennen zu lassen. Die Unglückliche wurde gebracht. Körper und Gesicht waren zerschmettert. Sie war kaum wieder zu erkennen. Die Thränen derer, die sie gekannt hatten, empfingen sie, auch die Augen der Männer waren naß geworden. Der Staatsanwalt hatte die Augen wieder geöffnet. Er mußte sie fest, mit beiden Händen bedecken. Der Richter sah ihn befremdet, bedenklich, mit Schrecken an.

„Herr Oberstaatsanwalt, es ist die Leiche Ihrer Gattin!“

Der Staatsanwalt konnte sich nicht erheben, nicht den Blick zu der Todten wenden.

„Was wäre das, mein Herr?“

„Ich habe einen Zeugen mit hierher gebracht,“ sagte der Officier zu dem Richter.

[405]

In der Sacristei eines Franziskaner-Klosters am Ostermorgen.

[406] „Wer ist es?“

„Der Eine der wiederergriffenen Flüchtlinge. Er will Auskunft über den Tod der Unglücklichen geben.“

„Lassen Sie ihn hereinführen.“

Der Officier verließ das Zimmer. Fieberhaft erregte Blicke folgten ihm. Mit wem sollte er zurückkehren? Mit dem Herrn von Wartenburg? Der Officier kam zurück. Zwei Gensdarmen folgten ihm. Ein schwer Verwundeter wurde von ihnen mehr getragen als geführt. Er glich kaum noch einem Lebenden; seine Brust röchelte. Nur der Staatsanwalt kannte diesen; er wagte nicht aufzublicken. Aber der Verwundete konnte mit Ruhe die Leiche ansehen, mit der Ruhe des Todes, der auch ihn schon angefaßt hatte. Er betrachtete die Todte. Die Brust röchelte ihm stärker. Er warf seine Blicke von der Leiche auf den Gatten der Todten. Eine wilde Gluth leuchtete in seinen Augen.

„Herr Oberstaatsanwalt!“ rief er.

Ein Strom von Blut ergoß sich über seine Lippen. Er konnte nicht weiter sprechen. Er erholte sich.

„Ich soll hier einen Richter finden!“ sagte er.

„Ich bin es,“ trat der Richter vor ihn.

„Herr Richter, ich klage jenen Mann, den Oberstaatsanwalt von Rachenberg, an, seine Gattin, diese arme Todte, gemordet zu haben. Ich war Zeuge der That.“

Von Neuem quoll das Blut aus seinem Munde. In dem Zimmer war Keiner, den nicht das tiefste Entsetzen ergriffen hätte.

Der Staatsanwalt wollte aufspringen. Er vermochte es nicht. Er konnte nur mit dem erdfahlen Gesichte nach dem fürchterlichen Zeugen starren. Der Verwundete erholte sich noch einmal.

„Ihr Name?“ fragte ihn der Richter.

„Graf Golzenbach.“

Also nicht der Herr von Wartenburg? las man auf den Gesichtern im Zimmer. Nicht der Nebenbuhler? Um so glaubwürdiger ist seine Aussage.

„Mein Herr,“ sagte der Richter zu dem Grafen, „ehe Sie weiter reden, bedenken Sie Eins. Sie scheinen schwer, vielleicht tödtlich verwundet. Das Zeugniß eines Sterbenden wiegt doppelt schwer.“

„Ich weiß es,“ erwiderte der Graf, „und ich weiß, daß ich sterben muß, in der nächsten Minute. Ich fühle es. Jener Mann ist der Mörder dieser Frau. Er lockte, er zog sie an den Abgrund. Dann flehte sie noch um ihr Leben. Er stieß sie hinunter, unbarmherzig –“

„Mensch! Ungeheuer!“ rief der Staatsanwalt.

Er war aufgesprungen, zu dem Verwundeten hin, zu dem entsetzlichen Blutzeugen. Zum dritten Male war das Blut über die Lippen des Verwundeten geströmt. Zum dritten Male erholte er sich nicht. Die beiden Gensdarmen, die ihn hielten, hielten eine Leiche.

„Sie kennen das Recht,“ sagte der Richter zu dem Oberstaatsanwalt.

„Ich bin Ihr Gefangener!“

Indem der Oberstaatsanwalt von Rachenberg das sagte, konnte er sich stolz erheben.



Die Untersuchung gegen den Oberstaatsanwalt von Rachenberg wegen Gattenmordes war zu Ende geführt. An seiner Verurtheilung zweifelte Niemand. Seine große Eifersucht, sein leidenschaftlicher Charakter waren bekannt. Wie leicht konnte sie in einem Augenblicke heftiger Aufregung ihn ganz und gar bemeistern, zum Verbrecher machen! Nach den übereinstimmenden und völlig glaubwürdigen Zeugnissen der Reisegesellschaft hatte er in Folge jener mannigfach zusammentreffenden Ereignisse in einer solchen Aufregung sich befunden, daß Alle in ihrem Innern eine entsetzliche That von ihm gegen die unglückliche Frau gefürchtet hatten. Der Graf Golzenbach hatte die That als Augenzeuge bekundet, hatte sein Zeugniß mit seinem Tode besiegelt. Das Leugnen des Angeklagten, wie beharrlich und ruhig er es allen Zeugnissen und Vorhaltungen entgegensetzte, erschien nur um so frecher und verstockter.

Die Anklage war gegen ihn erhoben; der Termin zur öffentlichen Verhandlung vor den Geschworenen war angesetzt. Am Abende vor dem Tage war die Hauptstadt der Provinz, deren Schwurgericht das zuständige war, in großer Aufregung. Die Zeugen waren eingetroffen; mit den Zeugen viele Neugierige. Sie wollten der Verurtheilung beiwohnen. An eine Freisprechung dachte Niemand.

In der letzten Stunde des Abends hatte sich bei dem Präsidenten des Schwurgerichts noch ein Fremder melden lassen. Er habe in dem Processe wichtige Mittheilungen zu machen; er bitte, am nächsten Morgen als erster Zeuge vernommen zu werden; seinen Namen werde er morgen nennen.

Die Verhandlung des Schwurgerichts hatte begonnen. Der Angeklagte war bei dem Leugnen der That verblieben. Der Präsident verkündete, daß ein Zeuge, der sich nicht habe nennen wollen, sich gestellt und wichtige Aufschlüsse zu geben habe. Er befahl, den Zeugen einzuführen. Ein hoher, blasser Mann trat in den Saal. Tiefer Ernst, schwerer Gram lagen auf den edlen Zügen. Niemand im Saal kannte ihn, weder in dem Raume der Zuschauer, noch in dem des Gerichts. Doch zwei Augen hatten ihn erkannt, und sie füllten sich mit Entsetzen.

Der Angeklagte schien vernichtet zu sein, als er den hohen Mann, das ernste, gramvolle Gesicht sah. Sein Stolz, seine Sicherheit hatten ihn mit einem Male verlassen. Er sank auf seinem Platze zusammen, als wenn er mit dem Blicke auf den fremden Zeugen sein Todesurtheil empfangen habe.

„Er giebt sich verloren,“ zischelte es in den Reihen der Zuhörer. „Das ist ein Zeuge seines Mordes, den er nicht geahnt hatte.“

Die Richter dachten dasselbe; sie sprachen es nur nicht aus.

„Ihr Name?“ fragte der Präsident den Fremden.

„Adalbert von Wartenburg!“

Adalbert von Wartenburg! Der Hochverräther! Der zu lebenslänglichem Kerker verurtheilte, aus der Haft entsprungene, seitdem vergeblich mit Steckbriefen verfolgte, in aller Gegend gesuchte Hochverräther! Das war vielleicht der erste Gedanke Aller, als sie den Namen hörten. Er war jetzt da; ein halbes Hundert von Gensdarmen, Gerichts- und Polizeidienern umgab ihn; man brauchte nur eine Hand an ihn zu legen, um ihn in seine lebenslängliche Haft zurückzuführen. Und er hatte sich selbst, völlig freiwillig, aus eigenem Antriebe überliefert.

Aber zu welchem Zwecke? Welches konnte das Motiv sein, das den Mann aus der sicheren Freiheit in die ewige Nacht der Gefangenschaft zurückgeführt hatte? Es war der zweite Gedanke, es war die heiße, brennende Frage Aller.

Aber konnte man noch fragen, wenn man die plötzlich zusammengesunkene, vernichtete Gestalt des Angeklagten ansah? Und wußte nicht Jeder im Saale, wie dieser nämliche Angeklagte früher der eifrige, strenge, der leidenschaftlich, fanatisch strenge Ankläger des Freiherrn von Wartenburg gewesen war, wie er diesen wegen Hochverraths verfolgt, und nicht geruht und alle Mittel, die ihm seine hohe Stellung, sein mit fast unbeschränkter Macht bekleidetes Amt als Staatsanwalt, gegen die Zeugen, gegen die Geschworenen, selbst gegen die Richter gab, in Bewegung gesetzt hatte, um die Verurtheilung des Verfolgten, der nun einmal sein Opfer sein sollte, herbeizuführen? Warum konnte denn dieser Verfolgte, dieser Verurtheilte jetzt zurückgekehrt sein, hier als Zeuge stehen, seine Freiheit, sein Leben zum Opfer bringen?

Ja, der Angeklagte ist verloren! Der Gattenmörder ist dem Schwerte des Scharfrichters verfallen. Er fühlt es selbst schon. Die Blicke, die leise geflüsterten Worte des ganzen Saales sprachen es aus.

„Zeuge von Wartenburg, was haben Sie auszusagen?“ fragte der Präsident den Zeugen.

Die tiefste Stille fieberhafter Spannung wollte nicht den leisesten Ton der Antwort verlieren.

„Ich habe auszusagen,“ antwortete der Zeuge mit ruhiger, fester Stimme, „daß der Angeklagte unschuldig ist an dem Tode, dessen er bezichtigt wird. Seine edle Gattin ist nicht gemordet. Der Zufall, vielleicht eine Unvorsichtigkeit von ihrer Seite, unter allen Umständen ein beklagenswerther Unfall, und nicht ein Verbrechen hat ihren Tod herbeigeführt. Ich war unmittelbarer Augenzeuge.“

Der Angeklagte glaubte aus einem schweren Traume zu erwachen. Die Richter und die Zuhörer meinten wohl, von Gaukelbildern eines wunderbaren Traumes umfangen zu sein.

„Erzählen Sie, Zeuge – auf Ihren Eid!“ sagte der Präsident.

[407] Und der Zeuge erzählte auf seinen Eid, Alles, was er und sein verstorbener Freund und Gefährte, der Graf Golzenbach, von jener Bergkuppe aus an der steilen Felsenwand gesehen, und wie er, der Zeuge, wohl den Zwiespalt gewahrt, der zwischen den Gatten sich erhoben, die Vorwürfe des Mannes, den Gram, den Schmerz, die Verzweiflung der Frau, dann vielleicht vergebliche Betheurungen auf der einen, vergebliche Bitten auf der anderen Seite, dabei auf beiden Seiten nur der Gedanke, nur das Gefühl des schweren, tiefen, unheilbaren Unglücks, und in dem Gedanken und Gefühle das Vergessen alles Anderen, selbst der Todesgefahr, die keinen Fußbreit von ihnen war, das Hineinstürzen in die Gefahr, der Fall der Frau, ihr Tod. – Das Alles hatte er, der Zeuge, mit seinen klaren, sicheren, durch keine Leidenschaft und durch kein Vorurtheil getrübten Augen gesehen. Und er erzählte auch, wie der Graf Golzenbach, eine weniger ruhige Natur, durch die Verfolgung und die Wunden doppelt aufgeregt, alle jene nämlichen Thatsachen ganz anders, in einem völlig entgegengesetzten Sinne aufgefaßt habe, habe auffassen müssen, und wie in Folge seiner zweiten Verwundung die Bilder seiner aufgeregten Phantasie mit jeder der wenigen Minuten bis zu seinem Tode sich mehr und mehr zur festen Gewißheit in seinem Innern gestaltet hatten und hatten gestalten müssen.

Das Zeugniß des Freiherrn von Wartenburg war überzeugend, es enthielt die Freisprechung des Angeklagten. Es war nur noch eine Förmlichkeit, wenn die Geschworenen ihr Nichtschuldig aussprachen, der Präsident die Entbindung des Angeklagten von der Anklage und seine Freiheit verkünden mußte. Es geschah.

Die andern Zeugen hatten gleichfalls um der Förmlichkeit willen kurz noch vernommen werden müssen. Es waren die Reisegefährten des Staatsanwalts von Rachenberg und seiner unglücklichen Frau. Sie sahen den Herrn von Wartenburg, der, wie sie, bis zur Beendigung der Verhandlung in dem Zeugenraume verbleiben mußte. Frau Milden sah ihn wieder. Bittere Thränen entströmten den Augen der edlen Frau, als sie den edlen Mann erkannte. Dann aber konnte kein Auge trocken bleiben, von dem einem Ende des Saales bis zum anderen.

„Herr von Wartenburg,“ mußte der Präsident des Gerichtshofes sich an den Mann wenden, der die edelste Pflicht der Ehre und des Gewissens erfüllt, hatte. „Sie sind wegen Hochverraths zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurtheilt?“

„Ja, Herr Präsident.“

„Sie sind aus Ihrer Haft entwichen?“

„Es ist so!“

„Ich muß Sie verhaften und in Ihre Gefangenschaft zurückführen lassen.“

„Ich wußte es!“

Und er ließ sich ruhig verhaften und in seinen Kerker zurückführen.

Er war ein Hochverräther! Er war dennoch ein freier, ein edler Mann.

Und der Oberstaatsanwalt, der ihn dem Kerker überliefert hatte, mußte vernichtet und mit verhülltem Haupte den Sitzungssaal verlassen.




Der Ostermorgen in einem Franciskaner-Kloster.

Wo weilt das Glück? Wenn es eine ausgemachte und unbestrittene Wahrheit ist, daß in allen Lebenslagen der Friede des Herzens die unerläßliche Grundbedingung des Glückes bildet, so müssen gerade die friedlich stillen Klostermauern als ein freundliches Asyl erscheinen, diesen Frieden zu bewahren oder denselben, wenn er in den Kämpfen und Stürmen des Lebens verloren wurde, wieder zu gewinnen. Von diesem Gesichtspunkte aus wurden und werden die klösterlichen Hallen auch vielfach betrachtet, was um so weniger auffallen kann, da von den Dissonanzen, die auch in der abgeschlossenen Zelle das harmonische Gemüthsleben stören, selten ein Nachklang zu den Ohren der Menge dringt, und die einsamen Thränen und Seufzer meistentheils ohne Zeugen spurlos verwehen. So hat sich über die schweigsamen Klostermauern ein halb idyllischer, halb romantischer Nimbus gebreitet, der freilich vor den hellen Streiflichtern der modernen Lebensanschauung immer mehr erbleichen muß.

Daß die gewaltigsten und furchtbarsten inneren Kämpfe auch diesen Räumen nicht fremd sind, dafür hat es nie an eindringlichen Beweisen und hervorragenden Beispielen gefehlt, von dem Tage, an welchem Savonarola unerschrocken den Scheiterhaufen bestieg, bis zu der verhängnißvollen Stunde, in welcher der gelehrte Benedictiner von Mölk in den blauen Fluthen der Donau ein freiwilliges Grab fand – jener Mann, der die erhabenen Gestalten der größten Dichter aller Zeiten in sein einfaches Studirzimmer bannte, der einen unserer bedeutendsten Dramatiker für die Bühne heranbildete, und dessen dramaturgische Schriften unseren Theaterdichtern nicht genug empfohlen werden können, wenn die deutsche Bühne von dem kläglichen Zustande, in den sie gegenwärtig versunken ist, sich nochmal emporraffen soll.

Aber auch viele jener gewichtigen Katastrophen, welche einem ganzen Welttheil für Jahrhunderte ihr Gepräge aufgedrückt, sind von bescheidenen Klosterräumen ausgegangen, und wie durch einzelne Mönchsorden in früheren Tagen die classischen Studien gefördert und zur Grundlage auch der germanischen Bildung gemacht wurden, steht in jedem Schulbuche zu lesen.

Außerordentliche Institute haben aber nur in außerordentlichen Zeiten ihre Berechtigung; unter veränderten Verhältnissen verlieren sie ihre Bestimmung und Bedeutung. Die Wissenschaft ist über die klösterliche Pflege und Zucht längst hinausgewachsen, die Bildung dringt unaufhaltsam in immer weitere Kreise, und in allen civilisirten Ländern wird der Unterricht als eine der wichtigsten Aufgaben betrachtet, deren Lösung dem Staate selbst obliegt.

Derjenige Orden, der gegenwärtig in Baiern und Oesterreich, zumal in Tyrol, noch am weitesten verbreitet ist und besonders auf dem Lande auch noch eine ziemlich umfangreiche Wirksamkeit ausübt, ist der der Franciskaner. Ein Orden, dessen Grundelement strenge Bußübungen bilden, kann natürlich nicht dazu berufen sein, eine hervorragende Stelle in der politischen oder literarischen Welt zu spielen. Die ehrwürdigen Patres mit den braunen Kutten haben sich daher auch nie von dem ehrgeizigen Streben verleiten lassen, in die Geschicke der Völker maßgebend und umgestaltend einzugreifen. Ihre Sphäre blieb fast ausschließlich der schlichte Kreis des Bürgers und Landmannes. Hier fanden sie auch die offene Bereitwilligkeit, für geistlichen Trost und Zuspruch leibliche Nahrung zu bieten, auf die sie trotz der gebotenen Ascese doch jederzeit vorsorglich Bedacht nahmen, und die sie sich nach der strengen Satzung ihres Stifters durch Betteln oder Terminiren, wie der landesübliche und euphemistische Ausdruck für dieses Geschäft lautet, erwerben müssen.

Der milde und freigebige Sinn gegen die Franciskanerklöster besteht bei dem tyrolischen Volke fast noch in ungeschwächter Kraft und Ausdauer. In den kleineren Orten und namentlich in den abgelegenen Einödhöfen wird der Zeitpunkt, wo die Klosterherren zur Collecte erscheinen, sogar immer als eine höchst willkommene Erscheinung begrüßt. Die Kinder freuen sich schon lange auf die bunten Heiligenbildchen, die sie bei dieser Gelegenheit erhalten, wofür sie dann dem hochwürdigen Herrn Pater dankbar und ehrfurchtsvoll die Hand küssen müssen. Die Bäuerin hat so manchen kleinen Familienkummer auf dem Herzen, für den der fromme und erfahrene Pater Rath schaffen soll. Ist in Haus oder Stall etwas nicht recht geheuer, so muß derselbe mit einer scharfen Benediction den dämonischen Unholden so hart auf den Leib rücken, bis sie, von deren Macht bezwungen, entsetzt von dannen fahren. Der Bauer, zu dem in seiner einsamen Abgeschiedenheit nur selten ein leiser Nachklang der lauten Welthändel dringt, läßt sich von dem Mönche berichten, wie draußen in den weiten Reichen die Völker auf einander schlagen; und nach und nach schleicht sich das ganze Hausgesinde herbei, um von der redseligen Weisheit des politisirenden und polemisirenden Peripatetikers auch ein Körnlein abzufangen. Der Bauer hat einen Krug vom Besten aus dem Keller geholt, um die sich allmählich trocken redende Zunge des Erzählers durch eine schmackhafte Anfeuchtung noch geläufiger zu machen, und dieser donnert nun in heiligem Eifer gegen die Versunkenheit der Welt und die Verderbniß des Zeitalters los, daß seine Standrede nahezu die Expectorationen des Kapuziners in „Wallensteins Lager“ erreicht, nur mit dem Unterschiede im Erfolge, daß ihm ein dankbareres [408] Publicum lauscht als weiland seinem Collegen vor der rauhen Soldateska des fatalistischen Friedländers.

Unterdessen hat sich der Klosterbruder, welcher den Pater als dienstthuender Famulus für die materiellen Zwecke der Geschäftsreise begleitet, mit der Hausfrau auf die Seite begeben, und diese bringt nun das Beste von Butter, Schmalz, Eiern, gedörrtem Obst, Mehl und Wein herbei; der Frater legt die neue Last auf den Rücken des schon reich bepackten Klosteresels, der sich die Zwischenzeit an der wohlbesetzten Pferdekrippe recht angenehm vertrieben hat und es sich nicht im Geringsten anfechten ließ, daß die edeln Thiere auf den grauen Eindringling mit stolzer Verachtung herabblickten. Nun spendet der Pater den Hausbewohnern für die reichen Gaben noch seinen Segen, und dann geht es weiter nach dem nächsten Hofe, wo der eben geschilderte Vorgang in gleicher Weise und mit gleichem Erfolge sich wiederholt.

Für zarter angelegte Naturen mag das Nehmen auf dem Wege des Bettels zuerst wohl seine äußerst bedenkliche Seite bieten. Aber die Gewohnheit stumpft auch feinere Gemüther allmählich ab, und wenn der Bettel nicht nur ein Privilegium besitzt, sondern noch dazu als eine demüthige Herablassung erscheint, so kann man sich im Laufe der Zeit ganz gemüthlich mit ihm befreunden. Deshalb dürfen auch für den Franciskaner die Tage, wo er zum Terminiren hinauszieht, nicht als eine Zeit der Qual und der Buße, sondern vielmehr der Erholung und des Vergnügens betrachtet werden. Das freie Umherschweifen in den lieblichen Gebirgsthälern, die in dem lenzigen Schmucke der Blüthen, in der sommerlichen Pracht der Aehren, in der herbstlichen Fülle des Obstes und der Trauben und selbst unter der winterlichen Krystalldecke ein prachtvolles Landschaftsbild bieten, gewährt eine wohlthuende Abwechslung gegen die schmucklosen Wände der Zelle und gegen die trübe Einförmigkeit des Klosterhofes.

Nicht immer jedoch braucht das Kloster seine Abgesandten ausziehen zu lassen, um die Nothdurft des Leibes auf Freund Langohrs geduldigem Rücken heimzuschleppen. Es giebt Zeiten, wo das Volk seine Gaben selbst herbeibringt. Dies ist namentlich am Ostermorgen der Fall, wo in den katholischen Kirchen eine segnende Weihe über die Ostereier ausgesprochen wird, denen man in der Regel auch noch ein hübsches Stück Schinken, Milchkuchen, Meerrettig und Salz beilegt. Diese Gegenstände nennt man dann „das Geweihte“, und dasselbe wird entweder ganz oder, wo die Ladung gar zu ergiebig wäre, wenigstens theilweise als Frühstück verzehrt. Es erhält da, wie einst im Lager bei Ampfing, jedes Mitglied des Hausstandes ein Ei, während sich nicht selten der Hausvater oder auch sonst ein Mitglied des engeren Familienbundes den Antheil des braven Schweppermann zumißt.

Diese Sitte wird namentlich in Tyrol sorgfältig beobachtet. Jeder gute Tyroler ißt am Ostersonntag-Morgen sein „G’weichtes“, und er würde es für eine Entheiligung des festlichen Tages halten, wenn er etwas Anderes in den Mund brächte, ehe er dasselbe genossen hat.

Es ist nun ganz natürlich und selbstverständlich, daß auch die Herren Patres und Fratres ihr Geweihtes erhalten müssen, und da spenden denn die besonders eifrigen Anhänger und Wohlthäter des Klosters die oben erwähnten Gaben in solcher Fülle, daß die Herren wochenlang tüchtig davon frühstücken können. Wie unser Bild einen kleinen Begriff davon giebt, ist an diesem Morgen die geräumige Sacristei der Klosterkirche dicht mit reichbeladenen Körben angefüllt, und in dem weiten Raume verbreitet sich ein eigenthümlicher Wohlgeruch, der den Klosterbewohnern würzig und verlockend in die Nase steigt, die sich denn auch den saftigen Schinken nach der vierzigtägigen Fastenzeit, in welcher ihnen der Genuß von Fleischspeisen untersagt ist, ganz vortrefflich schmecken lassen.

Der Ostertag ist überhaupt im Franciskanerkloster eines der willkommensten Feste. Der lange Winter, der in großen Städten die Gesellschaft zusammenführt und durch eine bunte Reihe von Zerstreuungen und Vergnügungen zusammenhält, bringt schon für kleinere Orte ein dumpfes und trübseliges Einerlei; um so mehr für ein von aller Welt abgeschiedenes Franciskaner-Hospiz, wo in der Regel die Vorbedingungen für eine tiefere geistige Anregung fehlen, wo zwischen den einzelnen Conventualen bei dem häufigen Ortswechsel, dem sie unterworfen sind, selten eine herzliche Vertraulichkeit, oft aber eine gegenseitige argwöhnische Beobachtung herrscht, und wo die Hauptbeschäftigung in mechanischen liturgischen Formeln, ascetischen Gebräuchen und contemplativem Hindämmern besteht. Der Frühling bringt wenigstens wieder längere Tage; er erschließt die Pforten zu Spaziergängen in der verjüngten Natur; er bringt Besuche und mit ihnen zerstreuende Kunde aus Nähe und Ferne; er öffnet in Bälde den Klostergarten mit der obligaten Kegelbahn.

Die Ostertage bilden für die Söhne des seraphischen Vaters auch Tage der Erholung, da die beiden vorhergehenden Wochen für sie so ziemlich die angestrengtesten des ganzen Jahres sind.

Nämlich die Osterbeichte, der sich in Tyrol nicht leicht Jemand entziehen kann oder auch nur entziehen will, führt nicht nur große Schaaren des Landvolkes in die Beichtstühle der Klosterkirche, auch die Honoratioren des nahen Städtchens oder Marktes tragen ihre Sündenpäcklein alljährlich regelmäßig zu den Franciskanern.

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, tiefer in die Geheimnisse des Klosterlebens einzudringen oder die Gründe, welche für den Fortbestand, für die Umgestaltung oder etwa auch für die Aufhebung der Klöster sprechen, genauer zu untersuchen.

Wir wollen schließlich nur nochmals auf den im Anfange dieser Zeilen angeregten Gesichtspunkt zurückkommen. „Wo weilt das Glück?“ ruft alle Welt, und wenn wir mit dieser schmerzlichen Frage an die Klosterpforten klopfen, so wird uns auch hier eine verneinende oder doch wenigstens eine abweisende Antwort entgegentönen. Gewiß nur Wenigen hat ein wahrer innerer Drang und wirklicher unabweisbarer Beruf diese Pforten erschlossen. Unklare, gefühlsschwelgende Schwärmerei, bittere Erfahrungen und herbe Täuschungen eines Herzens, das sich nicht stark genug fühlt, weiteren Schlägen des Schicksals zu trotzen; Mangel an Kraft und Muth, sich nach fehlgeschlagenen und zertrümmerten Hoffnungen einen neuen Boden für eine freundliche Zukunft zu erkämpfen – das mögen wohl in den meisten Fällen die Motive sein, welche den Weg hinter diese Mauern gebahnt haben. Und dann bleibt immer noch zu bedenken, daß der Mensch nicht dazu geboren ist, um in stiller Abgeschlossenheit an den kleinen Freuden und Leiden des eigenen Herzens zu zehren, sondern daß er, und sei es auch nur in geringem Maße und in bescheidener Stellung, sich an der Aufgabe der Menschheit zu betheiligen hat, und daß er nur als werkthätiges Glied der menschlichen Gesellschaft dasjenige Maß des Glückes beanspruchen und erreichen kann, das dem Sterblichen hienieden überhaupt zugemessen ist.
W. 




Bilder aus der kaufmännischen Welt.
Nr. 2. Im Bankiergeschäft.

Der Handel mit Geld! Das erscheint vielleicht Manchem lächerlich, denn für die meisten Menschen ist Geld eben nur das was es heißt – Geld. In der Geschäftswelt jedoch kommt dieser hochgeschätzte Artikel in so unendlich vielfachen Formen vor, daß sich eine ganz besondere Classe der Jünger Mercurs lediglich dem Geldhandel gewidmet hat. Es sind dies die Wechsler oder die Bankiers.

Das Geld ist anerkannt die bedeutendste Großmacht der Erde, und man kann deshalb eine wenn auch nur kleine Anzahl außerordentlich reicher Bankiers, deren Namen wir nicht erst zu nennen brauchen, immerhin als Steuergehülfen im Schiff der Weltgeschichte betrachten. Allein diese bevorzugten Würdenträger hüten sich wohl, ihre klingende Großmacht auf eigenes Risico gegen die Gewalt in das Feld zu führen, denn jene glänzenden, vollwichtigen, geränderten Truppen fürchten den unmittelbaren Kampf mit der bewaffneten Macht, in welchem sie leichter verloren gehen würden, als sie verdient worden sind.

Kein anderer Zweig der kaufmännischen Geschäfte beansprucht eine so unausgesetzte Beobachtung der Verhältnisse, als das Bankierfach. Die Waarenhändler und Fabrikanten werden zwar einwenden, daß auch sie ihre ganze Aufmerksamkeit den Wechselfällen des Augenblickes und den eintretenden Conjuncturen widmen müssen, [409] wenn sie Geschäftsleute im wahren Sinne des Wortes sein wollen. Der Bankier ist jedoch gezwungen, die oft erst in ungewisser Ferne eintretenden Wirkungen der Zeitverhältnisse zu benutzen, um sein Capital gewinnbringend zu verwenden.

Der Gewinn, der dem Bankier erwächst, ist im Einzelnen betrachtet ein anscheinend sehr geringer, und es handelt sich dabei gewöhnlich nur um Bruchtheile von Procenten; dagegen ist aber auch der Umsatz im Vergleich zu den Waarengeschäften ein sehr bedeutender und beläuft sich bei nur irgend renommirten Häusern leicht auf 50 bis 100 Millionen Thaler des Jahres. Der Bruttogewinn bei diesen Umsätzen erreicht im Durchschnitt kaum ein Viertel-Procent; von diesem Bruttoertrage sind jedoch wieder die Geschäftsspesen abzuziehen, welche ungefähr den dritten Theil des Bruttogewinnes ausmachen. Wenn also ein Bankierhaus einen jährlichen Umsatz von 50 Millionen Thalern erzielt, so ist der Bruttoertrag auf etwa 120.000 Thaler anzuschlagen, was nach Abzug der erwähnten Spesen einen Reingewinn von ungefähr 80.000 Thalern ergeben würde. Mag nun dies auch recht erklecklich erscheinen, so muß man andrerseits bedenken, daß neben dem Risico auch ein sehr bedeutendes Capital erforderlich ist, um einen solchen Umsatz zu bewirken.

Für einen großen Theil der Fabrikanten und Waarenhändler ist der Bankier der hauptsächlichste Vermittler von Geld und Credit. Ein neues kaufmännisches Etablissement, welches beispielsweise mit einem Capitale von 10.000 Thalern begründet ist, würde diese Summe in den meisten Fällen jährlich nur einige Mal umsetzen können, wenn nicht die Hülfe des fremden Capitals in Anspruch genommen werden könnte, wodurch sich dann auch der Umsatz bedeutend vermehrt. Ein Fabrikant würde ohne diese Einrichtung meistentheils warten müssen, bis die Zahlungen für die gewöhnlich auch auf Credit verkauften Waaren eingegangen wären, ehe er auf’s Neue arbeiten lassen könnte, und müßte er dann für die eingegangenen Gelder erst wieder die erforderlichen Rohstoffe beziehen, so ginge dadurch eine Menge Zeit verloren, die doch gerade in allen kaufmännischen Verhältnissen für ebenso werthvoll wie das Geld selbst angesehen wird.

Da tritt nun der Bankier vermittelnd ein; den sogenannten Blanco-Credit, welchen er seinen Kunden gewährt, benutzt er, indem er bis zu einem gewissen Betrage Wechsel auf das Bankhaus zieht, die er ohne Schwierigkeit für seine Zahlungen verwenden kann, und hierdurch gelingt es ihm, sich die Mittel zum ungestörten Betriebe seines Geschäftes zu verschaffen. Für solche Creditbewilligungen berechnet der Bankier außer den gewöhnlichen Zinsen durchschnittlich 1/3 Procent Provision, und nehmen wir an, daß ein Bankhaus, welches, wie oben bemerkt, 60 Millionen Thaler Umsatz macht, den sechsten Theil jener Summe im Contocorrentverkehr umschlägt, so würde schon hieran ein Gewinn von etwa 30.000 Thalern bleiben. Allein dieser Nutzen wird selbst bei der größten Vorsicht auch durch Verluste geschmälert, wenn in den Verhältnissen seiner Kunden rasch unvorhergesehene, nachtheilige Veränderungen eintreten; auch dann muß der Bankier die von ihm acceptirten Wechsel seines Kunden stets bezahlen, während letzterer bei ihm nur als einfacher Buchschuldner gilt.

Den bei weitem größten Theil des Bankier-Geschäftes umfaßt der Cassa-Umsatz und der Verkehr in Wechseln und Actien oder Staatspapieren, welche dem Bankier von seinen Committenten entweder zum Verkauf übergeben, oder die von ihm bezogen werden. Bei diesen Operationen bleibt dem Bankier außer seiner Commission, die man durchschnittlich auf 1/6 Procent annehmen kann, mindestens noch ein weiteres 1/6 Procent dadurch, daß er, namentlich wenn er ein ausgedehntes Contocorrentgeschäft betreibt, an den ihm eingesandten Wechseln und Wertpapieren bei dem Wiederkauf (der Begebung) derselben verdient, wobei wir natürlich annehmen, daß der Bankier nicht speculiren will, sondern daß er die ihm eingesandten Papiere sofort verwerthet (realisirt).

Der Nutzen wird noch ansehnlicher, wenn der Bankier die bei ihm eingehenden Wechsel und Actien nach dem gebräuchlichen Ausdrucke „in sich verwendet“; das heißt: wenn er die von einem seiner Kunden zum Verkaufe eingesandten Wertsachen gleich wieder an einen andern seiner Kunden giebt, der ebensolche bestellt hat, was täglich in einem größern Bankgeschäft vorkommt, da sich Begehr und Angebot stets begegnen. Um ein Beispiel anzuführen, wollen wir annehmen, daß A. dem Bankier 20.000 Mark Banko in Wechseln auf Hamburg zum Verkauf übergiebt, während zu gleicher Zeit B. 8000 und C. 12.000 Mark in denselben Wechseln bestellen. Der Bankier berechnet die Wechsel zum notirten Cours abzüglich 1 pro mille Courtage (Mäklergebühren) und übersendet nun die Wechsel an B. und C., denen er entweder jene Papiere 1/8 über den notirten Cours, oder doch mindestens zum notirten Cours zuzüglich 1 pro mille Courtage anrechnet. Er hat also auf diesen Posten zweimal Commission, zweimal Courtage und eventuell auch noch einen kleinen Coursgewinn. Dasselbe Verhältniß findet bei dem Ein- und Verkauf von Actien statt, wobei der Bankier noch die Coursschwankungen an der Börse für sich hat.

Ein wesentlicher Nutzen entsteht dem Bankier noch durch die Discontoverhältnisse, indem der Börsendisconto fast stets niedriger als der Bankdiskonto ist. Wäre nun zum Beispiel der Disconto der preußischen Bank 41/2 %, so wird der Bankier die bei ihm eingehenden Wechsel auf Berlin abzüglich 41/2 % Disconto annehmen, während er solche ohne Schwierigkeit zum Börsendisconto, der unter diesen Verhältnissen nur 4 % oder noch weniger betragen würde, begeben kann.

Verschiedene Bankierhäuser betreiben das Contocorrentgeschäft nur wenig und widmen sich dafür dem Arbitrageverkehr, d. h. sie beziehen Wechsel, Geldsorten etc. von andern Plätzen oder senden solche dahin, wenn sich durch Hervorsuchung und Benutzung aller möglichen Vortheile dabei ein Gewinn erzielen läßt. Der Nutzen ist bei diesen Operationen meistens ein geringer und beträgt nur selten über 1/8 Proc. Dagegen setzt der Arbitrageur das Capital weit öfter um und verdient dadurch in Summa ebensoviel, als der Contocorrentbankier; auch hat er, da er nur mit den feinsten Häusern arbeitet, nicht das Risico, welches jener durch seine Acceptverbindlichkeiten eingeht. Das Arbitragegeschäft ist allerdings auch weit mühsamer, verlangt ungemeine Aufmerksamkeit und viel Raffinement; ebenso erfordert es die genaueste Kenntniß der verschiedenen großen Wechselplätze, sorgfältiges Studium der Geldverhältnisse und eine fortgesetzte Beobachtung der Tendenz für die verschiedenen Gattungen von Wechselvaluten.

Eine Arbitrage, welche vor nicht langer Zeit im großartigsten Maßstabe und mit vielem Erfolg betrieben wurde, war der Bezug von Silbergulden aus Oesterreich. Diese Geldsorte verschwand damals fast ganz aus dem Verkehr in Oesterreich und selbst heute noch dürfte sie zum größeren Theile im Auslande gefunden werden, wohin sie in jener Zeit massenhaft ausgeführt wurde. Diese für die Arbitrageure so gewinnreiche Operation wurde folgendermaßen bewerkstelligt. Die Zinscoupons der österreichischen Nationalanleihe werden in Wien in Silbergeld (meist Gulden) eingelöst; da nun aber von jenem Staatspapiere sich ein großer Theil auf auswärtigen Plätzen, besonders in Amsterdam, Frankfurt a. M., Berlin und einigen baierischen Städten befand, so kauften die Arbitrageure an genannten Orten die fälligen Zinscoupons zu einem Preise, der ungefähr 971/2 bis 98 Thaler für 150 Gulden gleichkam. Diese Coupons wurden nun nach Wien gesandt, an den Staatscassen gegen Silbergulden zum vollen Werthe umgetauscht und diese dann per Bahn an die betreffenden Arbitrageure in das Ausland befördert. Das Porto für die Coupons, die Verwechselungs- und Verpackungsspesen in Wien betrugen ungefähr 1/4 Thaler für 150 Gulden, die Assecuranz auf das mit der Eisenbahn zu befördernde Silber etwa 2 bis 3 Silbergroschen für 150 Gulden und die Fracht von Wien bis zum Wohnort des Arbitrageurs ungefähr 10 Silbergroschen für dieselbe Summe, so daß bei einem Einkaufspreise von 973/4 Thaler für 150 Gulden Coupons, zuzüglich des Zinsverlustes, welchen die zu der Operation erforderlichen sechs bis acht Tage veranlaßten, die 150 Silbergulden auf etwa 981/2 Thaler zu stehen kamen, während man dafür in Frankfurt a. M., Leipzig und andern Orten ohne Schwierigkeit 991/2 bis 993/4 Thaler dafür erzielte. Bedenkt man nun, daß ein einziger größerer Arbitrageur jährlich mindestens 5 bis 6 Millionen Gulden derartigen Silbers aus Oesterreich exportirte, so wird man ermessen können, wie vortheilhaft diese Manipulation war. Bei 6 Millionen Gulden und nur 1 Procent Nettogewinn betrug letzterer 60.000 Gulden oder 40.000 Thaler!

Allerdings blieb diese Operation nicht lange so rentabel, da zu viele Arbitrageurs sich derselben bemächtigten und der Preis der betreffenden Zinscoupons sich dadurch wesentlich steigerte. Seitdem in Oesterreich die Einkommensteuer mit 7 Procent bei den Coupons in Abzug gebracht wird und die österreichische Regierung der Ausfuhr des Silbers auch noch dadurch zu steuern sucht, daß [410] sie meist nur Viertelguldenstücke, die eine doppelt so theure Fracht verursachen, als die Guldenstücke, oft aber auch alte Zwanzigkreuzer, welche einen Verlust von 2 Procent ergeben, gegen Nationalanleihe-Coupons auszahlt, wird das eben beschriebene Geschäft nur wenig mehr betrieben.

Fragt man nun, wie jene kolossalen Summen so rasch Abnehmer fanden, so ist dies dadurch zu erklären, daß hauptsächlich die Besitzer von Fabriken oder anderer viele Arbeiter beschäftigender Unternehmungen die österreichischen Silbergulden von den Bankiers kauften und zur Bezahlung der Arbeitslöhne benutzten. Hierdurch drang nun auch diese Münzsorte so überaus rasch in das größere Publicum, und besonders in Sachsen ist noch jetzt die Menge der coursirenden Silbergulden eine ganz außerordentliche. In Preußen konnten sie jedoch nur eine verhältnißmäßig weit geringere Verbreitung finden; das politische Mißtrauen schien sich in jener Zeit auch bis auf diese glänzenden Silberstücke zu erstrecken.

Nicht immer sind dagegen die hauptsächlich auf Zeitverhältnisse basirten Speculationen der Bankiers von dem gehofften Erfolge gekrönt, denn oft genug zerstört ein kleines politisches Ereigniß mit einem Schlage die großen Hoffnungen, welche den Speculirenden schon die Hand nach den winkenden goldenen Früchten ausstrecken ließen, und der gehoffte Gewinn verwandelt sich in bittern Verlust.

Aus diesem Grunde wollen wir uns auch nicht weiter über die Geheimnisse der Speculationen verbreiten, da dieselben doch für manche unserer Leser vielleicht etwas zu Verführerisches haben möchten. Für Leichtgläubige hat man übrigens durch ähnliche Schriften, wie „Der Speculant in der Westentasche“, oder „Die Kunst, durch Börsenspekulationen in vier Wochen ein Millionär zu werden“ und andere dergleichen hinreichend gesorgt. Wir wollen vielmehr jetzt nur noch versuchen, das äußere Leben und Treiben in einem Bankiergeschäfte zu beschreiben und besonders jene Leute betrachten, welche zur Vermittelung so bedeutender Geschäfte berufen sind. Zwar können wir heute unsern freundlichen Lesern nicht den Zutritt zu den berühmten Häusern jener im Anfange dieses Artikels angedeuteten Geldfürsten verschaffen, allein auch ein bescheideneres Bankiergeschäft, d. h. ein solches, dessen jährlicher Umsatz fünfzig und mehr Millionen Thaler beträgt, bietet immerhin für den Wißbegierigen noch Reiz genug.

Welch ein Unterschied zeigt sich schon auf den ersten Blick zwischen den Geschäftslocalitäten der Waarenhändler und denen der Bankiers! Während dort Vorräthe aller Art in Massen aufgestapelt liegen und überdies noch außerhalb geräumige Niederlagen Waaren bergen, erstaunt der Uneingeweihte über die ausfallende Leerheit, welche im Vergleiche zu jenen die Geschäftsräume der Wechsler darbieten. Eine große Anzahl von Pulten für die Angestellten des Comptoirs, dicke Bücher, hohe Stöße von Briefen, einige lange Zähltische und dahinter verschiedene feuerfeste Cassenschränke, in denen die Wertpapiere aufgespeichert sind – das ist der ganze Schmuck, wenn man nicht sagen will das Handwerkszeug der Bankiers. Aber die beim Zählen mit wunderbarer Schnelligkeit von einer Hand in die andere gleitenden Gold- und Silbermünzen verursachen eine so verführerische Musik, daß wir diesem Sirenenklange nachgehen und den Geldwirbel der Agio-Charybdis in größerer Nähe betrachten wollen.

Wir treten in die geheimnißvollen Räume, in denen uns sogleich die Menge der einzelnen Abtheilungen auffällt. Der Chef des Hauses thront in einem abgesonderten Cabinet und empfängt hier die Meldungen seiner Untergebenen, prüft die ihm gemachten Vorschläge, bewilligt oder verweigert mit gleicher Ruhe Credit, oder ordnet neue, großartige Geschäfte an. Er empfängt gewöhnlich nur Personen, welche besonders wichtige Angelegenheiten mit ihm zu besprechen haben; für Geschäfte geringerer Bedeutung hat er Bevollmächtigte genug unter seinem Personale.

Es würde unrecht sein, wenn wir den ernsten Herrn in seinen fünf-, sechs- oder siebenstelligen Zahlencombinationen stören wollten, und da unser Geschäft für heute hier überhaupt doch blos Neugierde betrifft, so ist der Empfang, der uns zu Theil werden könnte, auch noch zweifelhaft genug.

Am geeignetsten dürfte es deshalb wohl sein, wenn wir lieber gleich dem süßen Klange der unweit davon gezählt werdenden Thaler folgen, welcher unausgesetzt an unser Ohr schlägt. Dieser herrlich klingende Wegweiser führt uns zu dem Hauptcassirer des Geschäfts, einem stillen, ernsten Mann, der so zu sagen wirklich bis über die Ohren im Gelde sitzt. Oft genug hält er auf einmal hunderttausend Thaler oder mehr in Wechseln und Cassenanweisungen in seiner Hand, ohne dabei nur auf den Gedanken zu kommen, wie bedauerlich es ist, daß er das hübsche runde Sümmchen nicht sein nennen kann. So ist es aber im Leben auch überall: man gewöhnt sich bei täglicher Wiederholung ebensowohl an das Beneidenswerthe wie an das Abscheuerregende, und Niemand kennt die Resignation gründlicher, als ein solcher Hauptcassirer.

Der Hauptcassirer ist ein Mann von wahrhaft stoischer Ruhe, was Geldangelegenheiten betrifft, und keine Summe ist im Stande, ihn außer Fassung zu bringen. Weder der Klang des Goldes, noch der Anblick der so sauber gestochenen, auf große Summen lautenden Cassenanweisungen kann ihn reizen; die mit 500 oder 1000 Thalern Silbergeld angefüllten Säcke, welche hinter ihm stehen, rückt er gelegentlich blos mit einem leichten, verächtlichen Fußtritte bei Seite. Der Blick, welchen der Hauptcassirer seiner sehr oft in Thätigkeit gesetzten Schnupftabaksdose zuwirft, ist ungleich zärtlicher als jener, den er über die seiner Obhut anvertrauten wohlgefüllten Cassenschränke gleiten läßt. So groß nun auch die Ruhe ist, welche der Oberausseher der Geldvorräthe äußerlich sich angeeignet hat, so ist doch unverkennbar sein Amt ein im hohen Grade angreifendes.

Die durch lange Praxis erworbene Sicherheit schließt trotzdem eine gewisse innere Unruhe nie ganz aus, und es ist auffallend, daß gerade bei den mit so bedeutenden Cassengeschäften betrauten Männern mehr als bei anderen scheinbar noch mehr anstrengenden Funktionen geistige Abspannungen vorkommen, die zuweilen einen bedenklichen Charakter annehmen. Nur wenige Menschen, die nicht jahrelang mit Geldgeschäften vertraut waren, möchten aber auch von einer fieberhaften Aufregung befreit bleiben, wenn sie das Amt eines solchen Hauptcassirers zu verwalten hätten, der beispielsweise in jedem Jahre eine Summe von vielleicht vierzig Millionen Thalern durch seine Hände gehen sieht. Niemand aber wird wohl verlangen, daß unter solchen Verhältnissen die Zeiten der monatlichen oder halbmonatlichen Cassenabschlüsse auch den ruhigsten Cassirer nicht in eine gewisse Aufregung versetzen sollen.

Als Gehülfen sind dem Hauptcassirer einige Cassendiener (an einigen Orten auch sonderbarer Weise Markthelfer genannt) beigegeben, welche hauptsächlich die verschiedenen Münzsorten zu sondern, zu zählen und einzupacken haben. Dies sind erprobte, grundehrliche Männer, und obgleich auch sie innerhalb eines Jahres so manche Million nachzuzählen haben, so sind sie doch mit einem kräftigeren Nervensystem begabt, als der Hauptcassirer, da ihr Leben durch das Austragen und Einfordern der Gelder an sich schon mehr Abwechselung bietet.

Eine kaum weniger anstrengende Stelle als der Hauptcassirer bekleidet der zweite Cassenbeamte, welcher das Wechselgeschäft der verschiedenen Geldsorten, den sogenannten Handwechsel, im unmittelbaren Verkehr mit dem Publicum zu leiten hat. Die kleineren Summen, welche er einnimmt und ausgiebt, und die Schnelligkeit, womit dies geschieht, verlangt einen geübten Mann; aber Niemand würde zur Besetzung einer solchen Stelle sich weniger eignen als ein Numismatiker, der so oft unter der Masse der einlaufenden fremden Münzsorten Seltenheiten suchen und entdecken, dabei aber auch unausbleiblich manches Versehen machen würde.

Unter den oben angedeuteten kleinen Summen darf man sich jedoch nicht etwa Bagatellbeträge vorstellen; der zweite Cassirer rechnet oft genug nach Tausenden, und der Umsatz an seiner Casse erreicht fast die Hälfte des Hauptcassenumschlages in demjenigen Bankiergeschäft, von welchem wir hier sprechen.

Einen sonderbaren Gegensatz zu dem ruhigen Wesen der beiden Cassirer bildet der lebhafte Nachbar des letzterwähnten, ein Mann, der den Ein- und Verkauf der Actien, Staatspapiere etc. unter sich hat. Bedenkt man nun, daß allein in den verschiedenen Eisenbahnen und industriellen Actienunternehmungen Deutschlands etwa 14 bis 1500 Millionen Thaler angelegt sind, so ergiebt sich allerdings für jenen Herrn ein reiches Feld der Thätigkeit. Es giebt aber wohl keine Eisenbahn der alten und nur wenige der neuen Welt, über welche er nicht auf der Stelle die umfassendste Auskunft zu geben wüßte. Die Abfahrts- und Ankunftsstunden der verschiedenen Eisenbahnzüge darf man freilich unter dieser Auskunft nicht verstehen, wohl aber weiß er über Zahl und Stand der Actien, über die betreffenden Dividenden und Prioritätsanleihen den genauesten Bericht zu erstatten. Seine Gewandtheit und sein [411] Gedächtniß sind gleich bewundernswürdig, und dabei hat er eine ganz eigenthümliche Gewohnheit, seine Berichte gewissermaßen zu illustriren. In der Rechten hält er nämlich fortwährend ein Stück Kreide, mit dem er wie zur Bekräftigung seiner Angaben alle in seiner Rede vorkommenden Ziffern mit unglaublicher Schnelligkeit auf den Zähltisch schreibt, welcher sich zwischen ihm und den Kunden befindet. Wir sehen auf diese Weise wie durch Zauberei die sämmtlichen finanziellen Verhältnisse einer Eisenbahn in Zahlen vor uns klar werden, bis eben so rasch der immer bereitlegende angefeuchtete Schwamm den Zahlenbau von der Tischplatte entfernt, um anderen Zifferbeweisen Platz zu machen.

Diese Art, eine Rede durch Zahlen zu unterstützen, verbunden mit der großen Geschäftskenntniß jenes Mannes, ist ebenso eigenthümlich als überzeugend. Er hat sich aber an sein Kreideziffersystem so sehr gewöhnt, daß er fast niemals eine Zahl ausspricht, ohne sie auch sofort vor sich hinzuschreiben. Diese Gewohnheit macht sich sogar noch außerhalb des geschäftlichen Lebens geltend; wenn jener Finanzkundige in Freundeskreise und das Gespräch auf Actien kommt, so zeichnet er in Ermangelung der Geschäftskreide sicher die ausgesprochenen Zahlen wenigstens mit dem rechten Zeigefinger vor sich hin auf den Tisch. Würde er Nachts vor dem Einschlafen ein Stück schwarzer Kreide zur Hand nehmen, so müßte am nächsten Morgen bei seinem Erwachen das weiße Bett ebenfalls mit Zahlen bedeckt sein, denn ein so eifriger Geschäftsmann wie er träumt sicher allnächtlich von seinem Elemente, den Actien und Wertpapieren.

Denjenigen Theil des Geschäftes, wo die meisten Angestellten beschäftigt sind, das Comptoir, besuchen wir zuletzt. Ueber zwei Drittel des aus vierzig Mann bestehenden Geschäftspersonales finden wir hier. An einer Menge von Pulten sehen wir ältere und jüngere Herren, welche alle unausgesetzt rechnen und schreiben. Es herrscht hier eine musterhafte Ruhe und Ordnung. Früher, im goldenen Zeitalter der Gänsekiele, verursachten diese Schreibwerkzeuge wenigstens hier das jetzt so Vielen gänzlich unbekannte Geräusch, welches wir zuweilen noch in älteren Erzählungen beschrieben finden. Die Stahlfeder hat aber auch diesen hörbaren Beweis der Thätigkeit aus dem Felde geschlagen, denn sie gleitet lautlos über das Papier.

Hier, in dem Comptoir, ist es uns blos erlaubt, den Arbeitenden über die Schultern zuzuschauen, denn Niemand von ihnen möchte sich gern in seiner Thätigkeit stören lassen. Von dem Herrn Hauptbuchhalter aber müssen wir uns in ehrfurchtsvoller Entfernung halten, weil die langen Zahlenreihen, welche er in das „Soll“ und „Haben“ der dicken Bücher einträgt, von den Geschäftsgeheimnissen der Firma mehr verrathen würden, als wir wissen dürfen.

Ein traurig einförmiges Amt ist jenem Comptoiristen dort zugefallen, der nichts anderes zu thun hat, als die eingehenden Wechsel in ein hierzu bestimmtes Buch (das Wechselsconto) einzutragen, und man wird wohl glauben, daß ihm keine Zeit zum Umschauen übrig bleibt, wenn man bedenkt, daß jährlich fünfzig- bis sechszigtausend Stück Wechsel in solcher Weise genau eingetragen werden müssen.

Den übrigen Angestellten des Comptoirs fallen in wohlberechneter Eintheilung die verschiedensten Arbeiten vom Buchführen bis zum Copiren herab zu. Einen sehr wichtigen Zweig bildet der außerordentlich umfassende Briefwechsel des Geschäftes, und um nur einen annähernden Begriff der Thätigkeit eines ersten Correspondenten zu geben, genügt es wohl, wenn wir anführen, daß ein solcher, dem der wichtigste Theil des Briefwechsels zufällt, täglich zwanzig bis dreißig oft ziemlich umfangreiche Briefe zu schreiben hat. Nehmen wir nun an, daß jeder einzelne Brief durchschnittlich etwa eine Druckseite des gewöhnlichen Octavbuchformats einnehmen würde, so hat jener Correspondent in einem einzigen Jahre an zwanzig recht artige Bände zusammengeschrieben. Wo bleibt im Vergleich hierzu die Produktivität der berüchtigtsten Romanschriftsteller?




„Der Freund des Kaisers und des Volks.“

Unter den Männern, welche Alexander II. von Rußland bei seinen großen, tiefgreifenden Reorganisationen unerschütterlich zur Seite stehen, nimmt wohl der jetzige Generalgouverneur von Petersburg, Graf Suwarow, Fürst Italijski, eine der hervorragendsten Stellungen ein. Ein Bild von diesem Manne zu entwerfen, den man mit gutem Recht „den Freund des Kaisers, wie des Volks“ nennt, wollen wir jetzt versuchen, soweit es das allerdings nur spärliche Material gestattet, das uns über den Charakter und das Wirken des Fürsten theils mündlich, theils schriftlich an die Hand gegeben wurde. Denn in gewisser Hinsicht hat auch das russische Reich seine große Mauer, die Alles hermetisch verschließt, was noch so schadlos über die Grenze gehen dürfte, und selbst der im Ausland lebende Russe beichtet nur ungern auf unsere etwaigen Fragen über seine Fürsten, Staatsmänner oder über die inneren Zustände seines Vaterlands, am liebsten aber antwortet er mit einem officiellen Achselzucken. Naseweisen Fragen wie: „War Kaiser Nicolaus wirklich beliebt?“ folgt regelmäßig ein Achselzucken – oder: „War er wirklich der große Mann, für den man ihn ein ganzes Vierteljahrhundert hindurch hielt?“ – abermals ein Achselzucken – oder man kommt auf die Aufhebung der Leibeigenschaft und bricht dabei in einen Lobgesang über den jetzigen Kaiser aus – so kann man immer noch eines Achselzuckens gewärtig sein, wenn man das Malheur hat, einem Altrussen gegenüber zu stehen. Eine vornehme russische Dame antwortete jüngst einem solchen vorwitzig Fragenden: „Das weiß ich nicht, mein Herr – ich weiß nur, wollen Sie einen Russen in Verlegenheit bringen, so müssen Sie mit ihm über Politik sprechen.“ –

Graf Alexander Arkadjewitsch Suwarow-Rymnikski, Fürst Italijski, ist der Enkel des ebenso berühmten als originellen Feldherrn der Kaiserin Katharina’s II. und des Kaisers Paul, des Erstürmers von Ismail, des Siegers in Oberitalien (weshalb er auch den Beinamen „Italijski“ erhielt), des „alten“ Suwarow, dessen Mäßigkeit, Thätigkeit und Unbestechlichkeit noch jetzt als außerordentliche Charakterzüge vom russischen Volke angestaunt werden, dessen Lakonismus noch heute sprüchwörtlich ist, dessen echt Blücher’sches Losungswort aber: „Vorwärts und Sieg!“ neben jenen Eigenschaften auch auf dem Schilde des jetzigen Gouverneurs von Petersburg als Wahlspruch steht und als ein theueres Erbtheil gehütet und gepflegt wird. Der Vater des Grafen Alexander war der russische Generallieutenant Arkadij Suwarow, der, als er eine Division bei der Donauarmee unter Kutusow befehligte, im Rymnik ertrank, und zwar an derselben Stelle, wo sein Vater seinen großen Sieg über die Türken erfochten hatte.

In der freien Schweiz, in Fellenberg’s Institut zu Hofwyl, sollte der junge Fürst den ersten Grund zu seiner körperlichen und geistigen Entwickelung legen, was gleich günstig für die vorurtheilsfreie Gesinnung des Vaters, wie für die spätere Geistesrichtung des Sohnes spricht. Auch die Universität Göttingen besuchte Suwarow und gedenkt so gern der seligen dort verlebten Zeit. Mit Stolz pflegte er häufig zu sagen: „Auch ich bin ja deutscher Student gewesen.“ Nach Ablauf dieser Studienzeit in sein Vaterland zurückgekehrt, tritt er 1822 als Cornet in das Chevaliergarderegiment ein, welches kurze Zeit darauf als Verstärkung zur Armee im Kaukasus abgeht, wo er sich im Feldzuge gegen Persien durch raschen Ueberblick wie tollkühnen Muth so auszeichnet, daß er sich auf dem Schlachtfelde die Epauletten holt und, als Ueberbringer der Schlüssel von Ardebil, bei seinem Eintreffen in Petersburg zum Flügeladjutanten des Kaisers ernannt wird. Das Jahr 1831 führt ihn wieder in’s Feld, indem er den polnischen Krieg im Hauptquartier des Marschalls Paskewitsch mitmacht, in dessen Auftrag er die Capitulation von Warschau unterhandelt und mit der Nachricht von diesem Ereignisse nach Petersburg eilt, wo er mit dem Oberstpatent belohnt wird. In der Folge mehrmals zu diplomatischen Missionen in deutschen Fürstenhäusern verwendet, später aber zum Generalmajor und Commandeur einer Grenadierbrigade ernannt, wird er 1845 mit der Untersuchung der unter den Truppen im Kaukasus eingerissenen Mißbräuche beauftragt, die ein strenges Gericht auf die Häupter der Schuldigen herabzogen. Es war dies eine der brillantesten Thaten des Fürsten, denn durch seinen Scharfblick und seine Energie deckte er einen der großartigsten Diebstähle eines Brigadiers am Solde der Soldaten auf, die nur in Folge der schnödesten Behandlung, aus Verzweiflung, aufständisch geworden waren. Zum [412] Generaladjutanten des Kaisers erhoben, geht er 1847 mit einer ähnlichen Mission nach Kostroma, wo er einige Zeit als Militärgouverneur fungirt, bis er im Jahre 1848 den Posten eines Militärgouverneurs von Riga und Generalgouverneurs der Ostseeprovinzen erhält, in welcher Stellung er das auf ihn gesetzte Vertrauen nach allen Seiten hin auf’s Glänzendste rechtfertigt, und sich in gleichem Maße die Liebe der Bevölkerung erwirbt, trotzdem, ein großer Theil derselben, der deutsche, von der damaligen Zeitströmung ebenfalls ergriffen und fortgerissen wurde.

In dieser schwierigen Lage, einerseits inmitten deutscher Elemente, welche den größten Antagonismus gegen alle Russification hegten, andererseits durch die unabweisliche Verpflichtung gebunden, im Sinne und nach dem Willen der russischen Regierung zu handeln, gelang es ihm dennoch, diese Gegensätze zu vermitteln durch das Einzige, womit sich alle feindlichen Elemente überwinden lassen: durch Gerechtigkeit, Maß, wahre Menschlichkeit und Ehrfurcht vor dem Geiste jeder Nationalität. Was Suwarow für Riga durch die Niederwerfung der die Stadt früher einengenden Wälle, gegen die sich der Kaiser Nicolaus so lange gesträubt hatte, durch Begünstigung der Hafenbauten, durch Förderung der Gewerbthätigkeit etc. gethan, das wissen die Rigenser am besten. Dieselben Eigenschaften bewährt er mit gleich glänzendem Erfolge in seiner jetzigen Stellung als Generalgouverneur von Petersburg, ein Amt, das er unter so außerordentlich schwierigen Verhältnissen übernahm, daß man sich kaum der Hoffnung hingeben durfte, im ganzen weiten Rußland einen Mann zu finden, der ihm gewachsen wäre. Er hat es verstanden, in einer Epoche wilder Gährung, wie sie kaum jemals wiederkehren dürfte, den Erwartungen aller Wohlgesinnten zu entsprechen, und sich eine Popularität zu erwerben, die nur mit dem Namen eines russischen Gouverneurs zu verbinden, als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen mußte; denn das Wort Popularität stand ebensowenig wie das Wort Humanität in dem Wörterbuche der meisten seiner Vorgänger, welche die starre Gewaltherrschaft ihres „vergötterten“ Nicolaus als das einzige richtige Regierungssystem erkannten und daher jede neue Wendung der Dinge, mochte sie selbst von dem milden Nachfolger des „Vergötterten“ kommen, mit Argusaugen betrachteten. Den Gnadenmanifestationen Alexander’s II. grollte der gesammte nationale Adel (an dessen Spitze die Grafen Adlerberg stehen, die Häupter der russischen Camarilla) nicht minder, als den gleichzeitigen kaiserlichen Kundgebungen, „von nun an vorzugsweise die socialen und materiellen Zustände der niederen Volksclassen zu verbessern“ – Alles, was mit der neuen Aera auftauchte, erschien ihnen als ein schnöder Angriff auf ihre unantastbarsten Vorrechte, als ein Umstoß ihrer heiligsten Traditionen. Und wenn dieser schlecht verhaltene Groll hier und da sich selbst gegen die Person des Herrn zu richten wagte, um wieviel schärfer mußte er nicht gegen den Diener hervortreten, der offen und aus Ueberzeugung den neueu Maximen huldigt, indem ihre Grundzüge, Gerechtigkeit und Menschlichkeit, ihm bei all seinen Handlungen als leitende Richtschnur dienen.

So sehen wir Fürst Suwarow bei Ausübung seines Amtes auf einer Seite beargwohnt und Schritt bei Schritt gehemmt von jener Partei, die durch alte verrostete Ueberlieferungen ihre vermeintlichen Vorrechte geltend zu machen sucht, die in ihren geheimsten Stunden noch gern von der Restauration eines Strelitzenthums träumen mag und deren größter Ruhm darin besteht, die „altrussische“ Partei zu heißen, während auf der andern Seite das Volk und alle Freunde des fortschreitenden Rußlands ihn wie einen Vater betrachten, der das Glück seiner Kinder sich zur Lebensaufgabe gestellt hat, unter der Devise: „Vorwärts und Sieg!“ Sein Freund aber, der Kaiser Alexander, dem die Wohlfahrt seines Volkes mehr am Herzen liegt, als zweideutiger Schlachtenruhm, oder den Herrn und Protector des übrigen Europa zu spielen, der sehr gut weiß, daß die Schienenwege, die jetzt sein Reich durchziehen, mächtigere Hebel der Civilisation sind, als Kriegsgeschrei und Schwertergerassel, der sich durch Aufhebung der Leibeigenschaft eine Krone aufsetzte, wie sie nie zuvor das Haupt eines Czaren schmückte – Alexander steht ihm als mächtiger Schirmherr zur Seite, um zu unterstützen, zu vermitteln, niederzuschlagen, oder auch, erheischen es Würde und Nothwendigkeit, zu bekämpfen, und wäre es mit eiserner Faust.

In dem ergreifenden Drama „Nur eine Seele“ hat der bekannte Verfasser den Typus jener orthodoxen, allrussischen Partei in der Gestalt des „Fürsten Michel“ auf’s Vollendetste personificirt. Mit einem ingrimmigen Fluche über die neue Aera sehen wir da, zu nicht geringer Genugthuung und unter dem Beifall des Publicums, den alten moskowitischen Bojaren die Segel streichen. Ein ähnliches ohnmächtiges Fluchen und Fußstampfen mag auch jetzt von manchem russischen Großen auf der Bühne des Lebens gehört werden, doch es verfliegt im Rauschen der Zeit und unter dem Lächeln des Publicums.

Die Machtstellung eines General-Gouverneurs von Petersburg ist beinahe unumschränkter Natur, obwohl der Verfassung nach in administrativen Dingen der General-Gouverneur dem Minister des Innern – gegenwärtig Walujew – untergeordnet ist; nur in außerordentlichen Fällen behält sich der Kaiser seine höchste Entscheidung vor. Der persönliche Charakter eines solchen Mannes ist demnach ein hochwichtiger Factor, indem von ihm das Wohl und Wehe einer ganzen Bevölkerung abhängt. Civil- und Militärsachen unterstehen seinem Gouvernement, und vom letzten Krämer bis zum Millionär, vom Muschik bis zum höchsten Staatsbeamten, vom gemeinen Soldaten bis zum General, von Künstlern, Gelehrten und von Frauen aller Stände ist allwöchentlich an bestimmten Tagen sein Audienzzimmer geöffnet, um Bittschriften zu überreichen, Beschwerden anzubringen oder sich in Danksagungen zu ergehen. Alles dies wird vom Generalgouverneur rasch entgegengenommen und mit lakonischer Kürze beantwortet, denn Zeit ist auch ihm Geld und der betreffende Entscheid erfolgt in den meisten Fällen auf der Stelle. Eine solche Audienz bei Suwarow wollen wir in ihren Hauptmomenten zu schildern versuchen; neben ihrem fremdartigen Gepräge dürfte sie noch das besondere Interesse für sich haben, den persönlichen Charakter des Fürsten in seinen prägnantesten Zügen zu veranschaulichen.

Die Treppen, Gänge und Vorsäle des Gouvernementpalastes sind schon von frühem Morgen an gefüllt. Goldstrotzende Uniformen mischen sich mit Kaftans, elegante Frauentoiletten mit groben Leinwandkitteln, Stutzerphysiognomien mit wettergebräunten Köpfen, modisch gepflegte Bärte mit struppigen, die einem Urwalde gleichen. Alle Dialekte, alle Jargons sind hier vertreten, die verschiedensten Sitten und Gebräuche begegnen sich – Aller Ziel ist aber ein gemeinsames: „beim Suwarow vorzukommen“ – „den Suwarow zu sprechen“ – „endlich vom Suwarow Recht zu bekommen!“ Nach hartnäckigem Drängen bis zum Audienzzimmer gelangt, sehen wir durch eine mächtige, offenstehende Flügelthüre, die militärisch besetzt ist, einen Mann in Generaluniform, groß und schlank von Gestalt, sich leicht an einen Tisch lehnend. Sein Blick ist sanft, der ganze Ausdruck seines Gesichts wohlwollend, sein Wesen hat nichts von der übelangebrachten Brüsquerie, wie sie leider so vielen Machthabern eigen, es trägt vielmehr jenes vornehme Sichgehenlassen an sich, das den Mann von Würde und Selbstgefühl charakterisirt. Dies ist Fürst Suwarow, den der unparteiische Ruf seiner Landsleute als einen der edelsten Männer in der Umgebung des Kaisers, als einen strengen, unbestechlichen Vertreter des Rechts, als einen wahren Freund des Volks bezeichnet.

„Iwan Dmitriewitsch Uschakow!“ ruft der Ordonnanzoffizier. Eine altersgekrümmte Gestalt tritt aus der Menge, neigt sich bald bis zur Erde, murmelt unverständliche Worte und will den Rockzipfel des Fürsten küssen. Dieser wehrt es unwillig lächelnd ab und spricht in gütigem Tone: „Lauter, Alterchen, ich verstehe Dich nicht.“ – Aber immer noch dasselbe unverständliche Murmeln des alten Mannes, wobei er heftig mit den Händen gesticulirt. Der Fürst beugt sich mehr und mehr zum Supplicanten herab: „So?“ fährt er fort, „das ist schlimm – und er will nicht – was, er will nicht?! Wie heißt der Schuft? – Aha!“ zum Secretair: „Streichen Sie mir den Burschen an! – Nun, Alterchen, soll geschehen (und er legt wohlwollend die Hand auf Uschakow’s Haupt), hole Dir übermorgen Bescheid.“ Der Fürst wirft einen sagenden Blick auf die Zunächststehenden. Eine Dame in tiefer Trauer tritt hervor – die Unterredung wird französisch geführt. In des Fürsten Mienen wechseln Theilnahme mit Zurückhaltung – die Angelegenheit scheint delicater und schwieriger Natur zu sein, denn wenig Hoffnung spiegelt sich auf dem Gesicht der Abtretenden, die auf einen Wink des Fürsten von einem dienstthuenden Officier bis zur Treppe geleitet wird.

Nun erscheint eine ganze Deputation, die sich in langen unnützen Tiraden ergehen will. „Kürzer, kürzer!“ unterbricht sie der Fürst schon nach zwei Minuten und stampft leise mit dem Fuße – doch die Deputation ist einmal im Zuge und nach unendlichen

[413]

Fürst Suwarow im Jagdcostüm.
Nach einer Photographie.

Vorreden kommt sie endlich auf des Pudels Kern. Aber ein schneidendes „Nichts!“ unterbricht sie – „Nichts damit, das will unser Herr nicht – fügt Euch – ich habe gesprochen!“

So wechseln die Scenen bunt durch einander, so geht es stundenlang: hier ein Invalive, der in der Krim zerschossen wurde und um Erhöhung der Pension bittet, dort ein Künstler, den gekränkter Stolz herführt, ein Schauspieler, der zu seinem Benefiz einladet, eine Wittwe, die um Unterstützung nachsucht oder ein Officier, der sich im Avancement beeinträchtigt glaubt. Und immer hört man dazwischen die laute sonore Stimme des Fürsten, meist [414] begütigend, tröstend und Abhülfe verheißend – aber auch befehlend und aufbrausend, wenn sein Scharfblick auf Winkelzüge stößt. – So ließ er einst eine Deputation von Kaufleuten fürchterlich hart an, die um Aufschub der Aufhebung des Branntweinmonopols bat, sei es auch nur auf drei Monate, und dabei eine kleine Bestechung von 50.000 Silberrubeln mit einfließen ließ – im nämlichen Augenblick aber scheint sich der Fürst eines Andern zu besinnen. „Wartet!“ ruft er – fährt direct zum Kaiser: „Majestät,“ sagt er dort, „da bitten die Kaufleute um Aufschub wegen Aufhebung des Branntweinmonopols, sie haben mir 50.000 Rubel gegeben, daß ich’s durchsetze; ich bitte Majestät, bewilligen Sie drei Monate, damit ich das Geld behalten – und den Armen geben kann.“ Lachend bewilligte der Kaiser die Frist, und lachend wirft sich der Generalgouverneur wieder in seine Kibitke und theilt der erstaunten Deputation die kaiserliche Bewilligung mit.

Bei den Bestrebungen des Kaisers, die eine völlige Umwandlung des bisherigen Regierungssystems in Rußland bezwecken, ist ein Charakter, wie Suwarow, eine Nothwendigkeit, und je klarer die liberale Partei dies erkennt, um so höher steht der Mann in ihrer Liebe und Achtung.




Blätter und Blüthen-

Der junge Dumas. Vor einem Jahrzehnt wohnte der Sohn Alexander Dumas’ „des Ersten“ in einem kleinen Hause der Rue de Boulogne. Seine Schwester, Marie, die er sehr liebte, hielt seine Wirthschaft in Stand, eine in der That geordnete, elegante und trauliche Wirthschaft, wo es ruhiger und sittiger herging, als man bei einem Junggesellen in Paris erwarten kann, besonders wenn er zum Vater Alexander Dumas hat und seinen Ruhm durch die getreueste Schilderung des Lorettenlebens von Paris sich erworben. Der berühmte Sohn des berühmten Vaters, der ihn witzig genug sein „bestes Werk“ nannte, war in der That nicht ganz dem Urheber seiner Tage ähnlich, sowohl im Aeußern wie im Charakter. Dumas, der Vater, mit seinem Mulattengesicht, macht den Eindruck eines theatralischen Künstlers, der Jedermann zu zeigen sucht, daß er ein „großer“ Mann, ein berühmter Mann ist; sein Sohn erscheint als eleganter Herr von Selbstgefühl, aber mit einem gewinnenden Zug des Natürlichen, ja mit einem Anhauch des Ernsten, fast Sinnenden, der bei dem Autor von Werken über die genußsüchtige Pariser Gesellschaft wohl etwas Ueberraschendes hat. Bei alledem hat Dumas „der Zweite“ seine Bilder aus der Welt der Demi-Monde aus eigenen Erfahrungen gezeichnet; sein Vater erzählte sogar in seinem Journal „der Mousquetaire“ mit dem Stolz eines alten Sünders, daß die Heldinnen der Demi-Monde-Stücke seines Sohnes immer Geliebte desselben waren, die er auch gekannt und als guter Papa selbst geküßt hatte (embrassé). Er ärgerte damit zwar seinen Sohn, aber der große Dumas muß nun einmal der Welt Alles erzählen, was er weiß.

Der junge Dumas war ein Kind der Demi-Monde, denn seine Mutter war eine Nähmamsell, die Dumas, der Vater, noch als unberühmter Secretair des Herzogs von Orleans liebte und erst ein Dutzend Jahre nach der Geburt des zweiten Alexanders zur Frau nahm. Im Uebrigen war der alte Dumas kein grausamer Vater. Er machte wohl später bei seinem Sohne Schulden, die er aus angeborner Höflichkeit nicht bezahlte; aber er sorgte doch auch dafür, daß er erzogen ward. Das Kind wuchs heran und nahm zu an Körper wie an Geist, während der Herr Papa inzwischen ein Literaturlöwe geworden war und seinen Namen als unverwüstliches Capital angelegt hatte. So etwas merkte sein Sohn, der auch Alexander hieß, und forderte eines schönen Tages den Namen von seinem Vater.

„Ah, Du Galgenstrick! Nun, so nimm ihn Dir – ’s ist ein Capital; aber sprechen wir nicht mehr darüber.“

Und der Junge war klug genug, mit dem Capital „Dumas“ früh zu arbeiten. Er fühlte sich als Sohn seines Vaters, auch Poet, Schriftsteller, und er war in der That ein solcher, einer sogar, welcher es wohl auch ohne die Pathenschaft des berühmten Namens zu dem Ruhme gebracht haben würde, der dem Talent und dem Geist in Frankreich leichter als anderwärts zufällt.

Als er zwanzig Jahre zählte, der Sohn, im Jahre 1844, brachte er sein erstes Werk auf den Markt: „Die Jugendsünden“, denn er hatte deren wohl manche, wenn auch keine schlimmen. Bald darauf erschien von ihm ein zweiter Roman, endlich der Roman: „Die Cameliendame“, welche ihn schnell zu einem der beliebtesten Schriftsteller machte und zum Abgott der Region, in welcher die Cameliendamen den Zauber ihrer Herrschaft verbreiteten. Es war ein offenes Geheimniß, daß die Cameliendame, die er in dem Romane verherrlicht, seine Geliebte Marie Duplessis war, und der Ehrgeiz mochte ihre Colleginnen antreiben, in gleicher Art, wenn auch Pseudonym, dem jungen, liebenswürdigen Dumas zum Modell für ein anderes Werk seines Ruhmes zu stehen. Auch war der junge Dumas in dieser Hinsicht nicht minder galant als sein Vater; er ließ sich mehrere Geliebte gefallen und machte mehrere davon zu Herrinnen seiner Romane, die nun in Menge seiner Feder entflossen, aber von denen nuir wenige ein so großes Glück machten, wie die Cameliendame, dies moderne Seitenstück zu dem berühmten Roman „Manon Lescaut“ von Abbé Prevost.

Da begegnet ihm eines Tages ein Freund, ein alter Praktikus, Monsieur Béraud.

„Aber sagen Sie mir doch, mein bester Alexander, warum machen Sie aus Ihren Romanen keine Theaterstücke?“

Alex der Andere stutzt.

„Meinen Sie? Wirklich, das wäre eine Idee!“

„Nun gewiß; sceniren Sie die Marguerite Gautier, die Cameliendame.“

„Parbleu! Das soll geschehen!“

Und er ging hin und scenirte die „Cameliendame“. Ein paar Wochen später war die Arbeit gemacht, fünf Acte fertig; noch ein paar Wochen später, und das Theatre du Gymnase in Paris gedachte das Stück aufzuführen.

Da aber kommt das Unglück in Form eines Polizeidecrets, wie so oft, und verbietet die Aufführung des Stücks. Die kaiserliche Censur fand – es sollte wahrscheinlich einen neuen Reflex auf die Moral des Kaiserreichs werfen – die „Cameliendame“ zu unmoralisch.

„Ah, Herr Léon Faucher,“ rief der verzweifelte Alexander zu dem damaligen Minister des Innern, „Sie finden die ‚Cameliendame‘ zu unmoralisch? Warum dulden Sie denn die Legion ihrer Rivalinnen? Wollen Sie das Kaiserreich seiner schönsten Frucht berauben? – Minister, seien Sie kein Barbar!“

„Ganz gleich, Monsieur Dumas, ich lasse das Stück nicht aufführen.“

„Na, denn nicht. Adieu, Monsieur le Mininstre!“

Léon Faucher sagte aber seinerseits bald darauf dem Ministerium Adieu, und Herr von Moruy bezog es. Herr von Moruy, der durch seine Mutter einige Verwandtschaft mit der Demi-Monde hat und als Mitbegründer des Kaiserreichs ein weiteres Gewissen und eine bessere Kenntniß seiner Moral, las höchstselbst das verbotene Stück des jungen Dumas, amusirte sich darüber und gestattete dessen Aufführung.

Die „Cameliendame“ wurde also aufgeführt und erntete einen solchen Triumph, daß sie einer ganzen Richtung der Literatur, ja dem größten Theil der Literatur des Kaiserreichs Napoleon’s III. den Namen gab. Das Stück gab ein unverkennbar getreues Bild des Inhalts der Pariser Gesellschaft; es illustrirte die Sitten derselben in so pikanter und treffender Art, daß Jedermann fühlte, diese dramatischen Photographien füllten eine sehr wesentliche Lücke des modernen Geschmacks an der Bühne aus.

Der junge Dumas setzte sich nun hin und scenirte auch seine übrigen Romane, die Erfolg gehabt hatten. Zunächst wurde „Diane de Lys“ in ein Theaterstück verwandelt. Die kaiserliche Censur erröthete abermals davor und verbot dessen Ausführung; aber der Prinz Napoleon, welcher diese Prüderie des Kaiserthums sehr komisch fand, indem er an sein vergnügtes Leben dachte, bewirkte die Aufhebung des Verbots von seinem nachsichtigen Vetter, und „Diane de Lys“ machte nun ebenfalls ihr Glück. Dann kam die „Demi-Monde“ selbst in vollem Titel auf die Bühne, und mit diesem Stück gipfelte sich diese sogenannte Camelienliteratur zu ihrem Glanzpunkt auf. Alexander Dumas Sohn aber, der Vater dieser Literatur, betrachtete alle Stücke, welche seinem Namen einen besonderen Nimbus gegeben, wie Bekenntnisse seiner Jugend. Er ward fortan ein halber Eremit, ging wenig aus, empfing in seinem Salon nur wenige und intime Freunde, mit denen er rauchte und plauderte, und amüsirte sich in seinen Mußestunden damit, Messer nach dem Kopf einer Puppe zu werfen, welche er an dem Zaun seines Gartens angebracht, ein Spiel, worin er eine wahrhaft chinesische Fertigkeit entwickelte.

Alexander Dumas Sohn ist durch seine Demi-Monde-Stücke in Deutschland schnell bekannt geworden, bekannter als hundert deutsche Schriftsteller, welche auch ihr Publicum zu amüsiren wissen. Seine Stücke haben eine Zeitlang auf den Repertoirs vieler deutscher Theater nicht fehlen dürfen, und wir finden dies sehr erklärlich. Außerhalb des Standpunktes der blos sinnlichen Genußsucht ist man nicht zweifelhaft darüber, daß es mit der französischen dramatischen Literatur heutzutage nicht besser bestellt ist, als mit der unsrigen, über deren Verfall unsere Kritiker gewohnter Weise jammern, ohne zu bedenken, daß unsere Zeit aller Poesie und Idealität entschieden feind ist. Die Zeitung ist heute Alles geworden ; die Politik erstickt die schöne Literatur; erst wenn nach der politischen Fluth, die kommt, die Wasser wieder gefallen sein werden, wird aus dem gedüngten Boden eine neue kräftige Saat erstehen. Es wäre ja nicht auszuhalten, wenn jedes Zeitalter nur die Aufgabe hätte, seine Größe durch einen unsterblichen Poeten darzuthun, und die Geschichtsordnung hat es weise genug eingerichtet, daß jede Zeit ihre besondere Aufgabe zu lösen hat und von einem großen Poeten ein paar Zeitalter sich recht gut nähren können. Klagen wir deshalb nicht sinnlos über „Verfall“ einer Literatur, wenn sie, wie die jetzige, nicht gerade die Mission für das Zeitalter hat, welche ihr unter unseren Großeltern, als diese jung waren, beschieden wurde. Die Literatur der Gegenwart ist im Sinne ihrer Zeit genug; diese Zeit ist keine wesentlich literarische.

Und in Frankreich noch viel weniger. Unter dem zweiten Kaiserreich ist die Literatur, welche Licht, Luft und Wärme braucht, demselben Fluch verfallen, wie unter dem eisernen Despotenregiment Napoleon’s I. Sie ist, wenn sie ist, von künstlicher Art. Aber eins hat sie gegen die unsrige in allen Fällen immer voraus: sie weiß Gesellschaftszustände zu schildern, nicht allein mit virtuoser Geschicklichkeit, sondern auch erfüllt von dem Geist, der die „Gesellschaft“ beherrscht. Der Deutsche kann dies nicht. Wir haben in Deutschland wohl Gesellschaften ebenso wie Nationen, aber keine Gesellschaft und keine Nation als etwas Einheitliches. Paris jedoch ist Frankreich, und der französische Autor braucht nur in den Spiegel des Pariser Lebens zu blicken, und er sieht die moderne Gesellschaft in der vollen Concentrirung all’ ihrer Gebrechen. Sein Griff in’s volle Menschenleben ist lohnend, und der Deutsche besieht sich das, was ihm der Franzose von der Gesellschaft zeigt, desto neugieriger, je weniger er sich Begriffe über die Zustände derselben und die Ursachen davon zu machen vermag. Die Schriftsteller

[415] des zweiten Kaiserreichs haben nun besonders Gelegenheit gehabt, die interessantesten Studien der Gesellschaft zu liefern; denn die Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs spreizt sich im Glanz der Demoralisation, wohin sie der Mangel an Freiheit und natürlicher Entfaltung getrieben. Börse und Demi-Monde, die Welt des Scheins, des glänzenden Lasters, sind daher die zwei Hauptthemen gewesen, mit denen die neueren französischen Schriftsteller so viel Glück gemacht! Ponsard und Augier, Feydau und Oktave Feuillet, Murger und Alexander Dumas, der Sohn – sammt und sonders geschickte Photographen der französischen Gesellschaft in Mode – was können sie dafür, daß sie das Original nicht anders finden, als es ist, und daß die Gesellschaft in dem Spiegel, den sie ihr vorhalten, erkennen muß, wie weit ihre Korruption um sich gegriffen hat und wie sich die Krisis ihrer Regeneration, ihrer Neugestaltung naht?
Schmidt-Weißenfels. 




Alter Schwindel. Unter den modernen Schwindeleien, von denen uns Nr. 23 der Gartenlaube mehrere vorführte, war auch eine, die mit der Braunschweiger Lotterie in einem Zusammenhange war; dabei fiel mir ein lustiges Stückchen aus längstverklungenen Zeiten ein, welches wohl originell genug war, die Leute damals zu amüsiren, und das vielleicht heute wiedererzählt werden dürfte.

In einem der letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts – wenn es nicht etwa später war – hatte der mächtige Amor, der damals ebenso gewaltig, wie jetzt, ja in der Siegwartperiode vielleicht noch mehr, die Herzen der Sterblichen in Aufregung versetzte, einen jungen Apotheker-Gehülfen entbrennen lassen für eine ehrsame Jungfrau und war einem Widerhalle seiner Empfindungen begegnet. Das Mädchen war sehr hübsch, gesund und unbescholten, aber arm wie eine Kirchenmaus, und letzteres war der Apotheker auch. Häßlicher Umstand, wenn man sich gern heirathen möchte und doch an die Zukunft mit ihren Bedürfnissen denken muß! Seine Anstellung in dem kleinen Städtchen Camburg in Thüringen war auch keine solche, wo Schätze gesammelt werden konnten, und bis auf den Nimmermehrstag wollten die Feurigliebenden nicht warten. Unser Pillendreher war ein anschlägiges Köpfchen und mit Zubilligung seiner Geliebten ergriff er folgendes Auskunftsmittel.

Sein Mädchen ließ sich ausspielen. Ein gefälliger Kupferstecher legte die reizenden Gesichtszüge der für diesen Fall sich Aurora Fortuna nennenden Unternehmerin als Medaillon nieder auf ein Lotterieloos in 30tausendfacher Vervielfältigung. Die Glücksscheine sahen allerliebst aus, kosteten nur einen Thaler das Stück, und angelehnt an die gothaische oder Braunschweiger Lotterie – ich weiß nicht genau welche – mit ihren 30.000 Loosen, wurde auch damals schon Reklame geübt und des Apothekers ganzer Bekanntenkreis für den Loosvertrieb mit in Anspruch genommen. Der ausgegebene Prospectus erläuterte, daß der Inhaber derselben Nummer, welche in der etc. Landeslotterie den Hauptgewinn hinwegtragen würde, der einzige Gewinnende sein würde, und zwar von einer jungen, schönen Braut mit 30.000 Thalern Mitgift. Ist’s möglich? Das ist ja Menschenhandel, und so etwas kann keine der damaligen vielen thüringischen Regierungen zugegeben haben! Und doch war es so, nur gemildert durch die Modalitäten, die der Prospectus gleich nachfolgen ließ. Es war nämlich festgestellt:

1) wenn der Gewinner nicht geneigt sein sollte, die Aurora Fortuna baldigst an den Traualtar zu führen, würde er völlig freie Hand behalten, sich dann aber nur mit einem Drittel ihren Mahlschatzes, also zehntausend Thalern, begnügen müssen, während der Rest dem verschmähten Glücksmädchen verbleiben sollte. 2) Ebenso sollte der Aurora ihre persönliche Freiheit gewahrt bleiben und sie berechtigt sein, von dem Ehebunde Umgang zu nehmen, wenn sie nicht Lust zeige, mit dem Gewinner fürder durch das Leben zu wandeln, auch wenn derselbe sich dazu völlig bereit erklärt haben würde. Statt der Braut sollten ihm aber immer zwei Drittel des Vermögens bleiben, weil die Spröde sich mit dem Reste von zehntausend Thalern zu begnügen haben würde etc.

So hatte unser Apotheker mit seiner Aurora die Sache ganz plausibel eingefädelt. Letztere war natürlich Willens, jeden Gewinner des Looses als künftigen Gatten zu verschmähen und sich mit einem Drittel des Capitals gern zu begnügen, um der alten Flamme treu zu bleiben. Sie aber war, es mochte kommen wie es wollte, kein armes Mädchen mehr, und der Pharmaceute würde dann schon wissen, was er zu thun habe. Also tapfer drauf los! Die Sache ging, die Loose verthaten sich, denn das Bildniß war gar lieblich, der Spaß kostete ja nur einen Thaler, und Mancher interessirte sich dabei, dem es eigentlich gar nicht zukam oder der seine liebe Junggesellenwirthshaft doch nicht hätte aufgeben mögen.

Da erfolgte die Ziehung, und … o schäkerhafter Zufall! der Gewinner war ein glücklich verheiratheter Mann, der einmal in heiterer Weinlaune sich ein Loos gekauft hatte und nun selbstverständlich das Original seines schönen Portraits im Stich lassen und sich mit den 10.000 Thalern begnügen mußte, während Aurora, mit ihren verbliebenen 20.000 zur Fortunata geworden, sich ihrem Liebhaber freudig in die Arme warf, der nichts Eiligeres zu thun hatte, als sich irgendwo eine Apotheke zu kaufen und sein Hauswesen zu begründen.

Klingt wie Roman, ist aber völlig wahr. Ich habe Leute noch gesprochen, die die Aurora gekannt haben wollten.




Mein letzter Besuch bei Meyerbeer. Die Veranlassung, der ich meinen letzten Besuch bei Meyerbeer verdanke, war in jeder Weise sehr angenehm und erfreulich. Bekanntlich ist kürzlich im Verlage der Gartenlaube ein Buch erschienen, unter dem Titel: „Karl Maria von Weber. Eine Biographie von Max Maria von Weber.“ Der Verfasser dieses trefflichen Werkes, Sohn des unsterblichen Tondichters des „Freischütz“, hatte mich beauftragt, Meyerbeer das Buch zu überbringen. Zu diesem Zwecke begab ich mich in die bescheidene Wohnung des Meisters, die er hier in Paris auf der Avenue de Montaigne in den Champs Elysees inne hatte. Ich wurde sogleich angemeldet und in einen kleinen Salon geführt, wo man mich bat, ein wenig zu warten, da der Herr Generalmusikdirector für den Augenblick anderweitig in Anspruch genommen sei. Nach einer kleinen Weile erschien Meyerbeer. Freundlich, wie immer, entschuldigte er sich zunächst, daß er mich hatte warten lassen, und fragte sodann nach meinem Begehr. Ich machte ihn mit meinem Auftrage bekannt und überreichte ihm das erwähnte Werk. Sein Gesicht nahm sogleich einen noch viel freundlicheren Ausdruck an, er ergriff das Buch und sagte mir mit Rührung, indem er mir die Hand gab:

„Sie bringen mir da ein schönen, ein unschätzbares Geschenk! Ich kenne das Buch schon; ja, ich darf wohl sagen, daß ich einer der Ersten war, der es besaß. Kaum war es erschienen, so habe ich es mir sofort aus Berlin kommen lassen, und nun kann ich mich gar nicht mehr davon trennen. Ich habe es schon dreimal durchgelesen. Es weckt mir tausend, tausend liebe Erinnerungen, die in meiner Seele schon halb eingeschlummert waren und nun wieder in ihrer ganzen Frische vor mir stehen. Das Buch ist für mich ein Schatz; es ist vortrefflich, ja ganz ausgezeichnet geschrieben. Ich weiß nicht, was ich zuerst bewundern soll: die geistvolle Auffassung und Darstellung des Gegenstandes oder die Genauigkeit und Wahrheit in der Angabe der einzelnen Daten, die mich in das höchste Erstaunen setzt. Ich kann das am besten beurtheilen, da ich alle diese Dinge zum Theil mit erlebt habe. Ich begreife gar nicht, wie der Mann das Alles wieder hat zusammenfinden können. Welchen Fleiß, welche Mühe, welche Ausdauer hat er auf das Buch gewendet! Man fühlt, daß es mit dem Herzen geschrieben ist. Sagen Sie Herrn von Weber, daß ich sein Werk bewundere und hochschätze; er hat damit seinem herrlichen, unvergeßlichen Vater ein schönes Denkmal errichtet. Uebrigens werde ich ihm selbst schreiben, sowie ich nur ein wenig Zeit gewinne.“

Ich theilte ihm nun mit, daß das Buch auch in englischer Sprache erscheinen werde und daß man ebenfalls eine französische Übersetzung desselben beabsichtige.

„Das ist eine sehr glückliche Idee,“ sprach er hierauf, „und ich werde mit Freuden Alles thun, was in meinen Kräften steht, um diesen Plan zu fördern.“

Ich entgegnete nun, daß ich mir einen guten Erfolg von der französischen Ausgabe des fraglichen Werkes verspräche, da die Weber’sche Musik doch wohl auch in Frankreich populär sei. Darauf sah er mich ganz verwundert an und sagte:

„Ist das eine Frage? Weber’s Musik ist und muß überall populär sein, wo man sie kennt. Folglich auch in Frankreich und nun gar hier in Paris. Hören Sie doch bin, in all’ die unzähligen Concerte, die hier gegeben werden; es vergeht ja kaum ein Abend, wo nicht Musik aus Freischütz oder Oberon gesungen oder gespielt würde.“

Ich stellte nun die Ansicht auf, daß unsere Zeit im Allgemeinen arm an großen Componisten sei, und erlaubte mir eine bescheidene Anspielung auf die mit Spannung erwartete „Afrikanerin“.

„Gut Ding muß Weile haben!“ antwortete er. „Uebrigens ist es nicht genug, Opern zu componiren, man muß auch Sänger haben, die sie singen, und ich meine, daß unsere Zeit noch weit ärmer an guten Sängern ist, als an talentvollen Componisten.“

Er fragte mich nun nach meinem Urtheile über einen gegenwärtig in Dresden engagirten Sänger; ich konnte ihm aber keine genügende Auskunft geben, da mir die dortigen Theaterverhältnisse, nach meiner langen Abwesenheit aus jener Stadt, gänzlich fremd geworden sind.

„Ein Tichatschek wird dieser Herr N. N. wohl auch nicht sein,“ fuhr Meyerbeer nun fort, „Tichatschek’s Stimme ist ein Phänomen, geradezu une bonne fortune für einen Componisten. Freilich entdeckt man solcher Tenore etwa nur aller hundert Jahre einen.“

Hierauf kam Meyerbeer wieder auf das Uebersetzungsproject des Weber’schen Buches zurück, nahm sich vor mit seinem Verleger über diese Angelegenheit zu sprechen, bestimmte mir einen Tag, an dem ich wieder zu ihm kommen möchte, um mich darüber weiter mit ihm zu berathen, und entließ mich mit wohlwollender Güte.

Pünktlich stellte ich mich an dem bezeichneten Tage wieder an der Schwelle des großen Mannes ein, aber derselbe deutsche Diener, der mir schon bei meinem letzten Besuche geöffnet hatte, sagte mir mit betrübtem Gesichte, daß mich der Herr Generalmusikdirector nicht empfangen könne, da er sehr unwohl sei. Als ich drei Tage später mich wieder einfand, vernahm ich mit tiefem Schmerz die Trauerkunde von dem Hintritt des Tondichters aus dem Munde des weinenden deutschen Dieners. Diese Nachricht traf uns wie ein Donnerschlag aus heiterm Himmel. Noch vor kaum zwei Wochen hatten wir den fleißigen Mann an der Arbeit gesehen. Das Einstudiren der „Afrikanerin“ war in Angriff genommen worden; er war mit Leib und Seele bei diesem wichtigen Geschäft. Außerdem hatte er persönlich einige Proben der Hugenotten geleitet, da Fräulein Sax, von der großen Oper, die Rolle der „Valentine“ zum ersten Male singen sollte. In der liebenswürdigsten Art gab er der Künstlerin gute Rathschläge über die Auffassung dieser schwierigen Partie, über die Intentionen der Musik etc. Wir bewunderten seine geistige Frische, seine fast jugendliche Regsamkeit und freuten uns des Kunstfeuers, das seine Adern noch durchglühte – und nun mitten heraus aus diesem thätigen, wohl ausgefüllten Leben wurde er uns plötzlich und ganz unvermuthet entrissen! So ist der Meister gestorben, wie ein Soldat, wie ein Held, auf der Bresche, im siegreichen Kampfe. Hochgeschwungen hielt er noch in seiner Hand die glorreiche Fahne der Kunst, der er gedient hat!

Meyerbeer lebte sehr gern in Frankreich und namentlich hier in Paris. Mit besonderer Vorliebe schlug er immer und immer wieder sein melodisches Zelt an den Ufern der Seine auf. Er wurde aber auch hier mit der zartesten und rücksichtsvollsten Aufmerksamkeit behandelt und seine Ankunft stets als ein freudiges Ereigniß begrüßt. Indessen lebte er ganz einfach und zurückgezogen, weit entfernt von dem Glanze und dem Luxus, wozu sein großes Vermögen und seine hervorragende Stellung ihn berechtigt hätten. Er schien fast gar keine Bedürfnisse zu haben, fast immer ging er zu Fuß und zeigte [416] sich in der letzten Zeit nur selten öffentlich. Ich erlaubte mir einmal gegen einen berühmten hiesigen Componisten eine Bemerkung über Meyerbeer’s einfache Lebensweise; „que voulez-vous?“ entgegnete mir der französische Tondichter, „il veut se faire pardonner sa gloire!“ Einem Briefe Offenbach’s, des bekannten Componisten des „Orpheus in der Unterwelt“ etc. entnehme ich die nachfolgenden Stellen, weil sie Meyerbeer sehr gut charakterisiren.

Meyerbeer arbeitete täglich acht Stunden. Das war seine einzige Freude, seine einzige Zerstreuung. In Ems und in Berlin, wo ich ihn viel sah, blieb er fast den ganzen Tag in seinem Studirzimmer eingeschlossen. Ich wagte nicht, ihn zu besuchen, weil ich ihm lästig zu sein fürchtete. Eines Tages sagte er mir: „Warum lassen Sie sich denn gar nicht sehen?“

„Weil ich Sie nicht stören will, Meister!“

„Kommen Sie ja; ich bin so glücklich, wenn ich zuweilen ein wenig gestört werde!“

Man kann fast behaupten, daß in ganz Europa keine Note neuer Musik gespielt wurde, die er nicht hören und beurtheilen wollte. Für die kleinen Theater, die seine Werke nur stückweise und sehr unvollkommen geben konnten, war er voll Nachsicht. Auch setzte er sich über den deutschen Gebrauch hinweg, der verlangt, daß eine Oper wo möglich nicht länger als drei Stunden dauern soll. Dadurch machen sich in seinen Werken für Deutschland viele Kürzungen nothwendig. Ich war sehr entrüstet hierüber und sprach ihm meinen Unwillen aus. Da entgegnete er mir lächelnd: „Es ist besser, mit einem Arme weniger zu leben, als gar nicht zu leben!“

Meyerbeer hegte in seinem Herzen ein Gefühl, das ihm über Alles heilig und theuer war: die tiefste Verehrung und Liebe für seine verstorbene Mutter. Wenn er von ihr sprach, standen ihm die Thränen in den Augen. Am Tage der ersten Vorstellung von „Robert der Teufel“ hier in Paris, im Monat November 1831, empfing Meyerbeer einen Brief seiner Mutter mit der Aufschrift: „Zu eröffnen nach der ersten Vorstellung des Robert.“ Als nun am Abend der Vorhang zum letzten Male gefallen war und das jubelnde Publicum den großen Triumph des Componisten stürmisch bezeugte, erbrach dieser den Brief seiner Mutter und fand darin die folgenden Worte:

„Der Herr segne und behüte Dich!
Er lasse sein Antlitz leuchten über Dir!
Er bewahre Dich und schenke Dir den Frieden!
 Deine Mutter.“

Dieser Brief ward für Meyerbeer ein wirklicher Talisman. Stets trug er ihn in einer Brieftasche bei sich und oft ging er in sein Zimmer zurück, um diese Brieftasche zu holen, wenn er sie ja einmal zufällig hatte liegen lassen.
F. D. P. 




Die Briefmarken-Sammlungen der Kinder. Man halte mich nicht für einen schulmeisterlichen Pedanten, wenn ich die geißelnde Hand an eine Sache lege, die zur Modesache, zur Sucht geworden ist. Der Geburtstag meines Knaben, meiner Tochter steht vor der Thür, und ich bin in Verlegenheit, was ich dem Kinde schenken soll! – So spricht der liebe Papa oder die liebe Mama. Mit Spielzeug ist das Kind zum Ueberdruß versehen und da erhält es denn, – die Mode will es so – ein Briefmarkenalbum. Der Grund ist gelegt! Wozu? Zu Schlichen und Schachereien! Und der Schauplatz dieser Kaupeleien und Schachereien ist – die Schule! Ueberzeugt Euch selbst, Eltern und Lehrer! Durchsucht den Bücherranzen Eurer Kinder und Schüler. Der unentbehrliche Begleiter der Schulbücher ist das Briefmarken-Album. Ist kein Album vorhanden, so durchblättert oder durchschüttelt die Schulbücher, zwischen jedem Blatt finden sich Marken, und der Boden der Schulstube ist nach einer derartigen Reinigung von Briefmarkcn übersäet. Als unschuldiger Begleiter möchte die Markensammlung passiren, trotzdem dieselbe, streng genommen, nicht in die Schule gehört; aber sie ist nicht immer ein solcher.

Welcher Platz ist aber auch geeigneter, die Briefmarken-Schacherei zu betreiben, als die Schule? Treffen sich doch hier Käufer und Verkäufer am bequemsten und in Masse. Von den Störungen, Verboten, Bestrafungen, welche dies in den Schulen veranlaßt, will ich hier nicht sprechen. Gewiß, jeder Classenlehrer könnte darüber capitellange Lamentationen schreiben. Aber des schlimmen Einflusses auf den Charakter des Kindes sei hier erwähnt. Der Knabe ist zu träge, seine Schularbeiten zu fertigen, oder hält sie für zu schwer. Einige Briefmarken – und er findet einen Helfer an einem Cameraden. Damit hat er einen Weg, seine Faulheit und Trägheit zu verdecken, kennen gelernt; aber nicht blos diesen, er hat auch leicht durch Unterschlagung den Weg zum – Diebstahl gefunden. Denn je nach Größe oder Schwere der Arbeit verlangt der Helfer gewiß eine seltene und theure Marke. Das Kind besitzt die Marke – den Kaufpreis für die Arbeit – nicht, muß dieselbe sich erst erwerben und schlägt – die Noth drängt – böse Wege dazu ein.

Einer gewissen Schulpolizei durch obere Schüler ist nicht immer auszuweichen. Ueber Vergehen gegen dieselbe helfen einige Briefmarken, und beide Theile haben den Weg der Bestechung kennen gelernt. Wie viele suchen sich die gegenseitige kindliche Zuneigung durch Markenspenden zu erkaufen, wie viele benutzen dies, diese Gefühle nur gegen Zahlung einer Marke zu erwidern und sich zu Heuchlern, heuchlerischen Speculanten heranzubilden!

Und liegt denn ein wirklicher Werth in einer derartigen Sammlung? Nur die Speculation oder die Sammlerwuth wird dadurch wachgerufen. Erstere, auf diese Weise beim Kinde angeregt, kann unmöglich zu Gutem führen, letztere aber doch wohl auf edlere Weise mäßig gepflegt werden.

Bietet die Natur nicht Gelegenheiten genug, sich schönere und werthvollere Sammlungen, die zugleich die geistige Ausbildung fördern, anzulegen? Hat das Anlegen eines Herbariums, einer Mineraliensammlung, das Aufsuchen von Versteinerungen u. dergl., zugleich mit dem Genuß der Natur, nicht einen edleren Einfluß auf den Geist und Körper des Kindes, als wenn dies in der Stube hinter dem Album hockt und todte, buntbeklexte, unappetitlich aussehende Marken begafft?

Länder-, Staaten-, Porto-Kunde und was sonst noch damit erzielt werden soll, sind bloße Beschönigungen.
H. G. 




Deutsche Erbschaften in Australien. Aus Melbourne sendet „der Central-Ausschuß der deutschen Vereine in Victoria etc.“ der Redaction der Gartenlaube die Mittheilung zu, daß derselbe, als Organ der verschiedenen deutschen Vereine in Victoria und anderen Colonien Australiens für gemeinsames Handeln und Wahrung und Förderung ihrer gemeinsamen Interessen, unter Anderem die Pflicht auf sich genommen habe: „Anfragen zu beantworten und Aufschlüsse zu geben, welche australische Verhältnisse und das allgemeine Interesse betreffen, wenn dieselben von Vereinen und öffentlichen Organen gemacht werden sollten, welche dem Auswanderungswesen und den deutschen Ansiedlern in der Fremde ihre Aufmerksamkeit widmen, um das deutsche Publicum über wichtige Interessen zu unterrichten, die bis jetzt kaum eine Erwähnung finden.“ Von besonderer Beziehung für Deutschland ist die Sorge für die Hinterlassenschaft dort gestorbener Deutscher. Sind nämlich die Erben unbekannt, so geht die Erbschaft in die Verwaltung der Regierung über, in welcher sie von Jahr zu Jahr mehr zusammenschmilzt. Um solche Erbschaften womöglich den rechtmäßigen Erben zuzuführen, hat Herr W. A. Brahe, 57 Chancery Lane in Melbourne, auf Aufforderung des Central-Ausschusses, die Besorgung der nöthigen Geschäfte in dieser Angelegenheit übernommen, und die Gartenlaube veröffentlicht hiermit gern die Liste der Namen von Deutschen, welche seit 1848 in den deutschen Colonien Australiens gestorben sind. Sie sind: Carl Adam, gestorben in Taradale, 23. Septbr. 1863, Hinterlassenschaft: noch unermittelt; – Heinrich Briese, gest. in Buckland 1861, Hinterl.: 72 Pfd. 2 Sch.; – Carl Friedrich, oder Friedrich Carl, gest. in Hochkirch 1855, Hinterl.: 26 Pfd. 8 Sch.; – Peter Fabren, gest. in Ballarat 1857, Hinterl.: 31 Pfd. 8 Sch.; – Friedrich Lange (angeblich aus Preußen), gest. in Ballarat 7. März 1864, Hinterl.: 650 Pfd.; – von Pien, gest. in Inglewood 23. Aug. 1863, Hinterl.: 130 Pfd. 1 Sch. 6 D.; – Friedrich Schwebe, gest. in Snowy Creek 1857, Hinterl.: 23 Pfd. 1 Sch. 4 D.; – Eduard Strieger, gest in Stringers Creek 29. Sept. 1863, Hinterl.: 176 Pfd. 10 Sch. ; – Eduard Volkmar, gest. in Barker’s Creek 1858, Hinterl.: 45 Pfd. 5 Sch. 3 D.; – Carl Wienhardt, gest. in Melbourne 11. Mai 1863, Hinterl.: ungefähr 500 Pfd.


Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Schulze-Delitzsch, Carl Vogt, Berlepsch, Beta, Max Ring, L. Storch, Guido Hammer, Franz Wallner, Alfred Meißner, Temme, Fr. Bodenstedt etc. etc. werden im nächsten Vierteljahre unter Andern nachstehende interessante Artikel Aufnahme finden:

Der Bettler vom Capitol. Erzählung von Franz Ziegler – Novellen von L. Schücking und Heigel – Ein Muster echter Souverainetät, von F. Geugel – Die todte Eva. Historische Episode von G. Hiltl – Die Nacht vor Fridericia, von einem Augenzeugen – Der Erbauer der ersten großen Eisenbahn in Deutjchland, von M. M. v. Weber – Ein Besuch bei George Sand, von J. Dessauer. Zweiter Tag – Sociale Vorträge von Schulze-Delitzsch. Nr. 1: Bischof Kettler und die Arbeiter – Ein Besuch beim Altmeister Goethe, von Ernst Förster. Mit Illustration von Neureuther – Erinnerung an Herloßsohn, von Ferd. Stolle. Mit Illustration – Ein patentirtes Gespenst, von Brömel. Mit Illustration – Fünf Löwen und ihr Bändiger. Mit Illustration von Leutemann – Ein Besuch auf der Jungfrau Blick, von Friedrich Spielhagen. Mit Illustration – Wislicenus und sein Bibelwerk. Mit Illustration – Ein Künstlerfürst. Mit Illustration – Der Erbförster, von Guido Hammer. Mit Illustration – Sonntagmorgen in Betzingen, von Herm. Kurtz. Mit Illustration von Pixis in M. – Erinnerungen aus dem Leben des Marschall Pelissier – Ein seltenes Verbrechen – Pariser Schwindel. Eine culturhistorische Skizze etc. etc.

Außerdem kommen die bereits früher angekündigten Beiträge zum Abdruck:

Auf Firn und Eis. Mit Illustration – Bilder aus dem Thiergarten, von Brehm – Eine Gletscherfahrt, von G. Studer. Mit Illustration – Die Kindererziehung in Beispielen, von einem Schulmanne – Vor Postschluß am Freitag Abend in London. Mit Illustration.

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.
Leipzig, im Juni 1864.
Ernst Keil.